Generalisierung und Individualisierung im Rechtsdenken

»Partikulär oder universell – generell oder kontextuell?« lautet das Generalthema der Tagung der Deutschen Sektion der IVR, die vom 23. Bis 27. September 2025 in Münster stattfinden soll. Dazu der Untertitel: »Rechtsphilosophie zwischen Abstraktion und Konkretion«. Der Eröffnungsvortrag von Ulfried Neumann ist überschrieben »Generalisierung und Individualisierung im Rechtsdenken«. Genau das war das Thema der IVR-Tagung in Saarbrücken vor 35 Jahren. Dazu referierte damals Arthur Kaufmann.[1] Die Thematik ist anscheinend unerschöpflich.

Es liegt nahe zu fragen, wie sich die Vorstellungen über das Verhältnis von Generalisierung und Individualisierung im Rechtsdenken über  die 35 Jahre seit der Tagung von 1990 verändert haben. Die Frage habe ich an   ChatGPT und an Microsoft Copilot gestellt. Die Antworten sind gar nicht schlecht. Aber das mag jeder selbst ausprobieren. Ich will hier den Versuch unternehmen, meine Beobachtung des Rechts unter dem Aspekt von konkret und abstrakt zu ordnen, zusammenzufassen und vielleicht auch zu ergänzen, indem ich zusammentrage, was auf Rsozblog und in meinen Notizen zum Thema zu finden ist. Wie immer auf Rsozblog geht es mir nicht darum, die wissenschaftliche Literatur zu bereichern, sondern darum (unter den virtuellen Augen der Öffentlichkeit) die eigenen Gedanken zu ordnen.

Beginnen müsste man wohl damit, dass man abstrakt über Abstraktion  nachdenkt, und das heißt konkret über Begriffsbildung. Dazu steht einiges in dem Eintrag »Abstrakt und Konkret« vom 10. 1. 2021. Dort steht bereits der Hinweis, dass der wichtigste Abstraktionsmodus des Rechts die Formulierung allgemeiner Regeln ist. Daher muss die Allgemeinheit des Gesetzes zum Thema werden. Historisch hat sich die Rechtswelt vermutlich vom Fall zur Regel entwickelt. Regeln entstanden erst aus der Vorbildwirkung von Einzelfallentscheidungen. Sie waren zunächst bloß, wie es in der Digestenstelle D. 50,17,1 heißt, ein Kurzreferat des Falles (»breviter enarrat«). In der Moderne hat sich Priorität umekehrt. Die Regel steht vor dem Fall. Der Weg dahin führte über Juristen, die sich das »Referat« von Fällen zum Beruf machten, zu Autoritäten, die Regeln setzen. Daraus ist die Allgemeinheit des Gesetzes als Grundprinzip des modernen Rechtsstaats gewachsen. Die Frage steht im Raum, wieweit dieses Prinzip in der Postmoderne gelitten hat.

Am Beginn steht also das Verhältnis von Fall und Regel. Dazu gab es auf der Tagung von 1990 einen Vortrag von Lüderssen[2] (mit denen ich nicht viel anfangen kann). Auf Rsozblog finden sich gleich drei Einträge zum Thema. Der erste Eintrag vom 20. August 2025, überschrieben Casus und Regula, beginnt mit einer Auflistung von Fragen, die sich aus dem Verhältnis von Fall und Regel, von konkret und abstrakt ergeben, um dann, ausgehend von der Digestenstelle  D. 50, 17 auf den (angeblichen?) Methodenstreit der Prokulianer und Sabinianer über den Vorrang von casus oder regula einzugehen. Der Folgebeitrag vom 1. 11. 2015  erinnert an die daran anschließende Kontroverse unter Romanisten über den Einfluss griechischer Philosophie auf römische Juristen. Der abschließende Eintrag vom 11. 11. 2015 handelt von dem Motto des Freirechts: »Non ex regula ius sumatur, sed ex iure quod est regula fiat«. Das Verhältnis von Fall und Regel ist noch einmal im Eintrag vom 22. 11. 2022 Thema im Zusammenhang mit der Analogie, genauer, mit er Frage, ob die Verwertung eines Präjudizes die Anwendung einer der präjudiziellen Entscheidung entnommenen Norm bedeutet oder ob es unmittelbar die Ähnlichkeit des Falles ist, die die Folgeentscheidung bestimmt.

Zum Verhältnis von Fall und Regel will ich noch einige Sätze über

Einzelfallvorbehalt und Verallgemeinerungsgrundsatz

ergänzen: Kann man sich ein Recht ohne Regeln vorstellen? Schon die Römer waren sich nicht einig, ob der gerechten Lösung des Einzelfalls oder einer regelgeleiteten Entscheidung der Vorrang gebühre. Ohne Regel kann man nicht subsumieren, sondern muss abwägen. Aber die Abwägung kann doch in verschiedener Absicht erfolgen. Sie kann zum Ziel haben, eine Regel zu formulieren, um sie dann auf den Fall anzuwenden. Die Abwägung kann sich aber auch darauf beschränken, den Streitfall nur aus seinem Kontext heraus einer Lösung zuzuführen.

Der praktische Unterschied zwischen einer bloßen Einzelfallabwägung und einer regelbewussten Entscheidung liegt darin, dass letztere den konkreten Fall aus größerer Distanz betrachtet, weil sie gleichzeitig andere Fälle bedenkt, auf welche die Regel anwendbar sein könnte. Eine Regel bedeutet immer eine Abstraktion. Der Tatbestand muss griffig gehalten werden. Eine Regel kann daher nie alle Umstände des Falles berücksichtigen, sie ist immer nur eine Faustregel. Regeln sagen nicht nur, was für die Entscheidung relevant sein soll; wichtiger noch, sie verbieten die Berücksichtigung aller nicht genannten Umstände als irrelevant. Eine regelbewusste Entscheidung führt dazu, viele Umstände des Einzelfalles, die den Parteien und auch manchen Beobachtern bedeutsam erscheinen mögen, für unerheblich zu erklären. Die Einzelfallabwägung geht näher an den Fall heran. Sie kann mehr und konkretere Details aus seinem Umfeld berücksichtigen. Nichts ist von vornherein unwichtig. Im Idealfall ergeht die Entscheidung aufgrund »aller Umstände des Einzelfalles«.

Allgemein gedachte Gesetze machen den Kern des modernen Rechts aus. Für eine Einzelfallabwägung ist grundsätzlich kein Platz. Der Grundsatz kennt drei Ausnahmen. Die erste Ausnahme, ist der Fall, dass die strikte Anwendung des Gesetzes zu einem für untragbar gehaltenen Ergebnis gelangt. Dann gestattet der Gedanke der Billigkeit im Einzelfall eine Abweichung.[3] Der zweite Fall ist derjenige, dass das Gesetz eine Lücke zu haben scheint. H. L. A. Hart stellte in diesem Fall die Entscheidung in das richterliche Ermessen. Dworkin dagegen hätte die Entscheidungen in Prinzipien gesucht. Der Dritte Fall ist dem zweiten ähnlich, nur dass die Lücke insofern offen ist, als das Gesetz mit absichtlich unbestimmten Begriffen arbeitet. Für diesen Fall steht das Gericht vor der Frage, ob es sich auf den Einzelfall konzentrieren oder bedenken soll, dass seiner Entscheidung eine Regel entnommen werden könnte.[4]

Das Bundesverfassungsgericht hat die Abwägung im Einzelfall zur Methode der Wahl gemacht. Es weigert sich, als Ergebnis der Abwägung »Vorrangbedingungen« zu formulieren. Pawlowski hat auf die grundlegende Bedeutung dieses Vorgangs hingewiesen: An sich ist die Güter- oder Interessenabwägung ein herkömmliches Konzept, um unbestimmte Rechtsbegriffe auszufüllen. Doch mit einer Güterabwägung ist es nicht getan. Es soll sich um eine »Güterabwägung im Einzelfall« handeln. Am Beispiel des allgemeinen Persönlichkeitsrechts:

»So wurde – und wird – das Verbot der ungenehmigten Veröffentlichung von Privatbriefen und Tagebüchern bereits im vergangenen Jahrhundert damit begründet, dass dem Interesse des Verfassers nach derartigen Aufzeichnungen an der Achtung seine Privatsphäre größeres Gewicht beizumessen sei, als dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit – was z.B. J. Kohler ausführlich mit rechtsvergleichenden Belegen dokumentiert hat. Diese ›Abwägung‹ führt aber dann zu dem generellen Verbot der ungenehmigten Veröffentlichung derartiger Schriftstücke. Die Abwägung wird hier also als Mittel zur Ableitung neuer allgemeiner Rechtssätze eingesetzt.

Im Rahmen des neuen Konzepts dient die Abwägung dagegen der Entscheidung des Einzelfalles. Dies wird z.B. besonders deutlich in dem abweichenden Votum Rupp-v. Bruennecks in der ›Mephisto-Entscheidung‹ des Bundesverfassungsgerichts. Sie stützte nämlich ihre Ablehnung der Mehrheitsentscheidung unter u.a. darauf, dass die Mehrheit bei ihrer Abwägung zwischen dem Grundrecht der Kunstfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht der Romanfigur das Emigrantenschicksal des Autors (Klaus Mann) nicht berücksichtigt habe. Das macht deutlich, dass es bei dieser Art Abwägungen um Argumente geht, die nicht verallgemeinerungsfähig sind: Man wird nicht davon ausgehen können, dass Emigranten allgemein die Befugnis zuerkannt werden kann, das Persönlichkeitsrecht von Nicht-Emigranten stärker zu beeinträchtigen als andere Bürger. Die ›Abwägung‹ orientiert sich hier vielmehr an der Biographie (an der ›Geschichte‹) zweier Einzelpersonen mit allen ihren Implikationen.« [5]

In der Aufgabe des Allgemeinheitsgrundsatzes zugunsten der Abwägung im Einzelfall sieht Pawlowski einen grundsätzlichen Wandel des Rechtsdenkens und der Rechtskultur. Die Ursache dieses Wandels findet er darin, dass Entscheidungen vom Bundesverfassungsgericht nicht aus Normen, sondern unmittelbar aus Werten abgeleitet werden.[6] Das hat zur Folge, dass selbst dort, wo Regeln vorhanden sind, diese im Einzelfall in einem »Anwendungsdiskurs« aufgeweicht werden.[7] Anwendungsdiskurse gehen zwar von einer Regel aus. Die soll dann aber in Anwendungssituationen auf ihre »Angemessenheit« geprüft werden. Das Prinzip der Angemessenheit umfasst vor allem die Berücksichtigung aller Umstände der Situation. Als Folge wird den Regeln nur eine Art Prima-Facie-Geltung zugebilligt und der konkreten Entscheidung von vornherein die Verallgemeinerungsfähigkeit genommen. Maus  spricht kritisch von einer faktischen Remoralisierung des Rechts durch die Werte-Judikatur des Bundesverfassungsgerichts.[8]

Soweit es keine Regeln gibt und Regeln auch gar nicht das Ziel sind, ist die Abwägung offen für den fallweisen Zugriff auf politische oder moralische Gesichtspunkte oder für den Rückgriff auf konkret anschauliche Vorstellungen von ausgleichender Gerechtigkeit. Solche Moralisierung nennt man gewöhnlich Kadijustiz. Die Bezeichnung ist nicht unbedingt abwertend gemeint. Es gibt, angefangen bei dem Urteil des Königs Salomo, viele wunderbare Beispiele. Aber Kadijustiz ist eine andere Art der Gerechtigkeit, nämlich solche in Ansehung der Personen und ihrer Relationen.[9] Es ist alte juristische Tradition, politische oder moralische Gesichtspunkte nur ganz ausnahmsweise heranzuziehen, wenn die Anwendung einer Regel im Einzelfall zu einem untragbaren Ergebnis führen würde.

Regelbewusstes Entscheiden ist nicht unbedingt »rationaler« als die fallorientierte Abwägung. Die unvermeidliche »Irrationalität« wird nur vom konkreten Fall auf die abstraktere Regel verlagert. Ob man sich der Entscheidung mit einer Regel nähert, von der man unter ganz besonderen Umständen abweicht, oder ob man von vornherein auf die besonderen Umstände des Falles abstellt, läuft auf eine unterschiedliche Verteilung der Argumentationslast hinaus. Das ist nicht wenig, wenn man bedenkt, dass sich auch der Gleichheitssatz, ja vielleicht sogar die Grundrechte, in Argumentationslastregeln erschöpfen.

Regelbildung ist grundsätzlich nicht das Ziel der Rechtsprechung.[10] Die Gerichte haben Einzelfälle zu entscheiden. Doch diese Funktionsbeschränkung gilt nur, solange Regeln vorhanden sind. Fehlt es an einer Regel, so ist Rechtsfortbildung gefordert. Auch wenn man nicht so weit geht wie Langenbucher[11], die die Ausarbeitung einer verallgemeinerungsfähigen Regel, die in künftigen Gerichtsurteilen als Entscheidungsgrundlage dienen kann, zum Ziel der Rechtsfortbildung erklärt, so bleibt der Grundsatz der Verallgemeinerung, nach dem man sich jede Einzelfallentscheidung als regelgeleitet vorstellt, doch die regulative Idee, die der Entscheidung ihre Rechtsqualität verleiht. Dazu muss die Regel gar nicht abstrakt ausformuliert werden. Aber sie sollte jedenfalls aus dem Präjudiz rekonstruierbar sein und eine Rekonstruktion nicht durch einen Einzelfallvorbehalt abgeblockt werden. Die Verfassungsrechtsprechung neigt dazu, regelverachtend die in Gesetz und Dogmatik vorhandenen Strukturen »durch immer feiner ziselierende und letztlich nur im Einzelfall und in der Einzelfallgerechtigkeit ein Ende findende Verhältnismäßigkeitsüberlegungen« aufzulösen.[12] Sie sollte stattdessen, um es mit Alexy zu formulieren, Vorrangbedingungen festlegen, unter denen das eine oder andere der konkurrierenden Rechtsgüter zu weichen hat.

Fortsetzung folgt.


[1] Arthur Kaufmann, Generalisierung und Individualisierung im Rechtsdenken, ARSP-Beiheft 1992, 77-100. In der ersten Hälfte des Vortrags zählt Kaufmann auf, was er alles nicht behandeln will. In der zweiten Hälfte unterbreitet er die These von der Universalisierbarkeit eines negativen Utilitarismus.

[2] Klaus Lüderssen, Regel und Fall, ARSP-Beiheft 45 1992, 129-142.

[3] Franz Bydlinski, Allgemeines Gesetz und Einzelfallgerechtigkeit, in: Christian Starck (Hg.), Die Allgemeinheit des Gesetzes, 1987, 49-79;

[4] Nicht hierher gehören die Fälle in denen die Generalisierung in einem Gesetz generell angreifbar ist, insbeondere weil sie gegen Grundrechte verstößt. So können Gesetze allgemeine, personenbezogene Merkmale verwenden, die sich unter Gleichheitsgesichtspunkten als diskriminierend erweisen. Das ist das Thema von Gabriele Britz, Einzelfallgerechtigkeit versus Generalisierung. Verfassungsrechtliche Grenzen statistischer Diskriminierung, 2008. Britz sprich von »Generalisierungsunrecht«.

[5] Hans-Martin Pawlowski, Allgemeines Persönlichkeitsrecht oder Schutz der Persönlichkeitsrechte?, JbRSozRTh 12, 1987, 113-132, S. 118.

[6] Hans-Martin Pawlowski, Werte versus Normen, ZRph 2004, 97-110.

[7] Klaus Günther, Der Sinn für Angemessenheit. Anwendungsdiskurse in Moral und Recht, 1988, S. 188.

[8] Ingeborg Maus, Die Trennung von Recht und Moral als Begrenzung des Rechts, Rechtstheorie 1989, 191–210, 199.

[9] Hans-Martin Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3 Aufl. 1999, 25 ff.

[10] Auf der IVR-Tagung 1990 referierten Jörg Berkemann und Günter Ellscheid zum Thema »Probleme der Regelbildung in der richterlichen Entscheidungspraxis« (ARSP-Beiheft 45, 1992, 7-22, und 23-35). Berkemann ging wie selbstverständlich davon aus, dass die Rechtsprechung Normen zu bilden hat, und konzentrierte sich auf eine Kritik der Methodenlehre. Ellscheid begann (S. 23)  mit der Feststellung: »Der Gleichheitssatz verlangt, dass der Richter, soweit er bei einer Konkretisierung und Fortbildung des Rechts Entscheidungs- oder Ermessensspielräume hat, diese nach einheitlichen, und das kann nur heißen, fallübergreifenden Kriterien ausfüllt, also die Regel angibt, nach der er entchieden hat und daß er eine etwa von ihm aufgestellte Regel nicht leichtfertig wieder aufgibt.«, um sich dann Problemen der Abwägung bei der Konkretisierung von Grundrechten und unbestimten Rechtsbegriffen zu widmen.

[11] Katja Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996.

[12] Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung und die Selbständigkeit des Gesetzesrechts, NVwZ 1984, 401–409, S. 408.

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Was Juristen über Wissen wissen müssen

Der Begriff des Wissens ähnlich schwer zu fassen wie der des Rechts.[1] Es fehlt an einer allgemein geteilten Definition. Die Tendenz geht dahin, den Wissensbegriff so aufzulösen, dass alles und jedes mit ihm verknüpft werden kann. Wenn man die Reihe der Komposita aus der Einleitung Trutes zu dem von H. C. Röhl herausgegebenen Sammelband[2] aufruft, kann einem schnell schwindelig werden: Wissenserzeugung, Wissensdistribution, Wissensinfrastruktur, Wissenssoziologie, Wissensforschung, Allgemeinwissen, Sonderwissen, Entscheidungswissen, Wissensbestand, Wissenskontext, öffentliches und nichtöffentliches Wissen, Experten- und Laienwissen, Erfahrungs-, Fakten-, Regel- und Rezeptwissen, explizites, formalisiertes und informelles Wissen, Wissensordnung, Wissensqualität, Wissensregime, Wissenshierarchie, Wissensgrundlage, Wissensasymmetrie und nicht zuletzt Wissenschaft und Nichtwissen.[3]

Um nicht in die Tiefen der Philosophie und Erkenntnistheorie einzutauchen, verenge ich das Thema auf satzförmiges (propositionales) Wissen. Wissen kann also alles zum Inhalt haben, was durch Sprache transferierbar ist. Ich lasse damit phänomenologisches Wissen (ich weiß, wie sich Schmerz anfühlt) und implizites Wissen außer Betracht. Polanyis berühmtes Dictum »one can know more than one can tell« kehren wir um: Wir können mehr als wir wissen.

»We know a person’s face, and can recognize it among a thousand, indeed among a million. Yet we usually cannot tell how we recognize a face we know. So most of this knowledge cannot be put into words.«[4]

Es kommt zunächst nicht darauf an, ob der Inhalt der Sätze richtig oder falsch, wahr oder gerechtfertigt, plausibel oder absurd ist. Intersubjektive Transferierbarkeit heißt nämlich nicht, Transmissibilität der Akzeptanz einer Proposition ihrem Inhalt nach, sondern lediglich Möglichkeit des gleichsinnigen Verständnisses. Zur weiteren Eingrenzung des Themas bewährt sich die Verwendung von Gegenbegriffen[5].

Wissen und Information: Man unterscheidet Zeichen, Daten und Informationen. Nackte Zeichen – die Buchstabenreihe oder die Zahlenreihe, einzelne Bits oder Bytes, die nach dem ASCII-Standard oder Unicode arrangiert sind oder als Pixel einen Bildpunkt definieren – stehen für sich. Sie werden zu Symbolen, wenn sie in einer Weise zusammengefügt sind, dass sie zu Bedeutungsträgern werden, die in Sätzen verwendet werden können wie Worte oder Bildzeichen. Zeichen werden zu Daten, wenn sie mit Sachverhalten beliebiger Art verknüpft sind. Daten als solche haben noch keinen Verwendungsbezug. Es handelt sich um Informationen im Speicher- und Transportzustand.[6] Daten enthalten potenziell Informationen. Werden Daten als Informationen wahrgenommen, so werden sie zu Wissen. Informationen treten zunächst vereinzelt auf. Aus Wetterdaten erhalte ich die Information, dass es 11. 11. 2024 um 12 Uhr in Düsseldorf geregnet hat. Eine solche isolierte Information wird man kaum als Wissen ansprechen. In der Regel werden erst viele singuläre Informationen zu relevantem Wissen zusammengefügt. So ergibt sich aus einzelnen Wetterinformationen Klimawissen. Der Wissensbegriff ist also auf Steigerung oder Vermehrung angelegt, indem möglichst viele Informationen kombiniert werden.

Daten, Information und Wissen sind auch Rechtsbegriffe. Doch findet man in keiner der einschlägigen Vorschriften universelle Definitionen. Art. 4 Nr.1 DSGVO und § 1 BDSG definieren nicht eigentlich, was Daten sind, sondern qualifizieren bestimmte Daten als personenbezogen. § 2. IFG betrifft informationshaltige Daten im Speicherzustand, ebenso § 2 III UIG. Dagegen geht es in § 5 TMG um bestimmte Inhalte als Information. Als Information in diesem Sinne kann man auch Geschäftsgeheimnisse i. S.von § 2 I 1 GeschGehG einordnen. § 312f III BGB spricht von »digitalen Inhalten, die nicht auf einem körperlichen Datenträger bereitgestellt wurden«. Das entspricht § 202a II StGB. Danach sind Daten, die gegen das Ausspähen geschützt sind, »nur solche, die elektronisch, magnetisch oder sonst nicht unmittelbar wahrnehmbar gespeichert sind oder übermittelt werden«. Diese Definition passt auch auf Daten, die in § 12a EGovG als offene qualifiziert werden.

Objektiv(iert)es Wissen und subjektives Wissen (Kenntnis): Wissen, so sagt Schrader, sei personaler Natur, nämlich von Menschen wahrgenommene, verstandene Information. Er weist darauf hin, dass das BGB z. B. in § 1472 II Wissen und Kenntnis synonym verwendet.[7] In rechtlichem Zusammenhang kommt es in der Regel nicht auf das irgendwo vorhandene Wissen, sondern auf subjektives Wissen = Kenntnis bestimmter Personen von bestimmten Tatsachen an. Nur subjektives Wissen kann moralisch und rechtlich zugerechnet werden. Nur für subjektiv vorhandenes Wissen gilt scientia potestas est (Francis Bacon): Wissen ist Macht. Aber Wissen ist grundsätzlich nicht an Personen gebunden. Es wird auf vielfältige Weise personenunabhängig gespeichert und transportiert. Von objektiviertem Wissen kann man sprechen, wenn es irgendwie in wiedergewinnbarer Form geäußert worden ist, und sei es auf Keilschrifttafeln, die nur Archäologen entziffern können. Der Gegenbegriff verweist in diesem Zusammenhang also nicht auf »Objektivität«, sondern nur darauf, dass das Wissen irgendwo auf der Welt durch Zeichen oder Symbole als Information festgehalten und so zum Objekt geworden ist.

Privates und externalisiertes Wissen: Nicht mitgeteilte Gedanken oder Beobachtungen (»Ich habe die Idee, dass … ; »ich wollte nicht, dass mein Schlag tödlich ist«, »ich fürchte mich vor der Zukunft«, »ich habe einen Blitzeinschlag gesehen«) bleiben privat. Gedanken müssen erst externalisiert werden, so dass sie von anderen wahrgenommen werden können, um als Wissen relevant zu werden. Normalerweise geschieht die Externalisierung durch einen Kommunikationsakt des Wissensträgers, also durch Wort, Schrift oder andere Zeichen. In juristischem Zusammenhang ist oft privates als subjektives Wissen relevant. Es wird gelegentlich auch durch Indizien zugänglich gemacht oder es wird durch eine Pflicht zur Kenntnisbeschaffung ersetzt, wie in § 932 II BGB.

Wissen und Unwissen: Von Unwissen zu reden macht nur Sinn, wenn Wissen unabhängig von subjektivem Wissen vorhanden ist. Wenn man weiter fragt, gerät man schnell in die Abgründe der Erkenntnistheorie. Jedenfalls lässt sich Unwissen nur behaupten, wenn andere mindestens über subjektives Wissen verfügen, dass sie für wahres Wissen halten.

Wissen und Irrtum: Irrtum (z. B. in § 119 II BGB) setzt Wissen als Gegenbegriff voraus. Das Begriffspaar macht jedoch nur für empirisches Wissen Sinn. Empirisches Wissen ist nicht unbedingt Faktenwissen, jedenfalls nicht im Alltagsverständnis dieses Begriffs. Normen, Werte und Religion sind als solche keine Fakten. Aber was über diese drei gesagt oder geschrieben wird sowie die Überzeugungen anderer sind doch Fakten, die man wissen kann. Insoweit ist Wissen über Normen, über ihren Inhalt und ihre Geltung, empirisches oder Faktenwissen, über das man irren kann.

Wahres und falsches Wissen: Die Wahrheitsfrage zielt auf den Inhalt der Sätze, die als Wissen zirkulieren. Radikaler Skeptizismus will uns sagen, dass praktisch alles, was wir zu wissen glauben, angezweifelt werden könne. Es lohnt es sich nicht, hier in die Wahrheitstheorien einzusteigen. Wir gehen davon aus, dass mindestens Sätze mit analytischem, logischem und empirischem Gehalt wahrheitsfähig sind. In juristischem Zusammenhang geht es meistens um die Frage, ob empirisches Wissen wahr oder falsch ist. Der Empirie zugänglich ist schon die Externalisierung des Wissens auf einen Wissensträger und die anschließende Wahrnehmung. Hier zeigt sich wieder das Phänomen der Sprachstufen. Es gibt also wahres Wissen über falsches Wissen, so wenn wir erfahren, dass Menschen annehmen, der Klimawandel sei allein durch Sonnenfleckenaktivitäten verursacht.

Wissen und Überzeugung: Aus der Kenntnis von Begriffskonstruktionen, Konzepten und Normen folgt nicht unmittelbar deren Billigung oder gar Übernahme. Analoges gilt für Wissen über Religion und Kultur.

Wissen und Glauben: Zu Propositionen (Behauptungsätzen) kann man unterschiedliche Einstellungen haben. Wissen kommt nur bei solchen Propositionen in Betracht, die man für wahr halten kann. Glauben kann man auch Sätze, von denen klar ist, dass sie sich nicht beweisen lassen. Man kann aber auch an beweisbare Sätze glauben, ohne dass der Beweis erbracht ist.

Sicheres und unsicheres Wissen: Sicherheit oder Unsicherheit kann sich auf Kenntnis oder auf den Gegenstand des Wissens beziehen. Ich weiß mit Sicherheit, dass die Erde rund ist, bin aber unsicher, wer das als erster behauptet hat. Ich weiß sicher, dass unsicher ist, wie sich das Covid-19-Virus ohne den Lockdwon ausgebreitet hätte.

Eigenes Wissen und übernommenes Wissen: Empirisches Wissen im engeren Sinne kommt aus eigener Anschauung und Erfahrung. Das meiste Wissen wird jedoch übernommen. Für die eigene Lebenswelt hat man vielleicht noch den Eindruck, man kenne sie aus Erfahrung. Doch der Eindruck täuscht. Schon meinen Lebenslauf kenne ich zum Teil nur aus Berichten von Eltern und Verwandten. Das Weltwissen dagegen stammt mehr oder weniger vollständig aus sekundären, tertiären oder noch weiter entfernten Quellen. Man lernt es mehr oder weniger planmäßig in Familie und Schule, aus Büchern und anderen Medien oder beiläufig im Umgang mit anderen Menschen. Die Qualität dieses Wissens wird in der Regel gar nicht hinterfragt. Sie ergibt sich unmittelbar aus der sozialen Beziehung zur Wissensquelle. Das Recht begegnet dem sekundären Wissen mit Vorsicht. Aus dem Common Law kennt man die hearsay-rule, die es verbietet, Wissen aus zweiter Hand als Beweismittel zu verwenden, da der Gegner den Sprecher nicht ins Kreuzverhör nehmen kann.

Aktuelles und abrufbares Wissen: Was Menschen als Wissen aufnehmen, bleibt nur zu einem kleinen Teil präsent. Das meiste verschwindet in der Erinnerung. Von dort lässt es sich mehr oder weniger genau abrufen, kann aber auch ganz verloren gehen. In juristischem Zusammenhang entsteht dann oft die Frage, ob ein Mensch verpflichtet ist, seiner Erinnerung aufzuhelfen, sei es mit individueller Anstrengung, sei es mit Hilfe extern gespeicherten Wissens wie Notizen, Akten oder Dateien.

Persönliches Wissen und Akten- oder Datenwissen: Rechtlich relevante Kenntnisse werden typischerweise planmäßig in Akten und Dateien zur Wiedergewinnung festgehalten, von Privaten meist nur in wichtigeren Angelegenheiten. Arbeitsteilige Organisationen müssen solche Informationen schon deshalb speichern, damit unterschiedliche Personen darauf zugreifen können. Viele Aufzeichnungen, Akten und Dateien müssen auch von Rechts wegen vorgehalten werden, etwa für Steuer- und Bilanzzwecke. Was in den Akten ruht, ist denen, die darüber verfügen, nicht immer alles bekannt. Wieweit Aktenwissen rechtlich relevantes Wissen darstellt, hängt daher von Aufzeichnungs- und Wiedergewinnungspflichten ab.

Triviales und relevantes Wissen: Normalerweise will niemand wissen, dass ich heute zum Frühstück genau drei Tassen Kaffee ohne Milch und Zucker getrunken habe. So gibt es unendlich viel irrelevantes und kaum weniger triviales Wissen. Triviales Wissen kann aber im Rechtsstreit schnell relevant werden. Der Hausverkäufer, der morsche Stellen im Gebälk gesehen hat, muss von dieser Information dem Käufer Mitteilung machen, will er eine Mängelhaftung vermeiden.

Einzelfallwissen und gesammeltes Wissen: Vor Gericht streitet man sich meistens um Einzelfallwissen: Hat A am 2. Januar bei XY ein paar Schuhe bestellt? Ist B am 3. Januar auf der XY-Straße mit seinem PKW über 50 kmh gefahren? Hat C drei Kinder, die als Erben in Betracht kommen? In Unternehmen und Behörden wachsen aus vielen solcher Einzelfälle Datensammlungen. Diese Daten werden schon als solche, wenn man sie zur Kenntnis nimmt, zu Wissen. Sie können darüber hinaus ausgewertet werden, um generelles Wissen zu erzeugen. Im Hintergrund stehen detaillierte Rechtsnormen, welche die Sammlung und Verwendung solcher Daten regeln.

Einzelfallwissen und generelles Wissen: Wissenschaft, von der Geschichte einmal abgesehen, interessiert sich für generelles Wissen, das heißt für solches, das sich nicht in einem Ereignis erschöpft, wie es die folgenden Sätze beschreiben: Am 1. Mai hat es geregnet. V hat K am 1. Mai den PKW verkauft. In juristischen Zusammenhängen kommt es dagegen oft auf Einzelfallwissen (Kenntnis) an. Wusste V, dass der verkaufte PKW einen Mangel hatte? In der Literatur unterscheidet man gerne zwischen Wissen, dass, Wissen, warum und Wissen, wie (z. B. Wohlrapp). Wissen, dass ist Einzelfall- oder gesammeltes Wissen. Generelles Wissen antwortet auf die Warum-Frage. Die Frage Wissen, wie ist zweideutig. Sie erwartet als Antwort den Verweis entweder auf unreflektiertes Können oder auf Verfahrensregeln. Das forensich relevante Einzelfallwissen wird auch als Zustands- oder Tatbestandswissen bezeichnet. An die Unterscheidung von Einzelfallwissen und generellem Wissen lässt sich die Differenzierung von (Wissen über) Falltatsachen und Rechtstatsachen anknüpfen.

Individuelles und soziales Wissen: Soziale Erkenntnistheorie (Social Epistemology) betont die soziale Konstituierung und Vernetzung von Wissensbeständen. Danach ist Wissen kein gesicherter Bestand, der bei Bedarf abgerufen wird. Wissen wird vielmehr im Prozess gesellschaftlicher Kommunikation ständig neu konfiguriert. Mit Alvin Goldman kann man drei Ebenen der Wissenskonsolidierung unterscheiden, nämlich die individuelle Ebene, die Gruppenebene und die Systemebene. Epistemologie ist als Erkenntnistheorie die Lehre vom richtigen Wissen. Wissenssoziologie fragt aus empirischer Sicht, wie sich subjektive Wissensbestände in der Gesellschaft entwickeln. Social Epistemology ist die Erkenntnistheorie des kulturellen Konstruktivismus, die behauptet, dass die Suche nach einem objektiv wahren oder richtigen Wissen verfehlt sei, weil Wissen von vornherein nur als soziales Phänomen in Betracht komme. Wer dagegen die Frage nach empirischer Wahrheit nicht verwirft, zieht die Wissenssoziologie zu Rate, um zu klären, wie sich subjektives Wissen in den Köpfen der Menschen bildet, das dann als soziales Wissen seine Wirkung tut.

Instrumentelles und wertbildendes Wissen: Wissen kann im Rahmen der Zweck Mittel-Relation dazu dienen, bestimmte Handlungsziele zu erreichen. Wissen ist also erforderlich, um Recht als Mittel zum Zweck einzusetzen. Dazu gibt es viele Überlegungen, woher die Entscheidungseinstanzen – Parlamente, Behörden, Gerichte – ihr Sachwissen beziehen. Es liegt jedenfalls nicht einfach so, dass man zu jeder Aufgabe das notwendige Wissen irgendwo nachschlagen oder einen Experten fragen könnte. In diesem Zusammenhang aber wichtiger: Bevor man Wissen instrumentell einsetzt, muss man sich ein Ziel gebildet haben. Die Zielbildung hängt ihrerseits von Wissen, insbesondere über den Ausgangszustand, ab. Zwar beruht die Zielbildung letztlich auf einem Werturteil. Doch dieses Urteil stützt sich auf vielerlei Wissen.

Wissensdurst und Wissenverbote: Wissen ist eine positive Ressource, denn nicht zuletzt gilt: Wissen ist Macht. Eine lange Reihe von Rechtsnormen regelt daher den Erwerb, die Organisation und die Weitergabe von Wissen. Verboten ist z. B. die Forschung an Embryonen. Geboten ist die Geheimhaltung bestimmter Wissensbestände, verboten folglich ihre Weitergabe. Weitgehende Verbote betreffen insbesondere die Datensammlung zur Gewinnung von Wissen.

Fakten- und Normenwissen: Für die folgenden Abschnitte sei noch einmal wiederholt, dass auch das Wissen über die Existenz von Normen als Faktenwissen in Betracht kommt. Insofern gibt es empirisches Wissen über das (positive) Recht, und zwar sowohl als objektives Wissen wie auch subjektiv als Rechtskenntnis.

»Wissen und Recht« sind keine Antonyme, sondern eine Verlegenheitsüberschrift wie law & something, »Recht und Gesellschaft«, »Recht und Kultur« usw. Es gibt praktisch kein Rechtsthema, das man nicht in irgendeiner Weise aus einer Wissensperspektive behandeln könnte. Das demonstriert, gekonnt und mit vielen Nachweisen, Laura Münkler in dem einleitenden Beitrag »Wissen − ein blinder Fleck des Rechts?«, um eine Forschungslücke und damit Bedarf für den von ihr herausgegebenen Sammelband »Dimensionen des Wissens im Recht« (2019) zu begründen.


[1] Mein Favorit aus der allgmeinen (d. h. , nicht auf das Recht bezogenen Literatur, ist Duncan Pritchard, What is this Thing Called Knowledge?, 5 Aufl. 2023.

[2] Hans Christian Röhl (Hg.), Wissen – zur kognitiven Dimension des Rechts, 2010.

[3] Wer es komplizierter will, lese Helmut F. Spinner, Das modulare Wissenskonzept des Karlsruher Ansatzes der integrierten Wissensforschung, in: Karsten Weber u. a. (Hg.), Wissensarten, Wissensordnungen, Wissensregime, 2002, 13-46.

[4] Karl Polanyi, The Tacit Dimension, 1966, S. 4.

[5] Vgl. Klaus F. Röhl, Gegenbegriffe, Dichotomien und Alternativen in der Jurisprudenz, Rechtsphilosophie 2022, 96–118.

[6] Angelina Zier, Investitionsschutz für Maschinendaten, 2022, S. 9.

[7] Paul Tobias Schrader, Wissen im Recht, Definition des Gegenstandes der Kenntnis und Bestimmung des Kenntnis-standes als rechtlich relevantes Wissen, 2017, S. 12 Fn. 81.

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Die Juristische Methodenlehre von Francis Lieber. Teil 2: Construction als loyaler Umgang mit dem Gesetz

Lieber schrieb seine Methodenlehre nicht nur für Juristen, sondern auch für Politiker und Laien. Jeder Bürger kommt in die Lage und sollte imstande sein, Gesetze zu verstehen.

» … every citizen of a free country is not only permitted to form his opinion upon all prominent features of his government, fundamental laws, public men, and important measures, but it is his duty to do so.« (S. 76)

Im Vorwort des Buches bezieht Lieber sich auf eine aktuelle Auseinandersetzung um die amerikanische Verfassung und betont, »to find some firm and solid foundations of right and morality, in the rolling tides of party actions«, wolle er eine politische Ethik (für den Umgang mit der Verfassung) schreiben. Denn ohne eine Methode, die auf guten Glauben (good faith) gebaut sei, würden Rechtstexte zu »desperate weapons in the hands of the disingenuous«.

Zunächst gilt es, noch einmal klarzustellen: Liebers Ansatz würde man heute kommunikationstheoretisch nennen. Kommunikation besteht für Lieber in der erfolgreichen Übertragung von Gedanken durch Worte oder andere Zeichen von einer Person zu anderen. Interpretation beschränkt sich darauf, den Gehalt solcher Kommunikation zu ermitteln. Ziel der Textinterpretation ist für Lieber eine schlechthin subjektive Interpretation:

»Understanding or comprehending a speaker or something written, means attaching the same signification or sense to the words which the speaker or writer intended to convey.« (S. 23)

Die einzig richtige Bedeutung des Textes ist, was der Autor ausdrücken wollte.

»The sole legitimate object of all interpretation is to find out the true sense and meaning, not to impart them; but since this true sense is occult, we may be bound to use various means to arrive at it to the best of our ability, and according to the conscientious desire of finding the true sense.« (S. 66)

Es geht also um das, was in der Literatur als speakers meaning oder utterer‘s meaning geläufig ist.[1] Man kann daher Interpretation im Sinne Liebers nicht als semantische oder als Wortauslegung einordnen. Auch wenn solche Interpretation auf die sozial übliche Bedeutung abstellt und den sprachlichen und sozialen Kontext heranzieht, so geschieht das doch nur, um die vom Sprecher intendierte Nachricht zu erfassen. Lieber ist, wenn man so will, Regelskeptizist, freilich aus anderen Gründen als die modernen Regelskeptiker, hält er doch eine gelingende Kommunikation auch über Regeln grundsätzlich für möglich. Aber die Kommunikation mit dem Gesetzgeber bleibt aus vielerlei Gründen immer unvollkommen, so dass Anwender des Gesetzes praktisch immer durch construction nachhelfen muss. Ich bleibe bei dem englischen Begriff construction, weil »Konstruktion« in der (post-)modernen Methodenlehre nicht bloß, wie bei Lieber, die wohlwollend konstruktive Ergänzung der Interpretation, sondern einen konstruktivistischen Umgang mit Normtexten meint, der Interpretation im Sinne des Verstehens dessen, was der Regelautor sagen wollte, für unmöglich, aber mindestens für unwichtig hält.

Construction ist zunächst Textergänzung, läuft aber oft auf Rechtsfortbildung hinaus.

»Construction is the drawing of conclusions respecting subjects, that lie beyond the direct expression of the text, from elements known from and given in the text – conclusions which are in the spirit, though not within the letter of the text.« (S. 56)

Lieber betont wiederholt, dass construction, weil sie sich vom Text entfernt, gefährlich sei. Sie steht deshalb unter dem Gebot der Loyalität zum Text:

»For the very reason that construction endeavors to arrive at conclusions beyond the absolute sense of the text, and that it is dangerous on this account, we must strive the more anxiously to find out safe rules, to guide us on the dangerous path.« (S. 64)

Construction muss sich mehr oder weniger vom Text entfernen. Dafür verwendet Lieber das Bild konzentrischer Kreise, die sich um den Text legen, und auf denen die Lösung möglichst nahe am Mittelpunkt gesucht werden soll. Vorbildlich ist insoweit § 7 des Österr. AGBGB.[2]

»Construction is either close, comprehensive, transcendant, or extravagant, similar to the corresponding species of interpretation.« (77)

Anders formuliert:

»In the most general adaptation of the term, construction signifies the representing of an entire whole from given elements by just conclusions. Thus it is said, ›a few actions may sometimes suffice to construe the whole character of a man‹. (S. 61)

Da ist zunächst das Lückenproblem:

»Construction is likewise our guide, if we are bound to act in cases which have not been foreseen, by the framers of those rules, by which we are nevertheless obliged, for some binding reason, faithfully to regulate, as well as we can, our actions respecting the unforeseen case.« (S. 56)

»If the codes of some countries declare, that if in certain cases the judge can find no law precisely applicable, he shall be guided by the spirit of the provisions enacted for those cases, whicli resemble most that under consideration, they authorize construction according to the first part of our first definition.« (60)

Grundsätzlich ist alo Analogie das Mittel der Wahl:

»Analogy, or rather parallel reasoning in this signification of construction, is the essential means of effecting it.« (S. 59)

Dazu wird in einer Fußnote Analogie bestimmt als Proportionalität genau in dem Sinne wie sie bei Aristoteles definiert war[3], allerdings ohne Aristoteles zu erwähnen. Wo Analogie nicht hilft, muss man auf allgemeine Prinzipien zurückgehen, soweit sie sich erkennen lassen. Im Zweifel kann man davon ausgehen, dass Moral als das höchste Prinzip einschlägig ist.

»If the text is itself a declaration of the fundamental principles, which we are bound to follow in a certain sphere of actions, and of certain fundamental forms, which are to regulate our actions, in this case, construction signifies the discovery of the spirit, principles, and rules, that ought to guide us according to the text, with regard to subjects, on which that declaration is silent, but which nevertheless belongs to its province. (S. 58f)

»For instance, morality is one of the chief ends of all human life; without it no state can exist. This is the superior principle.« (59)

Eine teleologische Betrachtung kann helfen zu erkennen, was der Autor der Norm kommunizieren wollte.

»It is, as will be seen presently, construction alone which saves us, in many instances, from sacrificing the spirit of a text or the object, to the letter of the text, or the means by which that object was to be obtained, and without construction, written laws, in fact any laws or other texts, containing rules of actions, specific or general, would, in many cases, become fearfully destructive to the best and wisest intentions, nay, frequently, produce the very opposite of what it was purposed to effect. (S. 57f)

Construction ist sodann erforderlich, wenn innerhalb von Gesetzen oder zwischen Verfassung, Gesetzen und Präjudizien Widersprüche aufscheinen.

»Or there may exist principles or rules of superior authority, and the problem of construction then is to cause that which is to be construed to agree with them. In this case the principles and rules of superior authority are ›the subjects that lie beyond the direct expression of the text›‹ mentioned in the definition.(59)

Or if a law be passed, parts of which are contrary to the fundamental law of the state, it is called construing the law, when the proper judges declare these parts to be invalid.« S. 60«

Und immer wieder: Das alles hat nach Treu und Glauben zu geschehen:

»The proper principles of construction are those which ought to guide us in good faith and conscience.« (S. 58)

Man könnte meinen, Lieber habe Philipp Hecks berühmte Formulierung, der Richter schulde dem Gesetzgeber »denkenden Gehorsam«[4] vorweggenommen. Heute wird die Hecksche Formel nur noch als rechtshistorische Reminiszenz zitiert, wenn an die Interessenjurisprudenz erinnert wird. Das hat auch etwas damit zu tun, dass das Wort »Gehorsam« vielen Menschen heute schwer über die Lippen geht und dass die Formel sich in der Nazizeit leicht missbrauchen ließ. In der Sache kenne ich jedoch keine bessere Kurzformel für die Probleme einer Methodenlehre, die die Gesetzesbindung ernst nimmt. Vielleicht wird die Formel eher akzeptierbar, wenn wir mit Hilfe Liebers von loyale Auslegung sprechen.


[1] Herbert Paul Grice, Utterer’s Meaning, Sentence-Meaning, and Word-Meaning, Philosophy, Language, and Artificial Intelligence: Resources for Processing Natural Language 1988, 49–66.

[2] Die Vorschrift lautet: Läßt sich ein Rechtsfall weder aus den Worten, noch aus dem natürlichen Sinne eines Gesetzes entscheiden, so muß auf ähnliche, in den Gesetzen bestimmt entschiedene Fälle, und auf die Gründe anderer damit verwandten Gesetze Rücksicht genommen werden. Bleibt der Rechtsfall noch zweifelhaft; so muß solcher mit Hinsicht auf die sorgfältig gesammelten und reiflich erwogenen Umstände nach den natürlichen Rechtsgrundsätzen entschieden werden.

[3] Vgl. den Eintrag Vollständige (kognitive) und normative Analogien vom 31. Mai 2022.

[4] Philipp Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 1914, 1–318, S. 20; ders., Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 106f..

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Grundstückszufahrten sollen besteuert werden

Bochum, den 1. April 2025

In Bochum denkt man[1] seit heute über eine Gemeindeabgabe auf Grundstückszufahrten nach. Die (politischen) Gemeinden in der Bundesrepublik Deutschland sind notorisch klamm. Sie sind für ihre Finanzen weitgehend auf das Wohlwollen von Bund und Ländern angewiesen. Sie können für besondere Leistungen wohl Gebühren und Beiträge erheben, haben aber nur eine kümmerliche Kompetenz zur Erhebung eigener Steuern. Praktisch wird diese Kompetenz vor allem zur Erhebung von Hundesteuern genutzt. Daher liegt es nahe, sich Gedanken darüber zu machen, wie man das Besteuerungs- und Abgabenrecht der Gemeinden besser ausschöpfen könnte.

Die meisten innerörtlichen Grundstücke verfügen über eine Zufahrt zu einer öffentlichen Straße.[2] Sie sind bei der Nutzung des Straßenraums privilegiert, weil das Parken vor Grundstücksein- und -ausfahrten, auf schmalen Fahrbahnen auch ihnen gegenüber, nach § 12 Abs. 3. Nr. 3 StVO verboten ist. Einfahrten fallen daher grundsätzlich unter den abgabenrechtlichen Begriff der Sondernutzung.

Aus den Straßen- und Wegegesetzen der Länder ist das allerdings nicht ganz einfach abzulesen. Das SGV. NRW besagt in  18 Abs. 1 S. 1:

Die Benutzung der Straßen über den Gemeingebrauch hinaus ist unbeschadet des § 14a Abs. 1 Sondernutzung.

20 Abs. 1 Satz 2 bestimmt dann aber:

Die Anlage neuer oder die wesentliche Änderung bestehender Zufahrten oder Zugänge zu einer Landesstraße, einer Radschnellverbindung des Landes oder einer Kreisstraße außerhalb von Ortsdurchfahrten gilt als Sondernutzung.

Daraus könnte man den Umkehrschluss ziehen wollen, dass Grundstückszufahrten in anderen als den in § 20 genannten Fällen keine Sondernutzung bedeuten, sondern unter den Gemeingebrauch nach § 14 SGV fallen. Aber diesen Schluss verbietet § 14a SGV, wenn dort in Abs. 1 ein gesteigerter Straßenanliegergebrauch nur für den Fall für zulässig erklärt wird, dass der Anliegergebrauch »den Gemeingebrauch nicht dauernd ausschließt oder erheblich beeinträchtigt oder in den Straßenkörper eingreift«. Durch das Parkverbot wird der Gemeingebrauch der Straße dauerhaft und damit auch erheblich eingeschränkt. Außerdem greifen Grundstückszufahrten baulich durch eine Absenkung des Rinnsteins oder eine anderweitig erkennbare Gestaltung in den Straßenkörper ein. Für die Einstufung von Zufahrten als Sondernutzung spricht ferner, dass die Anlage solcher Zufahrten grundsätzlich genehmigungspflichtig ist. Gemeingebrauch ist aber gerade nicht von Genehmigungen abhängig, sondern stützt sich unmittelbar auf die Widmung der Straße.

Der Parkdruck auf öffentlichen Straßen ist längst so erheblich, dass Parkraum zu einem Wirtschaftsgut geworden ist. Die Kommunen bewirtschaften ihn entweder durch Parkuhren oder durch Gebühren für das Anwohnerparken. Bei Parkuhren kommt man, wenn man nur einen Achtstundentag an Wochentagen berechnet, je nach Höhe der Parkgebühr, auf einen Betrag in der Größenordnung von 200 bis 400 EUR. Die Anwohnerparkgebühren liegen bisher niedriger, aber einige Städte sind auch hier schon in die Größenordnung von 300 EUR vorgestoßen. Da erscheint es angemessen und zur Gleichbehandlung sogar geboten, auch Grundstückseinfahrten entsprechend zu bepreisen.

Wäre eine solche Gebühr ausgeschlossen, weil Grundeigentümer schon  Grundsteuer zahlen? Im Gegenteil. Die Grundsteuer ist eine kleine Vermögenssteuer. Ein große Vermögenssteuer fehlt, weil die Erhebung praktisch schwer durchführbar ist. Grundstücke zählen aber zu den wichtigsten und beständigsten Vermögensbestandteilen, und deshalb besteht kein Grund, Grundstücke durch kostenlose Sondernutzungen weiter zu privilegieren. Das Problem ist allein, dass nach bisheriger Rechtslage Grundstücksabgaben aller Art zu den Betriebskosten gehören, die auf die Mieter umgelegt werden können. Diese Rechtslage gehört dringend geändert.

Wie dem auch sei, die Rechtslage ist so deutlich, dass eine mutige Gemeinde binnen eines Jahres, spätestens zum 1. April 2026, den Versuch starten sollte, eine Sondernutzungsgebühr für Grundstückszufahrten einzuführen. In Bochum wären die Sondernutzungssatzung vom 24. Dezember 1987 in der Fassung vom 23. Januar 2025 und der zugehörige Gebührentarif entsprechend zu ändern. § 3 über den Straßenanliegergebrauch könnte einen zweiten Absatz erhalten, der lautet:

Die Sondernutzung durch Grundstückszufahrten bedarf über die bau- und straßenbaurechtlichen Erfordernisse hinaus keiner zusätzlichen Erlaubnis, ist jedoch wie erlaubnispflichtige Sondernutzungen gebührenpflichtig.

Wie hoch sollte man die Abgabe ansetzen? Einen Orientierungspunkt geben die Gebühren für da Anwohnerparken. 300 EUR jährlich für eine Einfahrt erscheinen nicht unangemessen. Mit welchem Aufkommen wäre zu rechnen? Die Grundstückszufahrten werden anscheinend nicht gezählt. In Bochum gab es 2023 58.600 Wohngebäude, davon 33.300 Ein- und Zweifamilienhäuser. Man darf wohl damit rechnen, dass eine Stadt wie Bochum etwa über 50.000 Zufahrten verfügt. Der ergäbe für eine Stadt wie Bochum immerhin einen Betrag von 15 Millionen. Das erscheint bei einem Haushalt von 1,7 Milliarden beinahe lächerlich zu sein. Im Vergleich zu den Hundesteuereinnahmen von 2,8 Millionen hört sich der Betrag aber schon besser an. Probleme bereitet allerdings bei das bei kommunalen Gebühren zu beachtende Kostendeckungsprinzip. Das scheint jedoch bei Sondernutzungsgebühren keine große Rolle zu spielen.

Alternativ wäre an eine Aufwandsteuer nach Art. 105 Abs. 2a GG in Verbindung mit § 3 KAG NW zu denken. Nach der gängigen Definition der Aufwandsteuer könnten dann aber wohl nur die Zufahrten privat genutzter Grundstücke besteuert werden.

Die Rechtslage ist also nicht ganz einfach. Aber wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.


[1] Also mindestens ein Bürger.

[2] Das Föderale Informationsmanagement (FIM) hat ein Datenfeld »Antrag Gehwegüberfahrten Zustimmung«. Dort heißt es unter Definition:

»Eine Gehwegüberfahrt bzw. eine Zufahrt ist die für die Benutzung mit Fahrzeugen bestimmte oder geeignete Verbindung von anliegenden Grundstücken oder von nicht-öffentlichen Wegen mit einer Straße. Innerorts benötigen Sie für die Anlage einer neuen oder Änderung einer bestehenden Zufahrt keine Sondernutzungserlaubnis. Hier ist darauf hinzuwirken, dass die Zufahrt verkehrssicher ausgestaltet wird, sodass eine vorherige Rücksprache mit der zuständigen Straßenbauverwaltung sinnvoll ist. Außerhalb der Ortsdurchfahrt stellen Zufahrten eine erlaubnispflichtige Sondernutzung dar. Wenn Sie eine baugenehmigungspflichtige bauliche Anlage neu errichten oder erheblich ändern und in diesem Zuge eine Zufahrt bauen oder ändern, dann wird über die Zufahrt im Zuge des Baugenehmigungsverfahren entschieden. Zuständig hierfür ist die jeweilige Baugenehmigungsbehörde. Wenn Sie eine baugenehmigungsfreie bauliche Anlage neu errichten oder erheblich ändern und in diesem Zuge eine Zufahrt bauen oder ändern, dann entscheidet bei Zufahrten außerorts an Landes und Kreisstraßen die jeweilige Straßenbaubehörde über die Anlage der Zufahrt.«

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Die Juristische Methodenlehre von Francis Lieber.  Teil 1: Die Interpretation

Nachdem Francis Lieber im vorhergehenden Eintrag als Person vorgestellt wurde, nun zum Inhalt seiner Methodenlehre. Ich zitiere aus der Buchausgabe, die 1839 im Verlag von Charles C. Little und James Brown in Boston erschien. Der vollständige Titel lautet:

»Legal and Political Hermeneutics, or Principles of Interpretation and Construction in Law and Politics, with Remarks on Precedents an Authorities.«[1]

Lieber schrieb seine Methodenlehre nicht nur für Juristen, sondern auch für Politiker und Laien. Jeder Bürger kommt in die Lage und sollte imstande sein, Gesetze zu verstehen.

» … every citizen of a free country is not only permitted to form his opinion upon all prominent features of his government, fundamental laws, public men, and important measures, but it is his duty to do so.« (S. 76)

Im Vorwort des Buches bezieht Lieber sich auf eine aktuelle Auseinandersetzung um die amerikanische Verfassung und betont, »to find some firm and solid foundations of right and morality, in the rolling tides of party actions«, wolle er eine politische Ethik (für den Umgang mit der Verfassung) schreiben. Denn ohne eine Methode, die auf guten Glauben (good faith) gebaut sei, würden Rechtstexte zu »desperate weapons in the hands of the disingenuous«. Deshalb wolle er seine Überlegungen nunmehr systematisch in einem Buch zusammenfassen.

Das erste Kapitel des Buches beginnt mit einem Absatz von dem Roberta Kevelson sagt, man habe den Eindruck, hier spreche Peirce:[2]

»There is no direct communion between the minds of men ; whatever thoughts, emotions, conceptions, ideas of delight or sufferance we feel urged to impart to other individuals, we cannot obtain our object without resorting to the outward manifestation of that which moves us inwardly, that is, to signs. There is no immediate communion between the minds of individuals, as long as we are on this earth, without signs, that is, expressions perceptible by the senses.« (S. 13) …

»Signs, in this most comprehensive sense, would include all manifestations of the inward man, and extend as well to the deeds performed by an individual, inasmuch as they enable us to understand his plans and motives, as to those signs used for the sole purpose of expressing some ideas ; in other words, the term would include all marks, intentional or unintentional, by which one individual may understand the mind or the whole disposition of another, as well as those which express a single idea or emotion … .« (S. 14)

Und so geht es weiter:

»The signs which man uses, the using of which implies intention, for the purpose of conveying ideas or notions to his fellow-creatures, are very various, for instance, gestures, signals, telegraphs, monuments, sculptures of all kinds, pictorial and hieroglyphic signs, the stamp on coins, seals, beacons, buoys, insignia, ejaculations, articulate sounds, or their representations, that is phonetic characters on stones, wood, leaves, paper, &;c., entire periods, or single words, such as names in a particular place, and whatever other signs, even the flowers in the flower language of the East, might be enumerated.

These signs then are used to convey certain ideas, and interpretation, in its widest meaning, is the discovery and representation of the true meaning of any signs, used to convey ideas.« (S. 17)

Lieber nahm damit vieles vorweg, was inzwischen Linguistik und Semiotik beigebracht haben; er nahm auch den Gedanken des sozialen Wandels auf, wenn er schrieb:

»A code is not a herbarium, in which we deposit law like dried plants. Let a code be the fruit grown out of the civil life of a nation, and containing the seed for future growth.« (S. 44)

Vor allem aber: Lieber unterschied zwischen Textauslegung (interpretation) und Konstruktion (construction) als Methode, zu Entscheidungen zu gelangen, wo der Text selbst nicht zu einem Ergebnis führt. In solchen Fällen sei eine vernünftige und flexible, von den hinter den Texten stehenden Prinzipien geleitete Entscheidung (conclusion) notwendig.

Zunächst aber erörtert Lieber Ziel und Möglichkeiten der Textinterpretation und begründet, warum der Text oft nicht zu einem Ergebnis führt, wie es Bürger und Juristen brauchen. Ziel der Textinterpretation ist für ihn eine schlechthin subjektive Interpretation:

»Understanding or comprehending a speaker or something written, means attaching the same signification or sense to the words which the speaker or writer intended to convey.« (S. 23)

Die einzig richtige Bedeutung des Textes ist, was der Autor ausdrücken wollte.

»The sole legitimate object of all interpretation is to find out the true sense and meaning, not to impart them; but since this true sense is occult, we may be bound to use various means to arrive at it to the best of our ability, and according to the conscientious desire of finding the true sense.« (S. 66)

Diese Bedeutung herauszufinden, ist aber gar nicht einfach, und das Ergebnis der Bemühungen führt nicht immer zum Ziel.

Die Kapitel I, II und IV des Buches befassen sich mit der Textauslegung. Die Ergebnisse werden in neun Grundregeln zusammengefasst (S. 120). Hier die wichtigsten:

    1. A sentence, or form of words, can have but one true meaning.
    2. There can be no sound interpretation without good faith and common sense.

Das wird besonders deutlich, wenn Lieber Interpretationen aufzählt, die die Ermittlung der einzig richtigen Textbedeutung verfehlen. In seiner Begrifflichkeit orientiert sich Lieber hier dabei an dem zeitgenössischen Standardwerk der theologischen Hermeneutik, nämlich an der erstmals 1762 erschienenen »Institutio Interpretis Novi Testamenti« des Leipziger Theologen Johannes August Ernesti.

Verfehlt ist zunächst die buchstabengetreue Interpretation (literal interpretation). Sie ist buchstäblich unmöglich:

»Literal interpretation ought to mean of course, that which takes the words in their literal sense, which is hardly ever possible, since all human language is made up of tropes, allusions, images, expressions relating to erroneous conceptions, Sic, for instance, the sun rises.« (S. 66)

Es folgt ein Beispiel: Ein Gastwirt hatte sein Lokal »Zur Krone« genannt. Scherzhaft erklärte er, er habe seinem Sohn die Krone vererbt. Daraufhin wurde er wegen Hochverrats angeklagt und verurteilt (S. 68).

Nicht ganz so kritisch ist die extensive Interpretation (interpretatio extensiva – called likewise liberal interpretation, S. 70). Sie versteht einen sprachlichen Ausdruck in seinem weitesten Sinne und ist im Zweifel angebracht, wenn es gilt, für den Betroffenen Milde walten zu lassen. Dagegen setzt sich die interpreatatio excedens über den Wortlaut hinweg (S. 70f).

Die Suche nach der »richtigen« Bedeutung des Textes folgt als interpretatio soluta allein den hermeneutischen Grundregeln. Anders die interpretatio limitata – restricted interpretation (S. 71), die sich die Suche nach der Textbedeutung durch ein übergeordnetes Prinzip vorgeben lässt, wie eine Bibelexegese, die davon ausgeht, dass der Text eine wahre Botschaft enthält und auch in sich nicht widersprüchlich sein kann.

»Limited or restricted interpretation (interpretatio limitata) takes place, if other rules or principles than the strictly hermeneutic ones, limit us.« (S. 71)

Lieber kennt auch die perspektivische oder voreingenommene Interpretation:

»Finally, interpretation may be predestined (interpretatio predestinata), if the interpreter, either consciously or unknown to himself, yet laboring under a strong bias of mind, makes the text subservient to his preconceived views, or some object he desires to arrive at.« (S. 72)

Dem Anwalt schließlich billigt Lieber eine opportunistische Interpretation zu, die er artful interpretation (interpretatio vafer[3]) nennt:

»A legal counsel is understood to produce everything favorable that can be brought to bear upon the case of his client, so that, the same being done on the other side, all that can be said for and against the subject, may be brought before the judges.« (S. 73)

Die interpretatio soluta, das unabhängige Textverständnis,  bleibt also der erste Schritt der juristischen Methode. Für sie gilt die dritte Regel:

  1. Words are, therefore, to be taken as the utterer probably meant them to be taken. In doubtful cases, therefore, we take the customary signification, rather than the grammatical or classical; the technical rather than the etymological – verba artis ex arte – tropes as tropes. In general, the words are taken in that meaning, which agrees most with the character of both the text and the utterer.

Diese Regel ist zentral. Wörter dürfen also nicht isoliert, Metaphern nicht wörtlich genommen werden.  Die Bedeutung eines Textes soll aus dem sprachlichen Kontext ergründet werden. Dabei geht es stets darum, den Sprachgebrauch des Autors zu erfassen.

»If we do not understand the word, we try whether its connexion in a sentence will shed light upon it; if we do not succeed, we endeavor to derive assistance from the period; if this be unavailing, we examine the whole instrument or work ; if that leads us to no more satisfactory result, we examine other writings, &c., of the same author or authority; if that does not suffice, we resort to contemporaneous writers, or declarations, or laws similar to that which forms our text.« (S. 119)

Die weiteren Regeln würden wir heute eher unter dem Gesichtspunkt der Konkurrenz von Normen und Prinzipien einordnen:

    1. The particular and inferior cannot defeat the general and superior.
    2. The exception is founded upon the superior.
    3. That which is probable, fair, and customary, is preferable to the improbable, unfair and unusual.
    4. We follow special rules given by proper authority.
    5. We endeavor to derive assistance from that which is more near, before proceeding to that which is less so.

Die neunte Regel leitet über zur Konstruktion:

    1. Interpretation is not the object, but a means; hence superior considerations may exist.

Sprachverständnis ist also nicht das letzte Ziel, sondern nur ein Mittel zum Zweck. Es führt, wie gesagt, nicht immer zum Ziel. Daher gilt

»Construction is unavoidable.« (S. 121)

Dafür sind drei Gründe maßgeblich: Der sprachliche Ausdruck bleibt immer unvollkommen, denn es wird nicht alles ausbuchstabiert. Vor allem aber zweitens: Die zu regelnden Fälle sind komplex und in ihrer Varianz unvorhersehbar:

»Men who use words, even with the best intent and great care as well as skill, cannot foresee all possible complex cases, and if they could, they would be unable to provide for them, for each complex case would require its own provision and rule; times and require its own provision and rule.« (S. 121)

Und drittens: Die Verhältnisse ändern sich.

Mit den Regeln der Hermeneutik als textübersteigender Konstruktion soll sich eine weitere Fortsetzung befassen.


[1] Der Zusatz »Enlarged Edition« bezieht sich darauf, dass die ersten fünf Kapitel weitgehend schon in Aufsatzform in der Zeitschrift »American Jurist« Nr. XXXV von Oktober 1837 (S. 37-101) und Nr. XXXVI von Januar 1838 (S. 281-294) erschienen waren.

[2] Roberta Kevelson, Francis Lieber and the Semiotics of Law, Semiotics: Yearbook of the Semiotic Society of America, 1981, 167–177, S. 167.

[3] »Vafer« musste ich erst im Lexikon nachschlagen. Es bedeutet abgefeimt oder schlau.

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Die Juristische Methodenlehre von Francis Lieber (1800-1872)

Die deutsche Rechtswissenschaft hat Francis Lieber bisher nicht wahrgenommen, wiewohl der Staatsrechtler Hugo Preuß ihn 1886 als »Bürger zweier Welten«[1] gewürdigt hatte. Aber es lohnt sich, Lieber zu entdecken, denn er hat fast gleichzeitig mit Schleiermacher[2] und Savigny[3] eine »Hermeneutik« verfasst, die sich wie ein Lehrbuch der Juristischen Methodenlehre liest.[4] Nur ist sie moderner als das Methodenkapitel Savignys. Dass seine Methodenlehre hierzulande noch gar nicht und auch in den USA kaum rezipiert worden, liegt vielleicht daran, dass man Lieber in erster Linie als Enzyklopädisten und Politikwissenschaftler wahrgenommen hat. Vor allem aber hat man ihn als Verfasser der »Political Ethic« von 1838 in Erinnerung, die 1863 als General Orders 100 durch Präsident Lincoln zum amerikanischen Militärgesetzbuch wurde.[5] Inhaltlich wurde es bald von anderen Staaten übernommen und später zur Grundlage der Haager Konventionen von 1899 und 1907.

Nachtrag vom 13. 3. 2025: Der Nachtrag gehört hier an den Anfang, denn ich bin erst heute auf den Aufsatz von Stephan Meder aufmerksam geworden, der diesen und den folgenden Eintrag überflüssig macht:

Stephan Meder, Interpretation und Konstruktion. Zur juristischen Hermeneutik von Francis Lieber (1800 – 1872), JZ 2012, 529–584.

Dieser Aufsatz hat allerdings – ganz zu Unrecht – kein großes Echo gefunden und es insbesondere nicht geschafft, die Hermeneutik Liebers im deutschsprachigen Raum bekannt zu machen.

Ich will mich auf Rsozblog nur mit der Methodenlehre befassen, die Lieber 1839 unter dem Titel Legal and Political Hermeneutics, Or, Principles of Interpretation and Construction in Law and Politics erstmals veröffentlichte. Aber die Biografie ist so spannend, dass ich nicht bloß auf Wikipedia und ältere im Internet verfügbare Biografien[6] verweisen will, sondern heute nur ausführlich die einschlägigen Passagen aus der Lobrede des Präsidenten auf der Jahrestagung der American Society of International Law im April 1913 zitiere:

»He was born in Berlin on the 18th of March, 1800. His childhood was passed in those distressful times when the declaration of the rights of man and the great upheaval of the French Revolution had inspired through out the continent of Europe a conception of popular liberty and awakened a strong desire to attain it, while the people of Prussia were held in the strictest subjection to an autocratic government of inveterate and uncompromising traditions. In the meantime foreign conquest, with the object lessons of Jena and Friedland and the Confederation of the Rhine, threatened the destruction of national in dependence; and love of country urged Germans to the support of a government which the love of liberty urged them to condemn. It was one of the rare periods in which political ideas force themselves into the thought and feeling of every intelligent life, and, alongside with the struggle for subsistence, the average man finds himself driven by a sense of necessity into a struggle for liberty, opportunity, peace, order, security for life and property – things which in ordinary times he vaguely assumes to come by nature like the air he breathes. So the early ideas of the child were filled with deep im pressions of the public life of the time. He remembered the entry of Napoleon into Berlin after Jena. He remembered the humiliation of the peace of Tilsit. He remembered Schill, the defender of Colberg, and Stein, and Scharnhorst. He was a disciple of Doctor Jahn, the manual trainer of German patriotism. At fifteen, after the es cape from Elba, he enlisted in the Colberg regiment and fought under Blucher at Waterloo. He was seriously wounded in the Battle of Namur and had the strange and vital discipline of lying long on the battlefield in expectation of death. He was a member of patriotic societies and was arrested in his nineteenth year, and imprisoned four months on suspicion of dangerous political designs. He was excluded from membership in the German universities, except Jena, where he received his degree of Doctor of Philosophy in 1820. At twenty-one he made his way to Greece with a company of other young Germans, inspired, by a generous enthusiasm for liberty, to an unavailing attempt to aid in the Greek War of Independence. Returning penniless from Greece he found his way to Rome, became a tutor in the family of Barthold George Niebuhr, then Prussian Ambassador, and there he won the confidence and life-long friendship of that great historian whose influence in familiar intercourse both increased the learning and calmed and sobered the judgment of the impetuous youth. Returning to Prussia, he was again arrested and imprisoned for nearly a year upon charges of disaffection to the government. Released through the intercession of Niebuhr, he went to England, and after a year’s hard struggle there, he came, in 1827, to the United States and to Boston. Seeking employment he found it in taking charge of the Boston Gymnasium. Through Niebuhr’s good offices he became the American correspondent of a group of German newspapers. He devised a plan for the publication of an encyclopedia, and for this he secured a distinguished list of contributors and associates. He became its editor, and in 1829 the publication of the Encyclopedia Americana was begun. It was a distinct success. Lieber’s connection with it not only forced him to a broad and accurate knowledge of American life, but brought him in contact with a great range of leaders of American thought and opinion, and this association gave him an intimate knowledge of American social conditions and public affairs. Bancroft, and Hilliard, and Everett, and Story, and Nicholas Biddle, and Charles Sumner were among his friends. In June, 1835, he was made Professor of History and Political Economy in South Carolina College, and for twenty-two years he held that chair, until, in 1857, he was called to Columbia College to be Professor of Modern History, Political Science. International Law, Civil and Common Law. His connection with Columbia and his residence in New York continued until his death in October, 1872. In the meantime, to the service as adviser to the government, which I have already described, he added the classification and arrangement of the Confederate archives in the office of the War Department, and long served e archives in the office of the War Department, and long served as umpire under the Mexican Claims Commision of July 4,1868.

Lieber himself has said that his life had been made up of many geological layers. The transition from his adventurous youth to the life of an American college professor did indeed carry him from igneous to sedimentary conditions. Under the new conditions, however, his surpassing energy and capacity for application found exercise in authorship. His work on Political Ethics, published in 1838, and that on Civil Liberty and Self-Government, published in 1853, gave him high rank among writers upon the philosophy of government.«

Vielleicht sollte ich noch hinzufügen, dass auch der Rechtsphilosoph John Austin (1790-1859) zu Liebers Freundeskreis gehörte.

Die Fortsetzung dieses Eintrags soll also Liebers Methodenlehre gelten.


[1] Hugo Preuß, Franz Lieber, ein Bürger zweier Welten, Berlin, 1886.

[2] Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik [1838], hg. von Manfred Frank, 9. Aufl. 2011. Aus der Sekundärliteratur Jan Rohls, Schleiermachers Hermeneutik, in: Andreas Arndt/Jörg Dierken (Hg.), Friedrich Schleiermachers Hermeneutik, 2016, 27–55.

[3] Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1, 1840, dort das IV. Kapitel von Buch I = §§ 32-51= S. 206-330. Aus der Sekundärliteratur Joachim Rückert, Methode und Zivilrecht beim Klassiker Savigny (1779-1861), in: ders./Ralf Seinecke, Methodik des Zivilrechts – von Savigny bis Teubner, 4. Aufl. 2024, 59–103.

[4] Francis Lieber, Legal and Political Hermeneutics, Or, Principles of Interpretation and and Construction in Law and Politics, Boston, 1839 (3. Aufl. postum 1880). Ich zitiere nach der im Internet Archive verfügbaren 1. Aufl. von 1839.

[5] 50 Jahre später widmete Elihu Root ihm dafür die Elihu Root,. Presidential Address auf dem 7. Annual Meeting der American Society of International Law (Francis Lieber, American Journal of International Law, 1913 453-469).

[6] Frank Freidel, Francis Lieber. Nineteenth-Century Liberal, 1967; Lewis R. Harley, Francis Lieber. His Life and Political Philosophy, 1899; Thomas Sergeant Perry (Hg.), Life and Letters of Francis Lieber, 1882. 2005 hat die University of South Carolina Lieber als ihr most illustrious faculty member in einem Sammelband mit 15 Beiträgen gewürdigt: Charles R. Mack/Henry H. Lesesne (Hg.), Francis Lieber and the Culture of the Mind, 2005.

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Handbuchwissenschaft

Der Begriff der Handbuchwissenschaft stammt bekanntlich von Ludwik Fleck.[1] Eine Grundeinsicht Flecks, derentwegen er heute immer wieder zitiert wird, geht dahin, dass Wissen insofern sozial bedingt ist, als nicht Individuen, sondern »Denkkollektive« Wissen produzieren, stabilisieren und tradieren.[2] Das »Handbuch« ist bei Fleck eher Metapher als Publikationsgattung. Es geht nicht um ein reales Handbuch im Sinne eines gedruckten Textes, sondern um ein virtuelles Handbuch. Deshalb schreibe ich das Handbuch, wie es von Fleck gedacht war, ab hier in Anführungszeichen. Erst im kollektiv erstellten »Handbuch« wird Wissen als etwas Feststehendes und Bewiesenes zur »wissenschaftlichen Tatsache«, das heißt, zur Aussage, die innerhalb der Wissenschaft akzeptiert ist.[3]

Fleck unterscheidet im vierten Kapitel seines Buches »Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache« zunächst fachmännische Publikationen und populäre Wissenschaft. Populäre Wissenschaft ist Wissenschaft, formuliert »für Nichtfachleute, also für breite Kreise erwachsener, allgemein gebildeter Dilettanten«.[4] In der Populärwissenschaft entfallen Einzelheiten und vor allem auch die »streitenden Meinungen«. Populäre Wissenschaft will anschaulich sein. Hinsichtlich der Populärwissenschaft spricht Fleck auch von exoterischem Wissen im Gegensatz zu esoterischem Wissen, das Fachleuten vorbehalten ist.[5] Entsprechend differenzieren sich die Denkkollektive in die esoterischen Kreise der »Fachleute« = Wissenschaftler und die exoterischen Kreise des Publikums (das weitgehend aus Wissenschaftlern anderer Fächer besteht). Innerhalb dieser Kreise und zwischen ihnen läuft der »intra- und interkollektiver Denkverkehr«.

Für das esoterische Wissen nennt Fleck drei  »denksoziale Formen« = Typen, nämlich Zeitschriftenwissenschaft, Handbuchwissenschaft und Lehrbuchwissenschaft, von denen die letztere aber »hier weniger wichtig ist«[6]. Entscheidend ist also der Gegensatz zwischen Handbuchwissenschaft und Zeitschriftenwissenschaft. Auch die Zeitschrift wird hier zur bloßen Metapher für einen Typus der Wissenschaft. Er trägt

»das Gepräge des Vorläufigen und Persönlichen. Das erste Merkmal zeigt sich zunächst darin, daß trotz der ausgesprochenen Begrenztheit der bearbeiteten Probleme, doch immer ein Streben betont wird, an die ganze Problematik des betreffenden Gebietes anzuknüpfen. Jede Zeitschriftarbeit enthält in der Einleitung oder in den Schlußfolgerungen eine solche Anknüpfung an die Handbuchwissenschaft als Beweis, daß sie ins Handbuch strebt und ihre gegenwärtige Position für vorläufig hält … .«[7]

Das zweite Merkmal der Zeitschriftenwissenschaft ist eigentlich das erste, »die Ein- und Erstmaligkeit des Arbeitsstoffes«, mit anderen Worten, das Innovative, Vorläufige und Individuelle:

»Das zweite Merkmal, das Persönliche der Zeitschriftwissenschaft steht in gewissem Zusammenhange mit dem ersten. Die Fragmentarität der Probleme, Zufälligkeit des Materials (z.B. Kasuistik in der Medizin), technische Einzelheiten, kurz die Ein- und Erstmaligkeit des Arbeitsstoffes verbinden ihn unzertrennlich mit dem Verfasser.«

Ein wichtiges Stück der Botschaft Flecks ging dahin, dass schon der einzelne Wissenschaftler, also auch der individuelle »Zeitschriften«-Autor, keine individuelle Leistung erbringt, sondern von einem »Denkkollektiv« getragen wird. Das ist aber jetzt nebensächlich. Hauptsache ist, dass der individuelle Wissenschaftler stets nach Anerkennung und Bestätigung durch ein größeres Denkkollektiv von Fachleuten sucht oder vielmehr, in der Formulierung Flecks, ins »Handbuch« strebt.

»… Aus der vorläufigen, unsicheren und persönlich gefärbten, nicht additiven Zeitschriftwissenschaft … wird in der intrakollektiven Gedankenwanderung zunächst die Handbuchwissenschaft …«

Das »Handbuch« bezeichnet den aktuellen Stand der Fachdisziplin. Es entsteht nicht einfach dadurch, dass die Menge der einzelnen »Zeitschriftenartikel« addiert wird. Sie muss vielmehr irgendwie konsolidiert werden:

»Das Handbuch entsteht also nicht einfach durch Summation oder Aneinanderreihung einzelner Zeitschriftenarbeiten, denn erstere ist unmöglich, weil diese Arbeiten oft einander widersprechen, und letztere auch kein geschlossenes System ergäbe, worauf die Handbuchwissenschaft zielt. Ein Handbuch entsteht aus den einzelnen Arbeiten wie ein Mosaik aus vielen farbigen Steinchen: durch Auswahl und geordnete Zusammenstellung. Der Plan, dem gemäß die Auswahl und Zusammenstellung geschieht, bildet dann die Richtungslinien späterer Forschung: er entscheidet, was als Grundbegriff zu gelten habe, welche Methoden lobenswert heißen, welche Richtungen vielversprechend erscheinen, welchen Forschern ein Rang zukommt und welche einfach der Vergessenheit anheimfallen. Ein solcher Plan entsteht im esoterischen Denkverkehr.«[8]

Das »Handbuch« stellt eine Form der Konsolidierung des Wissens dar.

» … die Fachbuchwissenschaft in ihrer Handbuchform [verlangt] eine kritische Zusammenfassung in ein geordnetes System«, sie erledigt die »kollektive Kontrolle und Verarbeitung« der Zeitschriftenwissenschaft. [9]

Days »Handbuch« wächst, wie gesagt, im esoterischen Kreis der Fachleute. Allerdings gibt es für die Zeitschriftenarbeit »spezielle Fachleute« (S. 148). Deshalb darf man annehmen, dass die Handbucharbeit von weniger spezialisierten Fachleuten geleistet wird, wichtiger aber, dass die Handbucharbeit auch unter dem Eindruck der populären Wissenschaft steht.

»Da populäre Wissenschaft den größten Teil der Wissensgebiete eines Menschen versorgt, da ihr auch der exakteste Fachmann viele Begriffe, viele Vergleiche und seine allgemeinen Anschauungen verdankt, ist sie allgemeinwirkender Faktor jeder Erkenntnis.« (S. 148)

Von der populären Wissenschaft sagt Fleck, sie sei nicht als Einführung in die esoterische Fachwissenschaft aufzufassen; das besorge das Lehrbuch (S. 149).

»Charakteristisch für eine populäre Darstellung ist der Wegfall der Einzelheiten und hauptsächlich der streitenden Meinungen, wodurch eine künstliche Vereinfachung erzielt wird. Sodann die künstlerisch angenehme, lebendige, anschauliche Ausführung. Endlich die apodiktische Wertung, das einfache Gutheißen oder Ablehnen gewisser Standpunkte. Vereinfachte, anschauliche und apodiktische Wissenschaft – das sind die wichtigsten Merkmale exoterischen Wissens. …. [Es] schließt sich der Zirkel intrakollektiver Abhängigkeit des Wissens: Aus dem fachmännischen (esoterischen) Wissen entsteht das populäre [exoterische). Es erscheint dank der Vereinfachung, Anschaulichkeit und Apodiktizität sicherer, abgerundeter und fest gefügt. Es bildet die spezifische öffentliche Meinung und Weltanschauung und wirkt in dieser Gestalt auf den Fachmann zurück.« (S. 149f)

»Gewißheit, Einfachheit, Anschaulichkeit entstehen erst im populären Wissen; den Glauben an sie als Ideal des Wissens holt sich der Fachmann von dort.« (S. 152)

Letztlich wird sogar

»die Wahrheit zur objektiv existierenden Qualität gemacht. Auch diese Wertung – ein allgemeiner Zug exoterischen Denkens – entstand durch die Forderungen intrakollektiven Denkverkehrs und wirkt dann auf das fachmännische Wissen zurück.« (S. 153)

Das »Handbuch« versammelt also das kollektive und damit allgemeingültige Wissen. Die Folge ist eine Kanonisierung des Wissens, die zu einem »Denkzwang« führt.   Die Handbuchwissenschaft

»wählt, vermengt, passt an und verbindet exoterisches, fremdkollektives und streng fachmännisches Wissen zu einem System. Die entstandenen Begriffe werden tonangebend und verpflichten jeden Fachmann: aus dem vorläufigen Widerstandsaviso wird ein Denkzwang, der bestimmt, was nicht anders gedacht werden kann, was vernachlässigt oder nicht wahrgenommen wird, und wo umgekehrt mit doppelter Schärfe zu suchen ist: Die Bereitschaft für gerichtetes Wahrnehmen verdichtet sich.«[10]

Der Begriff der Kanonisierung, den Fleck selbst nicht verwendet, passt nicht ganz, denn ein Kanon meint in erster Linie einen festen Bestand von einzelnen Texten, insbesondere heiligen Texten und Klassikern. Ein »Kanon« entsteht nicht erst durch eine gezielte Auswahl, sondern er entwickelt sich ungeplant, sobald eine wissenschaftliche Fachgemeinschaft heranwächst. Er bildet eine gemeinsame Wissensbasis und übt eine gemeinschaftsbildende Kraft. Wer das Fach studieren und dazu gehören will, muss sich diese Texte aneignen. Aber wir dürfen wohl doch in einem übertragenen Sinne von einer Kanonisierung des Wissens sprechen, um die handbuchmäßige Konsolidierung des Wissens zu charakterisieren, denn Fleck betont mehrfach den exkludierenden Charakter des »Handbuchs«.

Indirekt geschieht das, indem er uns das »Denkkollektiv« als »ein ausgebautes, geschlossenes Meinungssystem« vorstellt, »das aus vielen Einzelheiten und Beziehungen besteht«. Einmal geformt, … beharrt es beständig gegenüber allem Widersprechenden.«[11] Die nachfolgende Erläuterung ist eine perfekte Vorwegnahme dessen, was die Postmoderne als perspektivisches Denken kritisiert:

»1. Ein Widerspruch gegen das System erscheint undenkbar.

    1. Was in ein System nicht hineinpasst, bleibt ungesehen, oder
    2. es wird verschwiegen, auch wenn es bekannt ist, oder
    3. es wird mittels großer Kraftanstrengung dem Systeme nicht widersprechend erklärt.
    4. Man sieht, beschreibt und bildet sogar Sachverhalte ab, die dem herrschenden Anschauungen entsprechen, d. h. die sozusagen ihre Realisierung sind – trotz aller Rechte widersprechender Anschauungen.« [12]

Später erfahren wir, dass die »Handbuchmeinung« für die «Übermacht der Masse über die Elite im demokratischen Denkkollektiv« steht. Zugleich macht Fleck aber dem einzelnen Forscher Mut, gehört er doch zur »Vorhut« und weiß, dass die Handbuchmeinung »immer bereits überholt ist«:

»In der modernen fortschreitenden Wissenschaft zeigt sich die Beziehung der Zeitschriftenwissenschaft zur Handbuchwissenschaft in einer charakteristischen Struktur des esoterischen Kreises: es gleicht einer Truppe im Marsch. In jeder Disziplin, ja in Bezug auf fast jedes Problem besteht eine Vorhut: die Gruppe der dieses Problem praktisch bearbeitenden Forscher; dann eine Haupttruppe: die offizielle Gemeinschaft, und schließlich mehr oder weniger desorganisierte Nachzügler.«[13]

Am Ende sei nur noch festgehalten: Bei Thomas Kuhn, der zunächst gelobt wurde, weil er Ludwik Fleck wiederentdeckt hatte, der aber heute eher als dessen Epigone gilt, wird aus der Handbuchwissenschaft das Paradigma.

Was bringt das alles für die neue Flut der Handbücher? Wenig. Für das Wenige brauche ich aber wohl doch noch eine Fortsetzung.


[1] Ludwik Fleck (1994, S. 156ff) Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, 1980 [1935].

[2] Literatur zu Fleck: Gutes Referat von Christiane Andersen, Wissenschaftliche Denkstile im Deutschen als Fach- und Fremdsprache, in: Michael Szurawitzki/Patrick Wolf-Farré, Handbuch Deutsch als Fach- und Fremdsprache, 2024, 7–21; elaborierter Wilhelm Baldamus, Das exoterische Paradox der Wissenschaftsforschung: Ein Beitrag zur Wissenschaftstheorie Ludwik Flecks, Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 10, 1979, 213-233. Ferner Achim Hahn, Denkstil und Denkkollektiv, in: Karsten Berr, Transdisziplinäre Landschaftsforschung, 2018, 97–108; Paweł Jarnicki/Hajo Greif, The ‘Aristotle Experience’ Revisited : Thomas Kuhn Meets Ludwik Fleck on the Road to Structure, Archiv für Geschichte der Philosophie 2024, 313–349; Clemens Knobloch, Ludwik Fleck und die deutsche Sprachwissenschaft, Zeitschrift für germanistische Linguistik 2019, 569–596. Bettina Radeiski, Denkstil, Sprache und Diskurse. Überlegungen zur Wiederaneignung Ludwik Flecks für die Diskurswissenschaft nach Foucault, 2017; Hannah Rosenberg, Wissenschaftsforschung als Diskursforschung. Überlegungen zur Selbstreflexion wissenschaftlicher Diskziplinen im Anschluss an Ludwik Fleck, Zeitschrift für Diskursforschung 6, 2018, 27–50;

[3] Fleck S. 164.

[4] Fleck S. 149.

[5] Fleck S. 147.

[6] Fleck S. 148.

[7] Fleck S. 156.

[8] Fleck S. 158.

[9] Fleck S. 156f.

[10] Fleck S. 163.

[11] Fleck S. 40.

[12] Fleck S. 40.

[13] Fleck S. 163.

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Von unnützen Büchern

Von unnützen Büchern handelt das erste Kapitel von Sebastian Brants berühmten »Narrenschiff« von 1494.

Hubert Spiegel hat das Gedicht heute in der Frankfurter Anthologie gewürdigt und, es – sicher im Sinne Brants – dahin interpretiert, dass nicht die Bücher unnütz und wertlos seien, sondern ihr Besitzer ein Nichtsnutz mit Bibliothek. Doch wie es mit guten Gedichten nun einmal steht, so hat auch dieses, heute jedenfalls, einen Doppelsinn, und Spiegel lässt diesen mit seinem Eingangssatz anklingen:

»Auch in diesem jetzt zuende gehenden Jahr wurde wieder mehr geschrieben, als gelesen und verstanden werden konnte. Spätestens seit der Verbreitung des Buchdrucks sieht sich der lesende Teil der Menschheit einem Problem gegenüber, für das sich bis heute keine Lösung hat finden lassen: Die Überproduktion allen Schrifttums. Texte  provozieren neue Texte. Bücher zeugen Bücher.«

Dann schiebt aber auch Spiegel die Verantwortung auf die törichten Leser. Aber es gibt wirklich überflüssige Bücher und noch mehr unnütze Aufsätze sowie viele Blogeinträge, die man vergessen kann.

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Nebenkostensense statt Mietpreisbremse

Bevor ich die Reihe zur neuen Flut der Handbücher fortsetze, aus Anlass der bevorstehenden Bundestagswahl etwas Rechtspolitisches.

Die hohen Kosten einer Mietwohnung sind eines der großen sozialen Probleme, mit denen die Politik aktuell zu kämpfen hat. Das Rezept der noch amtierenden Regierung ist die Mietpreisbremse, ein Eingriff in das Marktgeschehen, der vermutlich auf längere Sicht eher kontraproduktiv wirkt. Produktiv dagegen wäre eine Verlagerung der Nebenkosten auf die Vermieter = Grundstückseigentümer. Den Anfang sollte die Politik damit machen, die Umlagefähigkeit der Grundsteuer auf die Mieten zu streichen. Am Ende sollten nur noch verbrauchsabhängige Kosten umlagefähig sein.

Rechtsgrundlage für die Berechnung der Mietnebenkosten ist § 556 Abs. 1 BGB. Nach Satz 1 dieser Vorschrift »können« die Vertragsparteien vereinbaren, dass der Mieter die Betriebskosten trägt, und das geschieht praktisch immer. Nach § 556 Abs. 1 Satz 2 BGB sind Betriebskosten »die Kosten, die dem Eigentümer oder Erbbauberechtigten durch das Eigentum oder das Erbbaurecht am Grundstück oder durch einen bestimmungsgemäßen Gebrauch des Gebäudes, der Nebengebäude, Anlagen, Einrichtungen und des Grundstücks laufend entstehen.« Satz 3 bestimmt sodann: »Für die Aufstellung der Betriebskosten gilt die Betriebskostenverordnung«. Die Verordnung bietet in ihrem § 2 eine abenteuerliche Liste von 16 Positionen und unter Nr. 17 noch eine Auffangklausel für »sonstige Kosten«, die etwa dazu genutzt wird, dem Mieter die Dachrinnenreinigung in Rechnung zu stellen.

Bei den folgenden Überlegungen gilt es, das Normalbild eines Mietvertrages nach § 535 BGB im Auge zu behalten. Dazu gehört, dass der Vermieter die laufenden Kosten und Lasten der Mietsache trägt.[1] Dieses Normalbild ist nach Leitlinie für die Inhaltskontrolle Allgemeiner Geschäftsbedingungen. § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB spricht insoweit von »der Natur des Vertrags«. Bei den Betriebskosten geht es nicht um die Kontrolle Allgemeiner Geschäftsbedingungen, aber immerhin um Rechtsverordnung, die regelmäßig über Allgemeine Geschäftsbedingugen zum Vertragsinhalt wird.

An erster Stelle des Betriebskostenkatalogs stehen »laufenden öffentlichen Lasten des Grundstücks, … namentlich die Grundsteuer« (§ 2 Nr. 1 BetrKV). Da fragt man sich, was diese Lasten mit dem Gebrauch des Grundstücks zu tun haben. Sie fallen unabhängig davon an, ob das Grundstück genutzt wird oder nicht. Die Grundsteuer wurde kürzlich in der Presse als »kleine Vermögenssteuer« bezeichnet. Sollen also die Mieter Vermögenssteuer für die Grundeigentümer zahlen?

Mit den Kosten der Sach- und Haftpflichtversicherung, die nach § 2 Nr. 13 BetrKV umlagefähig sind, liegt es ähnlich. Auch wenn Haus oder Wohnung leer stehen, wird ein vernünftiger Eigentümer sie versichern. Die Haftpflichtversicherung kann so abgeschlossen werden, dass sie auch die Mieter schützt. Aber das ist überflüssig, denn die meisten Mieter haben eine Privathaftpflichtversicherung.

Es steht außer Frage, dass der Vermieter die Möglichkeit haben muss, die verbrauchsabhängigen Kosten umzulegen. Für die Heizungskosten ist das sogar vorgeschrieben. Aber bei vielen anderen Positionen im Katalog des § 2 BetrKV ist rätselhaft, was die mit dem »bestimmungsgemäßen Gebrauch« des Hausgrundstücks zu tun haben. Man hat vielmehr den Eindruck, dass schlicht alle laufenden Kosten des Grundeigentums dem Mieter angelastet werden.

Die Kosten der Straßenreinigung (§ 2 Nr. 8 BetrKV) fallen unabhängig vom Gebrauch des Grundstücks an. Nach § 2 Nr. 3 trägt der Mieter die Kosten der Entwässerung. Die Abführung des Regenwassers bleibt notwendig, auch wenn das Grundstücks nicht vermietet ist. Anders nur das Brauchwasser. Dessen Beseitigung wird in der Regel durch eine Gebühr nach Maßgabe des verbrauchten Frischwassers beglichen. Nur dieser Anteil der Entwässerungskosten sollte auf den Mieter entfallen. Warum soll der Mieter auch die Kosten einer Entwässerungspumpe tragen? Wenn der Eigentümer in einer Weise baut, dass das Abwasser nicht durch natürliches Gefälle abfließt, dann mag er dafür zahlen, dass das Gebäude erst durch eine Hebeanlage überhaupt nutzbar wird. Nur so werden die Mieten, wie sie in einen Mietspiegel eingehen, vergleichbar.

Auch hinsichtlich anderer Positionen des Betriebskostenkatalogs wundert sich der Laie und staunt der nachdenkliche Fachmann, warum der Mieter sie tragen soll. Das gilt zum Beispiel hinsichtlich der Kosten der Immissionsschutzmessungen und Eichungen der Heizungsanlage. Zu den »wesentlichen Pflichten, die sich aus der »Natur des [Miet-]Vertrages ergeben« (§ 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB) gehört eine funktionierende Heizung, und es sollte selbstverständlich sein, dass die den behördlichen Vorschriften entspricht. Da fehlt nur noch, dass der Mieter auch die Kosten einer behördlichen Bauabnahme trägt.[2] Ähnliches gilt für die »Kosten des Betriebs eines Personen- oder Lastenaufzugs« (§ 2 Nr. 7 BetrKV). Man mietet eine Wohnung mit funktionierendem Aufzug; da wäre die »Überwachung und Pflege der Anlage, die regelmäßige Prüfung ihrer Betriebsbereitschaft und Betriebssicherheit einschließlich der Einstellung durch eine Fachkraft« (§ 2 Nr. 7 BetrKV) Sache des Vermieters. So könnte man fortfahren, etwa mit der Frage, warum Mieter für die Erneuerung von Pflanzen und Gehölzen« im Garten (§ 2 Nr. 10 BetrKV) zahlen sollen. Jeder einzelne Katalogposten müsste daraufhin überprüft werden, ob er nach der »Natur des Vertrags« umlagefähig sein soll. »Natur des Vertrags« wäre dabei die Überlassung einer dauerhaft nutzbaren Mietwohnung gegen Entgelt. Die Überprüfung wäre Aufgabe der Rechtspolitik, und man wundert sich, warum die Mieterlobby insoweit nicht längst aktiv geworden ist.

In der aktuellen politischen Situation, in der die amtierende Regierung noch vor dem Wahltermin mit dem Vorhaben einer Mietpreisbremse punkten möchte, geht es zunächst nur darum, was Parteien, die die Mietpreisbremse für kontraproduktiv halten, ihr entgegensetzen könnten. Denn darüber sollte kein Zweifel bestehen: die Situation auf dem Wohnungsmarkt ist so prekär, dass jede Partei bekennen muss, wie sie Abhilfe schaffen will. Da wäre ein erster Schritt die Ankündigung: Nach der Wahl werden wir die Umlagefähigkeit der Grundsteuer abschaffen und dann schrittweise eine weitere Bereinigung des Betriebskostenkatalogs in Angriff nehmen, ohne dass diese Maßnahmen unmittelbar zu Mieterhöhungen führen dürfen. Dieses Vorgehen wäre legitim, denn die Grundeigentümer sind, anders als die Mieter, die Gewinner des Inflationsschubs der letzten Jahre. Darüber hinaus wäre jede Kürzung des Katalogs und damit jede Vereinfachung der Nebenkostenabrechnung höchst erwünscht, steckt doch in der Abrechnung viel Bürokratie und noch mehr Konfliktpotential. Dass sich auf Dauer eine Verlagerung der nicht gebrauchsabhängigen Nebenkosten auf die Vermieter in den Mieten niederschlagen wird, ist klar. Immerhin gibt es für die Vermieter einen Sparanreiz, wenn sie »Betriebskosten« (die keine sind), nicht einfach umlegen können. Damit wäre dem Wirtschaftlichkeitsgrundsatz, auf den § 556 Abs. 3 Satz 1 BGB den Vermieter entgegen dem Wortlaut des Gesetzes nicht nur bei der Abrechnung, sondern schon bei der Verursachung der Betriebskosten verpflichtet[3], besser gedient.

Eine Kürzung des Umlagenkatalogs der BetrKV wäre rechtstechnisch relativ einfach zu bewerkstelligen, handelt es sich doch um eine Rechtsverordnung, die von der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrats geändert werden kann. Für Juristen interessant wird dann immerhin das Verhältnis von § 556 Abs. 1 BGB zur Betriebskostenverordnung; rechtstechnisch formuliert, Art und Umfang der Verordnungsermächtigung. Wie, wenn ein Grundeigentümer nach Streichung der Grundsteuer aus dem Betriebskostenkatalog auf den Gedanken käme, dass doch das Gesetz Vorrang vor der Verordnung habe mit der Folge, dass die Grundsteuer unmittelbar aus § 556 Abs. 1 BGB umlagefähig sei? Insoweit ist man sich einig, dass der Katalog der BetrKV abschließend ist, das heißt, dass darüber hinaus keine umlagefähigen Kosten aus § 556 Abs. 1 BGB hergeleitet werden können.[4] Ein Mieter könnte aber umgekehrt die Idee fassen und klagen, weil die Grundsteuer nicht von dem »bestimmungsgemäßen Gebrauch« des Grundstücks abhängig ist. Damit hätte er aktuell keinen Erfolg, denn § 556 Abs. 1 Satz verweist für die »Aufstellung der Betriebskosten« auf die ältere BetrKV,  und hat damit indirekt die Umlagefähigkeit der Grundsteuer akzeptiert. Doch dabei muss es nicht bleiben.

Sieht man nur auf den unbestimmten Rechtsbegriff, mit dem das Gesetz die Betriebskosten definiert, nämlich die bei einem bestimmungsmäßigen Gebrauch des Grundstücks laufend anfallenden Kosten, so fällt es schwer, darunter auch die Grundsteuer zu subsumieren. Der »Gebrauch« des Grundstücks spielt im gängigen Verständnis der Vorschrift nur insofern eine Rolle, als die durch bestimmungswidrigen Gebrauch des Gebäudes entstehenden Kosten nicht zu den Betriebskosten gerechnet werden. Beispiele sind schwer zu finden. Die Folge ist, dass praktisch alle laufenden Kosten zu den umlagefähigen Nebenkosten gezählt werden. Dem unbefangenen Leser des § 556 Abs. 1 BGB erscheint es dagegen so, dass die laufenden Kosten etwas mit dem Gebrauch des Gebäudes zu tun haben müssen, damit sie umlagefähig sind. Eben deshalb heißen sie Betriebskosten. Und so erscheint es ziemlich klar, dass die Grundsteuer, lässt man die historische Entwicklung außer Acht, jedenfalls nach der Definition des § 556 Abs. 1 BGB, nicht zu den Betriebskosten gehört. Auch hinsichtlich vieler anderer Positionen des Betriebskostenkatalogs lässt sich bei diesem Wortlautverständnis streiten, ob sie von § 556 Abs. 1 BGB gedeckt sind.

Wenn der Wortlaut des Gesetzes keine Klarheit bringt, muss man nach dem Zweck des Gesetzes fragen. § 556 Abs. 1 wurde durch das Föderalismusreform-Begleitgesetz vom 5. 9. 2006 in das BGB eingefügt, als seinerzeit in Folge einer Änderung des Grundgesetzes die Gesetzgebungskompetenz für die Förderung sozialen Wohnraums auf die Länder überging. Damit sollte inhaltlich die bestehende Regelung fortgeschrieben werden, wie sie in der BetrKV vom 25. 11. 2003 festgehalten war. Diese Verordnung war auf Grund einer Ermächtigung im alten Wohnraumförderungsgesetz erlassen worden, hatte aber wiederum Vorgänger, die bis auf das Reichsmietengesetz von 1922 zurückgeführt werden können.[5] Die Begründung zur Betriebskostenverordnung von 2003[6] ist unergiebig. Mangels einschlägiger Gesetzesmaterialien muss der Interpret sich selbst überlegen, was Sinn und Zweck des Gesetzes sein soll.

Der Grundgedanke für die Überwälzung der Betriebskosten auf die Mieter war wohl der, dass im Hinblick auf die fest vereinbarte Miete der Vermieter von dem Risiko der Kostensteigerung entlastet werden sollte. Dieser Gedanke war von vornherein fragwürdig angesichts des Umstands, dass – von den reinen Verbrauchskosten abgesehen – der Vermieter viel eher in der Lage ist als der Mieter, auf die Höhe der laufenden Kosten Einfluss zu nehmen. Heute ist er obsolet, weil der Gesetzgeber in §§ 558 ff BGB die Möglichkeit eröffnet hat, langfristig die Miete zu erhöhen. Wortlaut und Zweck des Gesetzes passen daher gut zusammen, wenn man § 556 dahin auslegt, dass umlagefähig nur solche Kosten sein sollen, die mit dem Gebrauch der Mietsache in Verbindung stehen,

Damit eröffnet sich sekundär die Frage, ob die »Aufstellung« des Verordnungsgebers als verbindliche Auslegung zu gelten hat, soweit sie nicht geradezu willkürlich ist. Willkürlich ist sie selbst hinsichtlich der Grundsteuern wohl schon deshalb nicht, weil diese seit beinahe unvordenklicher Zeit[7] zu den umlagefähigen Nebenkosten gehört. Aber Tradition sollte hier kein Argument sein. Wenn tatsächlich die »Aufstellung« der BetrKV verbindlich wäre – das ist eine interessante Frage, auf die auch Juristen keine klare Antwort haben – , dann hätte das zur Folge, dass eine Mieterklage gegen die Berechnung der Grundsteuer als Nebenkosten aktuell abgewiesen werden müsste. Aber der Verordnungsgeber wäre nicht gehindert, im Rahmen einer vertretbaren Auslegung des 556 Abs. 1 BGB die Grundsteuer und eine Reihe anderer Positionen aus dem Betriebskostenkatalog zu entfernen. Damit sollte die nächste Bundesregierung sich beeilen.


[1] Schmidt-Futterer/Lehmann-Richter, Mietrecht, 16. Aufl. 2024, § 556 BGB, Rn. 1. Nach Rn. 15 fehlt den Regelungen im BGB zu den Betriebskosten im Kern ein überzeugendes Konzept.

[2] Der BGH hält auch wiederkehrende Kosten, die dem Vermieter zur Prüfung der Betriebssicherheit einer technischen Anlage (hier: Elektroanlage) entstehen, als »sonstige Betriebskosten« für umlagefähig (Urteil vom 19.01.2007 – V ZR 26/06). Immerhin wird insoweit ausdrückliche Vereinbarung im Mietvertrag verlangt.

[3] Zehelein, Münchener Kommentar zum BGB, 9. Auflage 2023, Rn. 114.

[4] Emmerich bei Fn. 47.

[5] Die Entwicklung der aktuellen Rechtslage beschreibt Jost Emmerich, Wann sind Betriebskosten eigentlich Betriebskosten?, NZM (Neue Zeitschrift für Miet- und Wohnungsrecht) 2022, 273-312.

[6] Bundesratsdrucksache BR 568/03 vom 15. 8. 2003 [https://dserver.bundestag.de/brd/2003/0568-03.pdf].

[7] In der Kommentarliteratur heißt es, der Betriebskostenbegriff sei in § 556 Abs. 1 BGB durch seine Herkunft aus älteren Bestimmungen »klar und eindeutig« geregelt (Zehelein, Münchener Kommentar zum BGB, Rn. 5 zu § 1 BetrKV, 9. Auflage 2023).

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Ein zweiter Blick auf die Flut der Handbücher: Handbücher als Literaturgattung

Bei Routledge, wo man aktuell 357 Handbücher zählt , die sich mit Recht (Law) befassen, ist wieder ein einschlägiger Band angekündigt, und wieder finden sich unter den 30 Autoren auch einige Prominente.[1]

Im vorausgegangenen Eintrag habe ich mir keine Mühe gegeben, das Handbuch als besondere Literaturgattung einzuordnen. Das gilt es nachzuholen.

Das Handbuch trägt seinen Namen, weil es verspricht, dass man nur einen Band in die Hand nehmen muss, um sich zu informieren. Mir geht es nur um wissenschaftliche Handbücher. Vielfach wird der Titel auch für Praxishandbücher verwendet. Beispiel wären das vom Bundesministerium der Justiz herausgegebene »Handbuch der Rechtsförmlichkeit« (2008), das Handbook: Introducing the Stateness Index StIx oder das Wikipedia Handbuch für Autoren. Extrembeispiele sind Betriebsanleitungen für technische Geräte wie Autos oder für Verfahren. Hier ist der englische Begriff des manual einschlägig.

Es ist typisch für Handbücher, dass sie ein Sachgebiet entlang einer Reihe von Stichworten abhandeln. Aber die Stichworte sind, anders als in Lexika,  systematisch und nicht alphabetisch geordnet. Ihre Anzahl bleibt zweistellig, in der Regel sogar unter 30. Als Überschriften dienen meist, anders als in Lexika, nicht Stichworte im eigentlichen Sinne, sondern Mehrwort-Überschriften. Alphabetisch geordnet sind auch viele Enzyklopädien. Mit Handbüchern haben sie gemeinsam, dass sie einen (noch) größeren Sachbereich abdecken wollen. Der Vollständigkeitsanspruch unterscheidet beide von den unzähligen Gelegenheits-Sammelbänden.

Wissenschaftliche Handbücher werden meistens von mehreren Autoren erstellt. Herausgeber übernehmen vorab die Gliederung des Stoffs in separate Artikel. Untypisch sind Handbücher in Gestalt von Monografien. Untypisch sind insofern viele »Handbücher« der Juristen, die Einzelthemen in Monografien abhandeln. Mit den typischen Handbüchern haben sie gemeinsam den Anspruch, den aktuellen Wissensstand eines Sachgebiets wiederzugeben. Dabei wird die Systematik stärker betont als in den Multi-Autoren-Handbüchern. So kann das Handbuch zum Lehrbuch werden und umgekehrt, so dass manche Bände beides im Titel tragen.[2] In jüngerer Zeit differenzieren sich die Gattungen, weil Lehrbücher sich um eine didaktische Darstellung bemühen.

Enzyklopädien unterscheiden sich von Handbüchern darin, dass sie einen größeren Bereich des Wissens mit großer Detailtiefe darstellen. Die klassische Enzyklopädie der Aufklärungszeit von Diderot und d’Alembert war eine Universalenzyklopädie, die das gesamte Wissen ihrer Zeit zusammenfassen wollte[3]. Das 19. Jahrhundert nutzte den Titel aber auch für Monografien, so Hegel für seine dreibändige »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse«. egel für seine dreibändige Jüngere Enzyklopädien sind meist Spezialenzyklopädien, die allerdings meist immer noch weiter ausgreifen als Handbücher. Für Geisteswissenschaftler unentbehrlich ist die Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft von Pauly-Wissowa-Kroll.[4] Analog unterscheiden sich Universallexika und Fachlexika. Ein Fachlexikon in diesem Sinne ist das »Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft«, bekannt unter dem Titel »Religion in Geschichte und Gegenwart« (RGG). Die Benennung dieses mehrbändigen Opus ist eher irreführend, denn in der Regel beschränken sich Wörterbücher auf kurze Erläuterungen und Definitionen. Das gilt erst recht für Fremdsprachen-Wörterbücher.

Anders als wissenschaftliche Handbücher wenden Fach-Lexika und Wörterbücher sich eher an Laien als an Wissenschaftler. Das gilt auch für Rechtswörterbücher, etwa für das von der Bundeszentrale für politische Bildung im Internet zur Verfügung gestellte Rechtslexikon. Ähnlich das Rechtslexikon.net. An das studentische Publikum richtet sich das Rechtslexikon der Plattform JURAFORUM. Von mir sehr geschätzt wird das gleichfalls an Studenten gerichtete Legal Theory Lexicon von Lawence B. Solum. Auch an Profis wiederum richtet sich Black’s Law Dictionary, das seit 1860 erscheint[5].

Von solchen Fachlexika zu unterscheiden sind die für das allgemeine Publikum bestimmten Universallexika, die als Konversationslexika seit Beginn des 18. Jahrhundert entstanden und noch im 20. Jahrhundert in jedem gut sortierten Bücherschrank vertreten waren. Heute werden sie zunehmend durch Online-Lexika, allen voran Wikipedia, verdrängt.

Eine Fortsetzung soll sich der Besonderheit der »Handbuchwissenschaft« widmen.


[1] Routledge Handbook of the Rule of Law, hg. von Michael Sevel, angekündigt für 2025. Unter den Autoren Frederick Schauer, Sanne Taekema, Mark Tushnet und Laura Nader.

[2] Z. B. Hans Schneider, Gesetzgebung. Ein Lehr- und Handbuch, 3 Aufl. 2002.https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/wissen-2021/325603/von-enzyklopaedien-zu-wikipedia-und-zurueck/

[3] Wikipedia, Geschichte und Entwicklung der Enzyklopädie. ZU Wissenschaftsgeschichte der Enzyklopädie Mathias Grote, Von Enzyklopädien zu Wikipedia und zurück?, APuZ 2021.

[4] Eine Fachbuchreihe verbirgt sich dagegen hinter dem »Handbuch der Altertumswissenschaft«. Dort haben auch bedeutende Juristen wie Franz Wieacker und Hans Julius Wolff Bände beigesteurt. Die verfügbaren Bände erscheinen im C. H. Beck Verlag.

[5] Ich habe die 5. Auflage von 1979.

[6] Thoma Kuhn, Die Struktuzr wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl. 1976, S. 16,

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