Staatschulden im Corona Stress — Das ESZB als Bad Bank

Den Eintrag vom 18. 5. 2020 habe zu einem Aufsatz ausgearbeitet, der gedruckt werden soll. Deshalb habe ich den Eintrag gelöscht. Hier die Zuammenfassung des Aufsatzes:

In der Folge der Corona-Krise werden die Staatsschulden der Eurozone 12 Billionen EUR erreichen. Ein Fünftel davon hält das System der europäischen Zentralbanken (ESZB). Um die Schuldenlast erträglich zu machen, sollte nicht auf eine Perpetuierung der Schulden gesetzt, sondern ein Schuldenerlass durch das ESZB erwogen werden. Finanztechnisch und rechtlich gibt es keine unüberwindbaren Probleme. Ein Inflationsschub wäre nicht zu befürchten, da die umlaufende Geldmenge nicht ansteigt. Der Schuldenerlass könnte so gestaltet werden, dass daraus der von der Kommission vorgeschlagene Wiederaufbaufonds finanziert würde. Politisch wäre das Lösung ein Befreiungsschlag, durch den sich viele Streitfragen erledigen, das ESZB seine volle Handlungsfähigkeit zurückgewinnen und die Europäische Union insgesamt gestärkt werden könnte.

Nachtrag: Die Ausarbeitung ist jetzt auf SSRN zugänglich: https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3633963.

 

Ähnliche Themen

Gefährlich, aber unausweichlich

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Anleihekäufen der EZB nach dem Public Sector Purchase Programme (PSPP) hat heftige Reaktionen hervorgerufen. Manche Kommentare sind bloß Lamento wie der, den ich im Deutschlandfunk von dem Korrespondenten des Handelsblatts Thomas Hanke hören musste. »Karlsruhe hat Berlin einen Bärendienst erwiesen«, so die Überschrift des Textes im Internet, wo sie, wie schon zuvor die Nachrichten, mit einem einem Zitat des Europarechts-Professor Franz C. Mayer aus Bielefeld verziert wurde, der gefordert haben soll, die Kommission möge ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland einleiten. Der Kommentar beginnt:

»In vielen Ländern Europas und quer durch das politische Spektrum steht Deutschland als selbstherrlich und egoistisch da.«

Mit gleichem Recht hätte der Kommentator sagen können:

»In vielen Ländern Europas und quer durch das politische Spektrum wird die EUGH als selbstherrlich kritisiert. Seine Rechtsprechung gilt als einer der Gründe für den Brexit.«

Aber Recht kommt in dem Kommentar nicht vor, so wenn es heißt:

»Wieso greift ausgerechnet Deutschland, das die Unabhängigkeit der Zentralbank als Mitgift in die Währungsunion eingebracht hat, nun die unabhängige Zentralbank an?«

Die Antwort ist einfach: Die Unabhängigkeit schützt die EZB nur vor politischem Druck, nicht aber vor einer gerichtlichen Kontrolle bei der Abgrenzung ihrer Zuständigkeiten (EuGH Slg. 2003, S. I-7147, Rn. 135 ff.).

Am Ende verlangt der Kommentator »ein klärendes Wort der Bundeskanzlerin«. Sie wird klug genug sein, darauf zu verzichten. Das klärende Wort hat, wie üblich, Bundestagspräsident Schäuble schon gesagt: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts mag gefährlich sein, aber es war unausweichlich.[1]

»Die Gefahr besteht darin«, so wird Schäuble zitiert, »dass auch die Verfassungsgerichte anderer Mitgliedstaaten sich auf das Bundesverfassungsgericht berufen und dem EuGH nicht folgen.« Dagegen wäre an sich nichts zu sagen, wenn es zu solcher Berufung Anlass gibt. Allerdings muss die Entscheidung unabhängigen Verfassungsgerichten vorbehalten bleiben. Darin besteht eigentlich die Gefahr, dass Regierungen die Verfassungsgerichte demontieren, um sich opportunistisch über Europarecht hinwegzusetzen.

Die Kritik an dem Urteil aus Richtung der EU darf man nicht zu ernst nehmen. Beifall war nicht zu erwarten. Auch die Kritik von Europarechtlern wiegt nicht besonders schwer. Es liegt in der Natur der Sache, dass Fachleute zu ihrem Gegenstand eine besondere Beziehung haben. Und so hat denn auch der erste Fachmann, der sich mit seiner Kritik gemeldet hat[2] und der von der konfliktgeilen Presse zitiert wird, längst eine eigene Wunschvorstellung von Europa entwickelt, indem er den aktuellen Rechtszustand als »Verfassung« interpretiert[3].

Insbesondere der Topos, hier habe sich einmal wieder typisch deutscher Eigensinn gezeigt, zählt nicht. So singulär ist die Entscheidung des BVerfG nämlich nicht. Der heute als Kritiker auftretende Franz C. Mayer kam in seiner Dissertation[4] zu dem Ergebnis:

»Eine offene Nichtanerkennung von EuGH-Kompetenzen zur Entscheidung über Gemeinschaftsrecht durch Beanspruchung eigener Letztentscheidungskompetenzen über Gemeinschaftsrecht hat es in 7 der 15 Mitgliedstaaten gegeben. Rechnet man diesbezügliche Tendenzen dazu, bestehen in 10 der 15 Mitgliedstaaten mehr oder weniger verfestigte Einwände seitens der Gerichte gegen die Letztentscheidungskompetenz des EuGH. Danach ergibt sich als vorläufiges Zwischenergebnis, daß das BVerfG mit seiner Beanspruchung einer Entscheidungskompetenz über Gemeinschaftsrechtsakte nicht alleine steht.« (S. 271)

»Es bestätigt sich, daß das Maastricht-Urteil des BVerfG einer verbreiteten Tendenz in den anderen Mitgliedstaaten entspricht (S. 284) … und sich nicht als deutsche Besonderheit erklären [llässt].« (S. 368)

»Die Beanspruchung einer Letztentscheidungskompetenz über Gemeinschaftsrechtsakte durch letztentscheidende mitgliedstaatliche Gerichte kann den Mitgliedstaaten die Loslösung von interessewidrigen gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen ermöglichen. Ein Offenhalten der Ultra vires-Frage erscheint damit letztlich im Sinne der Mitgliedstaaten: Die Ultra vires-Frage und die (mögliche) Beanspruchung einer Letztentscheidungskompetenz durch mitgliedstaatliche Gerichte erscheint gleichsam als Kompensation für reduzierte Einflußmöglichkeiten auf die europäische Entscheidungsebene. Man könnte der Ultra vires-Konfliktstellung daher zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch stabilisierende Züge zuschreiben, weil die potentielle Ausübung einer Letztentscheidungskompetenz die Berücksichtigung von Minderheitsinteressen auf europäischer Ebene begünstigt und damit die Balance zwischen den Ebenen wahren hilft.« (S. 368)

Freilich ist, wie die lange Entwicklungsgeschichte der Ultra-vires-Lehre zeigt, die Anwendung so schwierig, dass durchaus politischer Mißbrauch naheliegt. Dennoch war das Urteil des BVerfG vom 5. Mai 2020 unausweichlich. Im Mangold-Honeywell Beschluss (E 126, 286) hatte das Gericht sich vor dem EUGH verbeugt und seinen Letzentscheidungsanspruch europafreundlich entschärft. Das OMT-Verfahren hatte es 2014 erstmals selbst vorgelegt (E 134, 366), um am Ende das Votum des EUGH zu akzeptieren (BVerfGE 142, 123). In dem aktuellen Verfahren ging es wieder um das Problem einer Umgehung des Art. 123 I AEUV. Das BVerfG hatte wiederum dem EUGH die Sache gemäß Art. 267 EUV vorgelegt. Aber der EUGH hat mit seinem Urteil vom 11. Dezember 2018 das Bundesverfassungsgericht in die Enge getrieben. Der EUGH hätte sich nichts vergeben, wenn er das Ankaufsprogramm der EZB in dem einen oder anderen Punkte kritischer behandelt und so den Bedenken des BVerfG Rechnung getragen hätte. Das hätte, wie das BVerfG in seinem Urteil gezeigt hat, geschehen können, ohne der EZB die Möglichkeit zur Fortsetzung des Ankaufsprogramms zu nehmen.

Das BVerfG hatte schon im Lissabon-Urteil (E 123, 267) auf den Mechanismus der schleichenden Kompetenzerweiterung (spill-over oder mission creep) hingewiesen. Es sprach von der Tendenz der Organe internationaler oder supranationale Organisationen zu ihrer »politischen Selbstverstärkung« und zitierte dazu Höreth[5] und weitere einschlägige Literatur (Rn. 237). Noch deutlicher wurde der Richter Landau in seinem Sondervotum. Der EUGH hätte jedenfalls erkennen lassen können, dass er die Bedenken des BVerfG ernst nimmt. Dann wäre dessen Urteil am Ende wohl anders ausgefallen. So aber musste das BVerfG einmal Klartext reden, um sich nicht lächerlich zu machen. Für die Finanzpolitik folgt daraus unmittelbar wenig. Es ist aber zu hoffen, dass die Mitgliedstaaten mutiger werden, der EU Kompetenzen zu übertragen, wenn sie nicht befürchten müssen, dass die ganze Hand genommen wird, wenn sie nur einen Finger reichen wollen.

Nachtrag vom 14. 5. 2020: Natürlich, die Diskussion geht weiter. Bemerkenswert, dass sich der Berichterstatter, der Verfassungsrichter Peter M. Huber, selbst ausführlich zu seinem Urteil außert: »Das Urteil war zwingend«[6]. Eigentlich gehört es sich nicht, dass Richter ihre Urteile in der Presse verteidigen. Aber nachdem der EUGH in der Pressemitteilung Nr. 58/20 nicht nicht (die doppelte Verneinung ist beabsichtigt) zu dem Urteil geäußert hatte, war die Bahn für das Huber-Interview frei. Wichtig finde ich darin den Hinweis, dass auch schon Gerichte anderer Mitgliedsstaaten (Dänemark, Tschechien) Entscheidungen des EuGH als »Ultra vires« verworfen haben.

Auch in der Reaktion der FAZ ist man geteilter Meinung. So findet sich auf derselben Seite ein kritischer Artikel von Thomas Gutschker und Marlene Grunert »Wer sucht nun das Gespräch?«. Sie erwähnen dort das EUGH-Urteil Costa/E.N-E.L. von 1964, versäumen allerdings den Hinweis, dass zwischen 1964 und heute der Vertrag von Lissabon liegt, der eine Konstitutionalisierung des Unionsrechts gerade vermieden und in Art. 1 I, Art. 4 I, Art. 5 I u. II EUV deutlich den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung verankert hat. War es nicht das Bundesverfassungsgericht, das mit seiner Vorlage das Gespräch gesucht hatte und hatte nicht der EUGH mit seinem Urteil vom 11. Dezember 2018 das Gespräch verweigert?

Nachtrag vom 17. 5. 2020: Auf Twitter geht die Kontroverse lustig weiter. Franz C. Meyer meint, durch die Erklärung Nr. 17 zum Lissabon-Vertrag sei alles klar gestellt. Aber die Erklärung Nr. 17 wird durch die Erklärungen Nr. 18 zur Abgrenzung der Zuständigkeiten und Nr. 24 zur Rechtspersönlichkeit der Europäischen Union wieder verdrängt. Dazu BVerfGE 123, 267 Rn. 331ff. Übrigens: Die Protokolle und Erklärungen zum Lissabon-Vertrag sind für die Rechtsquellenlehre eine harte Nuss.

Nachtrag vom 23. 7. 2022: Hier ein Beitrag, der den Standpunkt des EuGH gegen das BVerfG verteidigt: Baquero Cruz, Julio, Karlsruhe and Its Discontents (2022) . EUI Department of Law Research Paper No. 10, 2022, SSRN 4151675.


[1] Reinhard Müller, »Schäuble: EZB-Urteil »unausweichlich, aber auch gefährlich‹ «, Heimliche Juristenzeitung vom 8. 5. 2020.

[2]Franz C. Mayer, »Es ist eine offene Kriegserklärung«, Süddeutsche Zeitung vom 7. Mai 2020.

[3] Franz C. Mayer, Verfassungswandel durch Annäherung? Der Europäische Gerichtshof, das Bundesverfassungsgericht und das Grundgesetz, in: Christoph Hönnige/Astrid Lorenz (Hg.), Verfassungswandel im Mehrebenensystem, 2011, 272-206, S. 293f; ders., Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft, NJW 2017, 3631-3638.

[4] Franz C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung. Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und die Letztentscheidung über Ultra-vires-Akte in Mehrebenensystemen. Eine rechtsvergleichende Betrachtung von Konflikten zwischen Gerichten am Beispiel der EU und der USA, 2000.

[5] Marcus Höreth, Die Selbstautorisierung des Agenten. Der Europäische Gerichtshof im Vergleich zum U.S. Supreme Court, 2008. Vgl. jetzt auch Lars Klenk, Die Grenzen der Grundfreiheiten, 2019.

[6] Im Gespräch mit Reinhard Müller, FAZ vom 13. 5. 2020.

Ähnliche Themen

Verträge im Coronastress II

Auf der Immobilienseite der heimlichen Juristenzeitung schreiben zwei Anwälte der Kanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer heute über die Auswirkungen von Corona auf gewerbliche Mietverhältnisse.[1] Die Darstellung ist so einseitig, dass sie einen Kommentar herausfordert.

Richtig ist zunächst, dass durch das Gesetz zur Abmilderung der Folgen der Covid-19-Pandemie (COV­AbmG = Art. 240 § 2 EGBGB) die Kündigung wegen eines Mietrückstandes aus der Zeit vom 1. April bis 30. Juni 2020 ist ausgeschlossen, sofern der Mangel der Zahlung auf den Auswirkungen der Pandemie beruht, ferner dass der Mieter bis zum 30. Juni 2022 Zeit hat, den Rückstand auszugleichen, bevor ihm gekündigt werden darf. Einseitig ist dann aber die weitere Feststellung, der Mieter komme in Verzug, wenn er vorübergehend nicht zahle, und schulde deshalb Verzugszinsen von aktuell 8,12 % im Jahr und gegebenenfalls weiteren Schadensersatz. Art. 240 § 1 EGBGB ist »Moratorium« überschrieben. Ein Moratorium ist als Rechtsbegriff aus § 46g KWG geläufig. Dort bedeutet er wohl in der Tat nur einen Zahlungsaufschub, aber keine Stundung, die den Verzug ausschließt. Hinsichtlich der in Art. 240 § 1 EGBGB geregelten Verbraucherverträge ist indessen schon streitig, ob für die Zeit des Moratoriums überhaupt Darlehnszinsen zu zahlen sind.[2] Dass dort zusätzlich zu den vereinbarten Darlehnszinsen noch Verzugszinsen zu zahlen wären, behauptet niemand. Den vereinbarten Zinsen beim Darlehn entspricht beim Mietvertrag der Mietzins. Es wäre daher merkwürdig, wenn das Moratorium nach Art. § 2 EGBGB keine Stundungswirkung haben sollte. Die Formulierung des Gesetzes »trotz Fälligkeit« lässt sich nichts Gegenteiliges entnehmen. Sie besagt einfach nur, dass es allein um die während der Zeit des Moratoriums fällig werdenden Mieten geht. Als Notbremse wäre dann immer noch die Verschuldensfrage zu erörtern, die ich im vorangehenden Eintrag angesprochen habe.

Auch die Frage, ob der Gewerbemieter sich auf einen Wegfall der Geschäftsgrundlage berufen könne, bügeln die Hamburger (Immobilien?)-Anwälte voreilig ab mit der Feststellung, diese Figur sei stark einzelfallbezogen und wertungsabhängig. Immerhin erwähnen sie, dass es sich hier um eine staatliche Nutzungsuntersagung handeln könnte. Was sie nicht erwähnen: Solche »Eingriffe von hoher Hand werden bei Palandt-Grüneberg (§ 313 Rn. 34) geradezu als Musterfall eines Fortfalls der Geschäftsgrundlage genannt.

Vorrang vor § 313 BGB haben allerdings spezifische Vorschriften des Mietrechts. Hier ist an eine Mietminderung wegen bei Sach- oder Rechtsmängeln nach § 536 BGB zu denken. Öffentlich-rechtliche Nutzungsbeschränkungen können grundsätzlich einen Sachmangel begründen. Ob ein solcher Mangel vorliegt, wenn die Nutzung der Mieträume durch die Corona-Verordnung des Landes untersagt worden ist, darüber muss man mindestens sehr ernsthaft reden. Dagegen spricht vielleicht, dass diese Verordnungen nicht spezifisch gegen die Nutzung konkreter Mietsachen gerichtet sind, sondern die Nutzung aller Geschäftsräume unmöglich machen, wenn die Nutzung Publikumsverkehr voraussetzt. Es handelt sich hier um einen so genannten Umweltfehler. Bisher wurde dieser Begriff etwa für den Fall verwendet, dass in einem Einkaufszentrum die Kunden ausblieben. In einem vom BGH entschiedenen Fall waren die Kunden ausgeblieben, weil ein überdachter Zugang vom Hauptbahnhof zum Einkaufszentrum nicht gebaut worden war und weil im Umfeld des Einkaufszentrums nur 200 statt 600 bis 1200 Parkplätze ausgewiesen worden waren. [3] Der BGH schrieb:

»So können bestimmte äußere Einflüsse oder Umstände – etwa die Behinderung des beschwerdefreien Zugangs zu einem gemieteten Geschäftslokal – einen Fehler des Mietobjekts begründen. Erforderlich ist allerdings, um Ausuferungen des Fehlerbegriffs zu vermeiden, stets eine unmittelbare Beeinträchtigung der Tauglichkeit bzw. eine unmittelbare Einwirkung auf die Gebrauchstauglichkeit der Mietsache, wohingegen Umstände, die die Eignung der Mietsache zum vertragsgemäßen Gebrauch nur mittelbar berühren, nicht als Mängel zu qualifizieren sind.«

Das Gericht verneinte einen Sachmangel, da es sich nur um eine mittelbare Beeinträchtigung handelte. Die Erwartung »die notwendige geschäftsbelebende Funktion des Einkaufszentrums werde verwirklicht werden können« falle voll in das Unternehmerrisiko des Mieters. Die wegen der Corona-Pandemie angeordneten Nutzungsbeschränkungen treffen jedoch unmittelbar jedes Geschäft mit Publikumsverkehr. Es geht um einen Fall nachträglich eintretender objektiver Unmöglichkeit. Doch auch dafür gilt § 535 I 1 BGB mit der Folge, dass der Mieter von der Entrichtung der Miete befreit ist.

Im Hintergrund aller Überlegungen muss eine Interessenabwägung stehen, die eine angemessene Verteilung der Pandemiefolgen auf die Vertragsparteien im Blick hat. Die Folgen treffen unmittelbar zunächst nur das operative Geschäft mit dem allgemeinen Publikum, soweit es nicht, wie für den Lebensmittelhandel und die Apotheken, erlaubt geblieben ist. Immobilieneigentümer sind dagegen, ähnlich wie die Banken, erst mittelbar betroffen. Das Vertragsrecht sollte ihnen nicht dazu verhelfen, dass sie am Ende als Krisengewinner dastehen.

Nachtrag: Zu den Plänen des Gesetzgebers zu Kürzung der Gewerberaummiete wegen der Corona-Beschränkungen Michael Selk auf Beck-Blog.

Zur Störung der Geschäftsgrundlage bei Gewerbemietverträgen während der Coronapandemie jetzt BGH, Urt. v. 12. 01. 2022 — XII ZR 8/21 Mit Anmerkung von Jan Gers.


[1] Niko Schultz-Süchting/Dorothea Wittek, Not reicht nicht für Mietausfall.

[2] »Streit um die Zinsen während der Krise«. Mit »sibi« gezeichneter Artikel in der FAZ vom 20. 4. 2020.

[3] Zu einem solchen Fall BGH 16.02.2000 – XII ZR 279/97 NJW 2000,1714.

Ähnliche Themen

Anwälte im Coronastress

»Die Anwaltschaft muss als systemrelevant eingestuft und bei Soforthilfen angemessen berücksichtigt werden«,

so schreibt, mit Ausrufungszeichen am Satzende, der Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer am 31. März 2020 an die Bundeskanzlerin und fordert Notbetreuung für Anwaltskinder und Finanzhilfen wie für Unternehmen. Anwälte seien in dieser Krisensituation zwar nicht ganz so wichtig wie Ärzte. Aber »wenig nachvollziehbar« erscheint ihm,

»weshalb der Anwaltschaft als Organ der Rechtspflege nicht die gleiche Systemrelevanz zugestanden wird, wie sie für betriebsnotwendiges Personal und Schlüsselfunktionsträger in öffentlichen Einrichtungen und Behörden von Bund und Ländern, Senatsverwaltungen, Bezirksämtern, Landesämtern und nachgeordneten Behörden eingeräumt wurde. Auch die Justiz ist systemrelevant. Die Anwaltschaft ist im Kanon aller der Rechtsordnung verpflichteten Berufe jedoch gleichrangig und daher der Justiz gleichzustellen.«

Die »Systemrelevanz« der Anwaltschaft liegt nicht auf der Hand. Anwälte sind nicht gehalten, ihre Kanzleien zu schließen. In den meisten Bundesländern bleibt der Mandantenbesuch in den Kanzleien zulässig. Home Office ist eine gute Alternative. Der Deutsche Anwalts Verein (DAV) hat zu den durch die Coronakrise aufgeworfenen Fragen eine hilfreiche Internetseite eingerichtet. Soweit in dieser Krisensituation persönlicher Kontakt mit Mandanten, Justiz und Behörden möglich und notwendig ist, werden Anwälte diesen kaum verweigern. Wer noch keinen Anwalt hat, wird ihn auch jetzt finden. An Anwälten ist kein Mangel.
Auch von den finanziellen Soforthilfen für Selbständige und Unternehmen. sind Anwaltskanzleien nicht ausgeschlossen Anders als bei Unternehmen, die schließen müssen, hat die Krise für Anwälte nicht zwangsläufig finanzielle Folgen. Sicher verzögert sich die Ausführung von manchen Mandaten und damit auch die Abrechnung. Andere bleiben ganz aus. Dafür wird es am Ende der Krise umso mehr zu tun geben, nicht nur für Konkursverwalter.
Ein neuer Umsatzbringer könnte die »Systemrelevanz« werden. Daraus lässt sich ein Rechtsbegriff machen, auf den findige Anwälte allerhand Ansprüche stützen können. In der Finanzkrise wurde dieser Begriff verwendet, um die Stützung von Banken zu legitimieren, deren Zusammenbruch »das Finanzsystem« gefährdet hätte. Systemrelevanz wurde den Banken zugeschrieben. In der Coronakrise gelten nun Personen als systemrelevant, die zum »Personal kritischer Infrastrukturen« gehören.
Ausgangspunkt wäre zunächst die Richtlinie 2008/114/EG vom 8. 12. 2008. Auf dieser Grundlage hat das Innenministerium des Bundes eine Strategie für Kritische Infrastrukturen (KRITIS) entworfen.

»Kritische Infrastrukturen (KRITIS) sind Organisationen oder Einrichtungen mit wichtiger Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen, bei deren Ausfall oder Beeinträchtigung nachhaltig wirkende Versorgungsengpässe, erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit oder andere dramatische Folgen eintreten würden.«

In der Sektoren- und Brancheneinteilung könnte man die Anwaltschaft unter Staat und Verwaltung – Justizeinrichtungen suchen, wird sie dort aber nicht finden.
Merkwürdig ist bei alledem, dass die Definition der kritischen (weil systemrelevanten) Infrastrukturen auf dem Umweg über die IT-Sicherheit erfolgt. Das Gesetz über das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSIG) bietet in § 2 zunächst »Begriffsbestimmungen«. In Abs. 10 heißt es dazu:

»Kritische Infrastrukturen im Sinne dieses Gesetzes sind Einrichtungen, Anlagen oder Teile davon, die

  1. den Sektoren Energie, Informationstechnik und Telekommunikation, Transport und Verkehr, Gesundheit, Wasser, Ernährung sowie Finanz- und Versicherungswesen angehören und
  2. von hoher Bedeutung für das Funktionieren des Gemeinwesens sind, weil durch ihren Ausfall oder ihre Beeinträchtigung erhebliche Versorgungsengpässe oder Gefährdungen für die öffentliche Sicherheit eintreten würden.«

§ 10 Abs. 1 BSIG enthält eine Verordnungsermächtigung für das Bundesministerium des Innern. Das BMI bestimmt die

»unter Festlegung der in den jeweiligen Sektoren im Hinblick auf § 2 Absatz 10 Satz 1 Nummer 2 wegen ihrer Bedeutung als kritisch anzusehenden Dienstleistungen und deren als bedeutend anzusehenden Versorgungsgrads, welche Einrichtungen, Anlagen oder Teile davon als Kritische Infrastrukturen im Sinne dieses Gesetzes gelten.«

Das Ergebnis ist die so genannte KRITIS-Verordnung. Die VO spart den Sektor Staat und Verwaltung – Justizeinrichtungen aus, da dieser Sektor nicht der Aufsicht des Bundesamtes für Datenschutz unterliegt.
Im BSIG und in der KRITIS-VO geht es an sich nur darum, welche Anforderungen an ihre IT-Struktur die so genannten KRITIS-Betreiber zu erfüllen haben. Aber in der Corona-Krise werden die für den IT-Bereich geschaffenen Definitionen genutzt, um die »systemrelevanten« Personenkreise festzulegen. Die CoronaBerVO NW[1] gibt in § 5 eine »Liste über die Personenkreise kritischer Infrastrukturen«, die sich »an die Verordnung zur Bestimmung kritischer Infrastrukturen nach dem BSI-Gesetz vom 22. April 2016 (BSI-Gesetz vom 22. April 2016)« anlehnt. Die Anwaltschaft kommt darin ebenso wenig vor wie die Kirchen.

Nachtrag: »Welche Branchen sind ökonomisch systemrelevant?«, so der Titel einer Untersuchung von Christian Schneemann u. a. im Wirtschaftsdienst 100, 2020, S. 687-693.


[1] Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 im Bereich der Betreuungsinfrastruktur vom 2. April 2020.

Ähnliche Themen

Beschlussgremien im Corona-Stress

Beschlussgremien gibt es viele, angefangen von Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung über die entsprechenden Gremien in Ländern und Kommunen, Gesellschafter- und Haupt- und Wohnungseigentümerversammlungen bis hin zu Betriebsräten und Kollegialgerichten. Die Benennung als Versammlung deutet darauf hin, dass Beschlüsse grundsätzlich in einer Präsenzveranstaltung gefasst werden. Dazu gibt es regelmäßig Regeln über die Beschlussfähigkeit und über Mehrheitserfordernisse sowie über die Art und Weise der Abstimmung. Diese stehen ausnahmsweise in Gesetzen, in der Regel aber in den Gründungsdokumenten der Organisationen oder in Geschäftsordnungen, die von den Gremien selbst erlassen werden. Soweit Präsenzveranstaltungen nicht schon durch die nach dem Infektionsschutzgesetz ergangenen Einschränkungen der Mobilität ausgechlossen sind, sind sie zurzeit kaum durchführbar. Daher stehen die Gremien jetzt vor der Frage, ob eine Beschlussfassung durch Distanzkommunikation möglich ist, sei es digital, telefonisch oder schriftlich.

Der Bundestag ist nach § 45 I GOBT beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend ist. Die Beschlussunfähigkeit muss aber vor Beginn einer Abstimmung von einer Fraktion oder von mindestens 5 % der anwesenden Abgeordneten moniert werden. Theoretisch könnte der Bundestag sogar mit nur einem Abgeordneten beschlussfähig sein. Im Extremfall könnte also der Sitzungspräsident alleine beschließen. Trotz der großen Einmütigkeit, die in dieser Notzeit zu beobachten ist, will man sich aber wohl nicht auf den Rügeverzicht verlassen, sondern die Geschäftsordnung dahin ändern, dass das Plenum künftig schon mit einem Viertel der Abgeordneten beschlussfähig ist.

Prekär ist die Lage für das Europaparlament, da viele Abgeordnete aus ihren Heimatländern nicht nach Brüssel reisen können. Über die Beschlussfähigkeit bestimmt Art. 178 II der Geschäftsordnung, dass zur Beschlussfähigkeit ein Drittel der Mitglieder im Plenarsaal anwesend sein muss. Auch hier gilt aber, dass die fehlende Beschlussfähigkeit gerügt werden muss, und zwar von mindestens 38 Abgeordneten, die im Parlament anwesend sein müssen. Das kann also zur Folge haben, dass die Beschlussunfähigkeit nicht gerügt werden kann, wenn nicht einmal 38 Abgeordnete zugegen sind. In diesem Fall kann allerdings der Sitzungspräsident die Beschlussunfähigkeit feststellen. Abstimmungen erfolgen durch Handzeichen oder mittels einer elektronischen Abstimmungsanlage (Art. 187). Aber auch die letztere setzt Präsenz voraus. Nun will man sich damit behelfen, dass die Abgeordneten ihre Stimme auch per Email abgeben können. Da darf man wohl an der Wirksamkeit der Beschlüsse zweifeln.

Nach aktuellen Plänen soll § 118 AktG im Schnellverfahren dahin geändert werden, dass der Vorstand, zunächst nur für 2020,  auch ohne entsprechende Ermächtigung in der Satzung einer Hauptversammlung als Internetveranstaltung einberufen darf. Allerdings muss es wohl immer noch eine Art Rumpf-Präsenzveranstaltung geben.

Zur der Situation bei den Betriebsräten sei auf den Artikel Mitbestimmung unter Kontaktsperre in der FAZ vom 23. 3. 2020 verwiesen.[a]

In Gerichtsverfahren stellt sich die Frage, wieweit auf eine an sich vorgesehene mündliche Verhandlung verzichtet werden kann, ferner ob die Beratung mündlich erfolgen muss. Die erste Frage ist relativ klar in den Prozessordnungen geregelt. Weniger klar ist die Frage, ob die Beratung von Urteilen mündlich erfolgen muss. § 193 I GVG redet von der Anwesenheit von Referendaren usw., geht also wie selbstverständlich von einer Präsenzberatung aus. Aber eine direkte Formvorschrift ist das nicht. Nach § 194 I GVG leitet der Vorsitzende die Beratung, und dazu gehört auch, dass er Ort und Zeit bestimmt. Das Bundesarbeitsgericht hat »erhebliche Bedenken«, ob Urteile, »die auf eine mündliche Verhandlung und unter Beteiligung von ehrenamtlichen Richtern ergehen«, im schriftlichen Umlaufverfahren gefällt werden dürfen. Die Aufhebung des Berufungsurteils beruht aber letztlich nicht auf dem Formverstoß, sondern darauf, dass sie Laienbeisitzer nicht vollwertig in die Beschlussfassung einbezogen worden waren.[1] Bei angemessener Einbeziehung aller Richter kann man daher eine Beratung etwa per Videokonferenz wohl für zulässig halten.


[1] BAG, Urt. v. 26.3.2015 – 2 AZR 417/14.
[a] Nachtrag: Marcus Jung, Abgehängte Betriebsräte, FAZ vom 1. 4. 2020.

Ähnliche Themen

Justiz im Corona-Stress

Auch die Justiz ist im Corona-Stress. Mündliche Verhandlungen finden wohl kaum noch statt. Da kann man wohl an einen »Stillstand der Rechtspflege« im Sinne von § 245 ZPO denken. Oft ist es angeraten, das Denken anderen zu überlassen, in diesem Fall Benjamin Lahusen, von dem gerade ein Aufsatz mit dem Untertitel »Zum ›Stillstand der Rechtspflege‹ in der Juristischen Zeitgeschichte« erschienen ist:

Benjamin Lahusen, Die Selbstermächtigung des Rechts: Breslau 1933. Zum »Stillstand der Rechtspflege« in der Juristischen Zeitgeschichte, Zeithistorische Forschungen Heft 2/2019, online.

Zu Schnellinformation darf man bei Wikipedia unter Justizium nachlesen; zur aktuellen Situation die Einträge von Benedikt Windau auf dem Lawblog einer Hamburger Anwaltskanzlei (ZPO-Blog).

Nachtrag: Da habe ich nicht sorgfältig hingesehen. Gründer und Herausgeber des Blogs ist der Richter am Landgericht Oldenburg Benedikt Windau.

Nachtrag: Dazu aktuell ein Call for Papers für eine Online-Tagung zum Thema »Das Verfahrensrecht in den Zeiten der Pandemie«.

Ferner: Christian auf der Heiden, Prozessrecht in Zeiten der Corona-Pandemie, NJW 2020, 1023-28.

Ähnliche Themen

Verträge im Corona-Stress

Die Corona-Pandemie stellt auch das Schuldrecht auf eine Bewährungsprobe. Wenn Gastwirt G nun auf Anordnung der Stadt sein Lokal schließen muss, kann dann Vermieter V, von dem G die Räume für sein Restaurant gemietet hat, weiterhin die Monatsmiete von 5000 EUR fordern? Kann die Bank weiterhin von G die Verzinsung und Tilgung des Betriebsmittelkredits verlangen, den sie G gewährt hat? Muss G die bei Brauerei und Lebensmittelgroßhandel bestellten Lieferungen abnehmen? Können die Angestellten Fortzahlung ihres Gehalts verlangen? Diese und ähnliche Fragen stellen sich jetzt in großer Zahl. Einfache Antworten gibt es nicht. Aber es kann kaum angehen, dass die wirtschaftlichen Folgen der drastischen behördlichen Anordnungen zur Eindämmung der Pandemie allein von denen zu tragen sind, die sozusagen das operative Geschäft betreiben. Oder dürfen sich die Vertragspartner darauf berufen, dass der Staat umfangreiche Hilfen angekündigt hat?

Wie gesagt, einfache Antworten gibt es nicht, denn jede Branche und Vertragsart ist besonders, und die Stellschrauben des Schuldrechts sind schwer zu drehen.

Relativ einfach ist die Antwort noch für die Arbeitsverträge, zumal hier beide Vertragsteile durch die Regelungen über Arbeitslosen- und Kurzarbeitergeld gestützt werden.

Einigermaßen klar scheinen auch die Regelungen für die Reisebranche zusein. Aber nachdem die Infrastruktur von Hotels und Flugverkehr weggebrochen ist, Grenzen geschlossen wurden und das Auswärtige Amt für alle Länder eine Reisewarnung herausgegeben hat, sind die Folgen für die Veranstalter nur noch schwer tragbar.

Auf den ersten Blick klar ist die Antwort bei der Absage von Veranstaltungen. Dann erbringt der Veranstalter seine Leistung nicht und muss bereits gezahlte Karten erstatten. Aber kann das das letzte Wort sein?

Bei Dauerschuldverhältnissen könnten die behördlich angeordneten Betriebsschließungen Grund für eine außerordentliche Kündigung geben. Aber damit ist den Beteiligten längere Sicht nicht geholfen.

Die Fragen, um die es geht, werden in der Rechtsdogmatik als Leistungsstörungen im Schuldverhältnis abgehandelt. Die Stellschrauben, die hier in Betracht kommen, sind Unmöglichkeit, Verzug und Verschulden, wichtiger Grund für eine Kündigung, höhere Gewalt und Wegfall der Geschäftsgrundlage. Das alles sind mehr oder weniger unbestimmte Rechtsbegriffe. Präzedenzien gibt es nicht wirklich. In der Zeitung las man heute, im Justizministerium lägen Pläne auf dem Tisch, die Pflicht zur Stellung eines Insolvenzantrags zu entschärfen. Das Ministerium habe sich auch offen für die Forderung des Deutschen Mieterbundes gezeigt, für die Zeit der Corona-Krise Kündigungen und Zwangsräumungen wegen Zahlungsverzugs  auszuschließen. Solche Erwägungen lassen an die Kriegsnotrechte denken. Aber man kann wohl doch nicht alles auf den Gesetzgeber abschieben. Auch die Dogmatik und mit ihr die Rechtsprechung müssen helfen.

Verzug tritt nach § 286 IV BGB nur bei Verschulden ein. Für Geldschulden gilt jedoch bekanntlich »Geld muss man haben«. Bei Geldschulden, so heißt es, liege das Beschaffungsrisiko beim Schuldner. Das sei die Grundlage unserer Rechts- und Wirtschaftsordnung.[1] Der BGH hatte Zahlungsverzug sogar angenommen, als ein Mieter in Rückstand geriet, weil die rechtzeitig beantragten Sozialleistungen nicht gezahlt wurden.[2] Aber in der Corona-Krise ist die Wirtschaftsordnung sozusagen suspendiert. Deshalb könnte man die §§ 276, 286 BGB durchaus dahin auslegen, dass für die Dauer der Krise und eine angemessene Erholungszeit ein Moratorium gilt, so dass Schuldner gar nicht erst in Verzug geraten.

Am Ende wird es auch Krisengewinnler geben. Mancher Arbeitgeber kann sich von ohnehin nicht mehr erwünschten Arbeitnehmern trennen. Manches lästig gewordene Dauerschuldverhältnis lässt sich vielleicht durch Kündigung aus wichtigem Grund abschütteln. Solche Mitnahmeeffekte lassen sich nie ganz verhindern.

Nachtrag: »Vertragsrechtliche Regelungen aus Anlass der COVID-19-Pandemie« jetzt in Art. 240 EGBGB. Streit gibt es inzwischen darüber, ob und wie die durch das Notfallgesetz bis zum 30. Juni 2020 gestundeten Beträge zu verzinsen sind.

Nachtrag vom 12. 1. 2022: Heute hat der BGH über die Mietzahlungspflicht bei coronabedingter Geschäftsschließung entschieden[3], und zwar, »dass im Fall einer Geschäftsschließung, die aufgrund einer hoheitlichen Maßnahme zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie erfolgt, grundsätzlich ein Anspruch des Mieters von gewerblich genutzten Räumen auf Anpassung der Miete wegen Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 Abs. 1 BGB in Betracht kommt.«

Nachtrag vom 21. 7. 2023: Jan Peter Schmidt, Risikotragung bei Großkatastrophen – zwei Konzeptionen der Halbteilung, AcP 222, 2023, 546-571 = SSRN 4377196. Hier die Zusammenfassung:

Eine gesamtgesellschaftliche Ausnahmesituation wie die Covid-19-Pandemie hat grundlegende Fragen der vertraglichen Risikoverteilung aufgeworfen. Der vorliegende Aufsatz zeigt, dass die in Schrifttum und Rechtsprechung häufig erhobene Forderung nach einer Halbteilung auf zwei verschiedene Arten verstanden werden kann. Betrachtet man allein die vertraglichen Leistungen, bedeutet eine Halbteilung des Risikos, dass ein Gewerbemieter im Fall, dass die Immobilie infolge hoheitlicher Beschränkungen zur Gesundheitsvorsorge den vertraglich vorgesehenen Verwendungszweck vollständig eingebüßt hat, den Mietzins höchstens um die Hälfte reduzieren kann. Bezieht man hingegen den wirtschaftlichen Kontext der Transaktion mit ein, kann eine Halbteilung des Risikos auch so verstanden werden, dass jede Seite die in ihrer Sphäre eintretenden Verluste zu tragen hat. Von diesem Standpunkt aus gesehen ist auch eine Reduzierung des Mietzinses auf Null mit dem Grundsatz der Halbteilung vereinbar, weil der Gewerbemieter seine Umsatzausfälle dann immer noch allein zu tragen hat. Der Aufsatz argumentiert, dass die zweite Konzeption der Halbteilung dem gesetzlichen Leistungsstörungsrecht zu Grunde liegt und kleinen Katastrophen ebenso gerecht wird wie großen.


[1] Z. B. Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rn. 28; MüKoBGB/Grundmann  276 Rn. 180.
[2] BGH, Urteil vom 4.2.2015 – VIII ZR 175/14.
[3] BGH, Urteil vom 12. Januar 2022 – XII ZR 8/21.

Ähnliche Themen

40 Jahre Zeitschrift für Rechtssoziologie – abgesagt

Am 12. und 13. März sollte in Frankfurt/Oder eine Tagung »Socio-Legal Perspectives on the Rule of Law« der Vereinigung für Recht und Gesellschaft stattfinden. Auf dem Programm stand eine Podiumsdiskussion »40 Jahre Zeitschrift für Rechtssoziologie«, zu der ich als früherer Mitherausgeber und Schriftleiter eingeladen war. Dort sollte über Zustand und Zukunft der Zeitschrift (ZfRSoz) diskutiert werden. Nun ist die Veranstaltung wegen Corona abgesagt worden. Daher führe ich heute ein Selbstgespräch.

Eine ähnliche Veranstaltung gab es bereits 2019 auf der Tagung der Vereinigung in Basel.[1] Drei Statements wurden abgegeben von Michelle Cottier[2] (Herausgeberin, Redaktion wohl seit 2012), von Pierre Guibentif[3] (Herausgeber, Revue Droit et Société) und von Sophie Arndt[4], die die Redaktion des Bar-Blog vertrat.

Vorab: Den Zustand der Zeitschrift finde ich gut. Das Erscheinungsbild ist ansprechend (wenn man von der unfunktionalen Zitierweise einmal absieht), die Thematik ist hinreichend vielseitig, die Qualität der Beiträge in Ordnung. Über Abonnentenzahl und Zitierhäufigkeit hätte ich gerne etwas erfahren. Aber den Quotenwettlauf kann die ZfRSoz ohnehin nicht gewinnen.

Ich habe Zweifel, ob Grundsatzdiskussionen über Aufgabe und Ausrichtung der Zeitschrift folgenreich sein können. Die Jahre, in denen ich mit Unterstützung von Stefan Machura die Redaktionsgeschäfte der Zeitschrift geführt habe (1995-1999), waren durch einen Mangel an Manuskripten geprägt. Es wäre wichtig zu wissen, ob sich die Lage insoweit geändert hat. Solange das Angebot an Manuskripten den verfügbaren Platz nicht mindestens um das Dreifache übersteigt, haben Herausgeber und Schriftleitung wenig Spielraum. Ein konkreter Wunsch an die Schriftleitung wäre daher, jedenfalls einmal im Jahr die Zahl der eingegangenen und der abgelehnten Manuskripte (und die Bearbeitungsdauer bis zur Veröffentlichung) bekannt zu geben. Um Platz zu sparen, könnten die »Richtlinien für Autoren« durch einen Link ersetzt werden.

Eine bewährte Methode zur Einwerbung von Manuskripten besteht darin, insbesondere im Zusammenhang mit Tagungen, Themenschwer­punkte zusammenzustellen. Wenn das nicht notwendig ist, um die Hefte zu füllen, sollte darauf verzichtet werden. Es ist nicht Aufgabe einer Zeitschrift, die berühmt-berüchtigten Sammelbände zu ersetzen. Aufgabe der Zeitschrift ist – immer im Rahmen der Grundthematik – Vielfalt. Daneben hat die Zeitschrift eine Servicefunktion, die sie durch Übersichtsaufsätze, Tagungsberichte und Rezensionen erfüllt. Es ist schwer, für solchen Service Autoren zu gewinnen. Dennoch: Dieser Bereich ließe sich ausbauen.

Wenn denn aber eine Art Grundsatzdiskussion gewünscht wird, kann man zunächst von dem Statement von Frau Cottier von 2019 ausgehen. Sie erinnert an die langen Debatten über die »Identität der Disziplin«, wie sie noch einmal in der Mitteilung der Herausgeber in Heft 2/2000 zum Ausdruck kam. Seit 40 Jahren kokettiert die Zeitschrift nun mit der »Grenzexistenz« des Faches, das sie bedient. Die Klagen mögen mehr oder weniger begründet sein. Aber sie sind so alt, dass niemand sie mehr hören will. Also: Schluss mit dem Gejammer. Auch die Beschwörung der Transdisziplinarität hilft nicht weiter, sondern verwischt nur die Konturen. Jeder Autor soll schreiben, was er für richtig und wichtig hält. Für das Richtige, gibt es keine Vorgabe. Die Zeitschrift sollte offen sein und bleiben für alles, was bei großzügiger Auslegung unter den Begriff der Rechtssoziologie fällt.

Der alte Konflikt zwischen Rechtssoziologie und soziologischer Jurisprudenz ist keiner mehr. Mindestens die systemtheoretisch orientierte Rechtssoziologie hat eingesehen, dass es keine soziologische Jurisprudenz geben kann. Aber die Rechtssoziologie hat trotzdem gewonnen, denn ihre externe Rechtskritik findet in der Rechtsdogmatik einen starken Widerhall.

Offen ist dagegen ein anderer Grundsatzkonflikt, nämlich der zwischen kritischer Rechtssoziologie und instrumenteller Rechtsforschung. Aber das ist eine falsche Alternative. Beides ist zulässig und notwendig. Nichts davon ist ohne rechtssoziologische Grundlagenforschung zu haben.

Eher schon problematisch ist die Frage, wie man Rechtskritik betreiben soll, als Systemkritik oder als Symptomkritik. Systemkritisch war die marxistisch orientierte Rechtssoziologie. Die gab es durchaus einmal. In den USA etwa hat sie sich mit dem Hegemonie-Paradigma fortgesetzt, wie es von Teilnehmern des legendären Amherst-Seminars immer noch gepflegt wird.[5] Ich sehe systemkritische Ansätze zurzeit in den queertheoretisch orientierten Gender Studies. Machtkritik, Staatskritik, Kapitalismuskritik, Religionskritik, Faschismuskritik – auf diesen und anderen Feldern ersetzt die hetero­normativitäts-kritische Perspektive die marxistische Gesellschaftskritik.[6] Eine Zeitschrift kann hier nicht Schiedsrichter spielen, sondern muss widerspiegeln, was gerade diskutiert wird.

Was die Konkurrenz der Zeitschrift mit neueren Medien, insbesondere mit Wissenschaftsblogs betrifft, werde ich wohl bald in einem weiteren Eintrag Stellung nehmen. Frau Cottier hat für die Zeitschrift die »Beständigkeit des Archivs« hervorgehoben. Das ist sicher richtig. Aber es ist bedauerlich, dass dieses Archiv nicht ausgeschöpft wird. Wenn ich, etwa hier auf dem Blog, etwas geschrieben habe, dann fällt mir später nicht selten auf, dass es zum Thema in der Zeitschrift Interessantes und Zitierwürdiges gab, das ich übersehen habe. Vemutlich bin ich damit nicht allein.

Nachtrag vom 23. 1. 2021: Zur Konkurrenz von Zeitschriften und Wissenschaftsblogs jetzt mein Beitrag für Barblog Über das (rechtssoziologische) Wissenschaftsblogging.


[1] Christian Boulanger, »Rechtssoziologisch publizieren« – Dokumentation eines Rundtischgespräches, Barblog 26. 3. 2919.

[2] Michelle Cottier, Die Zeitschrift für Rechtssoziologie: Seit bald 40 Jahren Kristallisationspunkt und Kommunikationsarena der deutschsprachigen Rechssoziologie.

[3] Pierre Guibentif, Die Zukunft der Zeitschriften im Internationalen Feld »Recht und Gesellschaft« — Einige wissenschaftspolitische Übelegungen.

[4] Sophie Arndt, Ein Forum für die Rechtssoziologie im deutschsprachigen Raum: Der Blog Rechtswirklichkeit.

[5] Prominent insoweit Susan Silbey. Über ihre Spuren berichte ich im Eintrag vom 9. März 2020: Noch einmal Bourdieu, jetzt mit Rechtsbewusstsein.

[6] Vgl. etwa Christine M. Klapeer, Vielfalt ist nicht genug! Heteronormativität als herrschafts- und machtkritisches Konzept zur Intervention in gesellschaftliche Ungleichheiten, in: Friederike Schmidt u. a. (Hg.), Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, 2015, 25-44; Volker Woltersdorff, Heteronormativitätskritik: ein Konzept zur kritischen Erforschung der Normalisierung von Geschlecht und Normativität, in: Ruth Becker/Beate Kortendiek (Hg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung, 2008, 8 S.

Ähnliche Themen

Noch einmal Bourdieu, jetzt mit Rechtsbewusstsein

Dieser Eintrag geht zurück auf meine Lektüre von Kathryne M. Young/Katie R. Billings, Legal Consciousness and Cultural Capital, Law & Society Review 54, 2020, 33-65, die das Rechtsbewusstsein als Habitus im Sinne Bourdieus einordnen.

Seit 50 Jahren diskutiert man in der Rechtssoziologie darüber, wie sich das Recht in den Köpfen und Gefühlen der Menschen niederschlägt und von dort aus wirkt und zurückwirkt.

»Legal consciousness has been one of the most studied, discussed, and debated concepts in law and society research over the last thirty years.«[1]

Dabei steht die Frage nach Rechtskenntnissen im kognitiven Sinne nur am Anfang. Weiter und tiefer geht die Suche nach Rechtsbewusstsein und/oder Rechtsgefühl. Die Begriffe sind schwer voneinander abzugrenzen, zumal wenn man die Pendants in anderen Sprachen hinzunimmt (opinion about law; legal consciousness; sense of justice, sens juridique). Von Rechtsgefühl (und Judiz) reden eher die Juristen[2]. In der (europäischen) Rechtssoziologie fragte man zunächst nach knowledge and opinion about law[3]. Ausgehend von den USA dominiert heute das Label legal consciousness, das sich zwanglos als Rechtsbewusstsein übersetzen lässt.

Was mit all diesen Begriffen gesucht wird, ist nicht sogleich klar. Semantik hilft nicht weiter. Das las man schon bei Theodor Geiger.[4] »Rechtsbewusstsein« lässt sich nicht direkt beobachten. Es ist ein theoretisches Konstrukt. Aber es ist in der empirischen Sozialforschung ganz normal, dass im Hin und Her zwischen Theorie und Beobachtung ein Konzept entsteht, das theoretisch brauchbar ist und zugleich die Beobachtung anleitet. Klar ist immerhin, dass das Rechtsbewusstsein irgendwie die subjektive Seite des Rechts erfassen soll. Was man insoweit beobachten kann, sind

Rechtskenntnisse,
Emotionen, die mit Rechtsnormen oder mit rechtlich geprägten Ereignissen verbunden sind,
Einstellungen zum Recht (Akzeptanz oder Ablehnung, Vertrauen),
intuitive Urteile über Rechtsfragen (Rechtsgefühl),
Fairness-Urteile im Sinne des social justice research.

Wenn man diese und vielleicht noch weitere Beobachtungen als unabhängige Variable setzt, schließt sich die Frage an, ob und wie daraus eine handlungsrelevante Mischung von Kenntnissen, Attitüden und Kompetenzen wird. Das wäre dann wohl das Rechtsbewusstsein. Die Variablen lassen sich je nach dem gerade interessierenden Problem differenzieren. Man kann insbesondere die »Subjekte« nach den üblichen sozialen Kriterien unterscheiden. Man kann das Rechtsbewusstsein daraufhin befragen, wieweit es dem offiziellen Recht entspricht. Man kann Situationen unterscheiden, in denen das Rechtsbewusstsein relevant wird. Oder man kann auf die Art und Richtung der aus dem Rechtsbewusstsein resultierenden Handlungsbereitschaft sehen (Compliance, Gebrauch von Recht, Widerstand gegen Recht, Passivität usw.).

Das damit angedeutete Konzept hat die einflussreiche amerikanische Rechtssoziologin Susan S. Silbey verworfen.[5] Sie machte geltend, legal conciousness als theoretisches Konzept und empirischer Forschungsansatz habe sein kritisches Potential verloren. Einst sei das Konzept wohl entwickelt worden um zu zeigen, wie das Recht seine institutionelle Macht verteidigen könne, obwohl es konstant hinter seinen Versprechungen zurückbleibe. Aber jetzt diene es im Gegenteil dazu, die Funktionsfähigkeit des Rechts für bestimmte Gruppen und Interessen zu verbessern. Das wäre die Fragestellung, die (der frühe) Austin Sarat unter dem Titel »Support for the Legal System« behandelte.

Eigentlich müsste genau darin ein Kennzeichen wissenschaftlicher Begriffe liegen, dass sie empirisch und/oder analytisch brauchbar und nicht von vornherein auf Kritik gemünzt sind. Aber manche Kontroverse um das Konzept des Rechtsbewusstseins hat ihre Ursache in mehr oder weniger expliziten Hintergrundtheorien. Chua und Engel identifizieren in ihrem Übersichtsartikel drei »Schulen« der Rechtsbewusstseinsforschung, die mit den Überschriften Identität, Hegemonie und Mobilisierung versehen werden.[6] Den Kern die Hegemonie-Schule bilden Susan S. Silbey, Patricia Ewick[7] und der spätere Austin Sarat.[8]

Von einem konsolidierten Konzept des Rechtsbewusstseins kann nach wie vor keine Rede sein. Aber irgendein Konzept von legal consciousness ist anscheinend unentbehrlich. Die Anzahl der Veröffentlichungen, die legal consciousness im Titel tragen, boomt.[9]

2016 hatte Kathleen E. Hull versucht, den Begriff des Rechtsbewusstseins als kritischen im Sinne Silbeys zu rehabilitieren. Young/Billings haben nun einen weiteren Anlauf unternommen, in dem sie das Rechtsbewusstsein als Habitus im Sinne Bourdieus einordnen, so dass die Frage nach dem Rechtsbewusstsein nunmehr als kritische Frage nach der Teilhabe an einer spezifischen Ausprägung kulturellen Kapitals gestellt werden kann.

Young/Billings sind nicht die ersten, die in der Debatte um das Rechtsbewusstsein auf Bourdieu beziehen. Allerdings hatte Mauricio García Villegas kritisiert, die Autoren hätten sich damals nur unvollständig auf Bourdieu eingelassen.[10] Dem trug Silbey 2005 Rechnung. Sie meinte, empirische Forschung, die das Rechtsbewusstsein bei den Akteuren und ihren Äußerungen verorten wolle, praktiziere einen substantialistischen Realismus, der nur die Oberfläche in den Blick nehme und die darunter verborgenen hegemonialen Strukturen nicht erkennen könne. Dafür stützte sie sich auf Bourdieu und Cassirer, den zuvor auch Bourdieu zitiert hatte.

Young/Billings berichten über eine Untersuchung, in der College-Studenten nach ihrer Reaktion auf fingierte Begegnungen mit der Polizei befragt wurden. Die Bourdieu-Rezeption fällt diesem Rahmen entsprechend knapp aus.[11] Sie erfolgt in vier Schritten.

Der erste Schritt beschränkt sich auf den Satz:

»If the social field of law is analogous to ›law‹ in the sense of legal pluralism (…), then law’s ›habitus‹, at its core, is analogous to legal consciousness.« (S. 36).

Der zweite Schritt trägt auf dem Umweg über Silbey der Kritik Villegas Rechnung, legal conciousness mit dem kritischen Projekt der Rechtssoziologie »explaining the durability and ideological power of law« zu verbinden. Young/Billings zitieren aus einem Aufsatz Bourdieus, auf den sich schon Silbey gestützt hatte[12]. Es gehe darum, unter der Oberfläche der Empirie die Machtstrukturen zu erkennen, die das Rechtsbewusstsein ebenso ermöglichen wie beschränken (S. 35). Dazu verlassen sich Young und Billings allerdings nicht auf Bourdieu, sondern führen mit Max Weber und Marc Galanter bewährte Autoritäten an für die Hintergrundannahme, dass die vom Recht versprochene formale Gleichheit Herrschaft bedeute, weil sie die Vorteile der »Haves« verstärke (S. 36).

Der dritte Schritt ist der interessanteste. Bourdieu liefert dafür eigentlich nur noch das Stichwort vom »feel for the game«[13], vom Spielsinn oder praktischen Sinn, mit dem der Habitus in mehr oder weniger offenen Situationen für Orientierung sorgt.

Die Brücke für den Übergang vom Habitus zum Rechtsbewusstsein liefert wiederum Silbey. Sie holt das Material aus einem Aufsatz von Erik W. Larson[14], der eigentlich gar nicht zu dem kritischen Engagement Silbeys passt, orientierte er sich doch eher am Neoinstitutionalismus. (Immerhin hatte Larson dort Silbey und Ewick ausgiebig zitiert.) Silbey schrieb 2005:

»One particularly valuable model is Larson’s (2004) comparative study of security exchanges. … For Larson, however, legal consciousness is a response to the indeterminacy of law. It is not that one society has a stronger legal consciousness, but that the inherent indeterminacy of the law in action is resolved by different forms of legal consciousness, one form stressing internal norms and the other stressing formal rules.« (S. 360)

Bei Larson las man:

»We can better understand the impact of regulation on market behavior if we incorporate insights from neo-institutional and legal consciousness theories. Regulation is involved in constructing fields of action. As such, regulation shapes the environment in which economic actors are embedded. Regulatory law, however, is indeterminate, being constructed within the field that it is to regulate (…). The manner in which this ambiguity is resolved shapes the structure of legal consciousness in the field of action. As a result of this structure of legal consciousness, actors incorporate and use understandings about disputes and behavior in their actions in that field.«

Eigentlich benötigte Silbey nur das Stichwort von der Unbestimmtheit des Rechts. Es kennzeichnet sehr allgemein die Situation, in der das Rechtsbewusstsein. als handlungsleitende Disposition zur Geltung kommt.

In einem vierten Schritt wird das Rechtsbewusstsein als die subjektive, inkorporierte Seite jenes kulturellen Kapitals eingeordnet, das auf dem Feld des Rechts relevant ist. Dieser Schritt hilft, auf analoge Phänomene im Erziehungssystem und im Gesundheitswesen hinzuweisen. Hier kann dann auch Bourdieus Aufsatz von 1974 angeführt werden:

»Conceived in this way, cultural capital includes knowledge, skills, tastes, mannerisms, and interactional styles that can be parlayed into social advantage or power, shaping and being shaped by the class structure in societies (Bourdieu 1974)« (S. 37)

Für den empirischen Teil wurde die Reaktion von Studenten auf Begegnungen mit der Polizei in fünf verschiedenen Situationen abgefragt. Stets ging es darum, dass ein Beamter mit plausibler Begründung, Aber ohne Durchsuchungsbefehl, jedoch mit Rechtsbelehrung dazu aufforderte, die Durchsuchung von Wohnung, Arbeitsplatz oder Auto zuzulassen. Als unabhängige Variable diente das kulturelle Kapital der Respondenten. operationalisiert danach, ob sie eine private Universität (höher) oder ein Community College besuchten und ob einer oder beide Elternteile eine akademische Ausbildung hatten. Dazu ein bißchen Intersektionalität, race und gender. Die Antworten fielen nicht so unterschiedlich aus, wie vielleicht erwartet. Aber die Ausstattung der Probanden mit kulturellem Kapital war ja auch nicht dramatisch verschieden. Die Reaktionen waren jedenfalls vielschichtig.

»These results underscore the complexity of trust and distrust, pointing to the need for future research to disentangle different forms of these concepts, as well as the situational factors associated with different forms, in people’s interaction with legal authorities.« (S. 55)

Trotzdem finden die Autorinnen am Ende ihre Hintergrundannahme bestätigt:

»Finally, by identifying a set of social processes that perpetuate legal hegemony, our findings challenge assumptions about human behavior that have long been enshrined in US constitutional criminal procedure doctrine.« (S. 57).

Das belegen sie allerdings mehr mit Untersuchungen anderer Autoren und mit Zitaten von Silbey als mit den eigenen Ergebnissen.

Mein Fazit: Die Verortung des Rechtsbewusstseins als Habitus und damit als Teilhabe am kulturellen Kapital erscheint plausibel. Sie hilft, das Rechtsbewusstsein als eine inkorporierte Mischung von Kenntnissen, Attitüden und Kompetenzen zu begreifen, die den Umgang mit offenen Situationen regiert, in denen Recht relevant werden kann und zugleich generativ auf die Sozialstruktur zurückwirkt. Ob dazu Bourdieu wirklich gebraucht wird, mag man bezweifeln. Mit der »interpretativen Wende« der Rollentheorie war man schon sehr nahe dran. Ruth Leodolters Untersuchung über »Das Sprachverhalten von Angeklagten bei Gericht« (1975) kommt mir in den Sinn. Aber Bourdieus Autorität als Backup schadet sicher nicht, es sei denn, man nutzt ihn, um in den Hegemonie-Rap Silbeys einzufallen. Damit versperrt man sich den Blick auf die durchaus ambivalente Rolle des Rechts. Bourdieus Habitus-Theorie bleibt auch ohne die eingebaute Klassentheorie sinnvoll. Man sollte es mindestens für möglich halten, dass Chancengleichheit weder im Bildungssystem noch im Rechtssystem eine Illusion bleiben muss.

Nachtrag vom 24. 4. 2020: Das Thema Rechtsbewusstsein ist unerschöpflich. Mit dem in Fn. 8 erwähnten Buch von Hertogh setzt sich ausführlich auseinander:  Stergios Aidinlis, Defining the ‘Legal’: Two Conceptions of Legal Consciousness and Legal Alienation in Administrative Justice Research (July 31, 2019). SSRN: https://ssrn.com/abstract=3559840.


[1] Kathleen E. Hull, Legal Consciousness in Marginalized Groups, The Case of LGBT People, Law & Social Inquiry 41, 2016, 551-572, S. 551.

[2] Z. B. Beiträge in Ernst-Joachim Lampe (Hg.), Zur Entwicklung von Rechtsbewußtsein, 1997.

[3] Z. B. Adam Podgorecki/Wolfgang Kaupen/J. van Houtte /P. Vinke /Berl Kutchinsky, Knowledge and Opinion about Law, 1973.

[4]Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 1964 [1949], 382. Ausführlich Jan-Christoph Marschelke, Rechtsgefühle in Rechtssoziologie und -psychologie, in: Jonas Bens/Olaf Zenker (Hg.), Gerechtigkeitsgefühle, 2017, 37-69

[5] Susan S. Silbey, After Legal Consciousness, Annual Review of Law and Social Science 1, 2005, 323-368. Silbey steht bekanntlich ganz in der Tradition der Critical Legal Studies, welche das Recht prinzipiell als eine hierarchisch-hegemoniale Institution betrachtet, die soziale Ungleichheit verfestigt. Dazu Anne Wyvekens, Aux origines des Legal Consciousness Studies. Susan Silbey, observatrice et actrice, Droit et société 100, 2018, 627-631.

[6] Lynette J. Chua/David M. Engel, Legal Consciousness Reconsidered, Annu. Rev. Law Soc. Sci. 15 , 2019, 335-353.

[7] Patricia Ewick, Consciousness and Ideology, 2006 (Wiederabdruck gesammelter Aufsatze), vor allem aber Patricia Ewick/Susan S. Silbey, The Common Place of Law, 1998.

[8] Marc Hertoghs Buch von 2018 passt wohl unter keine dieser Überschriften (Nobody’s Law. Legal Consciousness and Legal Alienation in Everyday Life). Hertoghs Hintergrundtheorie ist anscheinend das Verschwinden des (offiziellen) Rechts im Rechtsbewusstsein. Das entnehme ich der Besprechung von Nienke Doornbos (International Journal of Law in Context 44, 202, 1-3). Das Buch selbst habe ich noch nicht in der Hand gehabt.

[9] Zahlen für 1985 bis 2018 bei Chua/Engel S. 343. 2019 ging der Reigen weiter, z. B. mit: Leisy J. Abrego, Relational Legal Consciousness of U.S. Citizenship: Privilege, Responsibility, Guilt, and Love in Latino Mixed‐Status Families, Law & Society Rev 53 , 2019, 641-670; Pascale Cornut St‐Pierre, Investigating Legal Consciousness through the Technical Work of Elite Lawyers: A Case Study on Tax Avoidance, Law & Society Rev 53, 2019, 323-352.

[10] Mauricio García Villegas, Symbolic Power without Symbolic Violence? Critical Comments on Legal Consciousness Studies in USA, Droit et société 53, 2003, 137–1631.

[11] Im Literaturverzeichnis erscheinen »The Force of Law« von 1986, die »Feinen Unterschiede«, natürlich auf Englisch und ein amerikanischer Bourdieu-Reader von 1990 (In Other Words) und der älterere Aufsatz »The School as a Conservative Force«. Als Sekundärliteratur wird nur ein Aufsatz von Villega (2004) herangezogen mit dem Zitat, Bourdieus »Habitus« sei für das Recht »an intermediate concept between rules – in the legal sense – and causality or rules in a physical sense« (On Pierre Bourdieu’s Legal Thought, Droit et société 2004, 57-70).

[12] Pierre Bourdieu, Social Space and Symbolic Power, Sociological Theory 7, 1989, 14-25. Silbey und Young/Billings zitieren nach dem Nachdruck in: Bourdieu, In Other Words. Essays Towards a Reflexive Sociology, 1990.

[13] Young/Billings verzichten auf einen genauen Nachweis. Der ist auch nicht notwendig, kommt dieser Lieblingsausdruck Bourdieus doch allein in dem von Young/Billings benutzten Sammelband mindestens sechs Mal vor.

[14] Erik W. Larson, Institutionalizing Legal Consciousness: Regulation and the Embedding of Market Participants in the Securities Industry in Ghana and Fiji, Law & Society Rev 38 , 2004, 737-768.

Ähnliche Themen

Bourdieu-Kritik nunmehr als Buch

Aus den Einträgen zu Bourdieus Texten zur Männlichen Herrschaft ist nunmehr ein Buch geworden:

Klaus F. Röhl,
Männliche Herrschaft als symbolischer Kapitalismus.
Eine Kritik an Pierre Bourdieus Konzept der männlichen Herrschaft,
Lit Verlag Münster, 2020
ISBN 978-3-643-14567-3, 144 S., 29,90 €

Ich bitte um Verständnis, dass ich mit Rücksicht auf den Verlagsvertrag die Postings auf diesem Blog löschen muss.

Nachtrag: Das Buch ist jetzt im Open Access zugänglich. Der Link befindet sich auf der Verlagsseite etwas verteckt im Klappentext oder hier: https://www.lit-verlag.de/media/pdf/be/5a/03/9783643145673.pdf.

 

 

Nachtrag vom 19. 12. 2023: Auf die Frage: Was sagt Bourdieu über männliche Herrschaft? antwortet ChatGPT:

Pierre Bourdieu, ein französischer Soziologe, hat in seinem Werk verschiedene Konzepte entwickelt, die sich auch auf die Frage der männlichen Herrschaft beziehen. Bourdieu interessierte sich besonders für die Strukturen von Macht und sozialen Ungleichheiten, einschließlich Geschlechterverhältnisse.

Ein zentrales Konzept von Bourdieu ist das der “symbolischen Gewalt”. Symbolische Gewalt bezieht sich auf die Art und Weise, wie soziale Strukturen und kulturelle Praktiken dazu beitragen, Machtverhältnisse aufrechtzuerhalten, ohne dass physische Gewalt erforderlich ist. Im Kontext der Geschlechterverhältnisse bedeutet dies, dass männliche Herrschaft nicht nur durch offensichtliche Unterdrückung, sondern auch durch subtilere, kulturell verankerte Mechanismen aufrechterhalten wird.

Bourdieu argumentiert, dass bestimmte soziale Praktiken und Institutionen, wie Bildungssysteme, Medien und kulturelle Normen, dazu beitragen, Geschlechterungleichheiten zu reproduzieren. Er beschreibt, wie bestimmte Formen des kulturellen Kapitals, wie Wissen, Sprache und Verhaltensweisen, in Gesellschaften als männlich konnotiert gelten können. Dies kann dazu führen, dass Männer in bestimmten sozialen Kontexten eine dominantere Position einnehmen.

Ein weiteres Konzept von Bourdieu, das für die Analyse von männlicher Herrschaft relevant ist, ist das der “Habitus”. Der Habitus bezieht sich auf die internalisierten, oft unbewussten Dispositionen und Verhaltensmuster, die durch soziale Erfahrungen geprägt sind. In Bezug auf Geschlechterverhältnisse bedeutet dies, dass Menschen bestimmte geschlechtsspezifische Verhaltensweisen und Einstellungen aufgrund ihrer sozialen Prägung internalisieren.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Bourdieu dazu beiträgt, die Mechanismen der männlichen Herrschaft durch die Konzepte der symbolischen Gewalt und des Habitus zu verstehen. Er betont die Rolle von kulturellen Praktiken, Institutionen und internalisierten Einstellungen in der Aufrechterhaltung von Geschlechterungleichheiten in der Gesellschaft.

Ähnliche Themen