Nun habe ich endlich doch noch Christoph Menkes »Kritik der Rechte«[1] von Anfang bis Ende gelesen. In diesem und – vielleicht – in weiteren Einträgen will ich festhalten, wie ich das Buch missverstanden habe.[2]
Die Rechte, die hier kritisiert werden, sind die subjektiven Rechte, die das moderne Recht charakterisieren. Vorab die Kernaussagen des Buches stark verkürzt: »Das bürgerliche Recht … berechtigt, und ermächtigt dadurch, den einzelnen dazu, nach seinem Belieben zu wollen und zu handeln. … Das Wollen des einzelnen zählt, worin auch immer sein Gehalt besteht; das subjektive Recht entkoppelt die rechtliche Macht des einzelnen von der Tugend oder der Vernunft, an die das traditionelle Recht seine Chance zur Durchsetzung band.« (196) »Der Grund aller Entgegensetzungen und Widersprüche, die im bürgerlichen Recht aufbrechen, ist … die Form der subjektiven Rechte.« (306) »In ihrer modernen Form sichern die Rechte zugleich Interessen und Willkür.« (97) »[Das Recht] muß definieren, was ein Interesse ist, welche Interessen es gibt und wann sie verwirklicht sind … Da Willkür das Vermögen der Wahl unter Absehung von Gründen ist, kann das Recht sie nur legalisieren, indem es sie nicht bestimmt.« (95) Diese »Doppelperformanz« des bürgerlichen Rechts führt zwar zur laufenden Selbstkritik mit dem Ergebnis von sozialen Reformen, die aber wiederum nur Ausbeutung und Zwang durch das Privatrecht befestigen. Die Selbstkritik des bürgerlichen Rechts hat nicht verstanden, worum es geht: Die moderne Form der Rechte ist in sich paradox (355). Hat man das mit M. begriffen, kommt die Revolution von selbst. Sie äußert sich freilich nicht in Gewalt, sondern in einer »Revolution des Urteilens« und in »Gegenrechten«.
Die Lektüre des Buches war durchaus angenehm. Anders als das Zitat am Ende des Eintrags vom 2. Februar 2016 befürchten ließ, ist der Text frei von sprachlichen Kontorsionen. Im Gegenteil, er besticht durch die Eleganz der Darstellung. Das Layout entspricht eher einem literarischen als einem wissenschaftlichen Werk. Die Sätze, wenn auch nicht immer ihre Aussage, sind klar und durchsichtig. Wiederholte Wiederholungen und Zusammen-fassungen bilden ein Stilelement, als ob dem Leser damit Argumente und Thesen eingehämmert werden sollen. Dem senilen Leser erleichtert dieser performative Stil die Lektüre. Ein Stilbruch ist die Grafik auf S. 304. Lästig ist die Wiedergabe der Anmerkungen als Endnoten. Vermisst werden Sachregister und Literaturverzeichnis.
Das Buch ist in vier Teile und fünfzehn durchgezählte Kapitel gegliedert. Außerhalb der Gliederung stehen die Einleitung und ein Schluss über »Recht und Gewalt«.[3] In Exkursen, die im Layout als solche erkennbar sind, setzt M. sich mit alten und postmodernen Autoren auseinander. Jeder Exkurs ist ein kleines Meisterstück der Darstellung, und sie alle tragen zur Verdeutlichung der Argumentation bei.
Warum ist so viel über das subjektive Recht gedacht und geschrieben worden? Auf der Oberfläche geht es um ein Definitionsproblem. Der Begriff des subjektiven Rechts wird mit unterschiedlicher Bedeutung verwendet mit der Folge, dass man nicht selten aneinander vorbeiredet. Auf der einen Seite steht ein sehr weiter Begriff, der Rechtspositionen im Sinne absoluter Rechte (Eigentum, Persönlichkeitsrecht, Grundrechte) ebenso einschließt wie Gestaltungsrechte und Forderungen. Auf der anderen Seite steht ein enger technischer Begriff, der unter subjektiven Rechten nur klagbare Ansprüche versteht. Hinter der Kontroverse um den richtigen Begriff des subjektiven Rechts steckt das Dauerproblem der Rechtsphilosophie, nämlich die Frage, wieweit die Geltung des Rechts von seinem Inhalt abhängig ist. Gehört es zum Begriff des subjektiven Rechts, dass es gerecht ist, sei es, dass es ein (berechtigtes) Interesse schützt, sei es dass es im Sinne der ausgleichenden Gerechtigkeit Gegenleistung oder Restitution bildet, sei es, dass es im Sinne der austeilenden Gerechtigkeit Bedürfnisse zufrieden stellt? Oder genügt es, auf die Willensmacht des Rechtsträgers abzustellen? Im Hintergrund steht Karl Marx’ Kritik der bürgerlichen Gesellschaft. Daran knüpft M. an mit der These, das subjektive Recht habe nicht gleiche Rechte für alle, sondern nur die »Gleichheit der Form der Rechte« gebracht (7).
Es handelt sich um eine relativ junge Problematik. In ursprünglichen Verhältnissen war in allen Rechtsbeziehungen Reziprozität im Sinne ausgleichender Gerechtigkeit eingebaut. So wie heute noch der Käufer meistens sieht oder weiß, was er für sein Geld bekommt, waren alle Rechtsbeziehungen mehr oder weniger konkrete Tauschbeziehungen. Im modernen Recht ist die Gegenseitigkeit nicht mehr zu erkennen. Für sich betrachtet erscheint das subjektive Recht daher oft als ein ungerechtes Recht. Mit den Worten Luhmanns:
Ein Professor, der sich überarbeitet hat, wird nicht in der Universität wiederhergestellt, sondern im Sanatorium. Den Bau von Freibädern bezahlen nicht diejenigen, welche die Flüsse verunreinigen. Die Unfallopfer werden nicht in die Autofabriken gebracht, die Atombombe nicht auf die Physiker geworfen, die randalierende Jugend wird nicht von ihren Eltern und Lehrern niedergeknüppelt. Es muss mithin in erheblichem Umfang Mechanismen der Problemüberwälzung und eines indirekten Folgenausgleichs geben. Diese Umleitung wird durch abstrakte Medien wie Macht und Geld zu verbindlichen Entscheidungen getragen. … Juristisch ließe sich ein solcher indirekter Ausgleich ohne die Figur des subjektiven Rechts kaum organisieren.[4]
Viele sind heute der Ansicht, das subjektive Recht sei als »modernes« individualistisches Konzept überholt und müsse durch kommunitäre Vorstellungen ersetzt werden. Vielleicht sind wir sogar schon auf dem Wege dorthin. Dagegen steht die »rights explosion«[5] oder »rights revolution«[6] im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, die auf die Positivierung der Menschenrechte zurückgeht und noch nicht abgeschlossen zu sein scheint.
Es gibt hier also ein großes Thema. Daher ist es nicht überraschend, dass das M.s Buch in Akademie und Medien auf Resonanz gestoßen ist.[7] M. entwickelt seine Kritik weitgehend in einer Diskussion mit der Rechtstheorie, wie sie im 19. Jahrhundert von Savigny, Ihering und Windscheid und später von Georg Jellinek und Kelsen auf den Weg gebracht wurde. Das war für mich der Grund, dem Buch so viel Aufmerksamkeit zu schenken.
Die Rezensionen in den Medien fallen eher zurückhaltend aus. Sie halten dem Buch einen hohen Abstraktionsgrad und mangelnde Verständlichkeit vor, suchen vergeblich nach der angekündigten »neuen Revolution der Rechte« und sehen »großes Theoriekino«. In der Akademie wird die Qualität eines geisteswissenschaftlichen Textes wird an der Elaboration der Darstellung gemessen. Davon haben Auer und Möllers sich leiten lassen. Auer findet die »Kritik der Rechte« eindrucksvoll[8] und Möllers sogar furios. Er meint, »Menkes Buch [sei] von einer geradezu berückenden systematisch-begrifflichen Geschlossenheit. … die begriffliche Rigorosität [schaffe] ein neues eigenes Argument«[9]. Bis zu einer Kritik der Kritik dringen die Kritiker nicht vor. Das war aber in den für die SZ und die FAZ geschriebenen Rezensionen auch nicht zu erwarten. Hilfreich war deshalb die parallele Lektüre von Marietta Auers 2014 erschienener Monographie »Der privatrechtlichen Diskurs der Moderne«.
In der Form betreibt M. eine Begriffsphilosophie, die Juristen an die Begriffsjurisprudenz erinnert. Dabei helfen offene Allgemeinbegriffe wie Subjekt und Macht, Revolution und Krise, Naturalisierung, Materialismus und Positivität, Privatisierung und Politisierung sowie für die Metaebene Selbstreflexion, Dialektik und Ontologie. Aus den anscheinend beschreibenden oder analytischen Begriffen werden normativ aufgeladene Ergebnisse abgeleitet. Das funktioniert besser noch als bei der alten Begriffsjurisprudenz, weil die Begriffe so gegriffen werden, dass sie in sich oder in Kombination Widersprüche ergeben. Aus Widersprüchen lassen sich beliebige Schlussfolgerungen ziehen.
Dieser Umgang mit den Begriffen ist unhistorisch und unsoziologisch, denn er unterstellt, dass die Welt den Begriffen folgt, und nicht umgekehrt. M.s Begriffswelt führt ein Eigenleben. Sie lässt in der Schwebe, ob die Ideengeschichte des Liberalismus von Locke bis Rawls begrifflich analysiert oder ob die Wirkungsgeschichte dieser Ideen nachvollzogen werden soll. Entwicklung und Konflikte der Gesellschaft werden aus Begriffen rekonstruiert. Auf Luhmannesisch gesagt, M.s Begrifflichkeiten invisibilisieren die Realität des modernen Rechts.
In der Sache führt M. einen Angriff auf den klassischen und ebenso auf den modernen Rechtsliberalismus. Er hält seinen Angriff für vernichtend. Daher sind alle, die der Ansicht sind, dass dieser Liberalismus die Basis ihres Staates und seiner Gesellschaft und auch die Basis der westlichen Welt bildet, zu einer Verteidigung des Liberalismus aufgerufen. Bisher ist der Aufruf ungehört verhallt. In der Akademie gehört es heute zum guten Ton, mit der Liberalismuskritik zu kokettieren, auch wenn man keine Alternative vorweisen kann.
Zu den subjektiven Rechten, denen die Kritik M.s gilt, gehören über das klassische Privatrecht hinaus die sozialen Teilhaberechte sowie die Grund- und Menschenrechte. Die Grundrechte wären ein guter Ausgangspunkt, um die praktischen Konsequenzen und die noch unausgeschöpften Möglichkeiten der Form des subjektiven Rechts in Augenschein zu nehmen. Diese Möglichkeiten hatte schon der von M. ausgiebig rezipierte Georg Jellinek angelegt, wenn er sagte, dass »Wille und Interesse oder Gut … im Begriffe des Rechts [nicht] nothwendig« zusammengehören, und wenn er das Recht darüber hinaus von der Betroffenheit individueller Interessen überhaupt befreite[10]. Was daraus geworden ist, deutet die von M. geschätzte Feministin Wendy Brown an, wenn sie vom Ortswechsel vieler sozialer Bewegungen von der Straße in den Gerichtssaal spricht[11]. Aber M.s Analyse, die dem Begriff des subjektiven Rechts eine innere Widersprüchlichkeit attestiert, verbaut sich den Blick für die Möglichkeiten, die in der Form des subjektiven Rechts stecken.
Durch die Betonung der Begriffsarbeit und die eingehende Auseinandersetzung mit der analytischen Rechtstheorie wirken die Thesen des Buches analytisch und verstecken ihre Normativität. M. kritisiert das moderne Recht, weil »das Gesetz … nicht mehr die gerechte Vorschrift sittlichen Tuns, sondern die äußere Begrenzung von Bezirken natürlicher Tätigkeiten gegeneinander« ist. Das moderne Recht sei egalitär, aber ohne Moral, denn die Bezirke natürlicher Tätigkeit würden als gleich behandelt, anders als zuvor der für die Zumessung von Rechten maßgebliche Status im Gemeinwesen (S. 59). Auer meint, »die Rückkehr zu einem sittlichen Rechtsverständnis im Sinne der Vormoderne« habe M. bei seiner Kritik »natürlich« nicht im Sinn. Was dann, fragt sich der Leser, wenn ihm von dem »neuen Recht« auch nur eine Form vorgestellt wird?
Auer lobt, M. habe seine Thesen historisch verankert. Doch er hat sich mit Athen und Rom einen bequemen Ankergrund ausgesucht. Sehr viel steiniger ist die nationalsozialistische ebenso wie die international-sozialistische Rechtserneuerung. Beide haben die Entwicklung noch einmal zurückgedreht, indem sie subjektive Rechte mit einer objektiven Bindung versehen haben, die von M.s Sittlichkeitsbegriff gedeckt ist, der verlangt, »daß die Inanspruchnahme der Rechte durch ein geteiltes Ethos reguliert ist« (S. 272).
Ein zentrales Element der Moderne und damit auch des Liberalismus ist die Skepsis gegenüber moralischer Gewissheit. Sie wird von M. nicht gewürdigt. Daher wirkt die Emphase, mit der er immer wieder den Verlust der Sittlichkeit im Recht beklagt, wie eine Einladung an das einzige zeitgenössische Recht, das durchgehend moralisch verankert ist, nämlich an die Scharia (= Modell Riad).
Diese meine Kritik der Kritik verlangt nach näherer Begründung. Eine Fortsetzung ist deshalb geplant, aber noch nicht gesichert.
[1] Christoph Menke, Kritik der Rechte, Suhrkamp, Berlin 2015, 485 S. 29,95 EUR..
[2] M. = Menke. Zahlen in Klammern sind Seiten des Buches. Kursivschrift in Zitaten folgt dem Original. Eckige Klammern in Zitaten enthalten Ergänzungen, die den Sprachfluss sicherstellen sollen.
[3] Zu diesem Schluss bereits der Eintrag vom 2. Februar 2016 Mehr als postmodernes Gewaltgeraune eines Schlangenmenschen?.
[4] Niklas Luhmann, Zur Funktion der »subjektiven« Rechte, JbRSozRTh 1, 1970, 321/327 f.
[5] Robert A. Licht, Old Rights and New (The Rights Explosion), Washington, D.C., 1993.
[6] Bruce A. Ackerman, The Civil Rights Revolution, Cambridge, Mass., 2014; Charles R. Epp, The Rights Revolution. Lawyers, Activists, and Supreme Courts in Comparative Perspective, Chicago 1998; Michael Ignatieff, The Rights Revolution, Toronto 2000; Cass R. Sunstein, After the Rights Revolution. Reconceiving the Regulatory State, Cambridge, Mass., 1993; Samuel Walker, The Rights Revolution. Rights and Community in Modern America, New York 1998.
[7] Marietta Auer, Sittlichkeit ist halt perdu, FAZ vom 27. 1. 2016 S. 10; Hannah Bethke, Ruf nach Revolutionierung der Gleichheit, Deutschlandradio Kultur am 11. 12. 2015; Christoph Fleischmann, Rezension, WDR 3 vom 6. 11. 2015; Christoph Möllers, Jenseits des Eigenwillens, Süddeutsche Zeitung vom 22. 12. 2015; Annette Wilmes, Gedanken zu einer neuen Revolution, Deutschlandfunk vom 21.12.2015; Tom Wohlfahrt, Die Möglichkeit der Rechte, Blogbeitrag vom 26. 1. 2016.
[8] Das ist ein bißchen überraschend, denn M. folgt keineswegs der Devise Auers, »die soziale Praxis ernst zu nehmen« (Marietta Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, 2014, S. 5).
[9] Möllers a. a. O.
[10] Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. 1905, S. 44, 71.
[11] Wendy Brown, Die Paradoxien der Rechte, in: Christoph Menke/Francesca Raimondi (Hg.), Die Revolution der Menschenrechte, 2011, 454-473, S. 454. In diese Richtung deutet auch Möllers, wenn er auf »vielen um Emanzipation kämpfenden Gruppen [hinweist], die erst durch die gemeinsame Einforderung von Rechten politisch vergemeinschaftet wurden.«