Die Gunther Teubner zum 65. Geburtstag 2009 gewidmete Festschrift trägt den Titel »Soziologische Jurisprudenz«. Vor der Kritik kommt Bewunderung. Teubner hat wie kein anderer, anknüpfend an Luhmanns Systemtheorie, eine Sozialtheorie des Rechts entwickelt.[1] Sie ist geistreich, erschließt neuartige Quellen und bietet im Detail viele kluge Beobachtungen. Teubners Metapher von der globalen Bukowina, die auf Eugen Ehrlich anspielt, hat sich global verbreitet. Der von Rückert und Seinecke herausgegebene Sammelband über die Zivilrechtler des 19. und 20. Jahrhunderts und ihre Methodik stellt Teubner im Titel neben Savigny.[2] Prominenter geht es nicht. Wenn wir uns aber fragen, ob die Methodenlehre für Gegenwart und Zukunft umgeschrieben werden muss, ist die Antwort eher negativ. Aber das ist auch gar nicht Teubners Anspruch. Teubner ist zu vorsichtig, um handfeste Methodenratschläge zu geben. Er erklärt uns rundweg, soziologische Jurisprudenz sei ein Ding der Unmöglichkeit.
Teubners Rechtssoziologie übersetzt soziologische und rechtstheoretische Beobachtungen in die Sprache der Systemtheorie Luhmanns. Damit erzielt er einen Verfremdungseffekt, von dem viele sich faszinieren lassen. Zu dieser Faszination trägt nicht zuletzt bei, dass Teubner die als solche durchaus geläufigen rechtstheoretischen Probleme als Paradoxien darstellt. Seine Paradoxologie ist erweist sich als ein modernistischer Tanz um das Werturteilsproblem. Den Spagat der Systemtheorie zwischen operativer Schließung und kognitiver Offenheit überbrückt Teubner mit der Figur des responsiven Rechts.
Der Begriff des responsiven Rechts[3] stammt von Nonet und Selznick, die damit eine evolutionäre Entwicklung postmodernen Rechts kennzeichnen wollten. Teubner hat 1982 das evolutionstheoretische Konzept des responsiven Rechts von Nonet und Selznick in ein rechtspolitisches umgelenkt. Danach ist responsives Recht eine »flexible, lernfähige Institution, … die sensibel reagiert auf soziale Bedürfnisse und menschliche Aspirationen«.[4]
Auf der Zivilrechtslehrertagung in Zürich 2017 (auf der Teubner den Einleitungsvortrag über »Digitale Rechtsubjekte« hielt) fügte Michael Grünberger in seinem Vortrag über »Verträge über digitale Güter« einen Abschnitt über »Methodenfragen« ein, in dem er eine »responsive Rechtsdogmatik« als Antwort auf die Umweltveränderungen durch die Digitalisierung vorschlug. Er meinte, »mit einer gedanklich im späten 19. Jahrhundert wurzelnden Privatrechtstheorie [werde] man keine adäquaten Antworten auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts in ganz anders gelagerten Kontexten finden«, und forderte stattdessen eine »responsive Rechtswissenschaft«. Dazu bezog sich Grünberger auch auf einen Aufsatz Teubners aus dem Jahr 2015, indem dieser den Spagat zwischen einem an sich autonomen Rechtssystem und Notwendigkeit, den Blick auf die Umwelt des Rechts offen zu halten, auf den geläufigen Nenner der Irritation und Perturbation gebracht hatte, sowie schließlich auf Luhmanns Unterscheidung zwischen kognitiven und normativen Erwartungen, von denen letztere sich zur Rezeption in das Recht anbieten sollen. Aus Riesenhubers Erwiderung entsteht der Eindruck: Wir brauchen keine neuen Methoden. Das Arsenal der Dogmatik und der Methodenlehre ist allemal ausreichend. Im Grunde ist alles schon einmal dagewesen, alle relevanten sachlichen Aspekte ließen sich »mit der im späten 19. Jahrhundert wurzelnden Privatrechtstheorie«, mit ihrer Dogmatik und ihrer Methodenlehre erfassen. Das ist nicht ganz falsch und doch nicht richtig. Dass das nicht ganz falsch ist, hat Alexander Stark in seiner Dissertation über die »Interdisziplinarität der Rechtsdogmatik« dargelegt. Dass Riesenhubers Abwehr nicht ganz richtig ist, zeigt, jedenfalls auf den ersten Blick, der Umstand, dass eine explizit soziologische Jurisprudenz praktisch keine Rolle spielt.
Eine soziologische Jurisprudenz ist anscheinend so etwas wie die Quadratur des Kreises.
Eine Probe aufs Exempel liefert der von Lomfeld herausgegebene Sammelband »Die Fälle der Gesellschaft«, der im Vorwort als »Wirkungsschrift« aus Anlass von Teubners 70. Geburtstag vorgestellt wird. Darin werden 16 höchstrichterlich entschiedene Fälle in ihren sozialen Kontext eingebettet. Der Darstellung des Falls und dem Leitsatz der Entscheidung wird jeweils ein »soziologischer Leitsatz« vorangestellt. Anschließend geben die Autoren, teilweise in der Form eines fiktiven Sondervotums, ihre Erläuterungen. Das Ganze beginnt mit einer Einleitung Lomfelds. Man wir ihm gerne zustimmen, wenn er die »richterliche Rechts(fort)bildung« als methodisches Kernproblem ansieht und in der Frage »nach vergleichbaren Interessenlagen zwischen Fällen«, also in einer »fallbezogenen Interessenjurisprudenz … die Wiege soziologischer Jurisprudenz« findet. Enttäuschung macht sich dagegen breit, wenn danach »normale« Rechtsdogmatik als Dummy aufgebaut wird, weil sie die »Unbestimmtheit« und die »Subjektivität« aller Entscheidungen nicht zur Kenntnis genommen habe. Die Sache wird nicht besser dadurch, dass der Dummy dann mit »Entscheidungsparadox« und »Begründungsparadox« aufgerüstet wird. Die Fallbeispiele leisten nichts, wozu Jurisprudenz nicht immer schon imstande war. Diese Probe jedenfalls ist misslungen.
2020 haben Grünberger und Reinelt einen neuen Anlauf unternommen. In einem schmalen, aber scharfen Band, der bei J. C. B. Mohr erschienen ist, fordern sie offensiv eine soziologische Jurisprudenz. Angetrieben wird der Text von einem starken Engagement für das Gleichheitsversprechen des Grundgesetzes, vorgebracht in einem systemtheoretisch orientierten Jargon. Soziologische Jurisprudenz soll die Rechtsdogmatik dazu bringen, wirksame Mittel gegen die strukturelle Diskriminierung zu finden. Responsivität ist für Grünberger/Reinelt ein dogmatischer Imperativ:
»Das Recht muss das von allen (!) Sozialtheorien gelieferte Wissen gleichermaßen berücksichtigen.«[5]
Zur Einlösung formulieren Grünberger/Reinelt die Probleme in einer systemtheoretisch orientierten Sprechweise. Ihre Argumente beziehen sie in erster Linie aus der »Eigenrationalität« der Sozialsysteme, selektiv nutzen sie auch empirische Untersuchungen. Sieht man näher hin, so arbeiten sie mit zwei Kunstgriffen:
- Eine soziologische Rechtstheorie soll der Dogmatik vermelden, wann sie irritiert zu sein hat (S. 7).
- Die Dogmatik ihrerseits verschafft sich Luft, indem sie, dem Vorschlag von Franz Hofmann [6] folgend, das anglo-amerikanische Remedy-System mit seiner Trennung von Stammrechten und Rechtsfolgen importiert. So wird das »Rechtsfolgenregime« von den primären Gebots- und Verbotsnormen getrennt und auf abschreckende Wirkung getrimmt.
Was hier soziologische Rechtstheorie genannt wird, erschöpft sich in der Übernahme fremddisziplinärer (soziologischer) Problemdefinitionen für die Rechtsdogmatik. Der Import des Remedy-Systems ist ein Gewinn nur für unterbeschäftigte Rechtsdogmatiker. Die Trennung der remedies von den Gebots- und Verbotsnormen ist ein typischer Zug der ökonomischen Analyse des Rechts, die bekanntlich Effizienz zum Prinzip hat mit der Folge, dass die die Wirksamkeit von Recht im Vordergrund steht. Gegen eine Querschnittsbetrachtung aller Sanktionsnormen als Rechtsfolgen ist nichts einzuwenden. Im Gegenteil, sie ist notwendig, um zu sehen, wie sie unterschiedlich, gegeneinander oder zusammen wirken. Aber die dogmatische Separierung eines Rechtsfolgenrechts von den primären Gebots- und Verbotsnormen ist ein Irrweg, weil Gebote und Verbote auf der einen Seite und Sanktionen auf der anderen stets als aufeinander bezogen gesehen und bewertet werden müssen, es sei denn, man sieht die Aufgabe der Justiz in der Beförderung gesellschaftlicher Ziele und nicht im Ausgleich zwischen den konkret am Prozess Beteiligten.[7]
Für Europa erklärt sich die Fixierung auf Rechtsfolgen und deren Effektivität aus einem Minderwertigkeitskomplex des Unionsrechts. Doch selbst wenn man sich darauf einlässt und mit dem EUGH bei verschiedenen möglichen Auslegungen einer Vorschrift des Unionsrechts derjenigen den Vorzug gibt[8], die die praktische Wirksamkeit der Vorschrift zu wahren geeignet ist, so darf man sich nicht auf Sanktionen und Abschreckung konzentrieren. Die Wirksamkeit einer Norm hängt in erster Linie davon ab, dass ihre Ziele von den Adressaten akzeptiert werden. Eine zurückhaltende Anwendung der Antidiskriminierungsgesetze könnte ihnen vielleicht sogar zu besserer Wirkung verhelfen. Bei der Ausfüllung der remedies ist bei Grünberger/Reinelt nicht mehr von soziologischer Jurisprudenz die Rede, sondern 15 Mal von Abschreckung. Wenn man bedenkt, wie ausführlich Kriminologen die präventive Wirkung unterschiedlicher Sanktionen untersucht haben, handelt es sich um jene Stammtischdogmatik, die eine soziologische Jurisprudenz doch gerade überwinden will.
Ungeachtet ihres Plädoyers für eine soziologische Jurisprudenz verstehen Grünberger und Reinelt sich als Dogmatiker und betonen den strictly legal point of view. »Responsive Rechtsdogmatik« verlangt daher nach einem »komplexen Übersetzungsprozess«, damit außerjuristisches Wissen rezipiert werden kann. Allein es fehlt ein Übersetzer. Der Übersetzungsprozess hat Ähnlichkeit mit Starks dogmatischer Deliberation, soll diese doch »gründeresponsiv« und »gründesensibel« ausfallen.[9] Während Stark allgemein »Nachbarwissenschaften« im Blick hat und eine (relative) Gegenläufigkeit von Interdisziplinarität und Dogmatik konstatiert (S. 363), setzen Grünberger/Reichelt auf Soziologie und Sozialtheorien und lassen sich von den Wertungen dieser Fächer mitreißen. Während Stark die Responsivität der Dogmatik nur »supererogatorisch« einfordert, ist Responsivität für Grünberger/Reinelt ein dogmatischer Imperativ.
Was fehlt, ist auf eine deutliche Ansprache der (Wert)-Urteilsbildung, mit der die Dogmatik auf Fremdwissen reagiert. Man ist sensibilisiert und irritiert. Für Perturbationen bei der Lektüre des Rezepts sorgen 300 Gendersternchen. Der durch Irritationen und Perturbationen sensibilisierte Dogmatiker geht aber nicht etwa zum Hautarzt oder Psychiater, sondern respondiert auf die sozialwissenschaftliche Behandlung mit – ja womit? Doch wohl mit einem Werturteil. Doch über Werturteile zu reden, wagt er nicht.
[1] Einige Texte von Gunther Teubner: Den Schleier des Vertrags zerreißen? Zur rechtlichen Verantwortung ökonomisch »effizienter« Vertragsnetzwerke, KritV 76, 1993, 367-393; Reflexives Recht: Entwicklungsmodelle des Rechts in Vergleichender Perspektive, ARSP 1982, 13-59; Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe. Folgenorientiertes Argumentieren in rechtsvergleichender Sicht, 1995; Netzwerk als Vertragsverbund. Virtuelle Unternehmen, Franchising, Just-in-time in sozialwissenschaftlicher und juristischer Sicht, 2004; Digitale Rechtssubjekte? Zum privatrechtlichen Status autonomer Softwareagenten, AcP 218, 2018, 155-205 (ähnlich in Ancilla Iuris 2018, 35-78); Rechtswissenschaft und -praxis im Kontext der Sozialtheorie, in: Stefan Grundmann/Jan Thiessen (Hg.), Recht und Sozialtheorie 2015, 141-164.
[2] Weitere Skundärliteratur: Alfons Bora, Responsive Rechtssoziologie, ZfRSoz 36, 2016, 261-272; Michael Grünberger, Verträge über digitale Güter, AcP 218, 2018, 213-296; ders., Responsive Rechtsdogmatik – Eine Skizze. Erwiderung auf Karl Riesenhuber, AcP 219, 2019, 924-942; Bertram Lomfeld (Hg.), Die Fälle der Gesellschaft. Eine neue Praxis soziologischer Jurisprudenz, 2017; Michael Grünberger/André Reinelt, Konfliktlinien im Nichtdiskriminierungsrecht, Das Rechtsdurchsetzungsregime aus Sicht soziologischer Jurisprudenz, 2020; Karl Riesenhuber, Neue Methode und Dogmatik eines Rechts der Digitalisierung? – Zu Grünbergers »responsiver Rechtsdogmatik«, AcP 219, 2019, 892-923; Philipp Sahm, Methode und (Zivil-)Recht bei Gunther Teubner (geb. 1944), in: Joachim Rückert/Ralf Seinecke (Hg.), Methodik des Zivilrechts – von Savigny bis Teubner, 3. Aufl. 2017, S. 447-470 (erweiterte Fassung = Die Methodenlehre der soziologischen Jurisprudenz Gunther Teubners als eine Methodik der Generalklauseln, 2017, SSRN 2284145).
[3] Der Begriff der Responsivität ist in der politischen Wissenschaft beheimatet. Unter Juristen ist der Begriff seit 1992 durch den Band »Responsive Regulation« von Ian Ayres und John Braithwaite geläufig, wenn über die Regulierung von Organisationen diskutiert wird. Vgl. dazu etwa Kilian Bizer u. a. (Hg.), Responsive Regulierung, 2002.
[4] ARSP 1982 S. 14.
[5] Ein Problem, auf das ich hier nicht eingehen will, liegt in dem undefinierten Begriff der »Sozialtheorie«. Mit einem solchen arbeitet anscheinend auch Teubner in dem Aufsatz »Rechtswissenschaft und -praxis im Kontext der Sozialtheorie« (2015). Aber am Ende (S. 161f) unterscheidet er doch deutlich zwischen Sozialtheorien, die er teilweise auf eine Stufe mit Religionen stellt, und sozialwissenschaftlichen Theorien. Schwierig ist auch Teubners Umgang mit dem Rationalitätsbegriff, billigt er doch jeder »Sozialtheorie«, jedem sozialen System und schließlich auch dem Recht eine »Eigenrationalität«. Solche Eigenrationalität läuft auf Eigennormativität hinaus. Zu Unrecht beruft er sich auf Max Weber (S.160) Dessen vier Rationalitäten sind bloße Formen. Was Teubner dann aber zu dem »komplizierten Übersetzungsprozeß« ausführt, mit dem das Recht »dogmatischen Mehrwert« kreieren soll, liest sich als metaphorische Analyse der Werturteilsbildung.
[6] Der Unterlassungsanspruch als Rechtsbehelf, 2017.
[7] Vgl. dazu das Bilateralismusargument als Kritik der ökonomischen Analyse des Rechts von Jules L. Coleman (Tort Law and the Demands of Corrective Justice, Indiana Law Journal 67, 1992, 349-380; zum Begriff und für weitere Nachweise Coleman, The Practice of Principle, 2003, S. 18 Fn. 7). Coleman kritisiert die Übernahme des ökonomischen Ansatzes durch die Justiz, weil er der normativen Beziehung zwischen den Parteien nicht gerecht werde. Die Ökonomen blickten ex ante auf hypothetische Schadensfälle unter dem Gesichtspunkt der Kosten- und Risikominimierung. Dagegen hätten die Gerichte ex post reale Schadensfälle zu beurteilen, die zwei ganz konkrete Parteien beträfen, die aufgrund des Schadensereignisses miteinander in einer normativen Beziehung stünden. Diese Kritik mag zunächst auf das klassische Schadensrecht (tort law) gemünzt sein. Aber auch Diskriminierungsfälle, wenn sie vor Gericht kommen, schweben nicht frei im Raum, sondern haben einen individuellen Hintergrund in der Individualität und den Beziehung der Parteien.
»The problem that confronts economic analysis, or any entirely forward-looking theory of tort law, is that it seems to ignore the point that litigants are brought together in a case because one alleges that the other has harmed her in a way she had no right to do. Litigants do not come to court in order to provide the judge with an opportunity to pursue or refine his vision of optimal risk reduction policy. vision of optimal risk reduction policy. Rather, they seek to have their claims vindicated: to secure an official pronouncement concerning who had the right to do what to whom. The judge is there, in some sense to serve them – to do justice between them; they are not there to serve the judge in his policy-making capacity. Or so one might think prior to theorizing about tort law.« (Coleman 2003, S. 17).
Für Coleman erklärt das Konzept der korrektiven Gerechtigkeit das Verhältnis zwischen Schädiger und Geschädigtem am besten (S. 122). Statt an der korrektiven Gerechtigkeit, die von der bilateralen Natur der Rechtsbeziehung ausgehe, orientiere sich die ökonomische Rechtsanalyse an einem gesellschaftlichen Ziel, der Förderung der Effizienz (S. 123: risk reduction policy).
[8] Urteil vom 7. März 2018, Cristal Union, C 31/17, EU:C:2018:168, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung.
[9] Alexander Stark, Interdisziplinarität der Rechtsdogmatik, 2020, S. 286, 347, 363.