Handbuchwissenschaft

Der Begriff der Handbuchwissenschaft stammt bekanntlich von Ludwik Fleck.[1] Eine Grundeinsicht Flecks, derentwegen er heute immer wieder zitiert wird, geht dahin, dass Wissen insofern sozial bedingt ist, als nicht Individuen, sondern »Denkkollektive« Wissen produzieren, stabilisieren und tradieren.[2] Das »Handbuch« ist bei Fleck eher Metapher als Publikationsgattung. Es geht nicht um ein reales Handbuch im Sinne eines gedruckten Textes, sondern um ein virtuelles Handbuch. Deshalb schreibe ich das Handbuch, wie es von Fleck gedacht war, ab hier in Anführungszeichen. Erst im kollektiv erstellten »Handbuch« wird Wissen als etwas Feststehendes und Bewiesenes zur »wissenschaftlichen Tatsache«, das heißt, zur Aussage, die innerhalb der Wissenschaft akzeptiert ist.[3]

Fleck unterscheidet im vierten Kapitel seines Buches »Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache« zunächst fachmännische Publikationen und populäre Wissenschaft. Populäre Wissenschaft ist Wissenschaft, formuliert »für Nichtfachleute, also für breite Kreise erwachsener, allgemein gebildeter Dilettanten«.[4] In der Populärwissenschaft entfallen Einzelheiten und vor allem auch die »streitenden Meinungen«. Populäre Wissenschaft will anschaulich sein. Hinsichtlich der Populärwissenschaft spricht Fleck auch von exoterischem Wissen im Gegensatz zu esoterischem Wissen, das Fachleuten vorbehalten ist.[5] Entsprechend differenzieren sich die Denkkollektive in die esoterischen Kreise der »Fachleute« = Wissenschaftler und die exoterischen Kreise des Publikums (das weitgehend aus Wissenschaftlern anderer Fächer besteht). Innerhalb dieser Kreise und zwischen ihnen läuft der »intra- und interkollektiver Denkverkehr«.

Für das esoterische Wissen nennt Fleck drei  »denksoziale Formen« = Typen, nämlich Zeitschriftenwissenschaft, Handbuchwissenschaft und Lehrbuchwissenschaft, von denen die letztere aber »hier weniger wichtig ist«[6]. Entscheidend ist also der Gegensatz zwischen Handbuchwissenschaft und Zeitschriftenwissenschaft. Auch die Zeitschrift wird hier zur bloßen Metapher für einen Typus der Wissenschaft. Er trägt

»das Gepräge des Vorläufigen und Persönlichen. Das erste Merkmal zeigt sich zunächst darin, daß trotz der ausgesprochenen Begrenztheit der bearbeiteten Probleme, doch immer ein Streben betont wird, an die ganze Problematik des betreffenden Gebietes anzuknüpfen. Jede Zeitschriftarbeit enthält in der Einleitung oder in den Schlußfolgerungen eine solche Anknüpfung an die Handbuchwissenschaft als Beweis, daß sie ins Handbuch strebt und ihre gegenwärtige Position für vorläufig hält … .«[7]

Das zweite Merkmal der Zeitschriftenwissenschaft ist eigentlich das erste, »die Ein- und Erstmaligkeit des Arbeitsstoffes«, mit anderen Worten, das Innovative, Vorläufige und Individuelle:

»Das zweite Merkmal, das Persönliche der Zeitschriftwissenschaft steht in gewissem Zusammenhange mit dem ersten. Die Fragmentarität der Probleme, Zufälligkeit des Materials (z.B. Kasuistik in der Medizin), technische Einzelheiten, kurz die Ein- und Erstmaligkeit des Arbeitsstoffes verbinden ihn unzertrennlich mit dem Verfasser.«

Ein wichtiges Stück der Botschaft Flecks ging dahin, dass schon der einzelne Wissenschaftler, also auch der individuelle »Zeitschriften«-Autor, keine individuelle Leistung erbringt, sondern von einem »Denkkollektiv« getragen wird. Das ist aber jetzt nebensächlich. Hauptsache ist, dass der individuelle Wissenschaftler stets nach Anerkennung und Bestätigung durch ein größeres Denkkollektiv von Fachleuten sucht oder vielmehr, in der Formulierung Flecks, ins »Handbuch« strebt.

»… Aus der vorläufigen, unsicheren und persönlich gefärbten, nicht additiven Zeitschriftwissenschaft … wird in der intrakollektiven Gedankenwanderung zunächst die Handbuchwissenschaft …«

Das »Handbuch« bezeichnet den aktuellen Stand der Fachdisziplin. Es entsteht nicht einfach dadurch, dass die Menge der einzelnen »Zeitschriftenartikel« addiert wird. Sie muss vielmehr irgendwie konsolidiert werden:

»Das Handbuch entsteht also nicht einfach durch Summation oder Aneinanderreihung einzelner Zeitschriftenarbeiten, denn erstere ist unmöglich, weil diese Arbeiten oft einander widersprechen, und letztere auch kein geschlossenes System ergäbe, worauf die Handbuchwissenschaft zielt. Ein Handbuch entsteht aus den einzelnen Arbeiten wie ein Mosaik aus vielen farbigen Steinchen: durch Auswahl und geordnete Zusammenstellung. Der Plan, dem gemäß die Auswahl und Zusammenstellung geschieht, bildet dann die Richtungslinien späterer Forschung: er entscheidet, was als Grundbegriff zu gelten habe, welche Methoden lobenswert heißen, welche Richtungen vielversprechend erscheinen, welchen Forschern ein Rang zukommt und welche einfach der Vergessenheit anheimfallen. Ein solcher Plan entsteht im esoterischen Denkverkehr.«[8]

Das »Handbuch« stellt eine Form der Konsolidierung des Wissens dar.

» … die Fachbuchwissenschaft in ihrer Handbuchform [verlangt] eine kritische Zusammenfassung in ein geordnetes System«, sie erledigt die »kollektive Kontrolle und Verarbeitung« der Zeitschriftenwissenschaft. [9]

Days »Handbuch« wächst, wie gesagt, im esoterischen Kreis der Fachleute. Allerdings gibt es für die Zeitschriftenarbeit »spezielle Fachleute« (S. 148). Deshalb darf man annehmen, dass die Handbucharbeit von weniger spezialisierten Fachleuten geleistet wird, wichtiger aber, dass die Handbucharbeit auch unter dem Eindruck der populären Wissenschaft steht.

»Da populäre Wissenschaft den größten Teil der Wissensgebiete eines Menschen versorgt, da ihr auch der exakteste Fachmann viele Begriffe, viele Vergleiche und seine allgemeinen Anschauungen verdankt, ist sie allgemeinwirkender Faktor jeder Erkenntnis.« (S. 148)

Von der populären Wissenschaft sagt Fleck, sie sei nicht als Einführung in die esoterische Fachwissenschaft aufzufassen; das besorge das Lehrbuch (S. 149).

»Charakteristisch für eine populäre Darstellung ist der Wegfall der Einzelheiten und hauptsächlich der streitenden Meinungen, wodurch eine künstliche Vereinfachung erzielt wird. Sodann die künstlerisch angenehme, lebendige, anschauliche Ausführung. Endlich die apodiktische Wertung, das einfache Gutheißen oder Ablehnen gewisser Standpunkte. Vereinfachte, anschauliche und apodiktische Wissenschaft – das sind die wichtigsten Merkmale exoterischen Wissens. …. [Es] schließt sich der Zirkel intrakollektiver Abhängigkeit des Wissens: Aus dem fachmännischen (esoterischen) Wissen entsteht das populäre [exoterische). Es erscheint dank der Vereinfachung, Anschaulichkeit und Apodiktizität sicherer, abgerundeter und fest gefügt. Es bildet die spezifische öffentliche Meinung und Weltanschauung und wirkt in dieser Gestalt auf den Fachmann zurück.« (S. 149f)

»Gewißheit, Einfachheit, Anschaulichkeit entstehen erst im populären Wissen; den Glauben an sie als Ideal des Wissens holt sich der Fachmann von dort.« (S. 152)

Letztlich wird sogar

»die Wahrheit zur objektiv existierenden Qualität gemacht. Auch diese Wertung – ein allgemeiner Zug exoterischen Denkens – entstand durch die Forderungen intrakollektiven Denkverkehrs und wirkt dann auf das fachmännische Wissen zurück.« (S. 153)

Das »Handbuch« versammelt also das kollektive und damit allgemeingültige Wissen. Die Folge ist eine Kanonisierung des Wissens, die zu einem »Denkzwang« führt.   Die Handbuchwissenschaft

»wählt, vermengt, passt an und verbindet exoterisches, fremdkollektives und streng fachmännisches Wissen zu einem System. Die entstandenen Begriffe werden tonangebend und verpflichten jeden Fachmann: aus dem vorläufigen Widerstandsaviso wird ein Denkzwang, der bestimmt, was nicht anders gedacht werden kann, was vernachlässigt oder nicht wahrgenommen wird, und wo umgekehrt mit doppelter Schärfe zu suchen ist: Die Bereitschaft für gerichtetes Wahrnehmen verdichtet sich.«[10]

Der Begriff der Kanonisierung, den Fleck selbst nicht verwendet, passt nicht ganz, denn ein Kanon meint in erster Linie einen festen Bestand von einzelnen Texten, insbesondere heiligen Texten und Klassikern. Ein »Kanon« entsteht nicht erst durch eine gezielte Auswahl, sondern er entwickelt sich ungeplant, sobald eine wissenschaftliche Fachgemeinschaft heranwächst. Er bildet eine gemeinsame Wissensbasis und übt eine gemeinschaftsbildende Kraft. Wer das Fach studieren und dazu gehören will, muss sich diese Texte aneignen. Aber wir dürfen wohl doch in einem übertragenen Sinne von einer Kanonisierung des Wissens sprechen, um die handbuchmäßige Konsolidierung des Wissens zu charakterisieren, denn Fleck betont mehrfach den exkludierenden Charakter des »Handbuchs«.

Indirekt geschieht das, indem er uns das »Denkkollektiv« als »ein ausgebautes, geschlossenes Meinungssystem« vorstellt, »das aus vielen Einzelheiten und Beziehungen besteht«. Einmal geformt, … beharrt es beständig gegenüber allem Widersprechenden.«[11] Die nachfolgende Erläuterung ist eine perfekte Vorwegnahme dessen, was die Postmoderne als perspektivisches Denken kritisiert:

»1. Ein Widerspruch gegen das System erscheint undenkbar.

    1. Was in ein System nicht hineinpasst, bleibt ungesehen, oder
    2. es wird verschwiegen, auch wenn es bekannt ist, oder
    3. es wird mittels großer Kraftanstrengung dem Systeme nicht widersprechend erklärt.
    4. Man sieht, beschreibt und bildet sogar Sachverhalte ab, die dem herrschenden Anschauungen entsprechen, d. h. die sozusagen ihre Realisierung sind – trotz aller Rechte widersprechender Anschauungen.« [12]

Später erfahren wir, dass die »Handbuchmeinung« für die «Übermacht der Masse über die Elite im demokratischen Denkkollektiv« steht. Zugleich macht Fleck aber dem einzelnen Forscher Mut, gehört er doch zur »Vorhut« und weiß, dass die Handbuchmeinung »immer bereits überholt ist«:

»In der modernen fortschreitenden Wissenschaft zeigt sich die Beziehung der Zeitschriftenwissenschaft zur Handbuchwissenschaft in einer charakteristischen Struktur des esoterischen Kreises: es gleicht einer Truppe im Marsch. In jeder Disziplin, ja in Bezug auf fast jedes Problem besteht eine Vorhut: die Gruppe der dieses Problem praktisch bearbeitenden Forscher; dann eine Haupttruppe: die offizielle Gemeinschaft, und schließlich mehr oder weniger desorganisierte Nachzügler.«[13]

Am Ende sei nur noch festgehalten: Bei Thomas Kuhn, der zunächst gelobt wurde, weil er Ludwik Fleck wiederentdeckt hatte, der aber heute eher als dessen Epigone gilt, wird aus der Handbuchwissenschaft das Paradigma.

Was bringt das alles für die neue Flut der Handbücher? Wenig. Für das Wenige brauche ich aber wohl doch noch eine Fortsetzung.


[1] Ludwik Fleck (1994, S. 156ff) Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, 1980 [1935].

[2] Literatur zu Fleck: Gutes Referat von Christiane Andersen, Wissenschaftliche Denkstile im Deutschen als Fach- und Fremdsprache, in: Michael Szurawitzki/Patrick Wolf-Farré, Handbuch Deutsch als Fach- und Fremdsprache, 2024, 7–21; elaborierter Wilhelm Baldamus, Das exoterische Paradox der Wissenschaftsforschung: Ein Beitrag zur Wissenschaftstheorie Ludwik Flecks, Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 10, 1979, 213-233. Ferner Achim Hahn, Denkstil und Denkkollektiv, in: Karsten Berr, Transdisziplinäre Landschaftsforschung, 2018, 97–108; Paweł Jarnicki/Hajo Greif, The ‘Aristotle Experience’ Revisited : Thomas Kuhn Meets Ludwik Fleck on the Road to Structure, Archiv für Geschichte der Philosophie 2024, 313–349; Clemens Knobloch, Ludwik Fleck und die deutsche Sprachwissenschaft, Zeitschrift für germanistische Linguistik 2019, 569–596. Bettina Radeiski, Denkstil, Sprache und Diskurse. Überlegungen zur Wiederaneignung Ludwik Flecks für die Diskurswissenschaft nach Foucault, 2017; Hannah Rosenberg, Wissenschaftsforschung als Diskursforschung. Überlegungen zur Selbstreflexion wissenschaftlicher Diskziplinen im Anschluss an Ludwik Fleck, Zeitschrift für Diskursforschung 6, 2018, 27–50;

[3] Fleck S. 164.

[4] Fleck S. 149.

[5] Fleck S. 147.

[6] Fleck S. 148.

[7] Fleck S. 156.

[8] Fleck S. 158.

[9] Fleck S. 156f.

[10] Fleck S. 163.

[11] Fleck S. 40.

[12] Fleck S. 40.

[13] Fleck S. 163.

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Von unnützen Büchern

Von unnützen Büchern handelt das erste Kapitel von Sebastian Brants berühmten »Narrenschiff« von 1494.

Hubert Spiegel hat das Gedicht heute in der Frankfurter Anthologie gewürdigt und, es – sicher im Sinne Brants – dahin interpretiert, dass nicht die Bücher unnütz und wertlos seien, sondern ihr Besitzer ein Nichtsnutz mit Bibliothek. Doch wie es mit guten Gedichten nun einmal steht, so hat auch dieses, heute jedenfalls, einen Doppelsinn, und Spiegel lässt diesen mit seinem Eingangssatz anklingen:

»Auch in diesem jetzt zuende gehenden Jahr wurde wieder mehr geschrieben, als gelesen und verstanden werden konnte. Spätestens seit der Verbreitung des Buchdrucks sieht sich der lesende Teil der Menschheit einem Problem gegenüber, für das sich bis heute keine Lösung hat finden lassen: Die Überproduktion allen Schrifttums. Texte  provozieren neue Texte. Bücher zeugen Bücher.«

Dann schiebt aber auch Spiegel die Verantwortung auf die törichten Leser. Aber es gibt wirklich überflüssige Bücher und noch mehr unnütze Aufsätze sowie viele Blogeinträge, die man vergessen kann.

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Nebenkostensense statt Mietpreisbremse

Bevor ich die Reihe zur neuen Flut der Handbücher fortsetze, aus Anlass der bevorstehenden Bundestagswahl etwas Rechtspolitisches.

Die hohen Kosten einer Mietwohnung sind eines der großen sozialen Probleme, mit denen die Politik aktuell zu kämpfen hat. Das Rezept der noch amtierenden Regierung ist die Mietpreisbremse, ein Eingriff in das Marktgeschehen, der vermutlich auf längere Sicht eher kontraproduktiv wirkt. Produktiv dagegen wäre eine Verlagerung der Nebenkosten auf die Vermieter = Grundstückseigentümer. Den Anfang sollte die Politik damit machen, die Umlagefähigkeit der Grundsteuer auf die Mieten zu streichen. Am Ende sollten nur noch verbrauchsabhängige Kosten umlagefähig sein.

Rechtsgrundlage für die Berechnung der Mietnebenkosten ist § 556 Abs. 1 BGB. Nach Satz 1 dieser Vorschrift »können« die Vertragsparteien vereinbaren, dass der Mieter die Betriebskosten trägt, und das geschieht praktisch immer. Nach § 556 Abs. 1 Satz 2 BGB sind Betriebskosten »die Kosten, die dem Eigentümer oder Erbbauberechtigten durch das Eigentum oder das Erbbaurecht am Grundstück oder durch einen bestimmungsgemäßen Gebrauch des Gebäudes, der Nebengebäude, Anlagen, Einrichtungen und des Grundstücks laufend entstehen.« Satz 3 bestimmt sodann: »Für die Aufstellung der Betriebskosten gilt die Betriebskostenverordnung«. Die Verordnung bietet in ihrem § 2 eine abenteuerliche Liste von 16 Positionen und unter Nr. 17 noch eine Auffangklausel für »sonstige Kosten«, die etwa dazu genutzt wird, dem Mieter die Dachrinnenreinigung in Rechnung zu stellen.

Bei den folgenden Überlegungen gilt es, das Normalbild eines Mietvertrages nach § 535 BGB im Auge zu behalten. Dazu gehört, dass der Vermieter die laufenden Kosten und Lasten der Mietsache trägt.[1] Dieses Normalbild ist nach Leitlinie für die Inhaltskontrolle Allgemeiner Geschäftsbedingungen. § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB spricht insoweit von »der Natur des Vertrags«. Bei den Betriebskosten geht es nicht um die Kontrolle Allgemeiner Geschäftsbedingungen, aber immerhin um Rechtsverordnung, die regelmäßig über Allgemeine Geschäftsbedingugen zum Vertragsinhalt wird.

An erster Stelle des Betriebskostenkatalogs stehen »laufenden öffentlichen Lasten des Grundstücks, … namentlich die Grundsteuer« (§ 2 Nr. 1 BetrKV). Da fragt man sich, was diese Lasten mit dem Gebrauch des Grundstücks zu tun haben. Sie fallen unabhängig davon an, ob das Grundstück genutzt wird oder nicht. Die Grundsteuer wurde kürzlich in der Presse als »kleine Vermögenssteuer« bezeichnet. Sollen also die Mieter Vermögenssteuer für die Grundeigentümer zahlen?

Mit den Kosten der Sach- und Haftpflichtversicherung, die nach § 2 Nr. 13 BetrKV umlagefähig sind, liegt es ähnlich. Auch wenn Haus oder Wohnung leer stehen, wird ein vernünftiger Eigentümer sie versichern. Die Haftpflichtversicherung kann so abgeschlossen werden, dass sie auch die Mieter schützt. Aber das ist überflüssig, denn die meisten Mieter haben eine Privathaftpflichtversicherung.

Es steht außer Frage, dass der Vermieter die Möglichkeit haben muss, die verbrauchsabhängigen Kosten umzulegen. Für die Heizungskosten ist das sogar vorgeschrieben. Aber bei vielen anderen Positionen im Katalog des § 2 BetrKV ist rätselhaft, was die mit dem »bestimmungsgemäßen Gebrauch« des Hausgrundstücks zu tun haben. Man hat vielmehr den Eindruck, dass schlicht alle laufenden Kosten des Grundeigentums dem Mieter angelastet werden.

Die Kosten der Straßenreinigung (§ 2 Nr. 8 BetrKV) fallen unabhängig vom Gebrauch des Grundstücks an. Nach § 2 Nr. 3 trägt der Mieter die Kosten der Entwässerung. Die Abführung des Regenwassers bleibt notwendig, auch wenn das Grundstücks nicht vermietet ist. Anders nur das Brauchwasser. Dessen Beseitigung wird in der Regel durch eine Gebühr nach Maßgabe des verbrauchten Frischwassers beglichen. Nur dieser Anteil der Entwässerungskosten sollte auf den Mieter entfallen. Warum soll der Mieter auch die Kosten einer Entwässerungspumpe tragen? Wenn der Eigentümer in einer Weise baut, dass das Abwasser nicht durch natürliches Gefälle abfließt, dann mag er dafür zahlen, dass das Gebäude erst durch eine Hebeanlage überhaupt nutzbar wird. Nur so werden die Mieten, wie sie in einen Mietspiegel eingehen, vergleichbar.

Auch hinsichtlich anderer Positionen des Betriebskostenkatalogs wundert sich der Laie und staunt der nachdenkliche Fachmann, warum der Mieter sie tragen soll. Das gilt zum Beispiel hinsichtlich der Kosten der Immissionsschutzmessungen und Eichungen der Heizungsanlage. Zu den »wesentlichen Pflichten, die sich aus der »Natur des [Miet-]Vertrages ergeben« (§ 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB) gehört eine funktionierende Heizung, und es sollte selbstverständlich sein, dass die den behördlichen Vorschriften entspricht. Da fehlt nur noch, dass der Mieter auch die Kosten einer behördlichen Bauabnahme trägt.[2] Ähnliches gilt für die »Kosten des Betriebs eines Personen- oder Lastenaufzugs« (§ 2 Nr. 7 BetrKV). Man mietet eine Wohnung mit funktionierendem Aufzug; da wäre die »Überwachung und Pflege der Anlage, die regelmäßige Prüfung ihrer Betriebsbereitschaft und Betriebssicherheit einschließlich der Einstellung durch eine Fachkraft« (§ 2 Nr. 7 BetrKV) Sache des Vermieters. So könnte man fortfahren, etwa mit der Frage, warum Mieter für die Erneuerung von Pflanzen und Gehölzen« im Garten (§ 2 Nr. 10 BetrKV) zahlen sollen. Jeder einzelne Katalogposten müsste daraufhin überprüft werden, ob er nach der »Natur des Vertrags« umlagefähig sein soll. »Natur des Vertrags« wäre dabei die Überlassung einer dauerhaft nutzbaren Mietwohnung gegen Entgelt. Die Überprüfung wäre Aufgabe der Rechtspolitik, und man wundert sich, warum die Mieterlobby insoweit nicht längst aktiv geworden ist.

In der aktuellen politischen Situation, in der die amtierende Regierung noch vor dem Wahltermin mit dem Vorhaben einer Mietpreisbremse punkten möchte, geht es zunächst nur darum, was Parteien, die die Mietpreisbremse für kontraproduktiv halten, ihr entgegensetzen könnten. Denn darüber sollte kein Zweifel bestehen: die Situation auf dem Wohnungsmarkt ist so prekär, dass jede Partei bekennen muss, wie sie Abhilfe schaffen will. Da wäre ein erster Schritt die Ankündigung: Nach der Wahl werden wir die Umlagefähigkeit der Grundsteuer abschaffen und dann schrittweise eine weitere Bereinigung des Betriebskostenkatalogs in Angriff nehmen, ohne dass diese Maßnahmen unmittelbar zu Mieterhöhungen führen dürfen. Dieses Vorgehen wäre legitim, denn die Grundeigentümer sind, anders als die Mieter, die Gewinner des Inflationsschubs der letzten Jahre. Darüber hinaus wäre jede Kürzung des Katalogs und damit jede Vereinfachung der Nebenkostenabrechnung höchst erwünscht, steckt doch in der Abrechnung viel Bürokratie und noch mehr Konfliktpotential. Dass sich auf Dauer eine Verlagerung der nicht gebrauchsabhängigen Nebenkosten auf die Vermieter in den Mieten niederschlagen wird, ist klar. Immerhin gibt es für die Vermieter einen Sparanreiz, wenn sie »Betriebskosten« (die keine sind), nicht einfach umlegen können. Damit wäre dem Wirtschaftlichkeitsgrundsatz, auf den § 556 Abs. 3 Satz 1 BGB den Vermieter entgegen dem Wortlaut des Gesetzes nicht nur bei der Abrechnung, sondern schon bei der Verursachung der Betriebskosten verpflichtet[3], besser gedient.

Eine Kürzung des Umlagenkatalogs der BetrKV wäre rechtstechnisch relativ einfach zu bewerkstelligen, handelt es sich doch um eine Rechtsverordnung, die von der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrats geändert werden kann. Für Juristen interessant wird dann immerhin das Verhältnis von § 556 Abs. 1 BGB zur Betriebskostenverordnung; rechtstechnisch formuliert, Art und Umfang der Verordnungsermächtigung. Wie, wenn ein Grundeigentümer nach Streichung der Grundsteuer aus dem Betriebskostenkatalog auf den Gedanken käme, dass doch das Gesetz Vorrang vor der Verordnung habe mit der Folge, dass die Grundsteuer unmittelbar aus § 556 Abs. 1 BGB umlagefähig sei? Insoweit ist man sich einig, dass der Katalog der BetrKV abschließend ist, das heißt, dass darüber hinaus keine umlagefähigen Kosten aus § 556 Abs. 1 BGB hergeleitet werden können.[4] Ein Mieter könnte aber umgekehrt die Idee fassen und klagen, weil die Grundsteuer nicht von dem »bestimmungsgemäßen Gebrauch« des Grundstücks abhängig ist. Damit hätte er aktuell keinen Erfolg, denn § 556 Abs. 1 Satz verweist für die »Aufstellung der Betriebskosten« auf die ältere BetrKV,  und hat damit indirekt die Umlagefähigkeit der Grundsteuer akzeptiert. Doch dabei muss es nicht bleiben.

Sieht man nur auf den unbestimmten Rechtsbegriff, mit dem das Gesetz die Betriebskosten definiert, nämlich die bei einem bestimmungsmäßigen Gebrauch des Grundstücks laufend anfallenden Kosten, so fällt es schwer, darunter auch die Grundsteuer zu subsumieren. Der »Gebrauch« des Grundstücks spielt im gängigen Verständnis der Vorschrift nur insofern eine Rolle, als die durch bestimmungswidrigen Gebrauch des Gebäudes entstehenden Kosten nicht zu den Betriebskosten gerechnet werden. Beispiele sind schwer zu finden. Die Folge ist, dass praktisch alle laufenden Kosten zu den umlagefähigen Nebenkosten gezählt werden. Dem unbefangenen Leser des § 556 Abs. 1 BGB erscheint es dagegen so, dass die laufenden Kosten etwas mit dem Gebrauch des Gebäudes zu tun haben müssen, damit sie umlagefähig sind. Eben deshalb heißen sie Betriebskosten. Und so erscheint es ziemlich klar, dass die Grundsteuer, lässt man die historische Entwicklung außer Acht, jedenfalls nach der Definition des § 556 Abs. 1 BGB, nicht zu den Betriebskosten gehört. Auch hinsichtlich vieler anderer Positionen des Betriebskostenkatalogs lässt sich bei diesem Wortlautverständnis streiten, ob sie von § 556 Abs. 1 BGB gedeckt sind.

Wenn der Wortlaut des Gesetzes keine Klarheit bringt, muss man nach dem Zweck des Gesetzes fragen. § 556 Abs. 1 wurde durch das Föderalismusreform-Begleitgesetz vom 5. 9. 2006 in das BGB eingefügt, als seinerzeit in Folge einer Änderung des Grundgesetzes die Gesetzgebungskompetenz für die Förderung sozialen Wohnraums auf die Länder überging. Damit sollte inhaltlich die bestehende Regelung fortgeschrieben werden, wie sie in der BetrKV vom 25. 11. 2003 festgehalten war. Diese Verordnung war auf Grund einer Ermächtigung im alten Wohnraumförderungsgesetz erlassen worden, hatte aber wiederum Vorgänger, die bis auf das Reichsmietengesetz von 1922 zurückgeführt werden können.[5] Die Begründung zur Betriebskostenverordnung von 2003[6] ist unergiebig. Mangels einschlägiger Gesetzesmaterialien muss der Interpret sich selbst überlegen, was Sinn und Zweck des Gesetzes sein soll.

Der Grundgedanke für die Überwälzung der Betriebskosten auf die Mieter war wohl der, dass im Hinblick auf die fest vereinbarte Miete der Vermieter von dem Risiko der Kostensteigerung entlastet werden sollte. Dieser Gedanke war von vornherein fragwürdig angesichts des Umstands, dass – von den reinen Verbrauchskosten abgesehen – der Vermieter viel eher in der Lage ist als der Mieter, auf die Höhe der laufenden Kosten Einfluss zu nehmen. Heute ist er obsolet, weil der Gesetzgeber in §§ 558 ff BGB die Möglichkeit eröffnet hat, langfristig die Miete zu erhöhen. Wortlaut und Zweck des Gesetzes passen daher gut zusammen, wenn man § 556 dahin auslegt, dass umlagefähig nur solche Kosten sein sollen, die mit dem Gebrauch der Mietsache in Verbindung stehen,

Damit eröffnet sich sekundär die Frage, ob die »Aufstellung« des Verordnungsgebers als verbindliche Auslegung zu gelten hat, soweit sie nicht geradezu willkürlich ist. Willkürlich ist sie selbst hinsichtlich der Grundsteuern wohl schon deshalb nicht, weil diese seit beinahe unvordenklicher Zeit[7] zu den umlagefähigen Nebenkosten gehört. Aber Tradition sollte hier kein Argument sein. Wenn tatsächlich die »Aufstellung« der BetrKV verbindlich wäre – das ist eine interessante Frage, auf die auch Juristen keine klare Antwort haben – , dann hätte das zur Folge, dass eine Mieterklage gegen die Berechnung der Grundsteuer als Nebenkosten aktuell abgewiesen werden müsste. Aber der Verordnungsgeber wäre nicht gehindert, im Rahmen einer vertretbaren Auslegung des 556 Abs. 1 BGB die Grundsteuer und eine Reihe anderer Positionen aus dem Betriebskostenkatalog zu entfernen. Damit sollte die nächste Bundesregierung sich beeilen.


[1] Schmidt-Futterer/Lehmann-Richter, Mietrecht, 16. Aufl. 2024, § 556 BGB, Rn. 1. Nach Rn. 15 fehlt den Regelungen im BGB zu den Betriebskosten im Kern ein überzeugendes Konzept.

[2] Der BGH hält auch wiederkehrende Kosten, die dem Vermieter zur Prüfung der Betriebssicherheit einer technischen Anlage (hier: Elektroanlage) entstehen, als »sonstige Betriebskosten« für umlagefähig (Urteil vom 19.01.2007 – V ZR 26/06). Immerhin wird insoweit ausdrückliche Vereinbarung im Mietvertrag verlangt.

[3] Zehelein, Münchener Kommentar zum BGB, 9. Auflage 2023, Rn. 114.

[4] Emmerich bei Fn. 47.

[5] Die Entwicklung der aktuellen Rechtslage beschreibt Jost Emmerich, Wann sind Betriebskosten eigentlich Betriebskosten?, NZM (Neue Zeitschrift für Miet- und Wohnungsrecht) 2022, 273-312.

[6] Bundesratsdrucksache BR 568/03 vom 15. 8. 2003 [https://dserver.bundestag.de/brd/2003/0568-03.pdf].

[7] In der Kommentarliteratur heißt es, der Betriebskostenbegriff sei in § 556 Abs. 1 BGB durch seine Herkunft aus älteren Bestimmungen »klar und eindeutig« geregelt (Zehelein, Münchener Kommentar zum BGB, Rn. 5 zu § 1 BetrKV, 9. Auflage 2023).

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Ein zweiter Blick auf die Flut der Handbücher: Handbücher als Literaturgattung

Bei Routledge, wo man aktuell 357 Handbücher zählt , die sich mit Recht (Law) befassen, ist wieder ein einschlägiger Band angekündigt, und wieder finden sich unter den 30 Autoren auch einige Prominente.[1]

Im vorausgegangenen Eintrag habe ich mir keine Mühe gegeben, das Handbuch als besondere Literaturgattung einzuordnen. Das gilt es nachzuholen.

Das Handbuch trägt seinen Namen, weil es verspricht, dass man nur einen Band in die Hand nehmen muss, um sich zu informieren. Mir geht es nur um wissenschaftliche Handbücher. Vielfach wird der Titel auch für Praxishandbücher verwendet. Beispiel wären das vom Bundesministerium der Justiz herausgegebene »Handbuch der Rechtsförmlichkeit« (2008), das Handbook: Introducing the Stateness Index StIx oder das Wikipedia Handbuch für Autoren. Extrembeispiele sind Betriebsanleitungen für technische Geräte wie Autos oder für Verfahren. Hier ist der englische Begriff des manual einschlägig.

Es ist typisch für Handbücher, dass sie ein Sachgebiet entlang einer Reihe von Stichworten abhandeln. Aber die Stichworte sind, anders als in Lexika,  systematisch und nicht alphabetisch geordnet. Ihre Anzahl bleibt zweistellig, in der Regel sogar unter 30. Als Überschriften dienen meist, anders als in Lexika, nicht Stichworte im eigentlichen Sinne, sondern Mehrwort-Überschriften. Alphabetisch geordnet sind auch viele Enzyklopädien. Mit Handbüchern haben sie gemeinsam, dass sie einen (noch) größeren Sachbereich abdecken wollen. Der Vollständigkeitsanspruch unterscheidet beide von den unzähligen Gelegenheits-Sammelbänden.

Wissenschaftliche Handbücher werden meistens von mehreren Autoren erstellt. Herausgeber übernehmen vorab die Gliederung des Stoffs in separate Artikel. Untypisch sind Handbücher in Gestalt von Monografien. Untypisch sind insofern viele »Handbücher« der Juristen, die Einzelthemen in Monografien abhandeln. Mit den typischen Handbüchern haben sie gemeinsam den Anspruch, den aktuellen Wissensstand eines Sachgebiets wiederzugeben. Dabei wird die Systematik stärker betont als in den Multi-Autoren-Handbüchern. So kann das Handbuch zum Lehrbuch werden und umgekehrt, so dass manche Bände beides im Titel tragen.[2] In jüngerer Zeit differenzieren sich die Gattungen, weil Lehrbücher sich um eine didaktische Darstellung bemühen.

Enzyklopädien unterscheiden sich von Handbüchern darin, dass sie einen größeren Bereich des Wissens mit großer Detailtiefe darstellen. Die klassische Enzyklopädie der Aufklärungszeit von Diderot und d’Alembert war eine Universalenzyklopädie, die das gesamte Wissen ihrer Zeit zusammenfassen wollte[3]. Das 19. Jahrhundert nutzte den Titel aber auch für Monografien, so Hegel für seine dreibändige »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse«. egel für seine dreibändige Jüngere Enzyklopädien sind meist Spezialenzyklopädien, die allerdings meist immer noch weiter ausgreifen als Handbücher. Für Geisteswissenschaftler unentbehrlich ist die Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft von Pauly-Wissowa-Kroll.[4] Analog unterscheiden sich Universallexika und Fachlexika. Ein Fachlexikon in diesem Sinne ist das »Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft«, bekannt unter dem Titel »Religion in Geschichte und Gegenwart« (RGG). Die Benennung dieses mehrbändigen Opus ist eher irreführend, denn in der Regel beschränken sich Wörterbücher auf kurze Erläuterungen und Definitionen. Das gilt erst recht für Fremdsprachen-Wörterbücher.

Anders als wissenschaftliche Handbücher wenden Fach-Lexika und Wörterbücher sich eher an Laien als an Wissenschaftler. Das gilt auch für Rechtswörterbücher, etwa für das von der Bundeszentrale für politische Bildung im Internet zur Verfügung gestellte Rechtslexikon. Ähnlich das Rechtslexikon.net. An das studentische Publikum richtet sich das Rechtslexikon der Plattform JURAFORUM. Von mir sehr geschätzt wird das gleichfalls an Studenten gerichtete Legal Theory Lexicon von Lawence B. Solum. Auch an Profis wiederum richtet sich Black’s Law Dictionary, das seit 1860 erscheint[5].

Von solchen Fachlexika zu unterscheiden sind die für das allgemeine Publikum bestimmten Universallexika, die als Konversationslexika seit Beginn des 18. Jahrhundert entstanden und noch im 20. Jahrhundert in jedem gut sortierten Bücherschrank vertreten waren. Heute werden sie zunehmend durch Online-Lexika, allen voran Wikipedia, verdrängt.

Eine Fortsetzung soll sich der Besonderheit der »Handbuchwissenschaft« widmen.


[1] Routledge Handbook of the Rule of Law, hg. von Michael Sevel, angekündigt für 2025. Unter den Autoren Frederick Schauer, Sanne Taekema, Mark Tushnet und Laura Nader.

[2] Z. B. Hans Schneider, Gesetzgebung. Ein Lehr- und Handbuch, 3 Aufl. 2002.https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/wissen-2021/325603/von-enzyklopaedien-zu-wikipedia-und-zurueck/

[3] Wikipedia, Geschichte und Entwicklung der Enzyklopädie. ZU Wissenschaftsgeschichte der Enzyklopädie Mathias Grote, Von Enzyklopädien zu Wikipedia und zurück?, APuZ 2021.

[4] Eine Fachbuchreihe verbirgt sich dagegen hinter dem »Handbuch der Altertumswissenschaft«. Dort haben auch bedeutende Juristen wie Franz Wieacker und Hans Julius Wolff Bände beigesteurt. Die verfügbaren Bände erscheinen im C. H. Beck Verlag.

[5] Ich habe die 5. Auflage von 1979.

[6] Thoma Kuhn, Die Struktuzr wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl. 1976, S. 16,

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Die neue Flut der Handbücher – Wird die Handbuchwissenschaft zur Plage?

Vor einiger Zeit wurde ich gefragt, ob ich zur Thematik einer im Verlag Edgar Elgar geplanten Encyclopedia Sociology of Law etwas kommentieren oder gar selbst beitragen wolle. Die Initiatoren hatten dazu in bewundernswerter Weise alle großen Namen (und einige, die ich nicht kannte) zusammengebracht. Gliederung und Einzelthemen erschienen mir plausibel. Die »Lücke«, die die Enzyklopädie füllen soll, konnte ich allerdings nicht so recht erkennen. 2020 gab es bei Elgar schon ein Research Handbook on the Sociology of Law, hg. von Jiri Priban. Das war mit 29 Artikeln auf ca. 400 Seiten ziemlich knapp gehalten. Ich kenne daraus nur den Artikel von Ewick/Silbey, der, elegant geschrieben, ganz in der CLS-Tradition steht. Das Routledge Handbook of Law and Society kannte ich nicht[1], ebenso wenig das Handbook of Law and Society, das Ewick und Sarat herausgegeben haben. In meiner Bibliothek habe ich das Dictionnaire Encyclopédique von Arnaud und die drei Bände der Encyclopedia of Law & Society von David S. Clark. Da fällt mir jetzt auf, dass ich diese Bände selten oder nie benutzt habe.

Das neue Vorhaben ist für mich Anstoß zu einem Eintrag über Handbuchwissenschaft[2], den ich schon länger auf meinem Notizzettel hatte. Als ich noch jung war und man das Buch von Thomas S. Kuhn[3] im Kopf hatte, da war die Vorstellung von kumulativer Wissenschaft verpönt. (Ich war allerdings immer ein Freund des Kumulierens.) Heute sind anscheinend alle Hemmungen gefallen. Ich habe den Versuch aufgegeben, die Handbücher aus dem Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften zu zählen, nachdem deren Anzahl vierstellig geworden ist. In meinem Literaturverzeichnis sind es über 150. Die großen Verlage wie Oxford University Press, Elgar, Routledge und Springer (mit Metzler) und De Gruyter Brill wetteifern um einen Markt von Handbüchern, den sie selbst erst geschaffen haben, und packen serienweise zu, so Edward Elgar mit der Handbooks of Research Methods in Law Series. Oxford University Press kann seine Handbücher schon gar nicht mehr zählen und verkündet daher stolz, es seien 750+. Nach einer neueren Verlagsseite sind es aktuell sogar 1229. Aber damit nicht genug. Eine zweite Reihe läuft unter dem Titel Oxford Enzyclopedia of [everything].

Juristische Handbücher haben in Deutschland Tradition. Ihre große Zeit begann, nachdem sich mit der ersten deutschen Einheit durch die Reichsgründung ein einheitliches deutsches Rechts abzeichnete.[4] Seit 1870 verlegte Duncker & Humblot in Leipzig die »Encyclopädie der Rechtswissenschaft in systematischer und alphabetischer Bearbeitung, herausgegeben von Franz von Holtzendorff unter Mitwirkung vieler Rechtsgelehrter«, darunter als Mitherausgeber später Josef Kohler.[5] Der erste (systematische) Teil umfasste bis 1913 fünf Bände, der erste davon bereits in 7. Auflage. Der zweite Lexikon-Teil bestand aus drei Bänden.

Wohl seit 1883 erschien, gleichfalls im Verlag von Duncker & Humblot, das von dem Strafrechtler Karl Binding herausgegebene »Systematisches Handbuch der Deutschen Rechtswissenschaft«. Alles, was in der deutschen Rechtswissenschaft Rang und Namen hatte, von Theodor Mommsen und Otto von Gierke über Otto Mayer bis Ferdinand Regelberger und Rudolf Sohm steuerte einen oder mehrere Bände bei, Binding selbst die beiden Bände zum Strafrecht. Auf der Verlagsseite von Duncker & Humblot habe ich 27 Bände gezählt.[6] Nicht werden bis heute zitiert. Sie sind weitgehend noch als Nachdrucke erhältlich. Eine so umfassende Enzyklopädie des deutschen Rechts hat es nie wieder gegeben. Sie war freilich insofern untypisch, als jeder einzelne Band auch als Monografie hätte erscheinen können.[7]

Seit 1900 gab es im Springer-Verlag eine Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaft, zunächst von  Karl Birkemeyer geplant und vorbereitet, aber dann erst von  Franz von Liszt und Walter Kaskel auf den Weg gebracht. Es handelt sich um eine Reihe von Monografien (Fachbuchreihe), die bis heute fortgesetzt wird. Dort sind so prominente Werke erschienen wie der Allgemeine Teil des Bürgerlichen Rechts von Werner Flume und die Methodenlehre der Rechtswissenschaft von Karl Larenz.

In der Zwischenkriegszeit begann der Hochlauf der auf das öffentliche Recht spezialisierten Handbücher, und zwar 1930/1932 mit dem »Handbuch des deutschen Staatsrechts« in zwei Bänden, herausgegeben von Gerhard Anschütz und Richard Thoma. Heute ist das renommierteste wohl das »Handbuch des Staatsrechts«, ursprünglich herausgegeben von Josef Isensee und Paul Kirchhof.[8] Die 3. Auflage hatte 13 Bände mit 13.159 Seiten und kostete 2536,40 EUR. Seit 2023 erscheint eine neue Bearbeitung mit neuen Herausgebern. Sie ist auf 13.000 Seiten in zwölf Bänden angelegt, macht sich sich mit einem Team von »über 200 Autoren« stark, und kostet 2550 EUR. Renommé und Umfang will diesem Werk das »Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa« streitig machen. Herausgegeben von Detlef Merten und Hans-Jürgen Papier, ist es seit 2004 gleichfalls in zwölf Bänden erschienen, umfasst sogar 14. 163 Seiten, kostet aber nur 2334.10 EUR.

Neun Bände mit 3095 Seiten soll das »Handbuch Ius Publicum Europaeum« umfassen, das Armin von Bogdandy und Peter Michael Huber auf den Weg gebracht haben. Es zeichnet sich durch Goldprägung auf dem -Leinen Umschlag aus. Sieben Bände sind bisher erschienen. Bescheiden dagegen Walter Frenz, Handbuch Europarecht, 2 Aufl. 2021.

1994 gab es bereits ein »Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland«, herausgegeben von Ernst Benda, Werner Maihofer und Hans-Jochen Vogel, bescheiden in einem Band, stattlich in Umfang (1771 Seiten) und Preis (409,95 EUR). 2021 erschien das »Handbuch des Verfassungsrechts« von Matthias Herdegen, Johannes Masing, Ralf Poscher und Klaus Ferdinand Gärditz (1837 Seiten, 249 EUR). Seit 2021 erscheint auch das auf zwölf Bände angelegte »Handbuch des Verwaltungsrechts«, verantwortet von Wolfgang Kahl und Markus Ludwigs. Eine Besprechung des ersten Bandes lobt, damit:

»verfügt die deutschsprachige Rechtswissenschaft nunmehr über ein beachtliches Arsenal von richtigen Handbüchern mit enzyklopädischen Ausmaßen zum intensiven und vertiefenden Studium des gesamten öffentlichen Rechts. «[9]

Andere Rechtsgebiete haben nachgezogen. Eric Hilgendorf, Hans Kudlich und Brian Valerius haben seit 2018 das auf neun Bände angewachsene »Handbuch des Strafrechts« herausgegeben. Das von Franz Ruland u. a. herausgegebene »Sozialrechtshandbuch« ist 2022 schon in 7. Auflage erschienen. Es fehlt auch nicht an einem, »Research Handbook on European Social Security Law«[10]. Nur das Privatrecht scheint als Rechtsgebiet zu umfangreich und fragmentiert zu sein, um es in ein Handbuch zu pressen. Seit 1979 verlegt Mohr Siebeck eine Reihe »Handbuch des Schuldrechts«. Dabei geht es indessen nur um eine Reihe von Monografien »zu ausgewählten Teilbereichen des deutschen Schuldrechts, die letztlich eine geschlossene Gesamtdarstellung« liefern sollen. Aus dem Hamburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht stammt das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009). Ein umfangreiches »Handbuch Diskriminierung«, kann man weitgehend dem Privatrecht zurechnen. Ferner gibt es einige spezialisierte Handbücher, zwei davon herausgegeben von der Richterin des BVerfG Ines Härtel.[11] Julian Krüper verantwortet ein Handbuch der juristischen Fachdidaktik[12].

Weitere Handbücher tragen den Titel einer Enzyklopädie[13]. So erscheint seit 2012, herausgegeben von Armin Hatje und Peter-Christian Müller-Graff, eine »Enzyklopädie Europarecht« in zehn Bänden, seit 2020 die 2. Auflage in zwölf Bänden. Die Deutsche Sektion der IVR und die Deutsche Gesellschaft für Philosophie unterhalten im Internet eine Enzyklopädie zur Rechtsphilosophie. Im Internet findet man auch zwei Max Planck Encyclopedias of International Law.

Ein »Ergänzbares Lexikon des Rechts«, das alle Teilbereiche einschließlich der Grundlagenfächer abdecken sollte,  von Adolf Reifferscheid begründet und dann von Rainer Winkler herausgegeben, erschien seit 1954 als Loseblattausgabe in acht Ordnern im Luchterhand-Verlag. Die Fortsetzung wurde 2007 eingestellt.

Die so genannten Grundlagenfächer, die schon immer für Sammelbände gut waren, produzieren nunmehr zunehmend auch Handbücher. Ich nenne nur das »Handbuch Rechtphilosophie« von Eric Hilgendorf und Jan C. Joerden (2017). An ein »Handbuch Gerechtigkeit« trauen sich indessen nur Nichtjuristen heran.[14]

Verlässt man den deutschen Sprachraum, so wird das Feld unübersichtlich, selbst wenn man sich auf den Bezirk der juristischen Dogmatik und der ihr zugewandten Grundlagenfächer beschränkt. Ein relativ neues Phänomen sind die einer Person gewidmeten Klassiker-Handbücher.[15] Ich habe elf in meinem Literaturverzeichnis. Es gibt sicher mehr. Dazu kommen weitere Handbücher, die Institutionen gewidmet sind, wie das »Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System« (2024) oder von Rüdiger Voigt (Hg.) das »Handbuch Staat« (2018). Ich zähle hier einer Fußnote[16] nur Handbücher und handbooks[17] aus meinem Literaturverzeichnis auf, und zwar in alphabetischer Reihenfolge, die keine Wertung bedeutet.

Wie erklärt sich die Flut der Handbücher? Hat sich die kritisch epistemologische Einstellung gegenüber Kumulierung und Kanonisierung erledigt hat oder handelt es sich nur um ein marktwirtschaftlich von den großen Verlagen getriebenes Phänomen? Vermutlich beides. Handbücher haben den erklärten Zweck, unübersichtlich gewordene Wissenschaftsbereiche zusammenzufassen und dadurch wieder übersichtlich zu machen. Die Handbuchwissenschaft ist insofern ein Ergebnis wissenschaftlicher Überproduktion. Sie hat aber kontraproduktive Wirkung, denn nun vermehren die Handbücher selbst das Angebot an wissenschaftlichen Texten. Und mit Publikationen, die nicht wirklich etwas Neues bringen, werden wir geradezu überschwemmt. Also auf zur Kritik der Handbuchflut?

Kritik allein ist vielleicht keine gute Idee, wird daraus doch schnell altersforcierter Kulturpessimismus nach dem Motto: Mit dem Handbuch ist die Wissenschaft an ihrem Ende angekommen. Die Leute schreiben, was sie sowieso schon geschrieben haben.

Zunächst: Es gibt Perlen unter den zahllosen Handbuchbeiträgen wie etwa den Artikel über »Demokratische Willensbildung und Repräsentation« von Ernst-Wolfgang Böckenförde in Band III des Handbuchs des Staatsrechts oder den Artikel »Wille/Willensfreiheit« von Gottfried Seebaß, in der »Theologischen Realenzyklopädie«[18]. Aber ich eigne mich nicht zum Perlenfischer. Dazu habe ich, insbesondere in den großen juristischen Handbüchern, zu wenig gelesen.

Sodann: Es gibt wohl Handbücher, die nicht bloß referieren und kumulieren, sondern in ihrer Gesamtheit einen spezifischen wissenschaftlichen Ansatz verfolgen. So beanspruchen Herdegen, Masing, Poscher und Gärditz mit dem »Handbuch des Verfassungsrechts« einen »neuen Blick auf das deutsche Verfassungsrecht«, den der Untertitel anzeigen soll: Darstellung in transnationaler Perspektive. Ob der Anspruch eingelöst wird, kann ich nicht beurteilen. Ich habe das Buch nicht in der Hand gehabt, werde es wohl kaum zur Hand nehmen, und selbst danach könnte ich kaum ein fundiertes Urteil bilden.

Vor allem aber: Handbücher sind für die interdisziplinäre Arbeit oft hilfreich. Hier zeigt sich allerdings wieder eine Differenzierung. Die großen juristischen Handbücher kommen als wissenschaftlicher Selbstzweck daher und verweigern sich so »Fremden« weithin als schlichte Informationsquelle. Die Handbücher aus den »Fremddisziplinen«, auf die Juristen durch Interdisziplinaritätsimperativ immer wieder verwiesen werden, eignen sich dagegen oft zum Einstieg in eine neue Thematik und zur Kontrolle der eigenen Recherchen im fremden Fach. Es sind ihrer so viele, dass man zu beinahe jedem Thema ein passendes Handbuch findet.

Daher: Es lohnt sich daher wohl doch, etwas näher über die Handbuchflut zu reflektieren. Bevor ich damit vielleicht in einem neuen Eintrag fortfahre, habe ich die KI von Bing befragt. Hier ihre Antwort:

»Die Entwicklung der Handbuchwissenschaft spiegelt eine bemerkenswerte Verschiebung in der Wissenschaftsphilosophie und -praxis wider. Einst als statische Sammlungen von Wissen betrachtet, die wenig Raum für Innovation ließen, haben sich Handbücher zu dynamischen Ressourcen entwickelt, die sowohl die kumulative Natur der Wissenschaft als auch die Notwendigkeit einer ständigen Aktualisierung anerkennen. Die von Ihnen angesprochene Flut an Handbüchern, insbesondere in den Geistes- und Sozialwissenschaften, kann als Zeichen eines wachsenden Marktes interpretiert werden, der sowohl von wissenschaftlichem Fortschritt als auch von kommerziellen Interessen angetrieben wird. Die Beteiligung etablierter Wissenschaftler, die ihre Karriere bereits gemacht haben, könnte als Bestreben gesehen werden, ihr Wissen weiterzugeben und gleichzeitig die Integrität und Qualität der Beiträge zu sichern. Es ist jedoch eine berechtigte Sorge, dass die Menge an Publikationen, die keine wesentlichen neuen Erkenntnisse bieten, die wissenschaftliche Gemeinschaft übersättigen könnte. Dies wirft Fragen nach dem Wert und der Originalität wissenschaftlicher Arbeiten auf und fordert eine kritische Auseinandersetzung mit der Rolle von Handbüchern in der heutigen Wissenschaftslandschaft. Die Herausforderung besteht darin, ein Gleichgewicht zwischen der Bewahrung bewährten Wissens und der Förderung innovativer Forschung zu finden, ohne dabei die Qualität der wissenschaftlichen Diskussion zu beeinträchtigen. In diesem Kontext ist es entscheidend, dass Handbücher nicht nur als Wissensspeicher, sondern auch als Plattformen für kritischen Diskurs und Reflexion dienen. Die kritische Betrachtung der Handbuchflut, wie Sie es vorschlagen, ist somit ein wichtiger Schritt, um die Relevanz und den Einfluss solcher Publikationen in der akademischen Welt zu hinterfragen und sicherzustellen, dass sie einen echten Beitrag zum wissenschaftlichen Fortschritt leisten.«

Nun ja, warme Luft und Kuchenkrümel. Da muss ich mich doch wohl selbst noch einmal hinsetzen.

[1] Jetzt habe ich aber festgestellt, dass einige der relativ kurzen Einträge offen zugänglich sind.

[2] Der Begriff stammt natürlich von Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, 1980 [1935], S. 156ff.

[3] Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2 Aufl. 1976 [The Structure of Scientific Revolutions, 1962].

[4] Schon 1860 erschien der erste Band des »Handbuch des deutschen Strafprocesses« von Heinrich Albert Zachariae, der zweite Band 1868.

[5] Jetzt bei De Gruyter.

[6] Die Bände werden von Herausgeber und Verlag nicht durchgezählt. Das Werk ist in Abteilungen, Teile und Bände untergliedert. So lautete die Kurzbezeichnung für den ersten Band von Regelbergers Pandekten von 1893: Binding, Handbuch I. 7. I = Erste Abteilung, siebenter Teil, Band I.

[7] Eher für die Praxis bestimmt war wohl ein »Handbuch des geltenden Öffentlichen und Bürgerlichen Rechts«, verfasst von R. Zelle, R. Korn, K. Gordan und W. Lehmann, einem Team Berliner Kommunalbeamten, das 1911 in 6. Auflage erschien.

[8] Lästerzungen verorten dieses Handbuch eher im katholisch konservativen Lager, während das Handbuch von Thoma und Anschütz als eher protestantisch und links galt.

[9] Vassilios Skouris, Die Bedeutung von Handbüchern für die Entwicklung des öffentlichen Rechts, Die Verwaltung 55, 2022, 597-604, S. 597.

[10] Herausgegeben von Frans Pennings und Gijsbert Vonk, 2023.

[11] Ines Härtel, Handbuch Föderalismus, 2012; dies., Handbuch Europäische Rechtsetzung, 2006.

[12] Julian Krüper (Hg.), Rechtswissenschaft lehren. Handbuch der juristischen Fachdidaktik, 2022.

[13] Wieweit die Titel Handbuch, Handwörterbuch, Enzyklopädie und vielleicht auch Lexikon unterschiedliche Literaturgattungen bezeichnen, bleibt zu erörtern.

[14] Anna Goppel/Corinna Mieth/Christian Neuhäuser, Handbuch Gerechtigkeit, 2016.

[15] Hauke Brunkhorst u. a., Habermas-Handbuch, 2009;

Giuseppe Franco, Handbuch Karl Popper, 2019;

Gerhard Fröhlich/Boike Rehbein, Bourdieu-Handbuch, 2014;

Johannes J. Frühbauer u. a., Rawls-Handbuch, 2023;

Oliver Jahraus u. a., Luhmann-Handbuch, 2012;

Clemens Kammler u. a., Foucault-Handbuch, 2014;

Sebastian Luft/Maren Wehrle, Husserl-Handbuch, 2017;

Hans-Peter Müller/Steffen Sigmund, Max Weber-Handbuch, 2 Aufl. 2020;

Martin Müller, Handbuch Richard Rorty, 2019;

Christof Rapp/Klaus Corcilius, Aristoteles-Handbuch, 2 Aufl. 2021;

Daniel Schubbe/Matthias Koßler, Schopenhauer-Handbuch, 2 Aufl. 2018.

[16] Nina Baur u. a., Handbuch Soziologie, 2008:

Ruth Becker/Beate Kortendiek, Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung, 2008;

Arthur Benz u. a., Handbuch Governance, 2007.

Mathias Berek u. a., Handbuch Sozialwissenschaftliche Gedächtnisforschung, 2020;

Uwe Bittlingmayer u. a., Handbuch Kritische Theorie, 2016;

Birgit Blättel-Mink u. a., Handbuch Innovationsforschung, 2021;

Hildegard Bockhorst, Handbuch Kulturelle Bildung, 2012;

Veronika Brandstätter/Jürgen H. Otto, Handbuch der allgemeinen Psychologie – Motivation und Emotion, 2009;

Norman Braun u. a.,  Handbuch Modellbildung und Simulation in den Sozialwissenschaften, 2015;

Svenja Falk u. a., Handbuch Politikberatung, 2. Aufl. 2019;

Ekkehard Felder/Friedemann Vogel, Handbuch Sprache im Recht, 2017;

Michael G. Festl, Handbuch Pragmatismus, 2018;

Petia Genkova/Tobias Ringeisen, Handbuch Diversity Kompetenz, 2016;

Dirk Göttsche u. a., Handbuch Postkolonialismus und Literatur, 2017;

Martin Grajner/Guido Melchior, Handbuch Erkenntnistheorie, 2019;

Siegfried Greif u. a., Handbuch Schlüsselkonzepte im Coaching, 2018;

Armin Grunwald, Handbuch Technikethik, 2013;

Robert Gugutzer u. a., Handbuch Körpersoziologie, 2. Aufl. 2022, 219–233;

Gisela Harras u. a., Handbuch deutscher Kommunikationsverben. Teil 2: Lexikalische Strukturen, 2007;

Ludger Heidbrink u. a., Handbuch Verantwortung, 2017;

Wilhelm Heitmeyer/John Hagan, Internationales Handbuch der Gewaltforschung, 2002;

Gerd-Michael Hellstern/Hellmut Wollmann, Handbuch zur Evaluierungsforschung, 1984;

Christian Hiebaum, Handbuch Gemeinwohl, 2020;

Friedrich Jaeger u. a. , Handbuch Moderneforschung, 2015;

Friedrich Jaeger/Burkhard Liebsch, Handbuch der Kulturwissenschaften, 2011;

Friedrich Jaeger/Jürgen Straub, Handbuch der Kulturwissenschaften, Band 2, 2011;

Hermann Kappelhoff u. a., Emotionen. Ein interdisziplinäres Handbuch, 2019;

Markus Kaulartz/Tom Braegelmann, Rechtshandbuch Artificial Intelligence und Machine Learning, 2020;

Georg Kneer u. a.,  Handbuch soziologische Theorien, 2009;

Georg Kneer, Handbuch spezielle Soziologien, 2010;

Petra Kolmer u. a., Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, 2011;

Beate Kortendiek u. a., Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung, 2017;

Michael Kühler/Markus Rüther, Handbuch Handlungstheorie, 2016;

Christian Lammert u. a., Handbuch Politik USA, 2020;

Frank Liedtke/Astrid Tuchen, Handbuch Pragmatik, 2018.;

Hans-Joachim Lauth u. a., Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft, 2016;

Sabine Maasen u. a., Handbuch Wissenschaftssoziologie, 2012;

Winfried Nöth, Handbuch der Semiotik, 2000;

Konrad Ott u. a., Handbuch Umweltethik, 2016;

Jürgen H. Otto u. a., Emotionspsychologie. Ein Handbuch, 2000;

Detlef Pollack u. ., Handbuch Religionssoziologie, 2018;

Roland Posner u. a., Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, 2003.

Felix Rauner, Handbuch Berufsbildungsforschung, 2. Aufl. 2006;

Ahmad A. Reidegeld, Handbuch Islam, 2 Aufl. 2008;

Uwe Sander u. a., Handbuch Medienpädagogik, 2008;

Philipp Sarasin/Marianne Sommer, Evolution. Ein interdisziplinr̃es Handbuch, 2006;

Tobias Schmohl/Thorsten Philipp, Handbuch Transdisziplinäre Didaktik, 2021;

Rainer Schröder/Martin Schulte, Handbuch des Technikrechts, 2 Aufl. 2011;

Marianne Sommer u. a., Handbuch Wissenschaftsgeschichte, 2017;

Marco Sonnberger u. a., Handbuch Umweltsoziologie, 2 Aufl. 2024;

Arnim von Stechow/Dieter Wunderlich, Semantik. Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung, 1991;

Max Steller/Renate Volbert, Handbuch der Rechtspsychologie, 2008;

Dieter Sturma/Bert Heinrichs, Handbuch Bioethik, 2015;

Gabriele Weiß/Jörg Zirfas, Handbuch Bildungs- und Erziehungsphilosophie, 2020;

Ines-Jacqueline Werkner/Klaus Ebeling, Handbuch Friedensethik, 2017;

Gabriele Weiß/Jörg Zirfas, Handbuch Bildungs- und Erziehungsphilosophie, 2020;

Thomas Widmer u. a., Evaluation. Ein systematisches Handbuch, 2009.

[17] Andreas von Arnauld u. a., The Cambridge Handbook of New Human Rights, 2020.

David Armstrong, Routledge handbook of international law, 2009;

Kenneth Joseph Arrow u. a., Handbook of Social Choice and Welfare, 2011.

Susan Bandes u. a., Research Handbook on Law and Emotion, 2021;

Alain Bensoussan, Comparative Handbook: Robotic Technologies Law, 2016;

Paul Schiff Berman/Ralf Michaels, The Oxford Handbook of Global Legal Pluralism, 2020;

Samantha Besson/Jean D’Aspremont, The Oxford Handbook of the Sources of International Law, 2017;

Giorgio Bongiovanni u. a., Handbook of Legal Reasoning and Argumentation, 2018;

Peter Cane/Herbert M. Kritzer, The Oxford Handbook of Empirical Legal Research, 2012;

Sabino Cassese, Research Handbook on Global Administrative Law, 2016;

Iwao Hirose/Jonas Olson, The Oxford Handbook of Value Theory, 2018;

Andrew Crane, The Oxford Handbook of Corporate Social Responsibility, 2008;

Markus D. Dubber/Christopher Tomlins, The Oxford Handbook of Legal History, 2018;

H. van Eemeren u. a., Fundamentals of Argumentation Theory. A Handbook of Historical Backgrounds and Contemporary Developments, 1996;

Miranda Fricker u. a., The Routledge Handbook of Social Epistemology, 2019;

Robert Frodeman u. a., The Oxford Handbook of Interdisciplinarity, 2 Aufl. 2017;

Robert E. Goodin, The Oxford Handbook of Political Science, 2011;

James J. Gross, Handbook of Emotion Regulation, 2 Aufl. 2013;

Marc Hertogh u. a., The Oxford Handbook of Administrative Justice, 2021;

Jules L. Coleman/Scott Shapiro, The Oxford Handbook of Jurisprudence and Philosophy of Llaw, 2002;

Markus Knauff/Wolfgang Spohn, The Handbook of Rationality, 2021;

Jerrold Levinson, The Oxford Handbook of Aesthetics, 2005;

 

Michael Lewis u. a., Handbook of Emotions, 3 Aufl. 2008;

Lorenzo Magnani, Handbook of Abductive Cognition, 2023;

Alfred R. Mele/Piers Rawling, The Oxford Handbook of Rationality, 2004;

Andreas Müller/Peter Schaber, The Routledge Handbook of the Ethics of Consent, 2018;

Albert Newen u. a., The Oxford Handbook of 4E Cognition, 2018

Anne Orford/Florian Hoffmann, The Oxford Handbook of the Theory of International Law, 2016;

Andreas Philippopoulos-Mihalopoulos, Routledge Handbook of Law and Theory, 2019;

Michel Rosenfeld, The Oxford Handbook of Comparative Constitutional Law, 2012;

Klarah Sabbagh/Manfred Schmitt, Handbook of Social Justice Theory and Research, 2016;

Austin Sarat/Patricia Ewick, The Handbook of Law and Society, 2015;

Daniel Star, The Oxford Handbook of Reasons and Normativity, 2018.

Simon Stern u. a., The Oxford Handbook of Law and Humanities, 2019;

Mariana Valverde u. a., Routledge Handbook of Law and Society, 2021;

Peter Tiersma/Lawrence Solan, The Oxford Handbook of Language and Law, 2012;

Nick Watson/Simo Vehmas, Routledge Handbook of Disability Studies, 2020;

Wojciech Załuski u. a., Research Handbook on Legal Evolution, 2024.

[18] Gottfried Seebaß, Wille/Willensfreiheit, in: Horst Robert Balz u. a., Theologische Realenzyklopädie, 1977-<2007>, 55–73.

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Recycled Lit: Es gibt zu viele Texte

In der FAZ vom 12. 11. 2014 berichtete Tobias Haberkorn über eine Tagung am Berliner Wissenschaftskolleg, auf der über »digitale Geisteswissenschaften« diskutiert wurde, und zwar unter der Überschrift »Es gibt einfach viel zu viele Texte«. Thema war die Suche nach der Wiederherstellung von originalen oder authentischen Texten. Ein Beispiel war die Aristoteles-Schrift »De motu animalium«[1], von der es kein Original, aber wohl Hunderte von mehr oder weniger vollständigen, mehr oder weniger übereinstimmenden Ab- oder Nachschriften gibt. Die Editionsphilologie tritt dann mit dem Ehrgeiz auf den Plan, eine möglichst authentische, dem Original nahekommende Fassung herzustellen. Keine Frage, dass Digitalisierung dabei helfen kann, auch wenn das sicher komplizierter ist als der Vergleich verschiedener Versionen einer Datei auf der Basis von Microsoft Word.

Meine Skepsis gegenüber der Editionsphilologie, jedenfalls wenn sie das Werk neuzeitlicher Juristen oder Sozialwissenschaftler betrifft, habe ich vor einiger Zeit im Hinblick auf die Max-Weber-Gesamtausgabe zum Ausdruck gebracht.[2] Wiewohl es zu den Regeln einer guten wissenschaftlichen Praxis gehören soll, aus wissenschaftlich editierten Textausgaben zu zitieren, zitiere ich Gustav Radbruchs Rechtsphilosophie immer noch nach der 5. Auflage von 1956, die ich mir als Student in Heidelberg gekauft hatte, wiewohl ich natürlich um die von Arthur Kaufmann edierte Gesamtausgabe in 20 Bänden weiß.[3]

Heute und hier geht es mir nicht um den mehr oder weniger authentischen Text eines bestimmten Autors. Es geht vielmehr um die Inhalte, die von Texten transportiert werden. Von den verfügbaren Texten beginnt keiner als Original am Punkt Null. Alle Texte sind Reaktionen oder sogar Antworten auf frühere Texte. Sie zitieren, komprimieren, kopieren, variieren, reformieren, korrigieren, imitieren, parodieren, mixen usw. vorhandene Texte. Eine wesentliche Beschäftigung der Philologie darin besteht, die so entstehenden Knäuel zu entwirren, das Patchwork wieder auseinander zu nehmen und Ursprünge und Vorbilder nachzuweisen. Im Gegenzug bemühen sich ganze Literaturgattungen, Konvergenz und Divergenz der Inhalte herauszudestillieren. Eine erstaunliche Konjunktur erleben insoweit Handbücher. Für Juristen betreiben in erster Linie Kommentare und Lehrbücher das Geschäft des Einkochens von Texten.

Recycled food ist nur als Tierfutter geduldet. Recycled lit ist die Standard-Geistesnahrung. Der Authentizitätskult passt nicht zum »Tod des Autors«[4]. Bei dem von Barthes verkündeten Tode des Autors ging es freilich um eine Rezeptionstheorie. Barthes hielt es für naiv, für die Interpretation eines Textes nach dem Autor zu fragen. Vielmehr könne dürfe und müsse der Leser selbst aktiv werden. Er schließt: »Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors.« Wenn man den postmodernen Interpretationsimperativ nicht teilt, sondern altväterlich daran festhält, dass es nicht nur natural kinds, sondern auch geistige Inhalte »gibt«[5], so bleibt der Autor dennoch begraben. Wissenschaft interessiert sich normalerweise nicht für Autoren, sondern für deren Aussagen. Sie arbeitet an der Anonymisierung des Wissens, das heißt, an seiner Ablösung von Autoren und Autoritäten.[6] Es kommt darauf an, Texte im Hinblick auf ihre Konvergenz oder Divergenz mit den Aussagen anderer Texte zu vergleichen, um so am Ende aus dem Ozean der Texte deren Substanz herauszudestillieren. Erst sekundär geht es dann um die Frage, welche Teile der Substanz etwas taugen und welche verworfen werden können.

Es gibt mehr oder weniger bewährte Routinen und Methoden, um mit der Überfülle der Texte umzugehen. Wer operativ an Inhalten interessiert ist, hat nur die Wahl, selektiv vorzugehen, kann doch niemand wirklich alle einschlägigen Texte studieren, um sie auf ihren Gehalt zu prüfen.

Die Selektion beginnt bei der Auswahl der Texte, die überhaupt in Betracht gezogen werden. Erstes Kriterium ist die Auffindbarkeit. Die hat sich durch die Recherchemöglichkeiten des Internets so verbessert, dass die Auswahl kam noch an Grenzen stößt.

Nächstes Kriterium ist die Verfügbarkeit. Die Mehrzahl der Textkonsumenten ist kaum in der Situation des Ordinarius, der im Bedarfsfall den Hiwi in die Bibliothek schickt oder die Sekretärin um eine Bestellung in der Buchhandlung bittet. Daher hängt die Textauswahl oft von der Verfügbarkeit im Internet ab. Auch wenn der organisierte Wissenschaftsbetrieb auf kostenpflichtige Datenbanken zugreifen kann, erleichtert Open Access immer noch den Zugang – und inflationiert die Fülle verfügbarer Texte.

Für die Frage, auch welche Texte man dann zugreift, ist das Alter ein wichtiges Kriterium. Texte, die vor der Jahrtausendwende geschrieben wurden, haben schon die Anmutung von Antiquitäten. Hier zählen nur noch Prominente oder Autoritäten, und das nicht wegen der von ihnen gebotenen Inhalte, die längst anderweit rezipiert worden sind, sondern gleichsam zur Rückversicherung.

Bei jüngeren Texten wird die Zitationshäufigkeit für die Auswahl relevant. Auch sie hilft indessen wenig bei der vergleichenden Extraktion der Inhalte. Eine Konzentration auf bestimmte Inhalte lässt sich dann oft von der Herkunft oder Verwendung der Texte aus oder durch durch bestimmte, Schulen, Gruppen oder Netzwerke leiten.

Hat man auf die eine oder andere Weise anscheinend einschlägige Texte ausgewählt, so bleibt eine gründliche Lektüre doch die Ausnahme. Um nicht in der Menge der Texte zu ertrinken, verlässt man sich weitgehend auf die Vorarbeit der Autoren selbst oder früherer Leser. Meist beschränkt sich der Versuch, die Inhalte zu erfassen, auf die Lektüre von Abstracts, Zusammenfassungen des Autors und einen Blick in Gliederung oder Inhaltsverzeichnis. Rezensionen müssen nicht selten die Lektüre eines Buches ersetzen.

Schon immer beruht die Vermehrung der Texte darauf, dass man andere Texte vergleicht und zusammenfassend referiert. Von Dissertationen und Habilitationsschriften sagt man, mit ihnen sei jeweils aus 1000 alten ein neues Buch entstanden. Allein der Verlag Duncker & Humblot bietet ziemlich genau 100 Schriftenreihen  zu den »Rechts- und Staatswissenschaften. Die Gesamtzahl der lieferbaren Veröffentlichungen liegt wohl bei 10.000. Die Mehrzahl davon dürften Dissertationen sein. Ich schätze neue Dissertationen und Habilitationsschriften nicht so sehr wegen ihrer eher seltenen Innovationen als vielmehr wegen der ausführlichen Referate über den Stand der Literatur. Sie zeigen mir immer wieder, dass ich dieses übersehen habe und jenes noch einmal überprüfen muss. Es ist aber kein Zufall, dass gerade dieser referierende Teil von Qualifikationsschriften besonders plagiatsanfällig ist. Vor einiger Zeit wurde vorgeschlagen – ich finde die Quelle nicht wieder – man solle doch zur Vermeidung von Plagiaten den Referatsteil von Qualifikationsarbeiten durch eine Art Wiki ersetzen, der den Stand der Literatur zum Thema wiedergebe, den dann jeder Kandidat anführen und nach Bedarf korrigieren und verbessern könne. Aber vielleicht sind solche Verrenkungen bald gar nicht mehr nötig. Vielleicht wird uns bald künstliche Intelligenz solche Zusammenfassungen über den Stand des Wissens liefern. Die Frage lautet also, ob und wieweit künstliche Intelligenz Textinhalte in einer Weise extrahieren kann, die Masse der Texte überflüssig macht.

Ich probiere das einmal mit Themen, die ich auf Rsozblog angesprochen habe. Die Frage in der Überschrift dieses Eintrags antwortet ChatGPT:

Der Text enthält viele Informationen, was für eine umfassende Darstellung des Themas sinnvoll sein kann. Wenn du aber eine kürzere und präzisere Antwort möchtest, kann ich den Text gerne kürzen und die wichtigsten Punkte zusammenfassen. Möchtest du eine kompaktere Version?

Die Antwort ist ziemlich sinnlos. Vermutlich hat das Programm den Plural in der Frage nicht verstanden. Besser gelingt die Antwort auf eine Frage, an der ich vorläufig gescheitert bin: Schreibe eine Zusammenfassung des aktuellen Standes der Emotionspsychologie. Ich zitiere inm folgenden das Ergebnis. Es lohnt sich kaum, den folgenden Text zu lesen, denn man erfährt nicht Neues. ABer er dokumentiert, was ChatGPT leistet:

Die Emotionspsychologie ist ein Teilgebiet der Psychologie, das sich mit der Erforschung und Erklärung von Emotionen beschäftigt. Der aktuelle Stand der Emotionspsychologie umfasst mehrere zentrale Aspekte:

    1. Definition und Komponenten von Emotionen:

Emotionen werden als komplexe psychophysiologische Zustände definiert, die aus mehreren Komponenten bestehen:

    • Affektive Komponente: Das subjektive Gefühlserleben (z.B. Freude, Angst).
    • Physiologische Komponente: Körperliche Reaktionen (z.B. Herzfrequenz, Hormonausschüttung).
    • Kognitive Komponente: Bewertung und Interpretation von Situationen, die Emotionen auslösen.
    • Verhaltenskomponente: Ausdruck von Emotionen durch Mimik, Gestik oder Handlungen.
    1. Theorien der Emotionen:

Verschiedene Theorien erklären, wie Emotionen entstehen und welche Rolle sie im Verhalten spielen:

    • James-Lange-Theorie: Emotionen entstehen durch die Wahrnehmung körperlicher Reaktionen.
    • Cannon-Bard-Theorie: Emotionen und körperliche Reaktionen treten gleichzeitig auf, unabhängig voneinander.
    • Zwei-Faktoren-Theorie (Schachter und Singer): Emotionen entstehen aus einer Kombination von physiologischer Erregung und kognitiver Interpretation.
    • Lazarus’ Appraisal-Theorie: Emotionen basieren auf der kognitiven Bewertung von Ereignissen und deren Bedeutung für das Individuum.
    1. Neurobiologische Grundlagen:

Emotionen sind eng mit bestimmten Gehirnregionen und neuronalen Netzwerken verbunden:

    • Amygdala: Spielt eine zentrale Rolle bei der Verarbeitung von Angst und anderen negativen Emotionen.
    • Präfrontaler Kortex: Beteiligt an der Regulation von Emotionen und der Entscheidungsfindung.
    • Belohnungssystem (z.B. Nucleus accumbens): Wichtig für positive Emotionen und Motivation.
    1. Emotionen und Kognition:

Aktuelle Forschung untersucht, wie Emotionen und kognitive Prozesse (wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Entscheidungsfindung) interagieren. Emotionen beeinflussen nicht nur kognitive Prozesse, sondern werden auch durch diese moduliert. Beispielsweise können positive Emotionen kreatives Denken fördern, während negative Emotionen die Aufmerksamkeit auf Bedrohungen lenken.

    1. Emotionale Intelligenz:

Ein weiterer aktueller Schwerpunkt ist das Konzept der emotionalen Intelligenz, das die Fähigkeit beschreibt, eigene und fremde Emotionen wahrzunehmen, zu verstehen und zu regulieren. Emotionale Intelligenz wird als wichtiger Faktor für beruflichen Erfolg und zwischenmenschliche Beziehungen betrachtet.

    1. Kulturelle und soziale Einflüsse:

Emotionen sind nicht nur individuell, sondern auch kulturell geprägt. Verschiedene Kulturen haben unterschiedliche emotionale Ausdrucksweisen und Normen. Zudem beeinflussen soziale Kontexte, wie Emotionen erlebt und ausgedrückt werden, etwa in der Familie, am Arbeitsplatz oder in der Öffentlichkeit.

    1. Emotionen und Gesundheit:

Die Rolle von Emotionen für die physische und psychische Gesundheit ist ein weiteres zentrales Forschungsthema. Chronische negative Emotionen wie Stress und Angst können gesundheitsschädlich sein, während positive Emotionen die Resilienz und das Wohlbefinden fördern.

    1. Anwendungen der Emotionspsychologie:

Die Erkenntnisse der Emotionspsychologie finden in verschiedenen Bereichen Anwendung, etwa in der Psychotherapie, im Coaching, in der Pädagogik und im Management.

Ich habe gleich noch eine Frage nachgeschoben: Was lässt sich über die Bedeutung von Emotionen im Recht sagen? Chat GPT antwortet:

Emotionen spielen im Recht eine bedeutende und vielschichtige Rolle. Sie beeinflussen nicht nur das Verhalten von Individuen in rechtlichen Kontexten, sondern auch die Gestaltung und Anwendung von Gesetzen sowie die Entscheidungen von Gerichten. Hier sind einige zentrale Aspekte der Bedeutung von Emotionen im Recht:

1. Einfluss von Emotionen auf kriminelles Verhalten:

Emotionen wie Wut, Eifersucht oder Angst können Auslöser für kriminelles Verhalten sein. In der Kriminalpsychologie wird untersucht, wie emotionale Zustände zu Straftaten führen können und welche Rolle sie bei der Prävention und Intervention spielen. Ein Beispiel ist das Konzept der „Affekttat“, bei der eine Tat im Zustand starker Erregung begangen wird.

2. Emotionen bei der Urteilsfindung:

Richter und Geschworene sind nicht frei von emotionalen Einflüssen. Emotionen können sowohl bewusst als auch unbewusst Entscheidungen beeinflussen. Beispielsweise kann Empathie für Opfer oder Antipathie gegenüber Angeklagten die Urteilsfindung beeinflussen. Die Herausforderung im Rechtssystem besteht darin, objektive Entscheidungen zu treffen, obwohl Emotionen unvermeidlich eine Rolle spielen.

3. Emotionen und Zeugenaussagen:

Emotionen beeinflussen die Glaubwürdigkeit und Genauigkeit von Zeugenaussagen. Angst oder Stress können die Erinnerung von Zeugen verzerren oder ihre Fähigkeit, klar und präzise auszusagen, beeinträchtigen. Daher müssen Gerichte emotionale Zustände von Zeugen berücksichtigen, um die Zuverlässigkeit ihrer Aussagen einzuschätzen.

4. Rechtliche Bewertung von Emotionen:

Im Strafrecht wird die emotionale Verfassung des Täters oft bei der Bewertung der Tat berücksichtigt. Zum Beispiel können Milderungsgründe wie “Affekthandlungen” (Taten im Zustand heftiger Erregung) oder “extreme emotionale Störung” strafmindernd wirken. Hierbei wird anerkannt, dass Emotionen das Urteilsvermögen und die Selbstkontrolle eines Täters beeinträchtigen können.

5. Emotionen im Familienrecht:

Emotionen spielen im Familienrecht eine zentrale Rolle, insbesondere in Scheidungsverfahren, Sorgerechtsentscheidungen und Umgangsregelungen. Hier werden oft emotionale Bedürfnisse von Kindern und Eltern abgewogen. Gerichte müssen darauf achten, dass Entscheidungen im besten Interesse des Kindes getroffen werden, was eine sorgfältige Berücksichtigung emotionaler Aspekte erfordert.

6. Mediation und alternative Konfliktlösung:

Emotionen sind auch in der Mediation und bei alternativen Konfliktlösungsverfahren von großer Bedeutung. Mediatoren versuchen, emotionale Spannungen zwischen den Parteien abzubauen, um eine einvernehmliche Lösung zu finden. Das Verständnis von Emotionen und deren Management ist hier entscheidend für den Erfolg der Verfahren.

7. Emotionen und Gesetzgebung:

Emotionen spielen eine Rolle bei der Entstehung von Gesetzen, insbesondere in Bereichen, die stark emotional aufgeladene Themen betreffen, wie etwa das Strafrecht, das Familienrecht oder das Tierrecht. Emotionale Reaktionen in der Gesellschaft, beispielsweise auf tragische Ereignisse, können politische Entscheidungen und gesetzgeberische Initiativen beeinflussen.

8. Rechtsphilosophische Überlegungen:

In der Rechtsphilosophie wird diskutiert, inwieweit Emotionen eine legitime Rolle im Rechtssystem spielen sollten. Während das Recht traditionell als rational und objektiv angesehen wird, gibt es Argumente dafür, dass Emotionen wie Empathie, Gerechtigkeitsgefühl oder moralische Empörung wesentliche Komponenten der Rechtsprechung sein können. Diese Debatte betrifft die Balance zwischen emotionaler Intuition und rationaler Gesetzesanwendung.

9. Opferrechte und emotionale Gerechtigkeit:

Im modernen Rechtssystem wird zunehmend die Bedeutung der emotionalen Bedürfnisse von Opfern anerkannt. Opfer von Straftaten suchen oft nicht nur rechtliche Gerechtigkeit, sondern auch emotionale Wiedergutmachung. Dies hat zur Entwicklung von Opferschutzgesetzen und Maßnahmen geführt, die den emotionalen Zustand der Opfer berücksichtigen, wie z.B. das Recht auf Anhörung im Strafverfahren.

10. Moralische Emotionen und Gerechtigkeit:

Emotionen wie Empörung, Schuld oder Scham sind eng mit moralischen Urteilen verbunden und beeinflussen, was als gerecht oder ungerecht wahrgenommen wird. Diese moralischen Emotionen können wiederum die öffentliche Meinung und damit die Rechtsprechung und Gesetzgebung beeinflussen.

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Emotionen eine unverzichtbare Rolle im Rechtssystem spielen. Sie wirken auf individueller Ebene, in der Urteilsfindung, bei der Gesetzgebung und in der Gesellschaft als Ganzes. Während das Recht traditionell als rationaler Bereich betrachtet wird, zeigt die moderne Forschung, dass Emotionen nicht nur unvermeidlich, sondern auch notwendig für ein gerechtes und menschliches Rechtssystem sind.


[1] Vgl. den Sammelband Christof Rapp/Oliver Primavesi (Hg.), Aristoteles, Aristotle’s de Motu Animalium, 2020.

[2] Die Max-Weber-Gesamtausgabe (MWG) ist ein Unglück für die Rechtssoziologie.

[3] Sie umfasst 9.444 Seiten und kostet 1.732,80 EUR.

[4] Der französische Philosoph Roland Barthes verkündete den »Tod des Autors« verkündete der

französische Philosoph Roland Barthes den »Tod des Autors«. Er erklärte den Text zu einem »Gewebe von Zitaten«. Der Autor schaffe nur ei neues Puzzle. Die kreative Eigenleistung des Autors trete ganz in den Hintergrund.

[5] Dazu Frege und die Frage nach dem Geist der Geisteswissenschaften.

[6] Zur Bedeutung der Autorschaft bei wissenschaftlichen Texten vgl. Felix Steiner, Dargestellte Autorschaft, Autorkonzept und Autorsubjekt in wissenschaftlichen Texten, 2009.

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Pariser Olympiade und Human Affectome Project stoppen den Emotional Turn auf Rsozblog

Es gibt zwei Gründe oder vielmehr Anlässe, die Reihe über den Emotional Turn und die Rechtswissenschaft vorläufig abzubrechen und neu über das Thema nachzudenken. Der erste Anlass ist die Berichterstattung über Olympiade in Paris. Mehr und mehr entsteht bei mir der Eindruck, dass das Wichtigste am Sport nicht Können und Leistung sind, sondern Emotionen, Emotionen der Sportler selbst und Emotionen des Publikums. Sportler reißen die Hände empor, sperren die Mäuler auf, werfen sich zu Boden und springen sich zur Umarmung an. Das Publikum wogt und wedelt und johlt. Und die Journalisten konstatieren Gefühle überall, beteuern ihre eigenen Gefühle und fragen Gefühle ab. Und auch von mir als Zuschauer am Fernseher werden Gefühle gefordert. Gefühle hat man nicht nur zu haben, sondern auch zu zeigen. Vor dem »Orkan der Emotionen«, den die Medien in diesen Tagen vermelden, muss Wissenschaft sich jedenfalls vorläufig in Sicherheit bringen.

Der zweite Anlass ist das Human Affectome Project, auf dass ich erst kürzlich aufmerksam geworden bin. Es tritt mit einem großen Anspruch auf, so groß, als wolle es die Emotionspsychologie auf ein neues, erstmals wissenschaftliches Niveau heben. Jedenfalls muss ich mir den dort entstandenen Literaturkomplex erst einmal ansehen. Vielleicht stellt sich am Ende, wie bei so vielen hochtrabenden Projekten dieser Art, heraus,  dass die vier oder fünf Generationen von Psychologen, die sich im Anschluss an William James und Carl Georg Lange mit den Emotionen befassten, das schwierige Thema gar nicht schlecht umzingelt haben.

Vorläufig seien hier drei einschlägige Veröffentlichungen aus dem Human Affectome Project auf Neuroscience & Biobehavioral Reviews von Juni 2022 angezeigt:

Howard Casey Cromwell/Christos Papadelis, Editorial: Mapping the Brain Basis of Feelings, Emotions and Much More: A Special Issue Focused on »The Human Affectome«, Neuroscience & Biobehavioral Reviews 137, June 2022, 104672.

Als Highlights werden hervorgehoben:

  • An overall interdisciplinary group was organized and began working on mapping the human affectome.
  • The group was divided into twelve teams, each focusing on a main topic in affective neuroscience.
  • The twelve reviews completed provide a comprehensive analysis of affect, feeling and emotion with a focus on brain organization and development.
  • The reviews are accompanied by a capstone synthesis piece that combines the different topics and produces an overall model for affect and brain function.

Abstract: The Human Affectome Project was launched by the non-profit organization Neuroqualia (www.neuroqualia.org) in 2015 with the seemingly impossible goal: To map a psychological process and form possible definitions and working models for affective states and related emotions. Twelve reviews based on emotions, feelings and motivation were written dedicated to mapping the brain basis of affect. A capstone piece ‘The Human Affectome’ provides a foundation for the special issue by giving detailed up-to-date definitions for key terms including feeling, affect, emotion and mood. Critically, the piece offers an overall model synthesizing three main features of affect: valence, motivation, and arousal. Affect itself is explored as the main umbrella function capturing all feeling states and related processes. Overall, the project and the special issue has been a highly successful interdisciplinary effort producing a novel approach that can be used to understand, guide and revise contemporary research on the brain basis of feeling and how diverse feeling states interact with each other in typical and atypical fashions.

 Daniela Schiller und 173 andere, The Human Affectome, Neuroscience & Biobehavioral Reviews 158, März 2024, 105450.

Als Highlights werden hervorgehoben:

  • The affective sciences have grown disparate due to differing assumptions.
  • A teleological principle for human affective phenomena can organize the field’s assumptions.
  • Some affective phenomena adjust based on the comfort zone (affective concerns).
  • Others monitor that adaptive process (affective features).
  • This Human Affectome framework organizes existing research and provides a research agenda.

Abstract: Over the last decades, theoretical perspectives in the interdisciplinary field of the affective sciences have proliferated rather than converged due to differing assumptions about what human affective phenomena are and how they work. These metaphysical and mechanistic assumptions, shaped by academic context and values, have dictated affective constructs and operationalizations. However, an assumption about the purpose of affective phenomena can guide us to a common set of metaphysical and mechanistic assumptions. In this capstone paper, we home in on a nested teleological principle for human affective phenomena in order to synthesize metaphysical and mechanistic assumptions. Under this framework, human affective phenomena can collectively be considered algorithms that either adjust based on the human comfort zone (affective concerns) or monitor those adaptive processes (affective features). This teleologically-grounded framework offers a principled agenda and launchpad for both organizing existing perspectives and generating new ones. Ultimately, we hope the Human Affectome brings us a step closer to not only an integrated understanding of human affective phenomena, but an integrated field for affective research.

Howard C. Cromwell/Leroy J. Lowe: The Human Affectome Project: A dedication to Jaak Panksepp

Abstract: Mapping the neural basis of the Affectome was certainly the goal of Jaak Panksepp as he extended the work of a long line of thinkers from William James to Paul Maclean. Jaak’s contribution was not just an incremental step, but a move to embrace feelings as a key component of affective science. His goal was to develop objective behavioral measures as he identified the neural substrates associated with affective states. He dedicated his career to studying the biological roots of emotional operating systems and his 1998 book »Affective Neuroscience« stands as a seminal accomplishment that provided a foundation for a field of research that has flourished since. His influences can be seen in many of the reviews created for this project and his early references to comfort zones are central to the human affectome. Indeed, Jaak was a tireless investigator who challenged our thinking, and he gave us many insights and gifts. We are immensely grateful for his contributions and this special issue is dedicated to his memory.

Juan A. Arias u. a., The Neuroscience of Sadness: A Multidisciplinary Synthesis and Collaborative Review, Neuroscience & Biobehavioral Reviews 111, 2020, 199-228.

Als Highlights werden hervorgehoben:

  • Sadness involves reduction of cortical control over evolutionarily ancient brain systems.
  • Basic emotion theorists have identified a SADNESS circuit, based on animal research.
  • Psychological constructionists have identified patterns of activity that dependent on context.
  • Competing models may relate to different levels on a phylogenetic hierarchy.

Abstract:  Sadness is typically characterized by raised inner eyebrows, lowered corners of the mouth, reduced walking speed, and slumped posture. Ancient subcortical circuitry provides a neuroanatomical foundation, extending from dorsal periaqueductal grey to subgenual anterior cingulate, the latter of which is now a treatment target in disorders of sadness. Electrophysiological studies further emphasize a role for reduced left relative to right frontal asymmetry in sadness, underpinning interest in the transcranial stimulation of left dorsolateral prefrontal cortex as an antidepressant target. Neuroimaging studies – including meta-analyses – indicate that sadness is associated with reduced cortical activation, which may contribute to reduced parasympathetic inhibitory control over medullary cardioacceleratory circuits. Reduced cardiac control may – in part – contribute to epidemiological reports of reduced life expectancy in affective disorders, effects equivalent to heavy smoking. We suggest that the field may be moving toward a theoretical consensus, in which different models relating to basic emotion theory and psychological constructionism may be considered as complementary, working at different levels of the phylogenetic hierarchy.

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Nico H. Frijdas »Gesetze der Emotionen« und Jon Elsters historisch-literarisch informierte Emotionspsychologie

Den psychischen Prozess der Emotionen hat niemand so handfest und einleuchtend dargestellt wie der niederländische Psychologe Nico H. Frijda[1]. Ich lese Frijdas »Gesetze der Emotionen« als Fortsetzung der Prospect-Theorie über kognitive Täuschungen und Heuristiken von Tversky und Kahnemann – und wundere mich, dass Frijda in den Lehrbüchern zwar als Vertreter der Bewertungstheorie angeführt wird, seine laws of emotions dort aber nicht gewürdigt werden.[2] Da macht auch Jon Elster keine Ausnahme, wiewohl er seinen Literaturhinweisen den Satz voranstellt, das beste Buch über Emotionen sei N. Frijda, The Emotions (Cambridge University Press, 1986). Das ermutigt mich, Elsters Kapitel über Emotionen wiederum als Fortsetzung der Laws of Emotions zu lesen.

Die Prospect-Theorie entstand 1979 als eine psychologische Korrektur der Rational-Choice-Theorie der Ökonomen, der Theorie, nach der Menschen ihre Entscheidungen im Hinblick auf den erwarteten Nutzen treffen. Kahneman und Tversky zeigten, wie die Menschen bei solchen Entscheidungen zu typischen Fehlannahmen über den erwarteten Nutzen kommen. Es gibt zwar Überschneidungen zwischen Frijdas »Gesetzen« und der Prospekt-Theorie. Beide kreisen um einen Utility-Aspekt. Frijdas »Gesetze der Emotionen« fassen diesen Aspekt aber weiter als in der Ökonomie üblich, nämlich als concerns. Das Law of Concern besagt:

»Every emotion hides a concern, that is, a more or less enduring disposition to prefer particular states of the world.«[3]

»Mit ›Interesse‹ ist jedes wichtige Ziel, Bedürfnis oder Wunsch gemeint. Der Begriff kann allgemein aufgefaßt werden als die Disposition, einen bestimmten Zustand der Welt oder der eigenen Person zu bevorzugen. Interesse ist das, was Ereignissen ihre emotionale Bedeutung gibt.«[4]

In der deutschen Fassung wird concern also mit »Interesse« übersetzt. Mit scheint »Betroffenheit« angemessener.

Die Prospect-Theorie befasst sich primär mit kognitiven Verzerrungen von ökonomisch relevanten Entscheidungen unter Wahrscheinlichkeitsannahmen. Frijdas »Gesetze der Emotionen« sehen Verhalten nicht durch Zweck-Mittel-Annahmen über die Zielerreichung, sondern eben durch Emotionen gelenkt. Die Prospect-Theorie ist eine Entscheidungstheorie. Sie geht davon aus, dass Annahmen über die Erreichbarkeit von Zielen die Handlungsbereitschaft steuern. Frijdas »Gesetze« erklären viel breiter Verhalten aus der Wahrnehmung von emotional relevanten Situationen. Frijda versteht unter einer Emotion ein »Änderung der Handlungsbereitschaft«[5]. Seine »Gesetze« beschreiben, wie emotional bedeutsame Ereignisse über Gefühle auf die Handlungsbereitschaft der Person einwirken. Allerdings sind auch für die Erwartungstheorie Gefühle relevant. Eine zentrale Annahme der Erwartungstheorie geht dahin, dass loss aversion ein zentrales Motiv für Entscheidungen bildet, denn Verluste haben negative Gefühle zur Folge. Kahneman und Tversky machen geltend, dass Menschen das negative Gefühl des Bedauerns (regret) vermeiden wollen, dass aufkommt, wenn sie erkennen müssen, dass sie erkennen müssen, dass ihr Handeln verlustreich war.

Es macht nicht viel Sinn, die laws of emotion hier vollständiger zu referieren. Frijdas Darstellung von 1988 ist so knapp und anschaulich, dass darauf verwiesen werden darf. Daher will ich die Gesetze nur aufzählen. Die ersten sechs dieser »Gesetze« gelten der Auslösung von Gefühlen. Weitere sechs handeln von der Dauer, der Modularität und der Regulierung von Emotionen.

  • The law of situational meaning: Emotions arise in response to the meaning structures of given situations; different emotions arise in response to different meaning structures.
  • The law of concern: Emotions arise in response to events that are important to the individual’s goals, motives, or concerns.
  • The law of apparent reality. Emotions are elicited by events appraised as real, and their intensity corresponds to the degree to which this is the case.
  • The law of change: Emotions are elicited not so much by the presence of favorable or unfavorable conditions, but by actual or expected changes in favorable or unfavorable conditions.
  • The law of habituation: Continued pleasures wear off; continued hardships lose their poignancy.
  • The law of comparative feeling: The intensity of emotion depends on the relationship between an event and some frame of reference against which the event is evaluated.
  • The law of hedonic asymmetry (the law of asymmetrical adaptation to pleasure or pain): Pleasure is always contingent upon change and disappears with continuous satisfaction. Pain may persist under persisting adverse conditions.
  • The law of conservation of emotional momentum: Emotional events retain their power to elicit emotions indefinitely, unless counteracted by repetitive exposures that permit extinction or habituation, to the extent that these are possible.
  • The law of closure: Emotions tend to be closed to judgments of relativity of impact and to the requirements of goals other than their own.
  • The law of care for consequence: Every emotional impulse elicits a secondary impulse that tends to modify it in view of its possible consequences.
  • The law of the lightest load: Whenever a situation can be viewed in alternative ways, a tendency exists to view it in a way that minimizes negative emotional load.
  • The law of the greatest gain: Whenever a situation can be viewed in alternative ways, a tendency exists to view it in a way that maximizes emotional gain.

Sicher müssen diese Gesetze zusammen mit Frijdas Beispielen und Erläuterungen gelesen werden. Doch ich finde sie schon in der nackten Aufzählung eindrucksvoll.

Frijda sagt von seinen Gesetzen,

»I am discussing what are primarily empirical regularities. These regularities – or putative regularities – are, however, assumed to rest on underlying causal mechanisms that generate them«.[6]

Der empirische Gehalt wird allerdings bestritten. Jan Smendslund meint, sie seien nicht empirisch. Sie zeigten keine Beziehungen zwischen unabhängigen Variablen, sondern seien aus plausiblen Definitionen und aus Axiomen (presuppositions) abgeleitet, die man schwerlich verneinen könne, und damit seien sie letztlich tautologisch.[7] Klar, dass Frijda ihm widerspricht.[8] Smedslund hat sicher einen Punkt insofern, als eine Neigung besteht, Emotionen so zu definieren, dass implizit schon Theorien der Entstehung und Wirkung vorweggenommen werden. Zirkulär erscheint Frijdas Definition der Emotion als Reaktion auf die spezifische Bedeutung einer Situation.

»Emotions arise in response to the meaning structures of given situations; different emotions arise in response to different meaning structures.«[9]

Diese Zirkularität wiederholt sich in dem law of concern, das besagt, dass Emotionalität aus Betroffenheit entsteht. Umgekehrt gilt aber auch, dass sich aus Emotionalität auf Betroffenheit schließen lässt. Dieser Zirkel lässt sich auflösen, wenn man die Emotion nicht als fertiges Dispositiv betrachtet, sondern mit den gängigen Emotionstheorien die Genese des Emotionsdispositivs durch Anlage und Lernvorgänge einbezieht. Eine Emotion kann auf einer Erfahrungsbasis beruhen. Sie Sie setzt aber nicht in jedem Fall frühere Kognitionen voraus: »A rose smells good because it smells good«[10]. Aber auch hier gilt wohl: Jede Reaktion, die als emotional qualifiziert wird, nimmt ihren Ausgang von einem aktuellen Emotionsdispositiv, das aber wiederum durch jedes Erlebnis, und sei es auch nur infinitesimal, verändert wird.

Mein Problem mit den »Gesetzen« besteht darin, dass Frijda kaum zwischen Erstreaktion und »Gefühlen als Bewusstsein einer Handlungsbereitschaft«[11] unterscheidet, sondern erklärt, das Wort »kognitiv« impliziere kein Bewusstsein[12]. Immerhin hatte er 1988 erwähnt, dass Emotionen, die (zunächst nur) die Handlungsbereitschaft umsteuern, gewöhnlich basic oder primary genannt würden, und dass nur diese Basisemotionen spezifische Formen der Handlungsbereitschaft bewirken.[13] Diese Lücke hat Frijda später durch die Annahme von ur-emotions zu füllen versucht.[14] Die Uremotionen sollen abstrakter sein als die geläufigen Basisemotionen. Ganz verstanden habe ich den Unterschied nicht, zumal Frijda allgemein auf eine biologische Basis und speziell auf die Ähnlichkeit zu Panksepps Emotionstheorie verweist.

»Ur-emotions, we propose, reflect a limited number of modes of relating to other people, objects, or circumstances.« (S. 406)… »The term ur-emotion can therefore suggest both an underlying structure and an evolutionary, biologically based source.« (S. 407)«

Über die biologische Basis der ur-emotions erfahren wir weiter nichts. Es soll sich um Formen von Handlungsbereitschaft noch ohne Gegenstand handeln, immerhin 18 an der Zahl, für die Universalität in Anspruch genommen wird. Sie werden jeweils durch die Bewertung von Auslösern (by events appraised; S. 410) aktiviert. So bleibt das Rätsel der unbewussten Erstreaktion, dass sich wohl nur über eine Verbindung von biologischer Prädisposition mit individuellem und sozialem Lernen auslöst. Nimmt man eine solche Prädisposition aber als gegeben hin, dann erweisen sich Frijdas »Gesetze« als gehaltvoll, so gehaltvoll, dass sie, wie gesagt, als Fortsetzung und Ergänzung der Prospect-Theorie von Tversky und Kahnemann gelten können: Frijda beschreibt keine »kognitiven«, sondern emotionale Heuristiken, die nicht immer zu rationalen Entscheidungen führen, sondern auch zu emotionalen Täuschungen werden können.

Wie gesagt, Jon Elsters Kapitel über Emotionen[15] habe ich wiederum als Fortsetzung von Frijdas Laws of Emotions gelesen. Es bildet zugleich eine Zusammenfassung früherer Arbeiten Elsters, die die Emotionspsychologie für eine Rezeption in Philosophie, Soziologie und Rechtswissenschaft[16] aufarbeiten – und ist insoweit bis heute unübertroffen.[17]

Das Vorgehen Elsters hat Christoph Henning besser erklärt, als ich es kann. Hier ist nur zu sagen, dass Elster nicht unmittelbar Psychologie betreibt oder referiert, sondern – selbstverständlich informiert durch die Fachpsychologie – den Spuren nachgeht, die die Reflexion über Emotionen in der Literatur hinterlassen hat. So entsteht eine Art »historischer Psychologie«, die, wenn man ihre Ergebnisse ansieht, die Fachpsychologie erst praxistauglich machen.

Der Artikel in Legal Theory 1997 nimmt ein Kapitel aus dem Buch von 1998 vorweg. Da geht es darum, dass man sich in der diskursiven Auseinandersetzung mit anderen mindestens den Anschein der Objektivität oder Unparteilichkeit geben möchte mit der Folge, dass emotionale Handlungsantriebe und Interessen als rational dargestellt werden, dass man aber auch umgekehrt Emotionen und Interessen hervorkehren kann, um seine Wünsche als rational erscheinen zu lassen. In dieser Kürze klingt das grob und vielleicht auch banal. Wenn man Elsters ausführliche Darstellung nachliest, fragt man sich, wie weit die Argumentationstheorie in die Wolken schönen Schein abgehoben hat. Ich beziehe mich im Folgenden allein auf Elsters den Text von 2015, der sich explizit mit Emotionen befasst.

Zunächst erklärt uns Elster, wie schwierig es ist, das Phänomen »Emotionen« in den Griff zu bekommen:

»There is no agreed-upon definition of what counts as an emotion, that is, no agreed-upon list of sufficient and necessary conditions. There is not even an agreed-upon list of necessary conditions. Although I shall discuss a large number of common features of the states that we understand, preanalytically, as emotions, there are counterexamples to all of them. For any such feature, that is, there are some emotions or emotional occurrences in which it is lacking. We may think that action tendencies are crucial to emotion, but the aesthetic emotions provide a counterexample. We may think that a ›short half-life‹, that is, a tendency to decay quickly, is an essential feature of emotion, but in some instances unrequited romantic love (such as that of Cyrano de Bergerac) or the passionate desire for revenge can persist for years or decades. We may think that emotions are triggered by beliefs, but how do we then explain that people can get emotionally upset by reading stories or watching movies that are clearly fictitious? Many other examples could be given of allegedly universal features that turn out to be lacking in some cases.« (S. 138)

Die Phänomene, die als Emotion angesehen werden, seien so unterschiedlich, dass man sie schwerlich als natürlich (natural kind) begreifen könne (S. 139). Aber diese Grundsatzfrage könne offenbleiben. Fest stehe jedenfalls, die meisten Emotionen würden durch Überzeugungen (beliefs) ausgelöst. Manche wie Furcht und Abscheu entstünden jedoch durch bloße Wahrnehmung, slo vor das Bewusstsein beteiligt sei.

»Natural selection might well have hardwired a tendency to ›shoot first; ask later›‹.« S. 141)

Solche Automatismen teile der Mensch mit Tieren. Einzigartig für Menschen einen dagegen die nachträglichen Rechtfertigungen. Damit bahnt sich schon der Übergang zu solchen Emotionen an, die für das soziale Zusammenleben Bedeutung haben. Elster spricht von bewertenden Emotionen (evaluative emotions, S. 142) und lässt offen, ob die basic oder non-basic sind:

 Shame is triggered by another person’s negative belief about the agent’s character.

  • Contempt and hatred are triggered by the agent’s negative beliefs about another’s character. Contempt is induced by the thought that another is inferior, hatred by the thought that he is evil. Hitler thought Jews were evil, and Slavs inferior.
  • Guilt is triggered by a negative belief about one’s own action.
  • Anger is triggered by a negative belief about another’s action toward oneself.
  • Cartesian indignation is triggered by a negative belief about another’s action toward a third party.
  • Pridefulness is triggered by a positive belief about one’s own character.
  • Liking is triggered by a positive belief about another’s character.
  • Pride is triggered by a positive belief about one’s own action.
  • Gratitude is triggered by a positive belief about another’s action toward oneself.
  • Admiration is triggered by a positive belief about another’s action toward a third party.

Dann folgen S. 143 sechs Emotionen, die sich positiv oder negativ auf den Status anderer beziehen:

  • Envy is caused by the deserved good of someone else.
  • Aristotelian indignation is caused by the undeserved good of someone else. The closely related emotion of resentment is caused by the reversal of a prestige hierarchy, when a formerly inferior group or individual emerges as dominant.
  • Sympathy is caused by the deserved good of someone else.
  • Pity is caused by the undeserved bad of someone else.
  • Malice is caused by the undeserved bad of someone else.
  • Gloating is caused by the deserved bad of someone else.

[Mir fehlt hier eine Gruppe von Emotionen, die sich unmittelbar auf die Wahrnehmung anderer Personen bezieht. Es geht dabei um den »ersten Eindruck« wie er etwa bei Bewerbungsgesprächen und anderen »unfreiwilligen« Begegnungen, wie sie auch bei Gericht massenhaft vorkommen (Primacy Effekt + Halo-Effekt, Attraktivitäts-Halo, What is beautiful is good-Effekt). Über diese Gruppe erfährt man auch sonst in der Emotionspsychologie wenig Grundsätzliches. Die Effekte als solche sind zwar in vielen empirischen Studien nachgewiesen. Ich habe aber keine Verknüpfung mit einer Basis-Emotion gefunden. Das liegt vielleicht daran, dass als Basisemotion eine solche in Betracht kommt, die biologisch verankert ist und eine Handlungsbereitschaft in Richtung auf Sexualität und Partnerwahl stimuliert. Hier könnten die vom kulturalistischen Konstruktivismus verordneten Scheuklappen die Sicht verstellen.]

Interessant ist sodann der Abschnitt über »Emotion and Action« (S. 146ff), weil es hier um Gefühle geht, die durch Normverletzungen ausgelöst werden.

»The emotions of anger, guilt, contempt, and shame have close relations to moral and social norms. Norm violators may suffer guilt or shame, whereas those who observe the violation feel anger or contempt.« (S. 146)

Elster unterscheidet hier also zwischen der Gefühlsreaktion auf die Verletzung moralischer und sozialer Normen. Beim Verstoß gegen soziale Normen empfinden der Akteur Scham und der Beobachter Verachtung (contempt). Bei einem Moralverstoß empfindet der Akteur Schuld und der Beobachter Entrüstung (anger). Diese Gefühle lösen dann typische Handlungsbereitschaften aus. Entrüstung (anger) verlangt nach Rache (revenge), Scham nach Selbstbestrafung, die bis zum Selbstmord gehen kann.  Man kann diese Passage als eine Bestätigung der alten Gefühlstheorie von Eugen Ehrlich lesen.

In einem Abschnitt über Emotionen und Politik erfahren wir, dass politisches Handeln fast nur von negativen Emotionen begleitet wird. Als positive Emotion zeige sich nur Begeisterung (enthusiasm, S. 152). Elster demonstriert sodann die Wirkung von Emotionen auf politisches Handeln am Beispiel der Aufarbeitung politischer Verbrechen nach dem 2. Weltkrieg.

Wichtig der Hinweis auf den wechselseitigen Einfluss von Emotionen und Überzeugungen (cognitions). Es geht u. a. um den hot–cold empathy gap und ein Gegenstück, den cold–hot empathy gap (S. 156). Unter dem Einfluss einer Emotion fehlt es an einer Vorstellung, wie man nüchtern rational denken würde. In Zustand emotionsfreier Nüchternheit ist schwer vorstellbar, wie Rationalität unter dem Einflus von Gefühlen zurücktreten kann.

Das Kapitel endet mit bemerkenswerten Bemerkungen über die kulturelle Relativität von Emotionen. Mit der wohl heute »h. M.« hält Elster jedenfalls einige Emotionen (happiness, surprise, fear, sadness, disgust, and anger ) für universal. Vielleicht seien aber auch andere Emotionen universal, ohne dass alle Gesellschaften dafür explizite Konzepte entwickelt hätten. So gelte romantische Liebe als eine moderne Erfindung. Vermutlich hätten Menschen aber auch früher ähnlich empfunden. Allerdings ohne das Gefühl benennen zu können. Freilich habe die Konzeptualisierung von Emotionen eine Verstärkungswirkung. Dazu zitiert Elster den französischen Moralisten La Rochefoucauld: »Some people would never have fallen in love if they had never heard of love.« (S. 157)

Und zum Schluss, für die Rechtssoziologie wichtig, sagt Elster:

»If one believes, as I do, that social norms exist in all societies, the emotions that sustain them – contempt and shame – must also be universal.«

Ob ich die Reihe über den Emotional Turn und die Rechtswissenschaft fortsetze, ist noch nicht klar. Es ist etwas dazwischengekommen. Darüber hier.


[1] Grundlegend Nico H. Frijda, The Emotions, 1986. Ich beziehe mich auf den Aufsatz »The Laws of Emotion«, The American Psychologist 43, 1988, 349–358; ähnlich: Die Gesetze der Emotionen, Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychoanalyse 1996, 205–221; ders., Emotion Experience and its Varieties, Emotion Review 2009, 264–271. Der Aufsatz von 1988 entspricht weitgehend dem ersten Kapitel in dem 2007 erschienenen Band »The Laws of Emotion«.

[2] Laut Google Scholar wird Frijda mit dem Titel »Laws of Emotion« 5900 Mal zitiert.

[3] 1988 S. 351.

[4] 1996 S. 210.

[5] Die Gesetze der Emotionen, Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychoanalyse 1996, 205–221, S. 208.

[6] The Laws of Emotion«, The American Psychologist 43, 1988, S. 349.

[7] Jan Smedslund, Are Frijda’s »Laws of Emotion« Empirical?, Cognition and Emotion 1992, 435–456. Ein Rezensent der Monographie Frijdas von 2006 meint, Smedlunds Kritik habe dazu geührt, dass Frijdas »Gesetze« in der Wissenschaft zwar zitiert, aber nicht als empirische Gesetze akzeptiert würden (The Academy of Management Review , 32, 2007, S. 995-998, S. 995.

[8] Nico H. Frijda, The Empirical Status of the Laws of Emotion, Cognition & Emotion 1992, 467–477.

[9] 1988 S. 349.

[10] Frijda im Handbook of Emotions 2000, 63 (fehlt in der 3. Aufl. von 2008).

[11] Ebd. S. 207.

[12] Ebd. S. 218.

[13] The Laws of Emotion, The American Psychologist 43, 1988, 349–358, S. 351.

[14] Nico H. Frijda/W. Gerrod Parrott, Basic Emotions or Ur-Emotions?, Emotion Review 2011, 406–415.

[15] Jon Elster, Explaining Social Behavior, 2. Aufl. 2015, S. 158.

[16] Jon Elster, Alchemies of the Mind, 1998; ders., Alchemies of the Mind: Transmutation and Misrepresentation, Legal Theory 3, 1997, 133–176.

[17] Zur Würdigung Christoph Henning, Alchemies of the Mind: Wie Jon Elster die Gefühle in die Vernunft einholt, in Ingo Pies (Hg.), Jon Elsters Theorie rationaler Bindungen, 2008, 107–128; Annette Schnabel, Jon Elster: The Alchemies of the Mind, in Konstanze Senge u. a. (Hg.), Schlüsselwerke der Emotionssoziologie, 2022, 163–168.

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Zurück zu den Emotionstheorien der Psychologie

Dies ist die sechsteFortsetzung des Eintrags über den Emotional Turn und die Rechtswissenschaft.

Zurück zu den Emotionstheorien der Psychologie. Auch Damasios quasi-biologische Theorie sagt uns nicht, welche Reize mit welchen Emotionen beantwortet werden. Wir erfahren, die positive oder negative Sortierung sei teils angeboren, teils werde sie individuell oder sozial gelernt. Die körperlichen Spuren, von Damasio Marker genannt, bewirken dann die gefühlsmäßige Tönung neuer Situationen. So bleiben alle interessanten Fragen offen.

Bewertungstheorien (Appraisal Theories)

Die Frage nach angeborenen Auslösern von Emotionen bleibt vom soziobiologischen Ausgangspunkt her umstritten. Dagegen besteht anscheinend Konsens, dass Kognitionen im weitesten Sinne Emotionen auslösen können. Das besagen die Bewertungs- oder Einschätzungstheorien, die deshalb auch als kognitive Emotionstheorien bezeichnet werden.

»In vielen Situationen scheint nicht der objektive Sachverhalt, sondern vielmehr die subjektive Einschätzung der Sache bestimmend für das Auftreten einer Emotion zu sein. Letztere Annahme bildet den Kern von kognitiven Theorien der Emotionsentstehung,«[1]

Am Anfang stand das Werk von Magda B. Arnold (1960). Sie definierte:

»Summing up our discussion we can now define emotion as the felt tendency toward anything intuitively appraised as good (beneficial), or away from anything intuitively appraised as bad (harmful). This attraction or aversion is accompanied by a pattern of physiological changes organized toward approach or withdrawal. The patterns differ for different emotions.«[2]

Es ist plausibel, dass eine Person positive bzw. negative Gefühle entwickelt, je nach dem wie sie ein Ereignis »einschätzt«. Doch woher nimmt sie das Wissen oder den Glauben, das ein Ereignis für sie gut bzw. ungut sei? Ob eine Erfahrung »angenehm ist« wird kaum durch eine reflektierte Entscheidung ermittelt, sondern ergibt sich gleichsam automatisch oder, wie Arnold fomulierte, intuitiv. Doch woher kommt diese Intuition? Nach welchen Kriterien entscheidet sie? Wie werden Situationen wiedererkannt? Wie werden unterschiedliche Wahrnehmungen akkumuliert?

Aktuelle Bewertungstheorien begreifen Emotionen nicht als Zustand, sondern als einen Prozess.[3] Sie unterscheiden zwar zwischen primary und secondary appraisal.[4] Aber sie befassen sich kaum mit der Frage, ob und wie die Erstbewertung programmiert ist. Sie suchen insoweit insbesondere nicht nach neurologischen Grundlagen. Die Erstbewertung beschränkt sich auf eine Einschätzung der Situation als positiv, negativ oder irrelevant. Dieser Prozess soll ohne Bewusstseinsbeteiligung ablaufen[5], er müsste also irgendwo im Unterbewusstsein programmiert sein. Ich verstehe diese Bewertungstheorien dahin, dass sie ein Gerüst von Basisemotionen voraussetzen und dass bereits die emotionale Erstreaktion durch akkumulierte Lernvorgänge programmiert wird. Die Zweitbewertung evaluiert dann die Erstreaktion und verfolgt ferner Chancen, Mittel und Wege zum Umgang mit der Situation.

So hatte es im Grunde schon Arnold gesehen. Sie betonte, die Bewertung (appraisal) sei nicht die Emotion selbst, sondern erst deren Folge. In vielen Situationen bewerte man Objekte aller Art als positiv oder negativ, ohne dass dadurch Emotionen angesprochen würden. Die Bewertung, die eine Emotion hervorrufe, sei nicht abstrakt oder das Ergebnis einer Reflexion. Sie sei vielmehr unmittelbar und unwillkürlich.

»There must be a psychological capacity of appraising how a given thing will affect us, wether it will hurt or please us, before we can want to approach or avoid it. To call upon mere ›learning‹, ›past experience‹, or the ›conditioned reflex‹ for an explanation is futile.«[6]

Hier taucht ein Grundproblem der Appraisal-Theorien auf, wenn sie behaupten, die Bewertung sei zunächst ein Element der Emotion und zugleich deren Ursache.[7] Dieser Zirkel löst sich aber auf, wenn man zwischen der emotional-evaluativen Erstreaktion und dem Gefühlsmanagement unterscheidet. Die Erstreaktion ist dann von einem »Programm« gesteuert, dass aus teils angeborenen, teils habitualisierten Basisemotionen entstanden ist, und der von der Erstreaktion evozierte Zustand wird durch erneute Bewertung bestätigt oder korrigiert. Kognitiv im Laiensinne ist nur die Zweitreaktion.

Die konstruktivistische Zwei-Faktoren-Theorie

Der soziologische Konstruktivismus, insbesondere in seiner Gestalt als Praxistheorie, versteht den Menschen mit seiner Psyche schlechthin als das Produkt sozialer Praktiken. Für die Praxistheorie gibt es keine dispositionellen Variablen, also keine genetische Ausstattung und damit keine vorsozialen Emotionen und Gefühle. Sie betrachtet die Psyche als unbeschriebenes Blatt. Aber auch hier gilt: »Ein Blatt ist ein Blatt«, das heißt: »The medium is the message«. Selbst als »unbeschriebenes Blatt« hält die Psyche eine überindividuelle Funktionsarchitektur bereit, die für die Aufnahme und Verarbeitung von natürlichen und sozialen Reizen zuständig ist.

Für »moderne« konstruktivistische Emotionstheorien trifft die soziale Praxis auf ein Dispositiv von Rohgefühlen (core affect). Bei Russel[8] liest sich das so:

»At the heart of emotion, mood, and any other emotionally charged event are states experienced as simply feeling good or bad, energized or enervated. These states— called core affect—influence reflexes, perception, cognition, and behavior and are influenced by many causes internal and external, but people have no direct access to these causal connections. Core affect can therefore be experienced as freefloating (mood) or can be attributed to some cause (and thereby begin an emotional episode).«

Russel bestimmt diesen Ausgangspunkt aller Emotionen als neurophysiologischen Zustand, der dem Bewusstsein zugänglich ist als unreflektiertes Gefühl von Gefallen oder Missfallen, Erregung oder Erschlaffung. Das Rohgefühl ist ungerichtet (object free/free floating). Es wird durch interne und extern verursachte körperliche Stimuli, durch Drogen ebenso wie durch Sinneswahrnehmungen gereizt. Dieser kausale Auslöser ist nicht identisch mit dem Objekt eines Gefühls. Die Objektgerichtetheit ergibt sich erst aus einem kognitiven Vorgang von Zurechnung und Bewertung (attribution/appraisal). Kognition soll die kausal ausgelösten Rohgefühle erst ex post zu Vorgängen attribuieren, die damit zu Objekten der Emotion werden, aber nicht die eigentliche Ursache sein müssen. Wie das Gefühl wahrgenommen wird, soll schließlich von erlernten Interpretationsschemata abhängen.

Bei den kognitivistischen und den konstruktivistischen Emotionstheorien handelt es sich im Kern um Lerntheorien, beruhen doch alle sozialen Konstruktionen auf Lernvorgängen. Den Unterschied muss man (ich?) mit Lupe suchen. Bei beiden Theoriegruppen vermisse ich die Unterscheidung zwischen der Konditionierung der emotional-evaluativen Erstreaktion und dem Umgang mit dieser Reaktion kraft kognitiver oder sozialer Kompetenz. Immerhin fällt es leichter, die Konditionierung der Erstreaktion im Kindesalter durch soziales Lernen zu erklären als durch kognitive Erfahrung. Aber auch soziales Lernen verlangt eine irgendwie primäre Fähigkeit zur Dekodierung der Gefühle anderer, bei Kindern insbesondere der Gefühle der Eltern. Hier bleibt (für mich) ein großes Rätsel.

Vielleicht kann die Frage, wie die emotionale Erstreaktion konditioniert ist, offen bleiben, wenn man nach Vermittlungsinstanzen sucht, welche die Emotionen auf Ausschnitte aus der Umwelt ausrichten. Soziologie und Sozialpsychologie beschreiben das Ergebnis des Lernvorgangs als Persönlichkeit, Attitüde, Skript, Frame oder Habitus. Die neuronal basierten Emotionen werden dabei allerdings kaum bedacht. Bevor ich diesen Sprung von der Individualpsychologie zur Sozialpsychologie oder gar Soziologie wage, will ich (demnächst) noch auf Nico H. Frijdas »Laws of Emotion« eingehen.


[1] Andreas B. Eder/Tobias Brosch, Emotion, in. Jochen Müsseler/Martina Rieger, Allgemeine Psychologie, 3. Aufl. 2017, 185–222; S. 209. Auführlicher Rainer Reisenzein, Einschätzungstheoretische Ansätze in der Emotionspsychologie, in Jürgen H. Otto u. a. (Hg.), Emotionspsychologie, 2000, 117–138, S. 117.

[2] Magda B. Arnold, Emotion and Personality, 1960, S. 182. Hervorhebung im Original.

[3] Agnes Moors/Phoebe C. Ellsworth/Klaus R. Scherer/Nico H. Frijda, Appraisal Theories of Emotion: State of the Art and Future Development, Emotion Review 2013, 119–124.

[4] Die Unterscheidung geht auf den Psychologen Richard Lazarus zurück (, den ich hier nur aus zweier Hand zitieren kann.

[5] Nico H. Frijda, The Emotions, 1986, S. 464.527

[6] A. a. O. S 173.

[7] Agnes Moors, On the Causal Role of Appraisal in Emotion, Emotion Review 2013, 132–140.

[8] James A. Russell, Core Affect and the Psychological Construction of Emotion, (2003) 110 Psychological Review 110, 2003, 145–172, Abstract.

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Exkurs zu Descartes‘ Irrtum

Dies ist die fünfte Fortsetzung des Eintrags über den Emotional Turn und die Rechtswissenschaft.

Von Emotionen heißt es, sie seien im Gegensatz zu Stimmungen, objektgerichtet sind. Das bedeutet wohl, dass sie sich einen bestimmten, kognitiv erfahrbaren Gegenstand beziehen. Dieser Gegenstand muss nicht real sein, sondern kann, wie ein Gespenst, bloß in der Einbildung bestehen. Die Objektausrichtung von Emotionen lenkt auf eine Dual-Track-Mind-Theorie der Verarbeitung von Kognitionen.

»Decartes‘ Irrtum« soll bekanntlich darin liegen, dass er Körper und Geist und damit auch Emotion und Verstand voneinander getrennt habe. Ich meine allerdings, dass wir eher Anlass haben, Decartes zu bewundern als ihn zu kritisieren. Was er klassisch formuliert hat, würde man heute wohl als ein Emergenzphänomen einordnen. Es geht um die Verselbständigung des (subjektiven) Geistes gegenüber dem Körper. Das Vehikel des Geistes ist die Sprache und die damit möglich gewordene Abstraktion.

Ich beziehe mich im Folgenden auf eine Darstellung von Ronald de Sousa[1]. Die Besonderheit logischer und mathematischer Schlüsse, die wir für schlechthin zutreffend halten, besteht darin, dass sie objektfrei = abstrakt funktionieren. Voraussetzung dafür ist die Sprache. Nun lässt sich aber an vielen sprachlosen Tieren beobachten, dass sie Kognitionen sinnvoll verarbeiten, dass sie also bis zu einem gewissen Grade »denken« können. Solches Denken gelingt aber nur im Blick auf konkrete Objekte. Auch unsere menschlichen Vorfahren sind durch einen sprachlosen Zustand hindurchgegangen. In diesem Zustand konnten sie viele Situationen mit Hilfe von Analogieschlüssen, also durch Mustererkennung[2], beherrschen. Zwischen derart konkretem Denken und dem abstrahierend logischen Denken liegt ein großer Entwicklungsschritt. Das belegen psychologische Experimente nach Art des Wason-Tests[3], und das erlebt jeder Schüler, wenn er eingekleidete Rechenaufgaben in abstrakte Formeln übersetzen soll.

Dual-Track- oder Dual-Process-Theorien gibt es viele. Eine Dual-Track-Theorie besagt in diesem Zusammenhang, dass Kognitionen im weitesten Sinne beim modernen Menschen in zwei psychischen Systemen verarbeitet werden, nämlich in einem älteren, das mit konkreten Objekten und Analogien hantiert, und einem jüngeren, das mit sprachlichen Abstraktionen arbeitet. Die weitere Annahme geht dahin, dass das ältere System von Emotionen gelenkt wird, die es im Laufe der Evolution auf überlebensnotwendige Reaktionen ausgerichtet haben, während das jüngere System über Bewusstsein verfügt, das ihm dazu verhilft, abstrakt und damit im modernen Sinne rational zu arbeiten.

Dieses Dual-Track-Mind-Modell deckt sich nur zum Teil mit Kahnemanns Modell des schnellen und des langsamen Denkens. Das schnelle Denken Kahnemanns ist zwar deshalb schnell, weil es im Unbewussten abläuft. Aber wie es dort hinkommt, bleibt offen. Es handelt sich wohl nicht bloß um emotionsgesteuerte vorsprachliche Reizverarbeitung, sondern auch um individuell oder vor allem sozial gelernte Reaktionsmuster, um Hexis im Sinne Bourdieus, um eine durch kulturelle Praktiken geprägte Routine. »Schnelles Denken« befähigt zu erstaunlichen Leistungen, wie de Sousa am Beispiel des Tennisspielers zeigt, der auf die anfliegenden Bälle des Gegners reagiert. Solche Leistungen können sogar emotionslos erbracht werden. Aber jedenfalls verfügen Menschen jenseits des »schnellen Denkens« über eine Fähigkeit der Distanzierung von ihren unmittelbaren Eindrücken und damit zur Abstraktion. Das bedeutet nicht, dass abstraktes Denken emotionslos vor sich geht. Mit dieser Fähigkeit haben sich anscheinend spezifische Emotionen entwickelt. De Sousa spricht von »epistemischen« Emotionen »such as wonder, doubt, curiosity, surprise, or the ›feeling of rightness‹ [which] spur the quest for analytic rigour typical of Track Two processing«.

Damasios »Entdeckung« bestand bekanntlich darin, dass der arme Phineas Gage nach einer schweren Hirnverletzung seine Entscheidungsfähigkeit im Sinne praktischer Rationalität verlor, weil Verbindungen zwischen der Amygdala als Sitz der Emotionen und dem präfrontalen Kortex als Sitz von Bewusstsein, Wahrnehmung, Gedächtnisleistung und Intelligenz durchtrennt worden waren. »Langsames« abstraktes Denken hat eine neue Qualität, die man Geist nennen kann. Auch wenn dieser Geist um seine neuronale Basis weiß, so kann er sie doch nicht spüren, sondern nur darüber nachdenken. Er weiß auch um seine Emotionen und kann sie sogar fühlen. Aber er kann sich von ihnen distanzieren. Deshalb sollte man Descartes nicht schelten, wenn er das Denken zum Wesensmerkmal des Menschen erklärte.

Solche Überlegungen zeigen eine überindividuelle Funktionsarchitektur der Psyche, die für die Aufnahme und Verarbeitung von natürlichen und sozialen Reizen zuständig ist, führen aber hinsichtlich der Frage, wieweit die Aufnahme und Verarbeitung von Reizen durch Bewusstsein und Routine gesteuert wird und welchen Einfluss dabei Emotionen nehmen, nicht weiter. Immerhin deuten sie darauf hin, dass sich der »Geist« im Sinne von Rationalität soweit verselbständigt hat, dass er imstande ist, Emotionen bis zu einem gewissen Grade zu kontrollieren.

Mit der Fortsetzung geht es zurück zu den Emotionstheorien der Psychologie.


[1] Ronald de Sousa, Logic and Biology: Emotional Inference and Emotions in Reasoning, in: Jonathan Eric Adler/Lance J. Rips, Reasoning, 2008, 1002–1015; vgl. auch Ronald de Sousa, Why Think? Evolution and the Rational Mind, 2007.

[2] Dazu die Einträge über Die Analogie als Entdeckungsverfahren und Gleichmacher auf Rsozblog.

[3] Norbert Treitz, Wason-Test, Spektrum.de.

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