Bourdieus Diagnose männlicher Herrschaft bei den Kabylen als normativer Rückschaufehler

Der Text dieses Eintrags ist nunmehr zu einem Buchkapitel geworden in:

Klaus F. Röhl, Männliche Herrschaft als symbolischer Kapitalismus.

Eine Kritik an Pierre Bourdieus Konzept der männlichen Herrschaft,

Lit Verlag Münster, 2020.

Ich bitte um Verständnis, dass ich den Text mit Rücksicht auf den Verlagsvertrag gelöscht habe.

Nachtrag: Das Buch istz jetzt im Open Access zugänglich. Der Link befindet sich auf der Verlagsseite etwas verteckt im Klappentext oder hier: https://www.lit-verlag.de/media/pdf/be/5a/03/9783643145673.pdf.

Nachtrag vom 19. 12. 2023: Auf die Frage, wsas unter einem normativen Rückschaufehler zu verstehen sei, antowrtet ChatGPT, als ob es meine Texte gelesen hätte:

Der Begriff “normativer Rückschaufehler” bezieht sich auf die Tendenz von Menschen, vergangene Ereignisse oder Entscheidungen rückblickend auf der Grundlage aktueller Normen, Werte oder Kenntnisse zu beurteilen. Dieser Fehler tritt auf, wenn man vergangene Ereignisse mit dem Wissen und den Maßstäben von heute betrachtet und dann Annahmen darüber macht, dass die damaligen Akteure die gleichen Informationen und Einsichten hatten.

Im Wesentlichen begehen Menschen den normativen Rückschaufehler, indem sie die Vergangenheit durch die Brille des gegenwärtigen Wissens und der aktuellen sozialen Normen betrachten. Das führt oft dazu, dass man Entscheidungen oder Handlungen von früheren Zeiten als unvernünftig oder fehlerhaft beurteilt, obwohl die damaligen Akteure möglicherweise nicht über das gleiche Wissen oder die gleichen Ressourcen verfügten.

Es ist wichtig zu beachten, dass der normative Rückschaufehler ein kognitives Verzerrungsmuster ist und nicht die tatsächliche Perspektive der Menschen in der Vergangenheit widerspiegelt. Historiker, Psychologen und Sozialwissenschaftler berücksichtigen diesen Fehler oft, wenn sie versuchen, vergangene Ereignisse zu verstehen und zu interpretieren.

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Das Undenkbare denken: #Metoo in der Kabylei. Eine Kritik an Pierre Bourdieus Konzept der männlichen Herrschaft

Der Text dieses Eintrags ist nunmehr zu einem Buchkapitel geworden in:

Klaus F. Röhl, Männliche Herrschaft als symbolischer Kapitalismus.

Eine Kritik an Pierre Bourdieus Konzept der männlichen Herrschaft,

Lit Verlag Münster, 2020.

Ich bitte um Verständnis, dass ich den Text mit Rücksicht auf den Verlagsvertrag gelöscht habe.

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Von der Rechtsästhetik über Selbsterkenntnis zum ästhetischen Juridismus

Die kleine Konjunktur der Rechtsästhetik[1] hat durch das schöne Buch von Daniel Damler[2] Schub erhalten. Die Allgemeine Rechtslehre wird künftig nicht mehr ohne einen Paragraphen über Recht und Ästhetik auskommen. Bei der Vorbereitung des Textes waren reiche Lesefrüchte zu ernten. So war zu lernen, dass Ästhetik viel mit Reflexion, Selbstreflexion und Perspektivenwechsel zu tun hat. Darüber habe ich eine ganz neue Perspektive gewonnen: Ich bin absurd. Zu dieser Einsicht hat mir Andreas Reckwitz verholfen. Einen Aufsatz über »Die Erfindung der Kreativität«[3] beginnt er mit den Sätzen:

»Wenn es einen Wunsch gibt, der innerhalb der Gegenwartskultur die Grenzen des Verstehbaren sprengt, dann wäre es der, nicht kreativ sein zu wollen. Dies gilt für Individuen wie für Institutionen gleichermaßen. Nicht kreativ sein zu können, ist eine problematische, aber zu heilende und mit geduldigem Training zu überwindende Schwäche. Aber nicht kreativ sein zu wollen, erscheint als ein absurder Wunsch, so wie es zu anderen Zeiten die Absicht, nicht moralisch oder nicht autonom sein zu wollen, gewesen sein mag.«

Mich drängt überhaupt nichts zur Kreativität. Im Gegenteil, die Welt ist mir bunt genug, und mir kommt es darauf an, sie möglichst ordentlich in Schubladen zu verpacken. Ich freue mich an der Kreativität anderer und hüte mich, meine Umgebung durch eigene Ausbrüche von Kreativität zu molestieren. Also bin ich absurd.

Reckwitz nimmt eine Diskussionslinie auf, die mit der Schelte der Kulturindustrie durch Adorno und Horkheimer begonnen hatte. Daraus wuchs im Laufe der Zeit die kapitalismuskritische Diagnose einer Ästhetisierung der Gesellschaft. Sie besagt etwa, dass die Ökonomie die Ästhetik als Wachstumsbringer nutzt und sich ihrer zugleich bedient, um ihren schnöden Materialismus zu camouflieren. Diese Kritik gipfelt in der Rede von einem ästhetischen Kapitalismus[4].

Wenn die Ästhetisierung der Gesellschaft ein Sekundärphänomen des Kapitalismus ist, bedeutet das wohl, dass die seit Kant viel beschworene Autonomie der Ästhetik und mit ihr der Kunst untergeht. Reckwitz hat anscheinend einen Rettungsring parat. Er erfindet einen Kreativitätsimperativ, der vor aller Ökonomie am Werk ist. Bei weiterer Lektüre wird dieser Imperativ aber von einem »Kreativitätsdispositiv« eingefangen, das ihn letztlich doch in den Dienst der Ökonomie und damit des Kapitalismus stellt.

Dagegen hat Joachim Fischer kürzlich eine neue Postmaterialismusthese gestellt. Er knüpft bei Werner Sombart an, von dem er sagt, dieser habe »in seiner Kapitalismusanalyse von ›Luxus, Liebe und Kapitalismus‹ (1922) die Kausalrelationen umgekehrt: Das sich erstmals zu Beginn der Moderne entdeckende ästhetische Begehren hetzt die kapitalistische Ökonomie vor sich her, immer neue Ausdrucksformen zu produzieren.« Wolle man »das Phänomen der ›Ästhetisierung der Gesellschaft‹ wirklich ernst nehmen«, dann sei zu fragen:

»Ist nicht das Ästhetische das eigentliche Existential der Subjekte und der Sozietäten der Gegenwart? Noch vor dem Rechtlichen, vor dem Politischen, vor dem Wissenschaftlichen, vor dem Erzieherischen, vor dem Moralischen, vor dem Ökonomischen?«.

Auf diese Frage hat die Soziologie sich bisher nicht ernsthaft eingelassen, und ich kann sie nicht beantworten.

Indessen will ich das Verdikt der Absurdität nicht auf mir sitzen lassen. In einem Anfall verzweifelter Kreativität rufe ich den ästhetischen Juridismus aus.

Schon immer hielten Juristen etwas auf die Eleganz oder gar Ästhetik ihres Tuns.[5] Es ist an der Zeit, die zaghaften Bekenntnisse zu einem ästhetischen Imperativ zu konsolidieren. Das Landesarbeitsgericht Hamm hatte offenbar die Rechtsästhetikdiskussion noch nicht zur Kenntnis genommen, als es ein Urteil des Arbeitsgerichts Detmold, das in Reimen gefasst war, als unsachlich und unangemessen verwarf.[6] Dabei darf es nicht bleiben. Staatsanwälte sollten künftig ihre Anklagen als Rap vortragen, Richter ihre Urteile und Beschlüsse als Rezitativ darbieten. Die tristen Roben von Richtern und Anwälten könnten, je nach Herkunft der Prozessbeteiligten, mit folkloristischen Elementen geschmückt werden. Für das Loveparade-Verfahren passte Techno-Rock als Hintergrundmusik. Rechtsbücher, soweit es solche noch gibt, könnten ein Glitzerdesign erhalten, so wie es Daniel Damler mit seiner Rechtsästhetik vorgemacht hat. Viel Spielraum bietet die Gestaltung von Gerichtsgebäuden. In diesem Sinne hat man in Bochum das funkelnagelneue Landgericht hinter eine über 100 Jahre alte Fassade gesetzt. Der aus Funk und Fernsehen bekannte Bochumer Geruchsforscher Hanns Hatt kann sicher Vorschläge machen, wie man Gerichtsgebäude und Gefängnisse adäquat beduftet.

Ästhetischer Juridismus bietet der Kreativität ein weites Feld. Als Legal Design wird dieses Feld zum Thema von Rechtswissenschaft und Juristenausbildung werden.

Bisher versteht man unter Legal Design in erster Linie die zweckmäßige Gestaltung von einzelnen Rechtsnormen und ganzen Institutionen, zweckmäßig in dem Sinne, dass der Inhalt der Rechtsnormen für die Adressaten leicht erkennbar ist, dass ihr Verhalten unter Berücksichtigung zu erwartender Widerstände in die vom Gesetzgeber gewünschte Richtung gelenkt wird und dass die Institutionen ihre Wirkung tun.[7] Der Begriff Legal Design ist aber auch von Designern okkupiert worden, um ihre Tätigkeit für die Visualisierung von juristischem Material zu benennen. In den USA liegt der Schwerpunkt auf Visualisierung von Material für den forensischen Gebrauch. Ferner wird dort unter diesem Stichwort die Gestaltung von Internetseiten für Anwaltsbüros angeboten. In der Schweiz[8] und in Deutschland[9] geht es eher um die Visualisierung von Rechtsnormen, sei es für das Publikum, sei es für den Rechtsunterricht. Unter dem Kreativitätsimperativ des ästhetischen Juridismus deckt der Begriff des Legal Design künftig alle ästhetischen Praktiken juristischer Kommunikation.

Wer oder was ist hier absurd?

Nachtrag vom 25. Juli 2018:

Im Oktober 2017 gab es im Kulturwissenschaftliches Institut Essen (KWI) eine Konferenz »Von der Künstlerkritik zur Kritik an der Kreativität«. Subjektivierungen in Forschung und Praxis«, die wie folgt angekündigt wurde:

Begriff und Wort Kreativität« wurden nach dem zweiten Weltkrieg aus den USA in den deutschsprachigen Raum importiert, zunächst im Zuge der Systemkonkurrenz des Kalten Krieges über »creativity« und das von Joy P. Guilford angestoßene »creativity movement«. Diese Bewegung war von Anfang an heterogen, Psychometriker wie Guilford wurden von VertreterInnen der humanistischen Psychologie (z.B. Carl Rogers, Frank Barron) wie auch der Psychoanalyse (z. B. Donald Winnicot) flankiert. In Europa wurde die Idee, dass Kreativität unbedingt zu fördern sei, in den 1960er und 1970er Jahren auch von VertreterInnen der Künstlerkritik wie Raoul Vaneigem oder Joseph Beuys aufgegriffen. Dies nährte später die Vorstellung von der Herausbildung eines »neuen Geistes des Kapitalismus« (Boltanski/Chiapello) bzw. eines »ästhetischen Kapitalismus« (Reckwitz) unter Einfluss des künstlerischen Feldes.

In seinem [Eröffnungs-]Vortrag [über »Die Rhetorik der Kreativität«] widmet sich der Kunstsoziologe Ulf Wuggenig (Leuphana-Universität Lüneburg) dem zweiten Hype der Kreativität, als dessen politischer Ausgangspunkt und Motor die neoliberal gewendete britische New Labour Party anzusehen ist. Sie verklärten die Kreativarbeiter zu sogenannten New Independant, die Vorbild für andere, weniger Kreative sein sollten. Kreativität wurde nun unter instrumentalen Gesichtspunkten betrachtet, als Investition beziehungsweise Bedingung für Innovation und Wirtschaftswachstum. Der Import von Ideen und Konzepten aus dem angelsächsischen in den deutschsprachigen Raum war dabei mit durchaus bemerkenswerter nationaler Diversität zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz verbunden.

Dazu passt der schon etwas ältere Sammelband Gerald Raunig/Gene Ray (hg.), Critique of Creativity. Precarity, Subjectivity and Resistance in the ‘Creative Industries’, London 2011. Einige Beiträge stammen aus Gerald Raunig (Hg.), Kritik der Kreativität, 2007.

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[1] Fußnote 1 zum Eintrag vom 15. Januar 2017.

[2] Daniel Damler, Rechtsästhetik. Sinnliche Analogien im juristischen Denken, 2016. Rezensionen: Ino Augsberg, JZ 2017, 416f; Andreas Fischer-Lescano, Der Staat 25, 2017, 133-138.

[3] Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität, Kulturpolitische Mitteilungen 141, II/2013, 23-34. Vgl. auch Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, 2012.

[4] Reckwitz 2013 S. 23; Gernot Böhme, Ästhetischer Kapitalismus, 2016.

[5] Z. B. Karl N. Llewellyn, On the Good, the True, the Beautiful, in Law, The University of Chicago Law Review 9, 1942, 224-265; Cosima Möller, Die juristische Konstruktion im Werk Rudolf von Jherings – vom universellen Rechtsalphabet bis zur juristischen Schönheit, JZ 72, 2017, 770-777; Pierre J. Schlag, The Aesthetics of American Law, Harvard Law Review 115, 2002, 1047-1118; Heinrich Triepel, Vom Stil des Rechts. Beiträge zu einer Ästhetik des Rechts (1947) mit einer Einleitung von Andreas von Arnauld und Wolfgang Durner (S. I-XLII), 2007; Cornelia Vismann, Das Schöne am Recht, 2012.

[6] LAG Hamm Urteil vom 21. Februar 2008 Az. 8 Sa 1736/07.

[7] Alexandra Kemmerer/Christoph Möllers/Maximilian Steinbeis/Gerhard Wagner (Hg.), Choice Architecture in Democracies. Exploring the Legitimacy of Nudging, 2016.

[8] Colette R. Brunschwig, Visualisierung von Rechtsnormen. Legal Design, 2001.

[9] Klaus F. Röhl/Stefan Ulbrich, Recht anschaulich. Visualisierung der Juristenausbildung, 2007.

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Die Heimliche Juristenzeitung wird unheimlich

Nicht ganz selten wurde in diesem Blog die Frankfurter Allgemeine Zeitung zitiert, von Anfang an unter dem Ehrentitel »Heimliche Juristenzeitung« (vgl. den Eintrag vom 19. Januar 2009: Die Bilder der heimlichen Juristenzeitung). Um mich nicht zu wiederholen, wiederhole hier noch einmal unter Verzicht auf die Fußnoten den ersten Absatz dieses Eintrags:

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) ist die heimliche Juristenzeitung. Seit eh und je gibt es mittwochs die Seite »Recht und Steuern«. Ziemlich neu ist die wöchentliche Seite »Staat und Recht«. Dafür verantwortlich ist Reinhard Müller. Auch sonst schreibt er über »alles, was Recht ist«. Die Seite »Die Gegenwart« bot am 8. 9. 2008 einen großen Aufsatz von Roman Herzog und Lüder Gerken über Kompetenzanmaßungen des EUGH, der eine rege Diskussion auslöste. Selbstverständlich, dass die Zeitung über wichtige rechtspolitische Entwicklungen und bemerkenswerte Gerichtsverfahren schreibt. Die Artikel von Friedrich Karl Fromme zu staats- und verfassungsrechtlichen Themen sind in guter Erinnerung. Heute sorgen Alexandra Kemmerer und Melanie Amann für zuverlässige und interessante Berichte. Für den Wirtschaftsteil hat Frau Amann die Anwaltschaft im Blick. Über die Rechtswelt in den USA berichtet zitierwürdig Katja Gelinsky. Im letzten Jahr ist der »Rechtsstab« noch um Hendrik Wieduwilt erweitert worden, der sich der Zeitung dem Vernehmen nach als Blogger empfohlen hatte. Auch die alte Tradition, über völkerrechtliche Fragen zu informieren, wird fortgeführt. Am 7. 1. gab es – zwar aus aktuellem Anlass, aber doch ganz abstrakt gehalten – gleich zwei Artikel zum Kriegsvölkerrecht. Früher war es vor allem Gerd Roellecke, der rechtsphilosophische Themen behandelte. Ihn hat mehr und mehr Michael Pawlik abgelöst. Ganze Debatten zwischen Richtern und Professoren werden in der FAZ ausgetragen.

Der Text verdient nach bald neun Jahren eine Aktualisierung. Aber die Lust ist mir vergangen, nachdem die FAZ heute mit der Meldung erscheint, sie wolle künftig ein Extrablatt herausgeben unter dem – wie ich finde – einigermaßen lächerlichen Titel Einspruch. Alles was Recht ist. Natürlich erscheint das Blatt nur digital, aber dafür kostet es extra. Da zahlt man nun einschließlich Sonntags- und Digitalausgabe ungefähr 1000 EUR im Jahr und muss wohl befürchten, dass die Zeitung nach und nach entkernt wird. Es gibt ja noch viele Sachgebiete, für die sich Extrablätter lohnen. Früher gab es den »Blick durch die Wirtschaft«. Ich hätte noch ein paar Vorschläge mehr, z. B.:

Literatur. Alles was zwischen Buchdeckel passt.

Tor. Alles was Beine hat.

Spritze. Alles was man abrechnen kann.

Oder man nimmt gleich die Parole von Twitter:

Alles, was gerade los ist.

In der Rechtssoziologie lernte man immer, wie wichtig Dauerbeziehungen seien. Verbraucher haben längst umgelernt. 50 Jahre bei derselben Versicherung? Treuer Kunde der Stadtwerke? Über 40 Jahre Abonnent der FAZ? Man wäre so gerne ein bißchen irrational. Aber Alter schützt vor Kündigung nicht.

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Film und Recht: Vom Seminar zum Handbuch

In diesen Tagen ist Stefan Machura auf Einladung der Fakultät für Sozialwissenschaft in Bochum zu Besuch. Von 1992-1998 war er Assistent am Lehrstuhl für Rechtssoziologie und Rechtsphilosophie der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität. Heute ist er Professor of Criminology and Criminal Justice an der Universität Bangor, Wales (UK).

Auf der Webseite von Herrn Machura findet man die Internetadresse des Bandes Criminology and Criminal Justice, der soeben in der Reihe der Oxford Research Encyclopedias erschienen ist. Herr Machura ist als Mitherausgeber für 122 Artikel über Crime, Media, and Popular Culture verantwortlich. Zwei hat er auch selbst verfasst. Vorläufig ist das Ganze noch frei im Internet zugänglich.

Für mich ist das Handbuch Anlass, daran zu erinnern, wie alles angefangen hat. 1985 war ich, von Madison kommend, zum ersten Mal in St. Louis, Missouri, an der St. Louis University (SLU), um die dortige Law School für eine Partnerschaft mit unserer Bochumer Juristenfakultät zu gewinnen. (Die Pbartnerschaft war über zwei Jahrzehnte sehr lebendig.) Gleich bei meinem ersten Besuch lernte ich den Kollegen Francis M. Nevins kennen. Bei späteren Besuchen haben seine Frau und er mich auch in ihrem Haus aufgenommen, wo ich den gewaltigen Röhrenprojektor bestaunte, mit dem Nevins seine Filmsammlung musterte. Nach deutschen Begriffen war Nevins Zivilrechtler, seine Fächer vor allem Urheberrecht sowie mehr oder weniger alles, was bei uns unter die Freiwillige Gerichtsbarkeit fällt. Seine Leidenschaft waren jedoch Kriminalromane und Filme. Er war Testamentsvollstrecker des Krimiautors Cornell Woolrich und schrieb selbst ein halbes Dutzend Kriminalromane.

Seit 1979 hielt Nevins in St. Louis ein Seminar über »Law, Lawyers and Justice in Popular Fiction and Film«.[1] Ich durfte gelegentlich teilnehmen und fand das so reizvoll, dass ich dieses Format in Bochum kopieren wollte. Aber irgendwie fehlten mir Feeling und Kompetenz für die Materie. Und so kam es, dass ab 1995 zwei Mitarbeiter, Stefan Machura und Stefan Ulbrich, zu denen sich später noch Michael Böhnke gesellte, formal in meinem Auftrag, ein Seminar über »Recht im Film« anboten, das zugleich für Studierende der Film- und Fernsehwissenschaft sowie der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft geöffnet war, das über viele Jahre erfolgreich gelaufen ist und aus dem stattliche Veröffentlichungen[2] entstanden.

Seit Ende der 1970er Jahre gerieten die Publikumsmedien mehr und mehr auf den Themenzettel der Law and Society Association und damit in den Blick der Rechtssoziologie. Dabei ging es auf der einen Seite um die Berichterstattung der Medien über die Justiz. Auf der anderen Seite ging es um die damals populären Anwalts- und Gerichtsserien im Fernsehen. Damit wurde die Thematik breiter. »Recht im Film« stand nur noch pars pro toto für fact and fiction in der Popularkultur, insbesondere in den Publikumsmedien.

Während ich selbst mich mehr für den Zusammenhang von Medienwandel und Rechtsentwicklung interessierte – daraus wurde das Projekt Visuelle Rechtskommunikation – blieb Herr Machura dem Thema »Recht und Film« treu, etwa mit dem Projekt Kultivierungseffekte des Justiz- und Anwaltsfilms[3]. Auf der gerade angekündigten Tagung der deutschsprachigen Rechtssoziologie-Vereinigungen in Basel 2018 organisiert er den Themenstrang »Recht und Medien«. Die jüngsten einschlägigen Veröffentlichungen sind wohl zwei Artikel in dem eingangs erwähnten Handbuch: Representations of Law, Rights, and Criminal Justice sowie (zusammen mit Michael Böhnke) The Legal System in German Popular Culture.

Nun ist aus dem Seminar also ein Handbuch geworden. Das ist nicht nur wegen der damit verbundenen Wissenschaftskarriere interessant, sondern weil die Handbuchreife einer Disziplin ein Anzeichen für die Konvergenz ihrer Wissensbestände bildet. Aber das ist Thema für ein neues Posting.

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[1] Francis M. Nevins hat zum Thema »Recht im Film« mehrere Veröffentlichungen vorgelegt, z.B. Through the Great Depression on Horseback. Legal Themes in Western Films of the 1930s, in: John Denvir (Hg.), Legal Reelism. Movies as Legal Texts, University of Illinois Press, Urbana 1996, 44-69; ders., Cape Fear Dead Ahead: Transforming A Thrice-Told Tale of Lawyers and Law, Legal Studies Forum 2000, 611-644; Using Fiction and Film as Law School Tools, in: Stefan Machura/Stefan Ulbrich (Hg.), FS Röhl, 2003, 175-181.

[2] Stefan Machura/Stefan Ulbrich, Recht im Film: Abbild juristischer Wirklichkeit oder filmische Selbstreferenz, Zeitschrift für Rechtssoziologie 1999, Heft 1, 168-182; dies. (Hg.), Recht im Film, Nomos Verlag, Baden-Baden 2002; Stefan Machura/Peter Robson (Hg.), Law and Film, Blackwell, Oxford u.a. 2001; darin: Michael Böhnke, Myth and Law in the Films of John Ford (S. 47-63) sowie Stefan Machura/Stefan Ulbrich, Law in Film: Globalising the American Courtroom Drama (S. 117-132, auch in: Journal of Law and Society 28, 2001, 117-132); Stefan Ulbrich, Gerichtsshows als mediales Format und ihre Bedeutung für das Recht, FS Röhl, 2003, 161-174. Ferner als Baustein des Projekts Visuelle Rechtskommunikation von Stefan Machura und Stefan Ulbrich Recht im Film.

[3] Der DFG-Antrag trägt nur pro forma meinen Namen, weil Herr Machura damals nicht antragsberechtigt war.

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#Metoo – die sexuelle Revolution frisst ihre Kinder

Kürzlich war ich in Heidelberg und übernachtete dort in einem auf bayrisch getrimmten Hotel, das weibliche Personal entsprechend in Dirndl gezwängt. So konnten an der Rezeption und im Restaurant tiefe Einblicke in entzückend jugendliche Busen gar nicht ausbleiben. Sie waren nicht weniger schön als der Blick von der Alten Brücke auf das Heidelberger Schloss und von der Bahnstrecke am Rhein auf die Loreley. Auf der Rückfahrt habe ich in den dicken Sonntagszeitungen die Metoo-Stories gelesen. Da kamen mir die Einträge über die Sexdefizit-These von Roy Baumeister u. a., das darauf aufbauende Konzept der Geschlechterbeziehungen als Austauschverhältnis[1] sowie Catherine Hakims Erotisches Kapital in Erinnerung, über die ich vor Jahr und Tag an dieser Stelle reichlich ratlos geschrieben hatte.

Der Eintrag vom 30. Juni 2015 über den – wie ich fand – skandalösen Artikel von Roy F. Baumeister und Kathleen D. Vohs[2], den ich aus Anlass von Baumeisters Einladung an die Universität Bamberg verfasst hatte, zog hier im Blog zu meiner Enttäuschung keine Kommentare auf sich. Eine kleine Email-Korrespondenz, die Ulrike Schultz von der Fernuniversität Hagen auf meine Bitte in ihrem Netzwerk initiiert hatte, brachte einige Antworten hervor, in denen zwar allgemein Empörung geäußert wurde, die aber keine Hilfe für eine sachliche Auseinandersetzung mit Baumeister und Vohs boten. Ich hatte gehofft, dass mir jemand diese Auseinandersetzung abnehmen könnte (zu der ich mich auch heute noch nicht im Stande sehe). Immerhin teile ich die Ausgangsposition von Baumeister und Vohs, nämlich die Annahme, dass die Geschlechterbeziehungen sich als Austauschverhältnis modellieren lassen und dass es daher auch möglich sein müsste, sie einer quasi-ökonomischen Analyse zu unterziehen.[3] Das Austauschmodell prallt bisher, soweit ich sehe, an der Perspektive eines wohlwollenden Sexismus (benevolent sexism[4]) ab, die sich nicht mehr durchhalten lässt, wenn man das Austauschmodell ernst nimmt. Ich halte es auch nach wie vor für plausibel, wenn Catherine Hakim unter Berufung auf Bourdieu, erklärt:

»Erotic capital is just as important as economic, cultural and social capital for understanding social and economic processes, social interaction and social mobility.«[5]

Eine ausführliche Stellungnahme zu Hakims Thesen von Andreas Schmitz und Jan Rasmus Riebling[6] zeigt wichtige Kritikpunkte. Mit gutem Grund kritisieren sie, wie andere auch[7], dass Hakim, jedenfalls in ihrem Buch, postfeministische Ratgeberliteratur geliefert habe, die der Ungleichheit der Geschlechter durch besseres Selbstmanagement abhelfen solle und stattdessen nur zur Reproduktion von Geschlechterunterschieden beitrage. Vor allem beanstanden sie, dass die distinkten Elemente, aus denen sich nach Hakim das erotische Kapital zusammensetzen soll, nicht zu der Kapitaldefinition Bourdieus passen. Diese Kritik verstehe ich nicht. Ich habe noch einmal einen einschlägigen Text Bourdieus[8] gelesen und hatte den Eindruck, dass man dort an Stelle der drei von Bourdieu behandelten Kapitalformen immer wieder auch das erotische Kapital interpolieren kann. Insoweit bedarf es einer ausführlicheren Diskussion, für die hier nicht der Ort ist.

Nun hat in Hollywood ein Sexmonster gewütet. Das ist für den Markt der zwischengeschlechtlichen Beziehungen schlimmer noch als der VW-Skandal für den Dieselmarkt. Das Vertrauen in den Dieselmotor ist dahin, wiewohl dieser technisch, auch was die Nachhaltigkeit betrifft, überlegen ist. Das Verhältnis zwischen den Geschlechtern scheint gestört, denn das Anbieten, Werben und Wählen verliert die Unbefangenheit, von der es lebt. Das kultivierte, elegante und oft auch triviale Spiel mit erotischen Elementen jenseits von plumpem Sex ist gefährdet. Damit geht viel von dem, was das Leben – auch für Frauen – lebenswert macht, verloren. Wo ist das Pendent zu der verpönten Abschaltvorrichtung in Dieselmotoren? Die sexuelle Revolution in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war wohl von Männern gemacht und sie haben sie in ihrem Sinne interpretiert, indem sie Frauen zum Freiwild erklärten, natürlich nicht explizit, sondern als Hintergrundmetapher im Sinne Blumenbergs[9]. Was wir gerade erleben ist keine »moralische Panik«[10], sondern eine »moralische (Gegen-) Revolution«[11], angetrieben von einem Bedürfnis nach Respekt und Anerkennung.

Diese Ad-hoc-Erklärung ist natürlich insofern zu kurz, als Männermacht schon immer dazu diente, sich Frauen gefügig zu machen. Aber der Vergleich zwischen Harvey Weinstein und Graf Almaviva will nicht passen. Für die Ambivalenz, die da Ponte und Mozart trotz der für ihre Zeitgenossen revolutionären Kritik immer noch mit der Figur des Almaviva verbunden haben, wäre heute kein Raum mehr.

Der #Metoo-Diskurs ist ein Schulbeispiel für einen Machtdiskurs im Sinne Foucaults. Er verschiebt den metaphorischen Hintergrund vom Freiwild zum Sexismusopfer. Damit wird Männermacht abgebaut und Frauenmacht aufgebaut. Mit Hilfe der Medien gelingt es, die Position des nicht unmittelbar anwesenden Dritten oder gar der Öffentlichkeit präsent zu machen, die notwendig ist, um den Vorwurf einer bloß subjektiven Bewertung der Demütigung durch das Opfer abzuwehren.[12]

Was als Demütigung (embarrassement) oder Belästigung (harassment) gilt, ist kein Naturphänomen, sondern ein soziales Konstrukt. Das gilt bis zu einem gewissen Grade sogar für Vergewaltigungen.[13]

»Das erniedrigende Verhalten im Akt der Demütigung ist von normalem Machtverhalten innerhalb einer Hierarchie, etwa in einer hierarchischen Institution, dadurch zu unterscheiden, dass es etablierte Grenzen und Erwartungen überschreitet …«[14]

Auch vor dem Weinstein-Skandal gab es etablierte Grenzen. Jede Form körperlicher Gewalt und expliziter Nötigung war indiskutabel, ebenso die Berührung von primären und sekundären Geschlechtsorganen. Viele andere Verhaltensweisen dagegen, die jetzt als sexual harassement gelten, wurden mehr oder weniger entrüstet hingenommen oder abgeschüttelt, so die berühmt-berüchtigte Hand auf dem Knie, Bemerkungen über Aussehen oder Verbalerotik. Man darf deshalb nicht so tun, als ob alle Normen, die jetzt in Anspruch genommen werden, schon immer maßgeblich gewesen wären, auch wenn sie als moralische Forderung im Raum standen. Im #Me-too-Diskurs werden diese Grenzen jetzt verschoben. Da gilt kein nulla poena sine lege. Eine gelingende Skandalisierung macht eine neue Moral rückwirkend zum Standard.

Es gibt verschiedene Marktplätze für erotisches Kapital. Um die beiden Extreme zu nennen: Auf der einen Seite stehen die langfristigen Beziehungen in Gestalt von Ehe und Lebenspartnerschaft, bei denen die Sexualität in eine allumfassende Beziehung eingebettet ist. Am anderen Ende stehen Spot-Märkte[15] für Prostitution und Pornographie. Der #Metoo-Diskurs betrifft die Marktplätze dazwischen, und zwar hier ganz besonders das Verhalten in Organisationen. Deshalb ist ein Blick in die Forschungsliteratur angezeigt, die sich mit sexuell interpretierbaren Praktiken (siP) in Organisationen befasst.[16]

Zwei neuere Auswertungen dieser Literatur[17] erscheinen mir interessant, wiewohl zu befürchten ist, dass die Autoren wegen einer gewissen Wirtschafts- und Managementnähe, die man nach den Publikationsorten vermuten kann, mit einem schrägen Blick an die Dinge herangehen. Das gilt jedenfalls, wenn sie zunächst festhalten, dass die Forschung von der Auffassung getragen werde, dass siP am Arbeitsplatz grundsätzlich als unerwünscht sei, nicht nur weil sie als Form männlicher Herrschaft gelten, die in modernen demokratischen Gesellschaften keinen Platz haben, sondern auch, weil sie die Produktivität stören und weil sie Anlass zu Klagen wegen Diskriminierung geben können. Wohl als Konsequenz beschränkten sich Studien über siP am Arbeitsplatz auf zwei Aspekte, nämlich auf sexuelle Belästigung von Frauen durch Männer (sexual harassment) und auf Paarbeziehungen (workplace romances).

Wichtig und richtig scheint mir aber doch das Resumee, die Forschung vernachlässige darüber die positive Seite von siP in Organisationen ; immerhin hätten nicht wenige Untersuchungen gezeigt, dass siP auch in Organisationen positive Funktionen hätten, und das nicht nur, weil Organisationen, insbesondere Ausbildungsstätte und Arbeitsplatz, nun einmal die erfolgreichste Umgebung zur Anbahnung von Partnerschaften sind. SiP sind Bestandteil des Eindrucksmanagements, das am Arbeitsplatz üblich oder gar gefordert ist. SiP dienen dazu, sich dem Gegenüber umgänglich, aufgeschlossen und hilfsbereit zu zeigen. Sie bilden eine Möglichkeit, sich selbst positiv darzustellen und das Gegenüber in seinem positiven Selbstbild zu verstärken. Sie können die Stimmung am Arbeitsplatz verbessern und helfen, die nicht selten eher ermüdende und langweilige Tätigkeit zu ertragen. Und auch das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Gruppe und die Kreativität werden verbessert.

Zwei Beobachtungen fügen sich gut in das Marktmodell: Männer interpretieren ein Verhalten von Frauen eher als sexualitätsbezogen als es dem Selbstverständnis der Frau entspricht.[18] Anscheinend verstehen Frauen ihre eigenen siP oft schlicht als Bemühen um ein ästhetisches Selbstbild (meine Erklärung). Zwar üben grundsätzlich Männer ebenso wie Frau siP am Arbeitsplatz. Aber Männer verfügen eher über materielle Ressourcen und Macht als Frauen, die ihr Defizit eher durch siP zu kompensieren versuchen.

Obwohl Aquino u. a. ebenso wie zuvor Watkins u. a. die insgesamt positiven Funktionen von siP in Organisationen hervorheben, wird die Kehrseite nicht unterschlagen. Dazu gehört etwa die Befestigung traditioneller Geschlechterrollen, die Möglichkeit, dass einzelne Personen sich aus einer Gruppe, die sich auf siP versteht, ausgeschlossen sind, und nicht zuletzt die Gefahr, dass unter dem Mantel harmloser siP sexuelle Übergriffe verborgen werden.

Im Ergebnis ist die Bilanz für siP in Organisationen aber positiv, ganz abgesehen davon, dass diese sich ohnehin nicht vollständig kontrollieren ließen.

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[1] Roy F. Baumeister/Dianne M. Tice, The Social Dimension of Sex, 2001, Kapitel 5; Roy F. Baumeister/Kathleen R. Catanese/Kathleen D. Vohs, Is There a Gender Difference in Strength of Sex Drive? Views, Conceptual Distinctions, and a Review of Relevant Evidence, Personality and Social Psychology Review 5, 2001, 242-273; Catherine Hakim, The Male Sexual Deficit: A Social Fact of the 21st Century, International Sociology 30, 2015, 314-335.

[2] Roy F. Baumeister/ Kathleen D. Vohs, Sexual Economics, Culture, Men, and Modern Sexual Trends, Society 49, 2012, 520-524. Dabei handelt es sich um eine Art Update zu dem Buch Roy F. Baumeister, Is There Anything Good About Men?. How Cultures Flourish by Exploiting Men, 2010, das 2012 auch auf deutsch erschienen ist (Wozu sind Männer eigentlich überhaupt noch gut? Wie Kulturen davon profitieren, Männer auszubeuten).

[3] Dazu jetzt neu Roy F. Baumeister/Tania Reynolds/Bo Winegard/Kathleen D. Vohs, Competing for Love. Applying Sexual Economics Theory to Mating Contests, Journal of Economic Psychology, 2017, im Druck. Dieser von den Autoren als Update zu dem Aufsatz von 2004 bezeichnete Text ist allerdings mit seinen kruden evolutionstheoretischen Annahmen und steilen Analogien zum Gütermarkt eher abschreckend. Völlig daneben ist die durchgehende Annahme, dass Frauen sich im Austausch für Sex materiell und durch sozialen Status belohnen lassen. Baumeister und seine Truppe hätten sicher keine Probleme, den #Me-too-Diskurs als kollektive Strategie zur Verteuerung des femininen Angebots auf dem Markt der Geschlechterbeziehungen zu interpretieren.

[4] Begriff wohl von Peter Glick/Susan T. Fiske, The Ambivalent Sexism Inventory: Differentiating Hostile and Benevolent Sexism, Journal of Psrsonality and Social Psychology 70 , 1996, 491-512.

[5] Zitiert nach der Zusammenfassung des Buches in einem Referat auf der Tagung der Nordic Association for Clinical Sexology NACS 2012, S. 27.

[6] Gibt es »erotisches Kapital»? Anmerkungen zu körperbasierter Anziehungskraft und Paarformation bei Hakim und Bourdieu, Gender, Zeitschrift für Geschlecht und Kultur, 2013, Sonderheft 2, S. 57–79.

[7] Thomas Karlauf in der FAZ vom 8. 11. 2011; und von Andreas Schmitz/Hans-Peter-Blossfeld, KZfSS 64, 2012, 836-838.

[8] Pierre Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 183-198.

[9] Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Archiv für Begriffsgeschichte, 6, 1960, 7-142, S. 16.

[10] Eine solche zeichnet sich durch eine Aufregung aus, die in keinem Verhältnis zum Anlass steht und sich damit die gefühlte Bedrohung erst erschafft (Erich Goode/Nachman Ben-Yehuda, Moral Panics. The Social Construction of Deviance, 2. Aufl. 2009).

[11] Kwame Anthony Appiah, Eine Frage der Ehre: oder Wie es zu moralischen Revolutionen kommt, 2010.

[12] Vgl. Hilge Landweer, Ist Sich-gedemütigt-Fühlen ein Rechtsgefühl?, in: Hilge Landweer/Dirk Koppelberg (Hg.), Recht und Emotion I: Verkannte Zusammenhänge, 2017, 103-135, S. 120f.

[13] Landweer S. 124.

[14] Landweer S. 107.

[15] Hakim a. a. O. S. 37. Der feministische Diskurs hat nur diese Spotmärkte als Tauschmärkte im Blick; vgl. Laurie Shrage, Feminist Perspectives on Sex Markets, The Stanford Encyclopedia of Philosophy, 2016.

[16] Ein einschlägiger deutscher Titel wäre Ursula Müller/Birgit Riegraf/Sylvia M. Wilz (Hg.), Geschlecht und Organisation, 2013.

[17] Karl Aquino/Leah Sheppard/Marla Baskerville Watkins/Jane O’Reilly/Alexis Smith, Social Sexual Behavior at Work, Research in Organizational Behavior 34, 2014, 217-236. Vorausgegangen war M. B. Watkins/A. N. Smith/K. Aquino, The Use and Consequences of Strategic Sexual Performances, Academy of Management Perspectives 27, 2013, 173-186.

[18] Zur unterschiedlichen Interpretation von sexualitätsbezogenen Signalen durch Frauen und Männer Barbara A. Gutek/Bruce Morasch/Aaron Groff Cohen, Interpreting Social-Sexual Behavior in a Work Setting, Journal of Vocational Behavior 22, 1983, 30-48.

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Rechtsdidaktik – so schnell ist das gegangen

Vor zehn Jahren konnten wir noch konstatieren, eine Fachdidaktik für die Juristenausbildung sei praktisch nicht vorhanden.[1] Deshalb war Rechtsdidaktik Thema von mehr als einem Dutzend Einträgen auf dem inzwischen eingestellten Blog Recht anschaulich und auch auf diesem Blog. Es gab guten Grund, das Fehlen einer Rechtsdidaktik zu beklagen und es war nicht schwer, ein paar kleine Steinchen in diese Lücke setzen. Dann wurde ab 2009 die Rechtsdidaktik durch das von der  Volkswagen Stiftung und der Stiftung Mercator gemeinsam ausgelobte und mit 10 Mill. EUR dotierte Programm »Bologna – Zukunft der Lehre« zum Selbstläufer. In Hmburg und Passau entstanden einschlägige Zentren. Seither hat die Rechtsdidaktik Konjunktur – und für mich war Schluss mit der Rechtsdidaktik. Erst durch einen Gastbeitrag in diesem Blog (Rezension zu Peter Kostorz, Grundfragen der Rechtsdidaktik von Andreas-Michael Blum) ist mir die Rechtsdidaktik wieder in den Blick gekommen. Nun hat mich auch noch die Anfrage für einen Beitrag zu einem neuen »Handbuch juristischer Fachdidaktik« erreicht. Ich will nicht wieder einsteigen. Aber jedenfalls will ich doch die Konjunktur notieren.

Eine Reihe mit »Schriften zur rechtswissenschaftlichen Didaktik« ist auf 9 Bände angewachsen, der jetzt kommt aus Österreich.[2] Eine zweite, von Bernhard Bergmans herausgegebene Jahrbuchreihe, erscheint seit 2012 im Berliner Wissenschaftsverlag.[3] Von Bernhard Bergmans im selben Verlag ferner 2014 die Monographie »Grundlagen der Rechtsdidaktik« an Hochschulen«. Es soll sich um den ersten Band eines auf vier Bände angelegten Werks handeln.[4] Bei Nomos erscheint seit 2013 eine Zeitschrift für Didaktik der Rechtswissenschaft. Derselbe-Verlag kündigt noch einen »Kompetenztrainer Rechtsdidaktik« an.

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[1] Röhl/Ulbrich, Recht anschaulich. Visualisierung in der Juristenausbildung, 2007, S. 16.

[2] Patrick Warto/Jörg Zumbach/Otto Lagodny/Hermann Astleitner (Hg.), Rechtsdidaktik –

Pflicht oder Kür?, 1. Fachtagung Rechtsdidaktik in Österreich, Baden-Baden 2017.

[3] Bisher fünf Bände, die als »Jahrbuch der Rechtsdidaktik 2012, 2013/14«, »2015« und »2016« betitetelt sind.

[4] Dazu eine eher kritische Rezension von Nora Rzadkowski in ZDRW 2, 2015, 87-91.

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»Recht anschaulich« in New York

Aus dem Feuilleton der Heimlichen Juristenzeitung springt mir heute ein Bild ins Auge, das den Lesern von Rsozblog bekannt vorkommen wird, das Titelbild des Law-Comic »Bound by Law« von Keith Aoki, James Boyle und Jennifer Jenkins.  Um das Bild herum steht der Bericht von Miloš Vec über eine Ausstellung »Law‘s Picture Books: The Yale Law Library Collection« in New York.[1] Parallel dazu gibt es wohl eine weitere Austellung »Around the World with Law’s Picture Books« in der Law Library der Yale Law School selbst, die sich vor allem Exponaten aus anderen Ländern widmet.[2] Die beiden Ausstellungsmacher Michael Widener und Mark S Winer haben einen Katalog verfasst, der bei Talbot Publishing erschienen ist und für 39,95 $ angeboten wird.

So neu und aufregend scheint mir das alles nicht zu sein. Es geht bei den Austellungen wohl eher um ein museales Event, das seine Qualität durch die Kompetenz der Ausstellungsmacher bezieht, die sich auf einen reichen institutionellen Hintergrund stützen können. Der Bilderhype im Recht[3] hat sich wohl erschöpft. Der DTV Bild-Atlas Recht von Eric Hilgendorf, der zu den Ausstellungsstücken gehört, einst ein viel versprechendes Pionierwerk, hat keine Schule gemacht. Das gedruckte Bild ist von gestern. Der visual turn scheint durch den digital turn überholt worden zu sein. Auf dem Bildschirm ist alles Bild. Aber was das genau bedeutet, vermag ich nicht zu erkennen.

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[1] Unser Recht soll schöner werden, FAZ Nr. 237 vom 12. Oktober 2017 S. 14 (anscheinend nicht frei im Internet).

[2] Einige Details erfährt man aus einem Posting des Bibliohekars Mike Widener, der die Ausstellung Mark S. Weiner besorgt hat, sowie in einem Posting auf dem Legal History Blog.

[3] Den ich selbst mit einem Projekt zur visuellen Rechtskommunikation mit angeheizt hatte.

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Freirecht und rabbinische Interpretationskultur. Zu einer These von Marietta Auer

Ancilla Juris hatte im Oktober 2016 drei Arbeiten zur rabbinischen Interpretationskultur veröffentlicht.[1] Sie waren für mich Anlass, noch einmal Marietta Auers Abhandlung »Der Kampf um die Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft – Zum 75. Todestag von Hermann Kantorowicz«[2] zu lesen. Kantorowicz hat verglichen mit seinen »weitgehend auserforschten Zeitgenossen« (S. 804) Kelsen, Radbruch und Hart in der Tat eine neue Würdigung verdient, und zwar nicht nur als Wiedergutmachung für das ihm in Kiel widerfahrene Unrecht. Ich habe selbst als Student in Kiel noch die Reste der »Stoßtruppfakultät« in der Person von Georg Dahm und Karl Larenz erlebt. Dahm war ein begeisternder Redner, für den kein Hörsaal groß genug war. Larenz schaffte es, jeden Hörsaal leer zu predigen. Aber sein »Schuldrecht« war uns Offenbarung. Aus heutiger Sicht bedrückt mich unsere oder meine politische Naivität. Wir wussten zwar, dass Kantorowicz (und Radbruch) von den Nazis aus Kiel vertrieben worden waren. Aber wir kamen gar nicht auf die Idee, von Dahm oder Larenz handfest Rechenschaft zu fordern.

Als einzige Wiedergutmachung, die für Kantorowicz heute noch möglich ist, bleibt die wertschätzende Auseinandersetzung mit seinem wissenschaftlichen Werk, wie Auer sie unternommen hat. Auers Kantorowicz-Interpretation wird zwar kaum verhindern, dass sein Werk nur noch als Zitatenschatz geplündert wird. Nicht jeder will oder kann selbst immer wieder die Klassiker lesen, auf deren Schultern die heutige Jurisprudenz steht. Aber Auers Referat und Würdigung sind da ein guter Ersatz.

Meine Zustimmung endet allerdings bei der Art und Weise, in der Auer Grundgedanken der Freirechtslehre von Kantorowicz als Angriff auf die »Legitimationskraft gebundener Rechtsanwendung« (S. 794) interpretiert. Den Schlüssel findet sie im jüdischen Recht, dem sie das Paradigma einer transnationalen Rechtsordnung entnimmt (S. 789), um in der Freirechtslehre von Kantorowicz die »Theorie eines interpretativen Rechtspluralismus« (S. 797) zu entdecken. Das ist eine ebenso starke wie unhaltbare These.

Man kann schon darüber streiten, ob es überhaupt angebracht ist, für die Würdigung einer wissenschaftlichen Leistung auf die jüdische Abstammung des Autors zu verweisen[3] oder ob es nicht besser wäre, das Werk aus sich heraus zu verstehen und zu würdigen, das um so mehr, als sich Kantorowicz selbst vom Judentum losgesagt hatte. Nachdem aber mit dem gehörigen Atlantic lag von über 20 Jahren der turn to the jewish legal model[4] auch Deutschland erreicht[5] hat, lag auch in seinem Falle der Rückgriff auf jüdische Theologie und Interpretationspraxis nahe.

Für die Rechtstheorie ist der Rückgriff auf jüdisches Recht wie auch auf andere religiöse Rechte von vornherein prekär. Anleihen bei bekenntnisgebundenen Theologien, seien sie nun jüdisch oder christlich, muslimisch oder hinduistisch, sind schlechte Vorbilder, denn für Pluralismus aller Art waren und sind die Religionen – jedenfalls pauschal und aus der Distanz betrachtet – ein Desaster. Sie eignen sich schon gar nicht als Kontrast zu einer sich als gebunden verstehenden Gesetzesauslegung, ist doch die Bindung an den göttlichen Gesetzgeber stärker noch als diejenige an den säkularen, und der Umgang mit den heiligen Büchern spottet allen texttheoretischen Einsichten.

Bei der Rezeption fremddisziplinärer Gedanken zur Leitfähigkeit von Texten haben Juristen schon öfter tüchtig übertrieben. Das gilt sowohl für die Sprachphilosophie wie für die verschiedenen Rezeptionstheorien[6]. Zu Übertreibungen führt auch die Rezeption jüdischer Modelle durch die Rechtstheorie. Aber der Rückgriff auf das jüdische Recht ist en vogue, denn hier glaubt man, ein historisches Beispiel für »ein Recht ohne Staat, ja gegen den Staat«[7] zu finden, und zwar ein Beispiel, dem, weil es jüdisch ist, eine Aura[8] eigen ist.

Auer gründet ihr Argument auf die berühmte Parabel vom Ofen des Achnai. Darin geht es um die als solche absolute und unbestrittene Autorität Gottes, die aber nicht greifbar ist, so dass die Auslegung seines Gesetzes den menschlichen Interpreten überlassen ist. Als solche haben sich alsbald die Rabbiner[9] etabliert, die nach Ortsgemeinden organisiert sind und, jedenfalls im Prinzip, keine Hierarchie kennen. Dazu kommt das Mehrheitsprinzip. In der Parabel bringt Rabbi Josua die Sache auf den Punkt: »Wir achten auf keine Stimme des Himmels, denn in deinem Gesetzbuch auf dem Berge Sinai hast du (Gott) selbst gelehrt: ›Nach der Menge (Stimmenmehrheit) sollst du dich neigen.‹[10]« Ohne Nachhilfe von Rabbi Josua hätte ich die einschlägige Bibelstelle genau umgekehrt als Warnung vor dem Mehrheitsprinzip verstanden. Tatsächlich gilt aber im Judentum wohl bis heute das Prinzip der Mehrheit und der weitgehenden Autonomie der Rabbiner vor Ort[11].

Diese jüdische Tradition der pluralen Interpretation mag innerjüdisch relativ erfolgreich (gewesen) sein. Stone, auf die Auer sich mehrfach bezieht, meint allerdings, es werde da eher ein Wunschbild gezeichnet, und selbst ein genaueres Bild sei auf eine säkulare Gesellschaft kaum übertragbar. Die Realität des Judentums ist wohl immer noch näher an dem Gebot der strikten Wortauslegung, die dem 5. Buch Mose Kap 4 Vers 2 entnommen wird (vgl. Auer bei Fn. 84). Es bedarf keiner »paradoxen« autoritativen Verweisung[12], um das säkulare Gesetz der interpretatorischen Vernunft zu öffnen. Es ist kein Zufall, dass eine (m. E. falsch verstandene[13]) Digestenstelle zum Motto der Freirechtsschule geworden ist: »Non ex regula ius sumatur, sed ex iure quod est regula fiat«. Die »richtige Interpretation« von Bibel, Talmud oder Koran »wäre eine versteckte Form der Verkörperung der Stimme Gottes, die niemals anwesend sein kann«[14]. Der staatliche Gesetzgeber ist dagegen nicht, wie Auer sagt, »radikal abwesend« (S. 795), sondern im Gegenteil in vieler Hinsicht anwesend.

Im Zusammenhang mit dem Freirecht weckt die Parabel vom Ofen des Achnai falsche Konnotationen, denn ihr liberaler Geist hat die Entwicklung des orthodoxen Judentums zu einer autoritätsgläubigen Gesetzesreligion nicht verhindert. Dazu haben vor allem kanonische Texte und einer Hierarchie der Auslegungen beigetragen.[15] In Thora, Mischna und Talmud sind dem jüdischen Recht Autoritäten erwachsen, auf die Kantorowicz‘ Methodenkritik leicht übertragen werden könnte.

In der Kollision mit nichtjüdischen Pluralitäten war rabbinische Interpretation ohnehin machtlos. Angesichts des talmudischen Dina-de-Malchuta-Dina Prinzips[16] liegt es besonders fern, jüdische Interpretationstraditionen für die Rechtstheorie heranzuziehen. Schon gar nicht taugen sie zum Beleg, dass tatsächlich ein transnationaler oder sonst irgendein Rechtspluralismus ohne hierarchische Bindung heranwächst. Der Verweis auf das jüdische Rechtsmodell hilft jedoch, an dem Phantom einer Staatlichkeit zu bauen, das in der Diskussion eine ähnliche Funktion einnimmt wie die Contra-legem-Fabel für die Freirechtsschule. In der Regel trägt dieses Phantom heute den Namen epistemischer Etatismus. Bei Auer handelt es sich um »das das herkömmliche Modell der Begründung rechtlichen Sinns durch staatszentrierte, autoritative Normsetzung und an deren Legitimationskraft gebundene Rechtsanwendung« (S. 794).

Es mag ja sein, dass die rabbinische Interpretationskultur über »vernunftbegründende Qualität« (S. 796) verfügt. Es ist aber nicht einzusehen, warum die Bemühung um Gesetzesnähe »Irrationalität und Richterwillkür« (S. 796) bedeuten sollen. Gesetzesbindung und interpretatorische Vernunft sind keine Gegensätze. Das Bemühen um Gesetzesnähe bleibt weit hinter dem theologischen Anspruch auf eine letztlich göttlich autorisierte Auslegung zurück. In diesem Sinne meint Stone S. 821, das rechtstheoretische Interesse an jüdischem Recht ignoriere dessen religiöses Element. Ein jüdisches Gesetz »in Abwesenheit göttlicher Autorität« ist schwer vorstellbar. Man könnte vielleicht erwidern, dass dieser Einwand den Witz der Parabel vom Ofen des Achnai verfehlt. Mit Stone (S. 818) würde ich darauf replizieren, dass die Parabel in der Tat für ein liberales Rechtsmodell steht, dass die Rechtstheorie in der jüdischen Tradition aber viel eher ein Gegenmodell vorfindet.

Was den Angriff auf das von ihm so genannte Werkzeugdogma betrifft, hat Kantorowicz auf ganzer Linie gesiegt, so dass es keiner Stützung durch die Ofen-Parabel bedarf. Interessant ist heute vielmehr, wie denn positiv die auch von Kantorowicz als solche nicht geleugnete Richterbindung (S. 785f, 797) ausgefüllt werden kann. Dazu hat Philipp Heck wohl doch mehr beigetragen, als Auer (S. 798f) ihm konzediert. Während Auer 2008 zum 150. Geburtstag von Philipp Heck die von Heck dem Richter zugebilligte Freiheit »frappierend« nannte, spricht sie nun von der »strikt auf Richterbindung im Sinne der subjektiven Theorie bedachten Interessenjurisprudenz« (S. 798). Während Auer 2008 noch Hecks Leistung als »die bis heute unangreifbare wissenschaftliche Fundierung der juristischen Methodenlehre auf empirisch-rationaler Basis« gewürdigt hatte, erfahren wir jetzt, die Interessenjurisprudenz sei »korrumpierbar«, soweit sie ihre Ergebnisse dem Willen des Gesetzgebers zuschreibe. Der kurze Absatz, in dem Kantorowicz 1928 auf die Interssenjurisprudenz eingeht[17], lässt sich schwerlich als »konsequente Abgrenzung Kantorowicz’ gegenüber der Interessenjurisprudenz … deuten« (S. 799 Fn. 90). Muschelers Darstellung[18], auf die Auer als »differenzierend zum Verhältnis zwischen Freirecht und Interessenjurisprudenz« verweist, zeigt viel eher, dass Kantorowicz letztere nicht voll gewürdigt hat.

Auers Gewährsmann für die Relevanz jüdischer Rechtskultur für moderne Rechtstheorie ist Robert M. Cover[19]. Cover hat ganz fraglos die Aufmerksamkeit der Rechtstheorie auf das jüdische Recht gerichtet. Covers Ausgangspunkt in »Nomos and Narrative« ist, sieht man von der Wortwahl ab (Nomos, normatives Universum, Jurisgenesis, Narrative, jurispathisch), leidenschaftlich oder gar pathetisch vorgetragen, in der Sache aber nicht wirklich originell. Dass »staatliches Recht stets nur einen Teil des … ›normativen Universums‹ ausmacht (S. 795), wer wollte das bestreiten? Aber Cover überhöht das Universum normativer Sinnsphären, indem er ihm den mit Konnotationen gesättigten Namen Nomos verleiht. So scheinen kulturelle und religiöse Ordnungen mit staatlichem Recht auf Augenhöhe miteinander zu konkurrieren. Augenhöhe ist der falsche Ausdruck, denn er impliziert gleiche Qualität und Würde. An beidem mag das staatliche Recht außerrechtlichen Ordnungen oft unterlegen sein. Und in vielen Einzelfällen mag man beklagen, dass staatliches Recht gesellschaftliche Sinnvorstellungen bedrängt. Aber viel stärker bedrängen sich gesellschaftliche Sinnvorstellungen gegenseitig. Es gibt wohl Enklaven gesellschaftlicher Selbstorganisation und Rechtsbildung. Die Rechtssoziologie ist seit Jahrzehnten danach auf der Jagd, ihre Beute kümmerlich.

Bei der Auseinandersetzung mit literaturwissenschaftlichen Rezeptionstheorien bin ich auf Louise Rosenblatt[20] gestoßen, die in den USA mindestens so renommiert ist wie Stanley Fish. (Autorität ist ein Argument.) Sie weist auf die Interessen und Absichten hin, die der Leser an einen Text heranträgt. Handelt es sich um ein praktisches Leseinteresse, so lässt sich der Text durchaus als Informationsquelle nutzen. Dagegen geht Auer davon aus, dass eine subjektive Auslegung zwangsläufig mit einem fundamentalistischen Autoritätsinteresse verbunden sei. Das mag ja gelegentlich (immer noch) zutreffen. Aber zentral dürfte heute der Glaube an die Legitimationskraft der Funktionalität einer gebundenen Rechtsanwendung sein.

Heute haben mehr oder weniger alle Juristen – auch von Kantorowicz – gelernt, ihre Interpretationsleistung nicht hinter autoritärer Beglaubigung zu verstecken. Der Streit hat sich auf die Frage verlagert, ob das Recht in dem Sinne »Teil eines normativ pluralistischen Sinnuniversums ist«, »dass der Kanon der Rechtsquellen … mehr umfassen muss als formelles und materielles staatliches Recht.« Diese Frage würde ich im Sinne eines »weichen« oder »state legal pluralism« (Michaels[21], Twining[22]) beantworten.[23] Nur eine ordnende Hierarchie ist in der Lage, einen positiven Pluralismus zu bewahren. Positiver und negativer Pluralismus (David E. Apter)[24], das ist der Gegensatz, auf den zu konzentrieren sich heute lohnen könnte.

Nachtrag vom 10. 11. 2017: An der Universität in Kiel gibt es ein Hermann Kantorowicz-Institut für juristische Grundlagenforschung. Das veranstaltet am 17. und 18. November 2017 eine  Internationale Tagung – Hermann Kantorowicz’ Begriff des Rechts und der Rechtswissenschaft. Ein Manuskript von Ino Augsberg über »Hermann Kantorowicz und die Freiheit des Rechts« soll 2018 in dem Band »350 Jahre Rechtswissenschaftliche Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel« bei Mohr Siebeck erscheinen. Darin setzt sich Augsberg kritisch mit Mariettas Auers Aufsatz von 2015 auseinander.

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[1] Ronen Reichmann, Autorität, Tradition, Argumentation bei der Formierung des rabbinischen Rechtsdiskurses, Ancilla Iuris , 2016, 87-110; Karl-Heinz Ladeur, Report zu Ronen Reichman »Autorität, Tradition, Argumentation bei der Formierung des rabbinischen Rechtsdiskurses«, Ancilla Iuris , 2016, 111-120; Daniel Loick, Report zu Ronen Reichman »Autorität, Tradition, Argumentation bei der Formierung des rabbinischen Rechtsdiskurses«, Ancilla Iuris 2016, 121-132.

[2] ZEuP 2015, 773-805. Darauf beziehen sich die Seitenangaben im Text.

[3] Wie 1936 der von Auer (S. 790) deshalb gerügte Philipp Heck in dem Aufsatz »Die Interessenjurisprudenz und ihre neuen Gegner« (AcP 142, 129-202).

[4] Suzanne Last Stone, In Pursuit of the Counter-Text: The Turn to the Jewish Legal Model in Contemporary American Legal Theory, Harvard Law Review 106, 1993, 813-894.

[5] Karl-Heinz Ladeur/Ino Augsberg, »Der Buchstaben tödtet, aber der Geist machet lebendig«? Zur Bedeutung des Gesetzesverständnisses der jüdischen Tradition für eine postmoderne Rechtstheorie, Rechtstheorie 40, 2009, 431-471; dies. (Hg.), Talmudische Tradition und moderne Rechtstheorie, Kontexte und Perspektiven einer Begegnung, 2013; Andreas Fischer-Lescano, Regenbogenrecht. Transnationales Recht aus den »Quellen des Judentums«, in: Julia König und Sabine Seichter (Hg.), Menschenrechte. Demokratie. Geschichte. Transdisziplinäre Herausforderungen an die Pädagogik (2014).

[6] Zu Aufnahme literaturwissenschaftlicher Rezeptionsheorien in der Rechtswissenschaft vgl. die Einträge vom 25. Mai 2015 (Ein Carl Schmitt der Literaturwissenschaft und die Rechtstheorie: Hans Robert Jauß), vom 1. Juni 2015 (Konvergenzen und Divergenzen zwischen juristischer Methodenlehre und Literaturtheorie), vom 29. Juli 2015 (Zur Konvergenz von Rezeptionsästhetik und Reader-Response-Theorie) und vom 12. August 2015 (Zur Rezeption literaturwissenschaftlicher Rezeptionstheorien durch die Rechtstheorie).

[7] Marc Amstutz/Vaios Karavas (Rechtsmutation. Zu Genese und Evolution des Rechts im transnationalen Raum, Rechtsgeschichte 8, 2006, 14-32) finden im jüdischen Recht ein Modell für alternatives Recht, insbesondere für transnationales Recht. Ähnlich Thomas Vesting, Rechtstheorie als Medientheorie (Supplement I), Ancilla Juris 2010, 47-88, S. 48.

[8] »Aura« ist selbst ein durch Walter Benjamin jüdisch konnotierter Begriff, der längst seinerseits eine Aura erworben hat, von der vermutlich jeder, der sie anführt, profitiert. Und der Begriff bleibt, auch wenn man noch einmal Benjamins Text nachliest, so offen, dass sich jeder seinen eigenen Reim darauf machen kann. Mein Reim ist eine emotional positiv besetzte Faszination, die freilich vor der Strenge der Orthodoxie Halt macht.Darin hat mich zuletzt »Die Hochzeit der Chani Kaufman« von Eve Harris bestärkt.

[9] Ihre Kompetenz leiten sie aus dem 5. Buch Mose 17, 8-11, her.

[10] Gemeint ist 2. Mose 23, 2. In der so genannten Einheitsübersetzung: »Du sollst dich nicht der Mehrheit anschließen, wenn sie im Unrecht ist, und sollst in einem Rechtsverfahren nicht so aussagen, dass du dich der Mehrheit fügst und das Recht beugst.«

[11] Eine kurze Darstellung, die gleichfalls an die Geschichte vom Ofen des Achnai anknüpft, gibt die Rabbinerin Gesa Ederberg in der Jüdischen Allgemeinen vom 28. September 2014: »Es gibt keine direkte Offenbarung Gottes in der Gegenwart. Mit der Zerstörung des Tempels hat die direkte Prophetie aufgehört. Zum anderen wird das Mehrheitsprinzip innerhalb der rabbinischen Kreise etabliert. Es gibt keinen Großrabbiner, der alles entscheiden kann, wie es ja auch keinen Sanhedrin, keinen obersten Gerichtshof mit Autorität über alle, mehr gibt. Bis heute gilt im Judentum das Prinzip der Mehrheit und der weitgehenden Autonomie des Rabbiners oder der Rabbinerin vor Ort.«

[12] Auer S. 794; Daniels S. 132.

[13] Dazu der Eintrag vom 11. Noember 2015 Das Motto des Freirechts: »Non ex regula ius sumatur, sed ex iure quod est regula fiat«.

[14] Ladeur/Augsberg, Rechtstheorie 40, 2009, 431/442.

[15] Justus von Daniels, Religiöses Recht als Referenz, 2009, S. 138ff.

[16] Rabbiner Jehoschua Ahrens, Dina de Malchuta Dina, Religiöse Begriffe aus der Welt des Judentums (2014): »Das talmudische Prinzip Dina-de-Malchuta-Dina (»das Gesetz des Landes ist Gesetz«) schreibt vor, dass Juden grundsätzlich verpflichtet sind, die Gesetze des Landes, in dem sie leben, zu respektieren und zu befolgen. Das bedeutet auch, dass diese in bestimmten Fällen sogar der Halacha, dem jüdischen Gesetz, vorzuziehen sind.«

[17] Hermann U. Kantorowicz/Edwin W. Patterson, Legal Science – A Summary of Its Methodology, Columbia Law Review 28, 1928, 679-707, S. 706f.

[18] Karlheinz Muscheler, Relativismus und Freirecht. Ein Versuch über Hermann Kantorowicz, 1984, S. 142-151.

[19] Ihm habe ich bereits zwei Einträge gewidmet: Robert M. Cover und seine Jurisprudenz der Leidenschaft und des Widerstands, Teil I und Teil II.

[20] Eintrag vom 29. Juli 2015, insbesondere bei Fußn. 10.

[21] Ralf Michaels, The Re-State-ment of Non-State-Law: The State, Choice of Law, and the Challenge from Global Legal Pluralism, Wayne Law Review 51, 2005, 1209-1259.

[22] William Twining, Globalisation and Legal Theory, 2000, S. 225; ders., Normative and Legal Pluralism: A Global Perspective, Duke Journal of Comparative and International Law 20, 2010, 473-517.

[23] Als Vorläufer kann man lesen Robert Scheyhing, Pluralismus und Gneralklauseln – betrachet auf dem Hintergrund geellschaftlichen Wandels, 1976.

[24] Dazu der Eintrag Die Einfalt der Vielfalt: Von der organischen zur normativen Solidarität.

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Toilettengerechtigkeit

Als wir vor vielen Jahren mit unseren Kindern den Justizpalast in Brüssel besichtigten, suchten wir nach einer Toilette. Nach vielen Fragereien und langen Irrwegen fanden wir sie schließlich im Untergeschoss; einen Raum mit Dimensionen, die dem Palast in jeder Hinsicht entsprachen. Und an der Wand ein Graffito: Hoffentlich ist die Gerechtigkeit in diesem Hause nicht so versteckt wie die Toiletten.

Vor der Bundestagswahl ist Festivalzeit. Da springt an vielen Veranstaltungsorten immer wieder Toilettenungerechtigkeit ins Auge. Notorisch dafür ist das Festspielhaus in Recklinghausen. Während die Männer in den Pausen flüssig ihre Geschäfte erledigen, drängen vor den Damentoiletten druckvoll die Warteschlangen.[1] Man darf die Toilettengerechtigkeit nicht auf Geschlechtergerechtigkeit reduzieren. Die Schultoilette ist zum Wahlkampfschlager geworden.[2] In vielen Ländern der Welt bedeuten unzureichende Toiletten ein Hygieneproblem, und aus Indien hört, man, dass dort immer noch viele Menschen gezwungen sind, ihre Notdurft am Rande des Tages am Rande der Straßen zu verrichten. Doppelte Ungerechtigkeit ruft der Anthropozentriker, steht doch hierzulande nur den Hunden, nicht aber den Menschen der Straßenrand offen.

Den Anstoß, über Toilettengerechtigkeit nachzudenken, gab die Ankündigung einer Sendung über Einkaufsgerechtigkeit im WDR. Geschlechtergerechtigkeit und Generationengerechtigkeit sind geläufig. Jetzt braucht es nur noch wenig Phantasie, um einen ganzen Strauß von Gerechtigkeitsblüten zusammenzustellen. Er könnte Dieselgerechtigkeit und Parkplatzgerechtigkeit[3] enthalten, Fußballgerechtigkeit oder – last, not least – Golfgerechtigkeit. Für Dieselgerechtigkeit setzt sich Ministerpräsident Laschet ein. Die Fußballgerechtigkeit hat durch die Einführung des Video-Assistenten erheblich gewonnen. Für die Golfgerechtigkeit gibt es noch einiges zu tun, nachdem der Kanzlerkandidat einer großen Partei uns hat wissen lassen, ihn interessierten Golffahrer mehr als Golfspieler. Da schließt sich der Kreis. Manche Golfplätze sind anscheinend nur für Männer bestimmt, obwohl dort Damenabschläge eingerichtet sind. Für Männer gibt es überall Bäume und Büsche, für Damen Trinkdisziplin.

Man kann die Sache ins Lächerliche ziehen. Aber sie hat einen ernsten Hintergrund. Die eine ungeteilte Wahrheit war einst das Ziel der Wissenschaft. Die eine Gerechtigkeit war der Leitstern des Rechts. Postmoderner Perspektivismus hat die Wahrheit fragmentiert. Mit dem Ruf nach sozialer Gerechtigkeit begann die Fragmentierung der Gerechtigkeit. Mit der Geschlechter-gerechtigkeit nahm sie ihren Fortgang. Nun gibt es wohl kein Halten mehr. Gerechtigkeitsperspektiven haben die Fragen nach sozialer Ungleichheit, nach Diskriminierung, Macht und Herrschaft verdrängt. Gerechtigkeit hat ein wenig von ihrem Glanz als Sehnsuchtsort verloren.

Nachtrag vom 9. 9. 2017: War ich doch sicher, die Toilettengerechtigkeit erfunden zu haben. Aber sie war schon von anderer Seite entdeckt worden.

 

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[1] Das Problem ist natürlich nicht neu. Vgl. etwa Rainer Erdinger, Der kleine Unterschied, Süddeutsche Zeitung Magazin 33/2016.

[2] Corinna Budras, Wer traut sich auf das Schulklo?, FamS Nr. 34 vom 27. 8. 2017 S. 19.

[3] In Bochum soll demnächst das neue Justizzentrum eröffnet werden. Aus diesem Anlass schreibt ein Leser an die WAZ: »Da wir alle vor Gericht gleich sind, ob Richter, Schreibkraft oder Angeklagter, sollen wir doch auch alle gleiches Anrecht auf einen Parkplatz haben. Oder ist dieses Recht vor Gericht nicht anzuwenden?«

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