»Der Verlust der Kölner Stadtarchivs ist eine Katastrophe«, so las man nach dem Einsturz im März 2009. In der Tat, was in Köln geschah, war eine Katastrophe. Bei einem Großbauvorhaben kamen zwei Menschen ums Leben und viele mehr sind ihrem Schicksal nur um Haaresbreite entronnen. Dazu gab es einen gewaltigen Sachschaden, mit dessen Äquvalent vermutlich das Einkommen aller Kölner Hartz-IV-Empfänger über Jahre verdoppelt oder vierhundert zusätzliche Lehrer dauerhaft hätten bezahlt werden können. Aber die Medien schienen nur die Verluste des Stadtarchivs zu interessieren. In der Tat, Köln ist eine ungewöhnlich geschichtsträchtige Stadt. Und die Verluste sind höchst bedauerlich. Aber eine Katastrophe? Drohen wir nicht, an unserer Erinnerung zu ersticken? Etwa zur gleichen Zeit las man landauf landab Ilias und Odyssee, und das war wunderbar. Dazu brauchte man kein Archiv, sondern nur einen Text. Freuen konnte man sich auch, wenn Raoul Schrott romanhaft über das wahre Troja spekulierte. Mit Archiven, in denen man das alles nachforschen könnte, wäre die Sache ziemlich langweilig. Muss wirklich der Nachlass jedes mittelmäßigen Schriftstellers archiviert werden?
Aleida und Jan Assmann haben mit dem Begriff der kulturellen Erinnerung eine großartige Erfindung gemacht. Die hat sich längst verselbständigt. Der Begriff ist über seine Funktion als analytisches Instrument der Geisteswissenschaft zum Imperativ der Gruppe oder Schicht geworden, die die »repräsentative Kultur« verwaltet. Das Ruhrgebiet – in dem ich gerne lebe – ist ein großes Industriemuseum geworden. Die Internationale Bauausstellung Emscher Park Internationale Bauausstellung Emscher Park von 1989 bis 1999 war ein großartiges Aufbruchssignal. Aus Industrieruinen wurden eindrucksvolle Industriedenkmale. 1995 roch die gerade stillgelegte Kokerei auf der Zeche Zollverein nach Teer, als wenn sie gestern noch in Betrieb gewesen wäre. Ende der 1980er Jahre war ein Grillabend im Freundeskreis vor dem Abstichloch des Hochofens der Henrichshütte ein Abenteuer. In der Jahrhunderthalle auf dem Gelände des Bochumer Vereins musste man sich warm anziehen, nachdem Eberhard Kloke sie als Spielort für die Bochumer Symphoniker entdeckt hatte. Doch diese und viele andere Industriedenkmale haben ihren direkten Erinnerungswert verloren. Sie sind entweder zu Weltkulturerbe- oder Eventplätzen lackiert worden oder zu Industrieruinen verfallen. Überall trifft man auf Wegweiser zur »Industriekultur«. Auf die Frage, was darunter zu verstehen sei, lautet die zynische Antwort: Keine Industrie mehr, aber noch keine Kultur. Die Erinnerung an das Industriezeitalter lässt sich an Hand der materiellen Reste nicht mehr unmittelbar erleben, sondern verlangt eine intellektuelle Anstrengung. Dazu verhilft Richard Serras Bramme auf der Schurrenberg-Halde besser als verrostete Stahlhaufen und von der Natur zurückeroberte Industriebrachen.
Es ist noch nicht lange her, dass der Bund die Thomas-Mann-Haus in Kalifornien erworben hat. Jetzt gibt es einen Anlauf, die Reste der Landshut, die 1977 durch die in Mogadischu endende Flugzeugentführung bekannt wurde, zu konservieren.
Bei jedem Einzeldenkmal kann man sagen, seine Erhaltung sei sinnvoll. Aber in ihrer Summe werden die Denkmäler zur Last. Vor lauter Denkmälern geht die Denkfähigkeit verloren.