Digitalisierung verstärkt die strukturelle Differenz zwischen Individuum und Organisation und erschwert den Zugang zum Recht

Heute, am Tag der Internetsicherheit, ausgerufen von der Europäischen Union, kommen die Schattenseiten der Digitalisierung in den Blick. Digitalisierung befestigt soziale Ungleichheit und erschwert den Zugang zum Recht. Dafür braucht man gar nicht erst nach Spanien zu schauen, wo die Rentner gegen das Online-Banking aufbegehren. Das ist nicht nur ein Altersproblem. Es geht vielmehr um die strukturelle Differenz zwischen Individuum und Organisation, die mit der Digitalisierung wächst.

Allerdings hinken die Alten mit der Internetnutzung hinterher:

Ich bin alt. Aber ich bilde mir ein, noch immer digifit zu sein. Anfang der 1980er Jahre war ich der erste in meiner Umgebung mit einem eigenen PC, einem Kaypro II mit dem CPM-Betriebssystem und zwei Floppy-Disk-Laufwerken mit 195 KB Speicherkapazität.

Das Textverarbeitungsprogramm hieß damals Wordstar. Da musste man noch einige Grundeinstellungen wie z. B. die Seitenränder direkt in das Programm eingeben. Ich habe dann alle Umstellungen auf die neueren Betriebssysteme, zuerst MSDOS und dann Windows mit seinen verschiedenen Versionen mitgemacht. Mein erstes Literaturverwaltungsprogramm habe ich mir mit dBase selbst zusammengebastelt. Leider – so muss ich heute sagen – habe ich irgendwann das wunderbare Textverarbeitungsprogramm Nota Bene zugunsten von Word verlassen. Auch den Wechsel zu cloudbasierten Diensten habe ich hinter mir. Noch in den 1980er Jahre gab es in Bochum die erste Tagung, bei der mit Hilfe der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung in St. Augustin, die damals mit der Digitalisierung der Justizstatistik befasst war, Daten fernübertragen wurden.[1] Als Direktor des Zentralen Rechtswissenschaftlichen Seminars das erste JURIS-Terminal in Betrieb genommen und für Studenten zugängliche PC aufgestellt. Später habe ich für die Vereinigung für Rechtssoziologie eine Webseite eingerichtet, die – völlig veraltet – immer noch im Netz steht. Meine alte Lehrstuhlseite habe ich bis 2009 noch selbst gepflegt. Noch immer betreibe ich mit RSOZBLOG.de und Rechtssoziologie-online aktiv zwei Internetseiten. Nach alledem bilde ich mir ein, noch immer einigermaßen digifit zu sein. Aber nun bin ich doch mit der Steuererklärung mit dem neuen Mein Elster-Programm vorläufig gescheitert.

Ein Freund, der als Steuerberater zugelassen ist und dem ich davon erzählt habe, hat mir erklärt, er selbst wende sich an ein größeres Büro, um seine eigene und die Steuerklärungen seiner (wenigen) Mandanten abzugeben. Als ich mich heute am Tag der Internetsicherheit wieder bei Mein Elster einloggen will, verlangt das Programm, dass ich zuvor Java aktiviere. War nicht dieses Programm grade als Einfallstor für Computerhacks ins Gerede gekommen?

Keine Frage: Die Digitalisierung bringt viele Vorteile. Das Online-Banking bei der Commerzbank funktioniert erstklassig. Die Steuererklärung mit dem alten Elster-Programm lief ganz gut, und mit dem neuen Programm werde ich es auch noch schaffen. Aber es geht nicht um mich, der ich täglich so lange vor dem PC sitze wie andere vor dem Fernseher. Es geht auch nicht allein um Internetzugang und die Kompetenz zum Umgang mit kleinen und großen Endgeräten. Es geht wie gesagt vielmehr um die strukturelle Differenz zwischen Individuum und Organisation, die James S. Coleman schon vor Jahrzehnten für so grundlegend ansah, dass er von der asymmetrischen Gesellschaft sprach[2]. Mit der Digitalisierung ist die Differenz gewachsen, und sie wächst weiter.

Von den acht Merkmalen dieser Differenz, die ich in Rechtssoziologie-online § 76 VI. aufgezählt habe, ist besonders die Außenkommunikation betroffen.

Die alten Kommunikationswege – Präsenz, Brief, Telefon –, die jedermann einfach und kostengünstig zur Verfügung standen, sind unbrauchbar geworden. Sieht man einmal vom stationären Einzelhandel ab, so kommuniziert der Bürger heute mit Behörden und Firmen aller Art in der Hauptsache elektronisch. Der immer noch relativ einfache Email-Kontakt funktioniert in vielen Fällen nicht mehr. Organisationen verlangen, dass man sich auf ihren Webseiten anmeldet. Für den Kontakt genügen nicht Name und Anschrift, sondern es wird nach Passworten und nach vielstelligen Kunden- oder Geschäftsnummern gefragt. Das Individuum muss sich durch eine mehr oder weniger übersichtliche Internetseite durchklicken. Es kann sein Anliegen nicht frei formulieren, sondern nur vorformulierte Antworten ankreuzen. So ist die Kommunikation einseitig kanalisiert. Einen Sachbearbeiter bekommt man nicht mehr zu Gesicht und auch nicht mehr ans Telefon. Behörden und Unternehmen verbergen ihre Durchwahltelefonnummern und bieten nur noch eine Servicenummer an, die in ein Callcenter führt und dort, meistens nach Wartezeiten, oft mit einem automatisierten Sprachdialogsystem beginnt. Personen- oder ressortbezogene Mailadressen bleiben ebenso wie die Telefonnummern verborgen. In Behörden sind persönliche Vorsprachen nur noch nach elektronischer Terminvergabe möglich. Vom Bürger-Individuum wird verlangt, dass es eine Mailadresse unterhält, obwohl es sie aktiv kaum noch nutzen kann. Die Mailadresse dient nur noch den Organisationen als Identifikationsmerkmal und als Zugangskanal. Wenn man heute am Tag der Internetsicherheit in den Zeitungen liest, wie gefährlich der Umgang mit der Email ist, wünscht man sich den guten alten Briefkasten zurück. Man kann seine Email-Adresse aber auch nicht einfach wechseln. Damit hätte man sich aus vielen Diensten ausgesperrt.

Unter dem Thema »Zugang zum Recht – zugängliche Rechte« haben die deutschsprachigen Rechtssoziologie-Vereinigungen für 2023 eine Tagung angekündigt. Ich kann nur hoffen, dass dort auch die Erschwerung des Zugangs zu rechtlichen Dienstleistungen durch die Digitalisierung thematisiert wird.

Nachtrag vom 11. 2. 2022: Auch diese Untersuchung von Herbert Kubicek über »Internetnutzung älterer Menschen in Bremen und Bremerhaven« geht davon aus, dass es allein darum gehe, der »Alterslücke« bei der Digitalisieung auf der Nachfrageseite beizukommen. Aber es geht nicht um digitale Teilhabe, sondern um digitale Überwältigung der Bürger durch Bürokratie und Wirtschaft.


[1] Damals war die vom Bundesministerium der Justiz veranlasste #Strukturanalyse der Rechtspflege« in vollem Gang. JURIS war im Aufbau. Im BMJ stand vor allem Dieter Strempel dahinter, aus der GMD ist mir Hellmut Morasch unvergessen. Aus der umfangreichen im Verlag des Bundesanzeiger erschienenen Schriftenreihe »Rechstatsachenforschung« sei hier nur der von Herbert Fiedler und Fritjof Haft herausgegebene Band »Informationstechnische Unterstützung von Richtern, Staatsanwälten und Rechtspflegern« angeführt.

[2] James S. Coleman, The Asymmetric Society, 1982.

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