Nein, sie ist nicht verschwunden. Es gab sie vielmehr nie, nämlich als Thema in den zahlreichen Einführungen, Lehrbüchern und Readern zur Rechtssoziologie, die ich um mich herum versammelt habe. Auch in den Kriminologielehrbüchern habe ich sie nur vereinzelt als Stichwort gefunden. Gegebenenfalls wird sie dann unter der Wirtschaftskriminalität versteckt. Am ausführlichsten ist noch »der Göppinger« (6. Aufl. 2008). Dort erhält die Korruption unter § 25 E II 5) immerhin eine eigene Überschrift und eine ganze Seite (435 f.) Text. Wiedergegeben wird dort allerdings im Wesentlichen nur das »Lagebild Korruption« des Bundeskriminalamts. Zur Ehrenrettung der Rechtssoziologie kann ich aber auf den schönen Aufsatz von Petra Hiller, Korruption und Netzwerke: Konfusionen im Schema funktionaler Differenzierung, in: ZfRSoz 26, 2005, 57-77, verweisen.
Inzwischen bin ich einigermaßen sicher, dass Korruption ein rechtssoziologische Thema ist, das auch unter dieser Überschrift eigenständig abgehandelt werden sollte. Ich sitze daher nun an einem Paragraphen über Korruption für mein eigenes Rechtssoziologiebuch. 1987, als das Buch erstmals erschien, war Korruption noch kein Thema. Das hat sich seither grundlegend geändert. Daher muss das Kapitel völlig neu geschrieben werden. Wie es aussehen wird, ist mir noch ganz unklar. Seinen Standort bekommt der Abschnitt jedenfalls in dem Kapitel über die organisationstheoretischen Erklärungsansätze, denn nach wie vor sehe ich in der Korruption eine spezifische Form abweichenden Verhaltens, die sich nur in Organisationen und um diese herum entwickeln kann.
Hier zunächst nur einige Hinweise auf frei verfügbare Internetquellen:
Jens Aderhold/Tina Guenther/Uwe Marquardt, Korruption und Neue Staatlichkeit (Tagungsbericht), Soziologie 37, 2008, 328-334, verfügbar unter www.politischesoziologie.eu/download.php?id=11;
Bundeskriminalamt, Lageberichte Korruption, verfügbar unter
http://www.bka.de/lageberichte/ko.html
Korruption, Aus Politik und Zeitgeschichte 3-4/2009, verfügbar unter http://www.bpb.de/publikationen/XHGPRP,0,Korruption.html; darin u. a.: Johann Graf Lambsdorff/Lotte Beck, Korruption als Wachstumsbremse; Konstadinos Maras, Lobbyismus in Deutschland; Tanja Rabl, Der korrupte Akteur; Patrick von Maravic, Korruptionsanalyse als Analyse von Handlungssituationen – ein konzeptioneller Vorschlag, in: Kai Birkholz u. a. (Hg.), Public Management – eine neue Generation in Wissenschaft und Praxis. Festschrift für Christoph Reichard, 2006, 97-126, verfügbar unter http://opus.kobv.de/ubp/volltexte/2006/815/pdf/Reichard.pdf
In der Einleitung zum Themenheft »Korruption« schreibt Johannes Piepenbrink:
Korruption wird in Deutschland häufig als ein Phänomen unterentwickelter Staaten wahrgenommen, das hierzulande kaum vorkommt. Während Korruption zum Beispiel in Staaten Südosteuropas zur Tagesordnung gehöre, sei Deutschland im Wesentlichen »sauber«, so die weit verbreitete Ansicht. Doch dass dies ein Irrtum ist, belegen spektakuläre Korruptionsfälle in der jüngeren Vergangenheit. Selbst bei deutschen Vorzeigeunternehmen ist es zu Schmiergeldzahlungen in Milliardenhöhe gekommen. Korruption hat in den reichen Staaten häufig Erscheinungsformen, die im gleichen Maße »weiter entwickelt« sind wie diese Staaten selbst.
Die These lautet also: Jede Gesellschaft trägt ihr gerüttelt Maß an Korruption. Sie kommt nur in anderen Erscheinungsformen daher. Ich halte die These für falsch. Dafür will ich gar nicht auf das Definitionsproblem abstellen. Aber es lässt sich doch nicht übersehen, dass es in Deutschland (und vielen anderen Ländern) heute eine Trinität aus freier Presse, zivilgesellschaftlichen Organisationen und unabhängiger Justiz gibt, die ernsthaft und nicht ganz erfolglos die Aufdeckung und Bekämpfung von Korruption betreiben. Gerade die Aufdeckung und Benennung von konkreten Korruptionsfällen scheint mir dafür Beleg zu sein. Man lese zum Vergleich nur die jüngsten Zeitungsberichte über die Korruption in Russland. Es schreibt sich leichter, wenn man gegen eine solche These angeht.
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