Tamanaha über das problematische Erbe der Legal Realists

Brian Z. Tamanaha ist einer der aktivsten und interessantesten Autoren auf dem Gebiet der Rechtssoziologie und Rechtstheorie in den USA. Er versteht es immer wieder, lang eingefahrene Gedankengänge aus dem Gleis zu werfen. Im Social Science Research Network (SSRN) sind zurzeit fünf jüngere Arbeiten verfügbar. Die vollständigen bibliographischen Angaben kommen gleich ins Fundbüro. Hier nur die Titel und der Link:
A Concise Guide to the Rule of Law (2007)
The Dark Side of the Relationship between the Rule of Law and Liberalism, Januar (2008)
Law (Oxford International Encyclopedia of Legal History, 2008)
The Bogus Tale About the Legal Formalists (April 2008)
Understanding Legal Realism (Mai 2008)
The Distorting Slant of Quantitative Studies of Judging (November 2008).
In der letztgenannten Arbeit kritisiert Tamanaha die Politikwissenschaft, die sich bei ihren Untersuchungen über richterliches Entscheidungsverhalten von einem Mythos leiten lasse. Rechtssoziologie im 20. Jahrhundert wäre ohne die Legal Realists nicht denkbar. Aber sie haben ein problematisches Erbe hinterlassen, nämlich die Vorstellung, dass Juristen, Richter wie Wissenschaftler, tatsächlich selbst an das Lückenlosigkeitsdogma und das Subsumtionsdogma geglaubt hätten. Die Legal Realists haben aber nur explizit gemacht und auf die Spitze getrieben, was Juristen eigentlich immer schon wussten. Das hatte jedoch zur Folge, dass nunmehr die Vorstellung, Juristen hätten tatsächlich an die Möglichkeit einer mechanischen Jurisprudenz geglaubt, das 20. Jahrhundert beherrschte. Tamanaha spricht von einem »Bogus Tale about the Legal Formalists«. Darauf hat sich alsbald die Politikwissenschaft gestürzt, um nachzuweisen, dass im Gegenteil alles Recht politisch sei. In ihrer Fixierung auf einen Popanz habe sie dabei übersehen, dass die Wahrheit in der Mitte liege und dass eben doch juristische Entscheidungen mehr oder weniger durch Recht geleitet würden. Hier Tamanahas eigene Zusammenfassung:

One of the hottest areas of legal scholarship today involves quantitative studies of judging. This article will attempt to shift the current orientation of this work by making two basic points. The first point is that the field was born in a collection of false beliefs and misunderstandings about the formalists and the realists which has distorted how political scientists have modeled judging and how they have designed and interpreted their studies. Rather than conduct an open inquiry into the nature of judging, political scientists set out to debunk formalism by proving that judging is infused with politics, a mission that warped the development of the field.
The second point is that the results of their studies below the Supreme Court strongly confirm what judges have been saying for many decades – that their judicial decisions are substantially determined by the law. Political scientists have tended to repress this finding, however, by focusing on the wrong point: repeating time and again that their studies show that politics matters without also emphasizing that it matters very little. A balanced realism about judging accepts that – owing to the uncertainty of law and the inherent limitations of human decision makers – it is inevitable that there will be a certain (minimal) degree of political influence in judicial decision making, but this does not detract from the broader claim that judges can and usually do rule in accordance with the law.

Nachtrag vom 24. Mai 2010:
Die drei zuletzt genannten Manuskripte Tamanahas sind in sein in diesem Jahr bei Princeton University Press erschienenes Buch »Beyond the Formalist-Realist Divide« eingegangen. Auf die ersten beiden habe ich noch einmal in einem Posting vom 14. Mai 2010 Bezug genommen.

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2 comments on “Tamanaha über das problematische Erbe der Legal Realists

  • Christian Boulanger says:

    Vielen Dank für die Hinweise auf Brian Tamanahas Papiere, die tatsächlich immer anregend sind. Völlig zu Recht kritisiert Tamanaha eine Richtung der U.S.-amerikanischen Politikwissenschaft, die sich in ihrer Begeisterung für Ockhams Rasiermesser immer auf die Theorien stürzt, die der formalen Modellbildung zugänglich sind, ohne Rücksicht darauf, ob die daraus entstehende Literatur dem Praktiker plausibel erscheint oder sonst irgend einen Erkenntnisgewinn bringt. Ich hoffe, dass die deutsche Politikwissenschaft, die das Recht lange vernachlässigt hat, nicht diesen Fehler begehen wird. Ich habe aber auch Hoffnung. Weder die einseitig quantitative “Number Crunchers” noch kontextabweisende “Rational Choice”-Theoretiker konnten die deutschsprachige Politikwissenschaft jemals so dominieren, wie das in den USA der Fall war. Die abgerissene Tradition von Weber, Neumann, Fraenkel, Kirchheimer hat immer viel Gespür für das Problem der Rechtsbindung gehabt – oder siehe die Arbeiten von Ulrich K. Preuß oder Ingeborg Maus! Die Tradition ist da, die Politikwissenschaft muss sie nur nutzen.

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