Wirtschaftsnobelpreis – Ein Fall für Hart und Holmström: Ista und Techem

Bengt Holmström (der in dem ersten Eintrag zum Wirtschaftsnobelpreis vom 11. Oktober 2016 etwas zu kurz gekommen ist) arbeitet seit der Finanzkrise von 2008 wohl eher über Theorie der Finanzmärkte, die für Juristen weniger interessant erscheint.[1] Hier seien daher nur einige ältere Arbeiten zum Principal-Agent-Problem und zur Firma – und damit zur Ökonomischen Vertragstheorie –angeführt[2]:

Moral Hazard and Observability, The Bell Journal of Economics, 1979, 74-91

Aggregation and Linearity in the Provision of Intertemporal Incentives, Econometrica 55, 1987, 303-328 (mit Paul Milgrom)

The Theory of the Firm, in: Handbook of Industrial Organization, 1989, 63-133 (mit Jean Tirole)

Multitask Principal-Agent Analyses: Incentive Contracts, Asset Ownership, and Job Design, Journal of Law, Economics, and Organization 7, 1991, Sonderheft S. 24-52

The Firm as an Incentive System, The American Economic Review 84, 1994, 972-991 (mit Paul Milgrom)

The Boundaries of the Firm Revisited, Journal of Economic Perspectives 12, 1998, 73–94 (mit John Roberts)

Managerial Incentive Problems: A Dynamic Perspective, The Review of Economic Studies 66, 1999, 169-182.

In diesen Arbeiten geht es – ähnlich wie bei Hart – in erster Linie um Anreizverträge. Die sind für die Rechtswissenschaft reizvoller, mag sie auch für die modellhafte Formalisierung und Mathematisierung keine Verwendung haben. Thema sind insbesondere Kontrolle und Motivation von Managern, die mit fremdem Eigentum wirtschaften. Hintergrund ist die Annahme von prinzipiellen Zielkonflikten zwischen einem angestellten Manager (agent) und dem Eigentümer (principal). Manager wollen nicht nur verdienen, sondern ihre Machtfülle steigern. Deshalb sind sie geneigt, die Firma über eine für Produktion und Vertrieb optimale Größe hinaus zu expandieren und/oder ihre Macht durch Unternehmenskäufe oder Zusammenschlüsse zu stärken. Unter der weiteren Prämisse, dass es gilt, den shareholder value zu maximieren, wird nach optimalen Gestaltungen für die Motivierung und Kontrolle angestellter Manager gesucht. Wenn Hierarchie als Gestaltungsmittel ausscheidet, sind explizite und implizite Verträge das Mittel der Wahl.

In diesen Tagen nun wird in der Wirtschaftspresse eine Konstellation ausgebreitet, zu der man gerne eine Ausarbeitung der Laureaten hätte. Die Firmen Ista und Techem, die ihr Geschäft mit der Ablesung von Heizkostenverteilern machen, präsentieren sich als Übernahmekandidaten. Dabei zeigen sie Gewinnquoten von mehr oder weniger 40 % vor. So wird das Geschäftsmodell der beiden beschrieben[3]:

»Ablesedienste erfassen in Mehrparteienhäusern den Heizenergie-, oft zudem den Wasserverbrauch je einzelner Wohnung. Sie schicken den Vermietern oder Hausverwaltern die Rechnungen. Die aber holen sich die Ausgaben von den Bewohnern zurück, einschließlich der Ablesekosten. Diejenigen, die am Ende zahlen, verhandeln also nicht die Verträge – der Vermieter hat einen schwächeren Anreiz, hart zu verhandeln.«

Hier hanelt es sich um eine Vertragskette, bei der die Rechtsbeziehungen anders liegen, als im Verhältnis zwischen principal und agent. Aber der principal, hier der Bewohner, ganz gleich ob selbst (Wohnungs-)Eigentümer oder Mieter, ist dem Paktieren des Vermieters oder Verwalters mit dem Ableser ziemlich hilflos ausgeliefert. Da wäre es interessant, wenn die Laureaten Vorschläge für vertragliche Anreizsysteme machen könnten. Tatsächlich müssen die Beteiligten aber wohl auf das längst fällige Machtwort des Kartellamts warten.

[1] Bengt Holmström/Jean Tirole, Inside and Outside Liquidity, 2011

[2] Lebenslauf und Publikationsverzeichnis von Bengt Holmström findet man auf der Webseite des MIT. Viele Titel sind im Netz frei zugänglich.

[3] FAZ vom 20. 10. S. 18: »45,8 Prozent Rendite fürs Ablesen« [nur im zahlungspflichtigen Archiv].

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Was ist so schlimm an dem Selbstmord eines Selbstmordattentäters?

Die Aufregung nach dem Selbstmord Jaber Albakrs ist groß. Früher hätte man vielleicht gesagt, der Täter habe sich selbst gerichtet. Wenn der CDU-Politiker Bosbach im Interview erklärt, durch den Selbstmord sei die Möglichkeit zu weiterer Aufklärung entfallen[1], so ist diese Äußerung der wahre Grund zur Empörung. Da hätte er auch sagen können, durch den Selbstmord Albakrs blieben dem Staat Hunderttausende für Vollzugs- und Verfahrenskosten erspart.

Tatsächlich geht es hier um das gängige politische Spiel, in dem die Opposition jede Möglichkeit zur Kritik an der Regierung ausschöpft und die Medien die Partei der Opposition ergreifen. Das ist vollkommen in Ordnung so. Aber interessant ist es doch, wie sich ein Fall zum Skandal aufschaukelt.[2] Die Schaukel erhält den Schwung mit einiger Sicherheit daher, dass Sachsen wegen Pegida und wegen der Vorfälle am 3. Oktober in Medienverschiss geraten ist.[3]

Was das Recht betrifft, so ist klar: Aus Art. 2 GG folgt eine allgemeine Schutzpflicht des Staates für menschliches Leben. Die Schutzpflicht gilt grundsätzlich auch im Falle der Selbstgefährdung durch Suizidabsichten. Suizid ist zwar rechtlich nicht verboten, aber wird doch so sehr missbilligt, dass ein Suizidversuch als Unglück i. S. von § 323c StGB angesehen wird, mit der Folge, dass unterlassene Hilfeleistung strafbar ist. Besteht eine Garantenstellung, so kommt sogar ein Tötungsdelikt in Betracht.

Es ist auch nicht zweifelhaft, dass die Strafvollzugsbeamten aus ihrer amtlichen Stellung gegenüber den sonst praktisch hilflosen Gefangenen, die sich zudem noch in einer psychischen Ausnahmesituation befinden, eine Garantenpflicht haben, sie vor Schaden an Leib und Leben zu bewahren. Das gilt auch bei erkennbarer Suizidgefahr.

Für den Normalbürger und wohl auch für den Normal-Kriminellen bedeutet die Untersuchungshaft einen Schock. Deshalb ist Suizidgefahr ist in den ersten Tagen der Untersuchungshaft allgemein höher. Der Normalbürger kann sich allerdings schwer vorstellen, dass jemand, der ein Selbstmordattentat vorbereitet hat, sich von der Untersuchungshaft gleichermaßen erschrecken lässt. Ein medienbekannter Kriminologe begründet im akuten Fall eine hochgradige Selbstmordgefahr damit, dass Albakr einen Heldentod sterben wollte.[4] Da hat auch der Kriminologe nur als Normalbürger geurteilt. Die Anstaltspsychologin hatte da ein besseres Urteil, obwohl ihr insoweit Erfahrungen mit Terroristen fehlten. Wenn sie keine gesteigerte Suizidgefahr sah, spricht das dafür, dass Albakr nicht unter Schock stand.

Es ist nicht Sache der Strafvollzugsbehörde, den Suizid von Gefangenen absolut zu verhindern. Soweit geht die Garantenpflicht der Vollzugsbehörde nicht. Nach § 101 Abs. 1 Satz 2 des Strafvollzugsgesetzes ist sie zu Zwangsmaßnahmen zum Gesundheitsschutz nicht verpflichtet ist, solange von einer freien Willensbestimmung des Gefangenen ausgegangen werden kann. Bei Suizidgefahr darf die Vollzugsbehörde nicht wegsehen. Aber ausnahmsweise darf sie sogar zusehen, wenn ein Gefangener im Hungerstreik verfügt hat, dass ihm auch nach Eintritt der Bewusstlosigkeit nicht geholfen werden soll, denn sie ist bei einem Hungerstreik zur Zwangsernährung berechtigt[5], aber nicht verpflichtet[6]. Wer planmäßig über längere Zeit einen Selbstmordanschlag vorbereitet, dem kann die hinreichende Urteilsfähigkeit schwerlich abgesprochen werden, es sei denn, man wollte sich auf eine allgemeine Determinismusdiskussion einlassen.[7]

Unabhängig vom Einzelfall gilt, dass in den Anfangstagen der Untersuchungshaft erhöhte Suizidgefahr gilt. Bei Albakr hat man mehr getan als im Regelfall. Was hätte die Vollzugsbehörde noch mehr tun sollen? Dauerbeobachtung, Fesselung, Notgemeinschaft mit anderen Gefangenen oder Medikation? Nach allem, was inzwischen bekannt geworden ist, wurden angemessene Vorkehrungen getroffen.

Nun hat Albakr, der eigentlich einen Heldentod sterben wollte, mit seinem Selbstmord – mit oder ohne Absicht – nur noch die Justiz beschämt. Darüber sollte man sich nicht mehr beklagen, als über jeden anderen Gefangenenselbstmord. Von 2000 bis 2015 gab es in deutschen Gefängnissen 1189 Suizide.[8] Jeder einzelne dieser Menschen war und ist so viel wert wie Jaber Albakr.

[1] WDR 5 am 13. 10. Entsprechend heißt es heute in der Zeitung »Fragen zu seinen mutmaßlichen »Terrorplänen und möglichen Hintermännern bleiben damit vermutlich offen.« (WAZ S. 1)

[2] Zum Justizskandal immer noch interessant Oliver Castendyk, Rechtliche Begründungen in der Öffentlichkeit. Ein Beitrag zur Rechtskommunikation in Massenmedien, 1994.

[3] Typisch der Kommentar von Florian Gathmann auf Spiegel-online: Failed Freistaat.

[4] Focus-online vom 14. 10. 2016.

[5] Vgl. das Informationsblatt zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) von Juni 2014.

[6] Zur Diskussion in der Schweiz  vgl. Informationsplattform Humanrights.ch

[7] In einem Bericht über Suizidprävention im Gefängnis auf Deutschlandradio Kultur wird ein Staltspsychologe zitiert mit der ußerung,

[8] der WAZ vom 14. 10. 2016 S. 4; vgl. auch die Zahlen von Statista für 2000 bis 2004 und von Focus-online vom 8. 11. 2009..

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Wirtschaftsnobelpreis für zwei Vertragstheoretiker – muss die Rechtstheorie interessieren

Der Wirtschaftsnobelpreis für die Ökonomen Oliver Hart und Bengt Holmström macht darauf aufmerksam, dass es etwas zu lernen gibt. Soweit ich sehe, hat die Rechtstheorie das opus der beiden noch nicht rezipiert. In den einschlägigen Paragraphen von Rechtssoziologie-online[1] habe ich sie nicht einmal zitiert. Da ist also ein Nachtrag fällig, den ich so schnell nicht beibringen kann. Aber umgekehrt liegt es mit der Interdisziplinarität nicht besser. Beide Laureaten meiden es peinlichst, juristische Literatur zum Vertrag heranzuziehen, obwohl Juristen fraglos über die längere und detailliertere Erfahrung mit der Gestaltung von Verträgen verfügen.

In der Tagespresse kann man über die Theorien von Hart und Holmström lesen:

»Verträge …regeln das gesellschaftliche Arbeiten. Sind sie gut gemacht, wird alles leichter. Schlechte Verträge aber verkomplizieren alles.  …[Hart und Holmstrom haben den Preis erhalten], weil sie gezeigt haben, wie wichtig ein klares Design von Verträgen in unserer globalen Gesellschaft und Wirtschaft für jeden einzelnen ist. Moderne Volkswirtschaften würden durch unzählige Verträge zusammengehalten … [Sie] werden für ihre Arbeit zur Frage ausgezeichnet, wie man zum Beispiel Verträge zwischen Arbeitnehmern und ihren Arbeitgebern am besten gestaltet, zwischen Autofahrern und Versicherungen oder zwischen Firmen und Konsumenten. In den Beziehungen zwischen solchen Parteien sind Interessenkonflikte häufig programmiert. Mit dem richtigen Vertragsdesign kann man sie verhindern.«[2]

Das klingt für Juristen so trivial, dass sie sich gleich abwenden dürften. Man muss näher hinsehen, ob mehr dahinter steckt.

Gemeinsam haben Hart und Holmström 1984 das Forschungsfeld abgesteckt:

Theory of Contracts, in: Advances in Economic Theory, Cambridge: Cambridge University Press, 1984, 71-155.

Gemeinsam haben sie es 2010 noch einmal zusammengefasst:

Theory of Firm Scope, Quarterly Journal of Economics, 125, 2010, 483-513.

Das Hauptwerk von Oliver D. Hart ist wohl

Firms, Contracts, and Financial Structure, Oxford, New York 1995.[3]

Darin nutzt er zwei Bausteine der Ökonomischen Analyse des Rechts, die Theorie der Firma und die Theorie der Verfügungsrechte (property rights). Sobald mehr als eine Person beteiligt ist, findet die Produktion findet in einer »Firma« statt. Eine Firma besteht aus Verfügungsrechten und Verträgen, Verträgen natürlich mit Lieferanten und Abnehmern – die sind hier nicht interessant – sowie mit Arbeitnehmern, Managern und – für die interessiert sich Hart besonders – mit denjenigen, die Verfügungsrechte und Geldmittel zur Finanzierung der Produktion beitragen. Harts spezieller Ansatzpunkt ist die prinzipielle Unvollständigkeit der Verträge, die die Firma zusammenhalten.

Nun kommt erst einmal wieder eine Trivialität: Die Verträge die hier interessieren, sind notwendig unvollständig. Sie können nicht alle Eventualitäten vorwegnehmen[4]. Das gilt freilich nicht absolut. Es ist vielmehr eine Kostenfrage, wie vollständig man den Vertrag ausformuliert. Damit befasst sich ein Aufsatz von 1988: Sind die Kosten für die Perfektionierung des Vertrages angesichts der Komplexität der Welt zu hoch, dann bleibt als Alternative jederzeit die Möglichkeit, den Vertrag neu zu verhandeln. Das geschieht unter der Voraussetzung, dass Gewinn und Verlust in gleicher Weise verteilt werden, wie im Ausgangsvertrag. Das Ergebnis der Neuverhandlung ist dann davon abhängig, wie weit die Angaben der Parteien über die unverhergesehene Investitionen und Kosten, die die Neuverhandlung veranlasst haben, verifiziert werden können.

Soweit der Aufsatz von 1988. Hier und in dem folgenden Buch geht es also um Langzeitverträge oder relational contracts, ein Problemkreis, der Juristen und Rechtssoziologen wohl vertraut ist.

Langzeitverträge Verträge sind für die Beteiligten regelmäßig mit Investitionen verbunden, die an Marktwert verlieren, so dass der Investor auf die Honorierung durch den Vertragspartner angewiesen ist. Der Arbeitnehmer, der für einen neuen Job Umzugskosten aufgewendet hat, kann sich die Gegenleistung nur von dem neuen Arbeitgeber erhoffen. Der Zulieferer, der eine Maschine für eine Sonderanfertigung angeschafft hat, ist auf die weitere Abnahme durch den Kunden angewiesen. Das ist der so genannte Lock-In-Effekt. Die ökonomische Vertragstheorie will diese Situation ex ante und ex post – für den Fall der Nachverhandlung – mit Hilfe mathematischer Modelle darstellen. Dabei stoßen sie dann schnell auch auf die Frage, wann es günstiger ist, Leistungen, die ein Unternehmen benötigt, über (Langzeit-)Verträge mit Externen zu beschaffen oder sie intern selbst herzustellen. Das ist die Frage nach dem (optimalen) Umfang (scope) eines Unternehmens (der »Firma«).

Besondere Fragen stellen sich bei Verträgen, die das Unternehmen (principal) mit seinen Angestellten (agents), besonders mit seinen Managern, schließt, denn hier fallen die Interessen der Vertragsparteien vielfach auseinander. Die Manager haben auf Grund ihrer Informationen und Handlungsoptionen die Möglichkeit der Selbstbedienung (moral hazard). Es gilt, dieses Problem durAnreize und Kontrollen zu beherschen. Dazu dienen wiederum explizite oder implizite Verträge.

Das Buch von 1995 kann ich nicht referieren. Ich habe nur hineingesehen, soweit es von Google Books gezeigt wird. Das erste Kapitel scheint im Wesentlichen einen Aufsatz von 1989 wiederzugeben, in dem die Literatur zur ökonomischen Theorie der Firma zusammenfassend dargestellt wird.[5] Er war in der Columbia Law Review abgedruckt, und gleich zu Anfang heißt es:

»This Article attempts to give lawyers a sense of how economists think about firms.«

In den folgenden Kapiteln wird erörtert, wie bei unvollständigen Verträgen verschiedene Kontrollbefugnisse und Verfügungsrechte relevant werden. Für mich wäre das klassische Beispiel eines unvollständigen Vertrages der Arbeitsvertrag, bei dem der Arbeitgeber kraft seines Direktionsrechts die konkret zu leistende Arbeit spezifiziert. Bei Hart geht es allgemeiner darum, wie sich im Vertragsgeflecht der Firma verschiedene Variablen auswirken wie Verfügungsrechte, Kontrollbefugnisse, Verfahrensregeln, Ermessenermächtigungen, Aufgabenverteilungen oder Kompetenzen. Dann wendet sich das Buch der Frage zu, wie man mit Hilfe der Theorie des unvollständigen Vertrages  die Konsequenzen unterschiedlicher Finanzierungsmodelle bei inhabergeführten Firmen und bei Kapitalgesellschaften darstellen kann. Er zeigt, wie Schulden in beiden Fällen den Handlungsspielraum des Inhabers bzw. Managers einengen. Der Inhaber ist gezwungen, freie Mittel eher an die Gläubiger auszukehren als sich selbst zu bedienen. In Publikumsgsellschaften beschränken unterschiedliche Formen der Finanzierung und Kontrollrechte (corporate governance) die Macht der Manager, zu Entscheidungen, die unprofitabel sind, mit denen sie aber ihre eigene Position stärken möchten. Es geht also darum, wie das Management durch die Gestaltung der Vertragssituation, insbesondere auch der Schulden, im Zaum gehalten werden kann.

Mit der Optimierung von Finanzierungsverträgen befasst sich das Manuskript Financial Contracting, 2000. Interessanter ist wohl eine Arbeit, die der Frage nachgeht, unter welchen Umständen eine Privatisierung von Daseinsvorsorgeleistungen vorteilhaft ist und wann diese besser in öffentlicher Hand bleiben: Oliver Hart/Andrej Shleifer/Robert W. Vishny, The Proper Scope of Government, Theory and an Application to Prisons, The Quarterly Journal of Economics 112, 1997, 1127-1161.

Abstract: When should a government provide a service in-house, and when should it contract out provision? We develop a model in which the provider can invest in improving the quality of service or reducing cost. If contracts are incomplete, the private provider has a stronger incentive to engage in both quality improvement and cost reduction than a government employee has. However, the private contractor’s incentive to engage in cost reduction is typically too strong because he ignores the adverse effect on noncontractible quality. The model is applied to understanding the costs and benefits of prison privatization.

Mit einem ähnlichen Thema befasst sich ein letzter Aufsatz von 2003: Oliver Hart, Incomplete Contracts and Public Ownership: Remarks, and an Application to Public-PrivatePartnerships, The Economic Journal, 113, 2003, C69-C76.

Abstract: The question of what should determine the boundaries between public and private firms in an advanced capitalist economy is a highly topical one. In this paper I will discuss some recent theoretical thinking on this issue. I will divide the paper into two parts. First, I will make some general remarks about the relationship between the theoretical literature on privatisation and incomplete contracting theories of the firm. Second, I will use some of the ideas from this literature to develop a very preliminary model of public-private partner.

Soweit für heute. Einige Notizen zu Bengt Holmström, der mit der Figur des incomplete contract die Grenzen der Firma auslotet und mit Hilfe der principal-agent-theory die Vertragsbeziehungen der »Firma« mit ihren Managern analysiert, (vielleicht) in den nächsten Tagen.

Nachtrag vom 12. 10. 2016: Zwei Absätze wurden eingefügt, der letzte Absatz geändert.

Nachtrag vom 15. 10. 2020: Hier ein Titel aus der Sekundärliteratur:  Klaus M. Schmidt, Contributions of Oliver Hart and Bengt Holmström to Contract Theory, Scand. J. of Economics 119, 2017, 489-511.


1] § 26 Von der Ökonomischen Analyse des Rechts zur Verhaltensökonomik und § 64 Der Vertrag als Institution.

[2] Zeit-online vom 10.  Oktober 2016.

[3] Die eher kritische Besprechung von G. Nöldeke, Journal of Economics (64, 1996, 328-331) weist auch darauf hin, das »law and custom« ignoriert werden.

[4] Oliver Hart/John Moore, Incomplete Contracts and Renegotiation, Econometrica 56, 1988, 755-785; Hart 1995 S. 1ff.

[5] Oliver Hart, An Economist’s Perspective on the Theory of the Firm, Columbia Law Review89, 1989, 1757-1774. Als Vorläufer kursiert im Netz noch ein Manuskript von 1987: Incomplete Contracts and the Theory of the Firm.

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Ist das Strafmaß davon abhängig, ob der Lieblingsverein des Richters verloren hat?

Die Football-Fans unter den Richtern reagieren ihren Frust durch ein höheres Strafmaß ab, wenn ihr Lieblingsverein verloren hat. Das ist die These einer Untersuchung von Ozkan Eren und Naci Mocan von der Louisiana State University. »Emotional Judges and Unlucky Juveniles« ist die Arbeit[1] überschrieben. Darin haben die Autoren die Entscheidungen von Jugendrichtern, die sie als Anhänger des Football-Teams der Louisiana State University identifzieren konnten, unter die Lupe genommen. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass diese Richter nach einer unerwarteten Niederlage ihrer Lieblings-mannschaft ein höheres Strafmaß auswarfen und dabei farbige Delinquenten noch besonders streng behandelten. Dieser Effekt hielt eine ganze Woche an. Spiele mit unerwartetem Gewinn oder mit offenem Ausgang hatten keinen erkennbaren Einfluss. Die Autoren nehmen an, dass die Richter auf diese Weise auf einen emotionalen Stress reagieren.

Es handelt sich um eine Untersuchung von Ökonomen, die nicht speziell justizkritisch gemeint ist, sondern zeigen soll, wie eigentlich als rational gedachte Entscheidungen von Emotionen beeinflusst werden.

Richter, die zu Beginn der Sitzung und nach einer Frühstückspause großzüger sind – das hatten wir schon. Die dazu angeführte Untersuchung stellte allerdings nicht direkt auf Emotionen ab, sondern auf ein Anchoring-Phänomen, dass aus der Kette von entcheidungen im Verlaufe einer Sitzung resultiert. Bei den Football-Fans geht die Erklärung nur dahin, dass ein unerwarteter Verlust stärkere Emotionen hevorruft als ein entsprechender Gewinn.

Diese Untersuchung hat Hanno Beck heute im Wirtschaftsteil der FamS unter der Überschrift »der menschliche Makel« vorgestellt. Beck meint, man könne nicht einmal sagen, ob die von solchen spezifischen Emotionen beeinflusste Entscheidung oder die emotionslose die objektiv bessere sei. Aber es ist natürlich richtig: wirklich emotionsfreie Entscheidungen wären nur von Maschinen zu erwarten, und die bieten hier keine Alternative.

[1] NBER Working Paper Nr. 22611, September 2016. In dem frei im Netz kursierenden Manuskript – nur das habe ich gelesen – fehlen die Tabellen.

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Die Präventivwirkung des Wissens oder My Home is my Castle

In Essen fand im September die Messe »Security« für Sicherheit und Brandschutz statt. In der FAZ vom 1. 10. 2016 S. 23 war unter der Überschrift »Unsicherheit« ein großer Artikel[1] zu lesen, der mit folgenden Sätzen aufgemacht wurde:

»Die Zahl der Wohnungseinbrüche steigt seit einem Jahrzehnt. Viele Opfer fühlen sich danach nicht mehr in ihrer Umgebung wohl. Die Polizei kommt mit Ermittlungen nicht hinterher. Deshalb rüsten Eigentümer ihre Häuser und Wohnungen auf.«

Und nebenan gab es einen Einbruchsversuch. Die herbeigerufene Polizei gab den Rat, das Haus besser gegen Einbruch zu schützen als der Nachbar. Da stellt sich schon die Frage, ob es eine Obliegenheit der Bürger ist, sich präventiv auf Straftaten anderer einzustellen, auch wenn er sich dazu nicht durch (Versicherungs-) Vertrag verpflichtet hat. Ist man rechtlich, sozial oder moralisch verpflichtet, Haus und Wohnung zu verbarrikadieren, kugelsichere Westen zu tragen, die Ohren gegen Beleidigungen zu verstöpseln und Ausschnitt und Haarpracht gegen anzügliche Blicke zu verschleiern? So könnte es nach den ubiquitären Ratschlägen zu Sicherungsmaßnahmen erscheinen, zumal der Staat via KfW solche Maßnahmen bezuschusst und sich selbst mit Nizza-Blöcken einigelt.

Prävention wird von den Füßen auf den Kopf gestellt, wenn Vorkehrungen zum Schutz vor Normverletzungen sich nicht mehr gegen potentielle Täter richten, sondern möglichen Opfern aufgegeben wird, sich selbst zu schützen. Dieser Schutz soll auch noch ganz passiv sein. Aktive Gegenwehr im Einzelfall ist verpönt.

Diese Situationsbescheibung ist wohl ein wenig übertrieben oder gar polemisch. Sie soll nur anzeigen, dass ich den Verbarrikadierungs-Imperativ nicht mag. Ich weiß aber auch keinen besseren Rat. Den Rat der German Rifle Association finde ich schon gar nicht gut. So versuche ich, mich mit einer Erklärung zu trösten. Sie lautet: In der Mahnung zu Sicherungsvorkehrungen äußert sich die Präventivwirkung des Wissens, und Wissen kann doch eigentlich keine schlechten Folgen haben.

Es gilt als ausgemacht, dass die Bevölkerung die Zahl der Straftaten in ihrer Mitte eher unterschätzt[2]. Die Latenz der Straftaten verhindert natürlich eine Verfolgung. Aber das ist, wie Heinrich Popitz 1968 in einem meisterlichen Essay »Über die Präventivwirkung des Nichtwissens« dargestellt hat, kein Nachteil. Normen hätten etwas Starres und damit auch stets etwas Überforderndes, Illusionäres. Diese Starrheit entspreche dem Zweck jeder Normierung, Regelmäßigkeiten durchzusetzen, Verhalten zu binden und voraussehbar zu machen. Das Sanktionssystem müsse die Starrheit zumindest weitgehend übernehmen, könne und müsse sich aber auch gleichzeitig entlasten. Das geschehe zu einem höchst wesentlichen Teil durch eine Begrenzung der Verhaltensinformation. Sie öffne eine Sphäre, in der sich das Normen- und Sanktionssystem nicht beim Wort nehmen müsse, ohne doch seinen Geltungsanspruch offenkundig aufzugeben. »Kein System sozialer Normen könnte einer perfekten Verhaltenstransparenz ausgesetzt werden, ohne sich zu Tode zu blamieren.« Die Blamage nähme ihren Anfang auf der Verhaltensebene, denn wüsste jeder um alle Normverstöße, litte die eigene Normtreue.[3] Und wenn gar jeder Täter bestraft würde, verlöre die Strafe ihre Bedeutung.

»Wenn auch der Nachbar zur Rechten und zur Linken bestraft wird, verliert die Strafe ihr moralisches Gewicht…Auch die Strafe kann sich verbrauchen. Wenn die Norm nicht mehr oder zu selten sanktioniert wird, verliert sie ihre Zähne, muß sie dauernd zubeißen, werden die Zähne stumpf.« (Popitz, S. 17 f.)

Normen so Popitz, könnten keine Tiefstrahler vertragen, sie brauchten etwas Dämmerung.

Seither sind bald 50 Jahre vergangen und während dieser Zeit richten sich immer mehr Tiefstrahler auf die Normen der Gesellschaft. Transparenz ist angesagt und die Verwissenschaftlichung des öffentlichen Diskurses schreitet voran. Bad news are good news. Und so leuchten die Medien die Wirklichkeit der Normen aus und informieren uns darüber, dass Wohnungeinbrüche zunehmen, Taschendiebstähle in Bahnhöfen an der Tagesordnung sind[4], Korruption verbreitet ist, die Zahl der Schwarzarbeiter gegen unendlich geht usw. Zugleich hämmern sie dem Publikum immer wieder ein, dass neben dem Hellfeld der Abgrund eines großen Dunkelfeldes gähnt.

In den 1990er Jahren war die steigende Kriminalitätsfurcht ein wissenschaftliches Thema.[5] Reuband etwa legte dar, dass Nachrichten über steigende Kriminalität zwar nicht das eigene Bedrohungsgefühl hätten wachsen lassen, aber doch zu einer negativeren Vorstellung von der allgemeinen Sicherheitslage führten. Er konnte nicht bestätigen, dass deshalb in der öffentlichen Diskussion mehr Prävention und Repression gefordert worden seien. Nach der Jahrtausendwende redete man über einen weltweiten punitive turn.[6] Jetzt also der security turn.

Soziologen waren schon immer von der Normalität von Devianz überzeugt. Das Publikum hat von ihnen gelernt. Eigentlich könnte man froh sein, wenn seine Bestrafungswünsche in Sicherheitsvorkehrungen umgelenkt werden. Aber wenn sich alle verbarrikadieren und nicht wenige den öffentlichen Raum möglichst meiden, will keine Freude aufkommen.

Victim blaming ist nicht neu. Als Schuldzuweisung an sozial Schwache[7] und als Verteidigungsstrategie von Sexualstraftätern gilt es bisher zum Glück noch als unanständig. In der Gesundheitspolitik ist das nicht ganz so eindeutig. Freilich gibt es da keine Täter. Unter dem Druck der Aufklärung über die bloße Papierform vieler Normen gibt es nun Zeichen einer allgemeinen Täter-Opfer-Umkehr, die es Bürgern zur Obliegenheit macht, sich präventiv auf Straftaten anderer einzustellen. Dagegen melde ich Widerspruch an.

Nachtrag vom 24. 10. 2016: Für meinen Widerspruch hätte ich mich auf einen Aufsatz von Tatjana Hörnle[8] berufen können, den ich vor Jahr und Tag einmal hatte, der mir aber wieder entfallen war. Hörnle bedient sich der Figur der Selbstschutzobliegenheit. Sie meint, Selbstschutzobliegenheiten sollten nicht angenommen werden, soweit das auf eine allgemeine Freiheitseinschränkung ohne konkreten Verdacht hinauslaufen würde. Man darf also auch nachts im dunklen Park spazieren gehen. Erst wenn sich ein Risiko konkretisiert hae und vom Opfer erkannt werde, seien Vorsichtsmaßnahmen zu erwarten. Heikel bleibe die Berücksichtigung des Opferverhaltens bei Sexualdelikten. Hier begründe das Erkennen sexueller Absichten des späteren Täters noch keine Selbstschutzpflicht. Die soll erst entstehen, wenn das Risiko erkennbar wird, dass der Täter das Fehlen eines Einverständnisses nicht respektieren werde. Als Folgen einer festgestellten Obliegenheitsverletzung kommt in erster Linie eine Strafmilderung und nur ausnahmsweise Straffreiheit in Betracht.

[1] Autor Philipp Krohn; im Internet nur im kostenpflichtigen FAZ-Archiv.

[2] AnneEva Brauneck, Zur sozialpsychologischen Bedeutung des Kriminalitätsumfangs, in: Hilde Kaufmann u. a., Erinnerungsgabe für Max Grünhut, 1965, 23ff.

[3] Dafür gib t es im Experiment eine, wenn auch schwache, Bestätigung: Andreas Diekmann/Wojtek Przepiorka/Heiko Rauhut, Die Präventivwirkung des Nichtwissens im Experiment, Zeitschrift für Soziologie 40, 2011, 74-84.

[4] Deutsche Wirtschafts Nachrichten vom 26. 9. 2016.

[5] Klaus Boers, Kriminalitätsfurcht, 1991; Karl-Heinz Reuband, Steigende Kriminalitätsfurcht – Mythos oder Wirklichkeit?, Gewerkschaftliche Monatshefte.45, 1994, S. 214 – 220. Karl-Heinz Reuband, Paradoxien der Kriminalitätsfurcht in: NK Neue Kriminalpolitik, Seite 133 – 140.

[6] Fritz Sack, Der weltweite ‚punitive turn‘: Ist die Bundesrepublik dagegen gefeit?, in: Hans-Georg Soeffner (Hg.), Unsichere Zeiten, 2010,  229-244; Rüdiger Lautmann, Wenn die Gesellschaft punitiv wird, kann juristische Professionalität davor schützen?, in: Matthias Mahlmann (Hg.), Gesellschaft und Gerechtigkeit (FS Rottleuthner), 2011, 316-330.

[7] William Ryan, Blaming the Victim, York 1976.

[8] Die Obliegenheit sich selbst zu schützen, und ihre Bedeutung für das Strafrecht, Goltdammer’s Archiv für Strafrecht 156, 2009, 626-635.

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Apple provoziert mehr Schwarzarbeit, die AfD verhindert eine Zusammenlegung von ARD und ZDF und die Niedrigzinspolitik der EZB führt zur Scharia-konformen Wirtschaft

Heute war die Zeitung wieder voll von makrosoziologischen Überlegungen. Der als Schwarzgeld-Ökonom vorgestellte Professor Friedrich Schreiber aus Linz vertrat die These, die Steuervermeidung von Apple in Irland fördere die Schwarzarbeit. Der Journalist Claudius Seidl vertrat die These, angesichts der Forderung Seehofers nach Zusammenlegung der öffentlich rechtlichen Rundfunkanstalten gehöre die AfD zum Besten, was dem öffentlich-rechtlichen System seit langem widerfahren sei. Und unter der Überschrift »Zins, lass nach« analysierten Hanno Beck und Aloys Prinz »die Niedrigzinsen aus der Froschperspektive«. Die Makroökonomen hätten ja schon lange Zweifel an der Wirksamkeit der Niedrigzinspolitik. Nun müsse man die mikroökonomischen Folgen noch stärker in den Blick nehmen, etwa eine Überhitzung der Vermögenspreise. Da bekommt man selbst Lust, zu analysieren und spekulieren.

In Europa gibt es praktisch keine Zinsen mehr. Wirtschaftssachverständige halten diese Zinspolitik, die praktisch auf eine Abschaffung der Zinsen hinausläuft, für wirtschaftlich sinnlos. Welchen Sinn kann sie dann haben? Bekanntlich heißt es in der Sure 2 Vers 275, Allah habe den Handel erlaubt und das Zinsnehmen verboten.  Liegt da nicht der Gedanke nahe, dass Mario Draghi (radiallahu anhu) und seine Kollegen im Direktorium der EZB mit ihrer Niedrigzinspolitik ein Tor in Richtung auf eine islamverträgliche Wirtschaft aufstoßen, weil diese Politik die westliche Wirtschaft und ihr Publikum daran gewöhnt, dass es auch ohne Zinsen geht?

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Kara Ben Nemsi und der vertikale Pluralismus

Kultureller Pluralismus ist angesagt. Er verlangt den Verzicht auf alles hegemoniale Gehabe oder, positiv formuliert, die Gleichschätzung aller Kulturen. Dabei kommt uns immer wieder die Vergangenheit in die Quere, in der kulturelle Überlegenheitsmuster eher die Regel als die Ausnahme waren. So stellt sich dann die Frage, ob man die Vergangenheit nach ihren eigenen Maßstäben oder nach heutigem Verständnis beurteilen soll. Natürlich, es kommt auf den Zeitabstand und den Verwendungszusammenhang des Urteils an. Der Historiker sollte die Athener nicht schelten, weil sie Sklavenhalter und wohl auch Päderasten waren. Der moralisierende Zeitgenosse dagegen darf der alten Bundesrepublik durchaus ihren freundlichen Umgang mit alten Nazis oder ihr feindlichen Umgang mit Homosexuellen vorwerfen. Aktuell stehen Kirche, Wissenschaft und Öffentlichkeit vor der Frage, wie sie mit dem Antisemitismus Luthers umgehen solllen.[1]

Auf der Suche nach Lektüre für einen Enkel bin ich auf ein Regal mit Bänden von Karl May gestoßen. Herausgegriffen habe ich den Band »Von Bagdad nach Stambul« – und ihn dann selbst (wieder-)gelesen. Karl May war ein Hochstapler, aber er hat niemanden geschädigt, sondern ein Millionenpublikum erfreut. Man mag seine Abenteuerromane für Trivialliteratur oder gar für Schund halten. Aber als solche waren sie großartig. Sie stillten das unendliche Unterhaltungsbedürfnis der Menschen, bevor es Kino und Fernsehen, Computerspiele und Youtube gab.

Die Abenteuer Kara Ben Nemsis auf dem Weg von »Bagdad nach Stambul« spielen in einer islamischen Umgebung, die in Hadschi Halef Omar ihren wichtigsten Repräsentanten findet. Natürlich stellt sich da die Frage nach dem Islambild, das Karl May mit seinen Orient-Romanen vermittelt. Die Recherche führt schnell zu einem Band von Inge Hofmann und Anton Vorbichler, Das Islam-Bild bei Karl May und der islamo-christliche Dialog, der 1979 in Wien erschienen ist.[2] Darin wird Karl May »die Verketzerung des Islam« vorgeworfen (S. 2). Die Karl-May-Lektüre, so erfährt man, vermittelt »ein Bild vom Islam und von den Muslimen, das geeignet ist, die Atmosphäre des Dialogs hoffnungslos zu vergiften.« (S. 3) So gehe etwa die Irrmeinung, der Islam habe der Frau abgesprochen, eine Seele zu haben, auf die Karl-May-Lektüre zurück. Hofmann/Vorbichler (S. 17) zitieren aus Bd. 34 der Gesammelten Werke Karl Mays mit autobiographischen Texten (»Ich«):

»Und über die Undankbarkeit des Abendlandes gegenüber dem Morgenland, dem es doch seine ganze materielle und geistige Kultur verdankt, machte mir allerlei schwere Gedanken. … Ich nahm mir vor,  … dies in meinen Büchern immerfort zu betonen und in meinen Lesern jene Liebe zur roten Rasse und für die Bewohner des Orients zu wecken, die wir als Mitmenschen ihnen schuldig sind. Man versichert mir heute, dies nicht etwa bei nur wenigen, sondern bei Hunderttausenden erreicht zu haben, und ich bin nicht abgeneigt, es zu glauben.«

Hofmann/Vorbichler kommentieren:

»Es wäre sehr schön gewesen, wenn das den Tatsachen entsprochen hätte!«

Deshalb prüfen sie nun die Islam-Darstellung Karl Mays auf ihre Korrektheit mit dem Ergebnis, dass sie durchgehend unhaltbar sei. Eigentlich hat Wolf-Dieter Bach längst das Notwendige zu der Kritik von Hofmann/Vorbichler gesagt[3]:

»Die gestrenge Frage, ob der Herr Puntila samt seinem Knecht typisch finnische Menschen seien, wäre so sinnvoll wie der Versuch, die Stellung des Glücksschweins im zoologischen System zu bestimmen. Und Brecht war Realist!

Auch Karl May sollte nicht an der ethnologischen und kultursoziologischen Stimmigkeit seiner Romane gemessen werden, wie dies die Autoren Hofmann und Vorbichler in ihrer Arbeit tun. Defoes Freitag, Coopers Chingachgook, Melvilles Queequeg sind allesamt keine getreuen Abschilderungen völkerkundlicher Realität. Der Orient, den Voltaire in »Zadig« beschrieb, hat nie existiert er ist genau so wenig authentisch nach wissenschaftlichem Maßstab wie jenes Morgenland, das Orientalen selbst uns schildern: Firdusi etwa, oder die Erzähler von Tausend-und-einer-Nacht. Und selbst ein als Tatsachenbericht sich ausweisendes Orientbuch eines historisch geschulten modernen Europäers wie »Die sieben Säulen der Weisheit« von T. E. Lawrence besteht eine genaue Realitätsprüfung nicht. Orient verführt zur Phantasie.

Kurzum: es ist eine Kinderei, May den Vorwurf zu machen, sein Bild vom Islam sei falsch und verzerrt. Gar keine Frage, daß es dies ist! Aber derlei selbst ohne Vorwurf festzustellen hieße nicht mehr, als der Literatur zu bescheinigen, daß sie sich nur selten peinlich genau an die Vorlagen dieser Welt hält – eine Binsenweisheit, kein Blatt Papier wert. «

Für Einzelheiten kann ich auf die Darstellung von Svenja Bach, Karl Mays Islambild und der Einfluss auf seine Leser (2010) verweisen, auch wenn die apologetische Tendenz der Arbeit nicht zu verkennen ist.[4]

Karl Mays Roman »Von Bagdad nach Stambul«, der in einer Gesamtauflage von 1,5 Millionen verbreitet wurde, ist 1892 erstmals als Buchausgabe erschienen, heute also über 125 Jahre alt. Nach dem Maßstab seiner Zeit war Karl May kein Scharfmacher, sondern eher Versöhner und Pazifist. Auf mich wirkt der Text auch heute noch eher islamophil als islamophob, so wenn er seinen Helden Kara Ben Nemsi bei der Bestattung eines Mohammed Emin mit erhobenen Händen die 75. Sure (Die Auferstehung) beten lässt oder wenn er ihm an anderer Stelle in den Mund legt:

»Allah ist überall, wo der Mensch den Glauben an ihn im Herzen trägt. Er wohnt in den Städten, und er blickt auf die Hammada; er wacht über den Wassern, und er rauscht durch das Dunkel des Urwaldes; er schafft im Innern der Erden und in den hohen Lüften; er regiert den leuchtenden Käfer und die blitzenden Sonnen; du hörst ihn im Jubel der Luft und in dem Rufe des Schmerzes; sein Auge glänzt aus der Thräne der Freude und schimmert aus dem Tropfen, mit welchem das Leid die Wange befeuchtet. Ich war in Städten, wo Millionen wohnen, und ich war in der Wüste, von jeder Wohnung weit entfernt, aber niemals habe ich gefürchtet, allein zu sein, denn ich wußte, daß Gottes Hand mich hielt.«

Auch über die Charakterisierung der Türken kann man sich in Zeiten Erdogans kaum noch aufregen, wenn es (S. 392) über den »kranken Mann am Bosporus« heißt:

» Der Türke ist ein Mensch, und einen Menschen macht man nicht damit gesund, daß die Nachbarn sich um sein Lager stellen und mit Säbeln ein Stück nach dem andern von seinem Leibe hacken, sie, die sie Christen sind. Einen kranken Mann macht man nicht tot, sondern man macht ihn gesund, denn er hat ein ebenso heiliges Recht, zu leben, wie jeder andere. Man entzieht seinem Körper die Krankheitsstoffe, welche ihm schädlich sind, und reicht ihm dagegen das Mittel, welches ihn heilt und wieder zu einem leistungsfähigen Menschen macht. Der Türke war einst ein zwar rauher, aber wackerer Nomade, ein ehrlicher, gutmütiger Geselle, der gern einem jeden gönnte, was ihm gehörte, sich aber auch etwas. Da wurde seine einfache Seele umsponnen von dem gefährlichen Gewebe islamitischer Schwärmereien und Eroberungsgelüste[5]; er verlor die Klarheit seines ja sonst schon ungeübten Urteils, wollte sich gern zurecht finden und wickelte sich nur umso tiefer in Wirrungen hinein. Da wurde der bärbeißige Geselle zornig, zornig gegen sich und andere; er wollte sich einmal Gewißheit schaffen, wollte sehen, ob es wahr sei, daß das Wort des Propheten auf der Spitze der Schwerter über den Erdkreis schreiten werde.«

Entscheidend ist, dass Karl May in seinem Orientzyklus nur den Informationsstand wiedergab, den er aus seinen unbenannten, aber zum großen Teil akademischen Quellen übernahm. Durch Karl May ist der Orientalismus breitenwirksam geworden, den Edward W. Said[6] in kritischer Absicht in erster Linie der akademischen Orientalistik vorgehalten hat. Das rechtfertigt aber keine Kritik an Karl May. Hier ist vertikaler Pluralismus angesagt. Der Pluralismus-Imperativ geriete mit sich selbst in Widerspruch, wenn er Karl May nicht nach den Maßstäben seiner Zeit beurteilte.

Davon abgesehen: Die Suche nach einem richtigen Islambild erweist sich auch für die Gegenwart als schwierig. Es gibt auch heute nicht das eine korrekte Islambild, und schon gar kein verbindliches. Den Maßstab, den Hofmann/Vorbichler anlegen, entnehmen sie einer Lehrbuch-Darstellung[7]. Die üblichen Lehrbuchdarstellungen zeigen einen idealisierten und abstrahierten Islam. Einen etwas realistischeren Eindruck bekommt man vielleicht aus der Lektüre des »Handbuchs Islam« von Ahmad A. Reidegeld oder aus Büchern des Juristen Jasmin Pacic.[8] Mein Eindruck war der einer totalitären Gesetzesreligion. Totalitär heißt hier, dass die Religion die Lebensführung ihrer Gläubigen vom Aufwachen bis zum Einschlafen in den Griff nimmt. Der Lehrbuch-Islam und erst recht der von Bassam Tibi und Mouhanad Khorchide geben kaum ein Bild von dem real existierenden Islam.

Der zentrale Vorwurf von Hofmann/Vorbichler lautet, Karl May habe durchgehend die Überlegenheit des christlichen Glaubens über den Islam zum Ausdruck gebracht, und sie versteigen sich zu der Behauptung:

»Ja – eben darum ging es Karl May: der Islam sollte vernichtet werden, sollte ausgelöscht werden, und dazu war jedes Mittel recht.« (S. 242)

Das Christentum, das Karl May in der Gestalt seiner Helden Kara Ben Nemsi und Old Shatterhand vor sich her trägt, ist eher penetrant. Doch kann man es einem Gläubigen vorhalten, dass er seine eigene Religion für die überlegene oder gar für die einzig richtige hält? Die Theologen aller Religionen haben lange damit gerungen, ihren Absolutheitsanspruch soweit zu reduzieren, dass ein interreligiöser Dialog möglich ist und jedenfalls im politischen Raum der Grundsatz der Gleichberechtigung gelten kann.[9] Aber einen Romanhelden kann man nicht auf politische Korrektheit verpflichten. Und das Lesepublikum, auch das jugendliche, darf man nicht für so töricht halten, dass es einen Roman für bare Münze nimmt.

Die Ironie der Geschichte: Hofmann/Vorbichler zitieren den Bericht über einem zum Islam konvertierten Christen, der angibt, seine ersten Kenntnisse über den Islam Karl May (radiallahu anhu) zu verdanken.

[1] Die weitere Aktualität des Themas zeigt der Artikel von Arnold Bartetzky Die Tyrannei der Beleidigten in der FAZ vom 24. 8. 2016.

[2] Als Band 4 einer Reihe »Beiträge zur Afrikanistik« im Verlag Afro-Pub, als verfielfältigtes Manuskript ohne ISBN.

[3] Mit Mohammed an May vorbei. Zur Kritik I. Hofmanns und A. Vorbichlers an Karl Mays Islam-Phantasien,

[4] Sie ist als Sonderheft 142 der Karl-May-Gesellschaft erschienen.

[5] In dem im Internet verfügbaren Text heißt es »islamitischer Phantastereien, Lügen und Widersprüche«.

[6] Orientalism: Western Conceptions of the Orient, London 1978.

[7] Smail Balić, Ruf vom Minarett, Weltislam heute – Renaissance oder Rückfall? ; eine Selbstdarstellung, ein 1963. Ich habe nur die 3., überarb. Auflage von 1984 zur Hand.

[8] Fiqh ul-`Ibadat. Rechtsbestimmungen über die gottesdienstlichen Handlungen im Islam, Bd. I Reinheit, Gebet, Fasten, 2009; Islamisches Ehe- und Familienrecht, 2010.

[9] Als wissenschaftliches Standardwerk einer pluralistischen Religionstheologie gilt anscheinend Perry Schmidt-Leukel, Gott ohne Grenzen. Eine christliche und pluralistische Theologie der Religionen, Gütersloh 2005. Ich habe nur die ausführliche Rezensionsabhandlung von Ulrich Winkler in der Salzburger Theologischen Zeitschrift 10, 2006, 290-318, gelesen. Was den muslimischen Standpunkt betrifft, habe ich keine zitierwürdige Stellungnahme gefunden. Als Basis dienen wohl Sure 2 »Al-Baqara« (190-194, 256), Sure 3 »Al-‘Imran« (62ff), Sure 9 (85), »At-Tauba«, Sure 16 »An-Nahl« (103-106) und die kurze Sure 109, insbsondere mit ihrem letzten Vers: »Ihr habt eure Religion, und ich habe meine Religion.« Daraus lässt sich wohl allenfalls ein diskriminierender Inklusivismus entnehmen. Die eigene Lektüre des Koran führt aber nicht sehr weit, denn es wird dem Leser mit Sicherheit entgegengehalten, um den Koran zu verstehen, müsse er die arabische Sprache kennen (vgl. Sure 16, 103) und mit den Meinungen der Korangelehrten vertraut sein.

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Belanglose Theorie zum Streit um die Reform der polnischen Verfassungsgerichtsbarkeit

Die polnische Regierung mit ihrer aktuellen Parlamentsmehrheit versucht bekanntlich, durch die Einsetzung neuer Richter sowie durch eine Änderung von Gerichtsverfassung und Verfahren das Verfassungsgericht in den Griff zu bekommen. Später kam noch ene Budget-Kürzung hinzu. In Europa ist man empört. Die Venedig Kommission hat eine kritische Stellungnahme zu dem Änderungsgesetz abgegeben. Die EU hat erstmals von dem 2014 eingeführten Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips Gebrauch gemacht. Die Sache ist empörend. Ich beschränke mich jedoch auf ein rechtstheoretisches Argument. Es betrifft nur die mit Gesetz vom 22. Dezember 2015 beschlossenen Änderungen von Gerichtsverfassung und Verfahren. Im Kern geht es um zwei Punkte:

  1. Der Verfassungsgerichtshof, der planmäßig 15 Richter zählt, soll künftig Plenarentscheidungen nur in einer Besetzung von mindestens 13 Richtern und mit Zwei-Drittel-Mehrheit treffen dürfen. Zuvor lag das Quorum bei neun Richtern. Eine qualifizierte Mehrheit war nicht erforderlich.
  2. Der Verfassungsgerichtshof soll alle eingehenden Klagen der Reihe nach abarbeiten müssen.

Für sich genommen könnte man die einzelnen Änderungen für akzeptabel halten. Im Zusammenhang mit der Wahl neuer Richter und Bestimmungen über die Amtszeit der alten sowie mit Änderungen des Richterdisziplinarverfahrens ist die Reform jedoch politisch brisant, weil sie Entscheidungen gegen die von der Parlamentsmehrheit getragene Regierung verhindern kann. Im Dezember 2015 hatte sich die Lage insofern zugespitzt, als nur noch zwölf Richter im Amt waren, so dass das nunmehr vorgeschriebene Quorum von 13 überhaupt nicht erreicht werden konnte. Der Verfassungsgerichtshof selbst hat am 9. März das Reformgesetz auf der Basis des alten Rechts für verfassungswidrig erklärt. Zwei Richter machten in einem Sondervotum geltend, jede Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der Reform müsse nunmehr auf der Basis des neuen Rechts erfolgen. Die polnische Regierung hat sich geweigert, das Urteil zu veröffentlichen und ihm zu folgen, weil es nicht nach Maßgabe des neuen Gesetzes ergangen sei.

-Der Gerichtshof selbst meinte, das Reformgesetz auf sein Verfahren nicht anwenden zu müssen, da die Richter nach Art. 195 Nr. 1 »in der Ausübung ihres Amtes unabhängig und nur der Verfassung unterworfen« seien und die Reform unmittelbar die Funktion des Gerichts betreffe.[1] Die Venedig Kommission hat diese Begründung gebilligt.[2] Sie meint, andernfalls brauche man nur ein Gesetz, das sagt »herewith, constitutional control is abandoned – this law enters into force immediately«, um die Verfassungsgerichtbarkeit ganz abzuschaffen.[3] Aber so lauten die streitigen Gesetze nun einmal nicht, und es kann nicht ernstlich zweifelhaft sein, dass das Parlament durch das Verfassungsgerichtsgesetz Regelungen treffen kann, die dem Gericht nicht gefallen. Dann müssen diese Regelungen eben doch jede einzeln und alle zusammen auf ihre Verfassungsmäigkeit hin überprüft werden. sagt mit einem argumentum a fortiori: Davon abgesehen sollte es selbstverständlich sein, dass die Verfassungsrichter auch an die verfassungsmäßig geltenden Gesetze, darunter insbesondere das Verfassungsgerichtsgesetz nach Art. 197, gebunden. Nur bei Entscheidungen hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit sind sie insoweit frei.

Die theoretische Frage bleibt also: Ist das Reformgesetz auf das Verfahren des Verfassungsgerichtshofs anwendbar, wenn über die Verfassungsmäßigkeit der Reformbestimmungen gerade dieses Gesetzes entschieden wird. Anscheinend geht es um die Problematik selbstbezüglicher Vorschriften im Verfassungsrecht[4]. Das ist freilich auf den ersten Blick nicht ohne weiteres zu erkennen.

Die Problematik selbstbezüglicher Vorschriften hat Douglas R. Hofstadter, der Autor von »Gödel, Escher, Bach«, durch seinen Artikel »Nomic« im »Scientific American«[5] populär gemacht. Hofstadter schildert eingangs den folgenden, freilich erdachten Fall: Der amerikanische Kongress verabschiedet ein Gesetz, dem zufolge in Zukunft alle Entscheidungen des U. S. Supreme Court mit einer Mehrheit von 6 zu 3 Stimmen (statt wie bisher mit einer einfachen Mehrheit von 5 zu 4) getroffen werden müssen. Dieses Gesetz wird in einem Gerichtsverfahren angefochten, das schließlich bis vor den Supreme Court selbst gelangt, und dieser stellt die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes fest – natürlich mit einfacher Mehrheit von 5 zu 4. Eine nähere Analyse oder gar Lösung bietet Hofstadter allerdings nicht.

Verfassungen enthalten regelmäßig Bestimmungen, nach denen die Verfassung nur in einem besonderen Verfahren geändert werden kann. Das Grundgesetz fordert in Art. 79 I zur Verfassungs-änderung die ausdrückliche Änderung des Verfassungstextes, in Art. 79 II qualifizierte Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat und enthält darüber hinaus in Art. 79 III die »Ewigkeitsklausel«:

»Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig«.

Solche Vorschriften werfen die Frage auf, ob sie auf sich selbst anwendbar sind mit der Folge, dass das Verfahren der Verfas-sungsänderung seinerseits geändert werden könnte.[6]

Die polnische Verfassung von 1997 sieht in Art. 188 die Möglichkeit der gerichtlichen Prüfung von Gesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin vor. Nach Art. 197 sind die Organisation des Verfassungsgerichtshofs und die Verfahrensweise vor dem Verfassungsgerichtshof einem einfachen Gesetz vorbehalten. Allerdings sind in Art. 194 der Verfassung Richterzahl (15) und Richterwahl (durch das Parlament) sowie in Art. 190 Nr. 5 das Prinzip der (einfachen) Mehrheit festgelegt. Das Reformgesetz vom 22. 12. 2015 ändert also die Verfassung, soweit es eine qualifizierte Mehrheit für Plenarentscheidungen einführt. Soweit es ein höheres Quorum für Plenarentscheidungen und die sequentielle Behandlung eingehender Klagen vorsieht, ändert es nur ein einfaches Gesetz. Deshalb sollte die Frage nach der Selbstbezüglichkeit des Reformgesetzes und ihrer Konsequenzen für die beiden Änderungen getrennt betrachtet werden.

Was zunächst die Verfassungsänderung betrifft, so ist davon auszugehen, dass diese in dem in den Art. 236ff der Verfassung vorgeschriebenen Verfahren erfolgt ist. Für den geänderten Art. 190 Nr. 5 gibt es in der Verfassung selbst keine besondere Festschreibung, die mit Art. 79 GG vergleichbar wäre. Gegen das Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit für Plenarentscheidungen des Verfassungsgerichtshofs ist auch sachlich kaum etwas einzuwenden. Aber als Gedankenspiel kann man natürlich erwägen, mit welcher Mehrheit der Gerichtshof entscheiden müsste, wenn er isoliert über die Wirksamkeit der Änderung des Art. 190 Nr. 5 befinden wollte.

Zunächst gäbe es da schon einmal die Hürde, ob der Verfassungsgerichtshof überhaupt berufen ist, über die Wirksamkeit von Verfassungsänderungen zu urteilen, denn nach Art. 188 Nr. 1 der Verfassung erstreckt sich seine Kompetenz nur auf »die Vereinbarkeit der Gesetze und der völkerrechtlichen Verträgen mit der Verfassung«. Überspringt man diese Hürde, indem man auch ein verfassungsänderndes Gesetz für überprüfbar hält, stellt sich die nächste Hürde mit der Frage, wie die Verfassungswidrigkeit begründet werden könnte. Die Venedig Kommission bringt European and international standards ins Spiel.[7] Diesen fraglos interessanten Gesichtspunkt lasse ich aus. Ohne den Rückgriff auf eine höhere übernationale Rechtsebene könnte man mit der Figur des verfassungswidrigen Verfassungsrechts arbeiten, indem man geltend machte, dass das neue Mehrheitserfordernis ein übergeordnetes Prinzip der Verfassung, nämlich die Funktion des Verfassungsgerichts, verletze. Sieht man einmal davon ab, dass diese Erwägung sehr schwach ist, so stellt sich dann wirklich die Frage, ob die Entscheidung nach altem oder neuem Recht zu treffen wäre.

Vorab ist festzuhalten, dass das Reformgesetz sofort in Geltung gesetzt worden ist. Daher käme es weiter darauf an, ob verfassungswidrige Gesetze ipso jure als nichtig anzusehen sind, so dass der Verfassungsgerichtshof ihre Verfassungswidrigkeit nur festgestellt, oder ob erst diese Feststellung das verfassungswidrige Gesetz vernichtet. Aus der Logik des Stufenbaus der Rechtsordnung folgt eigentlich das so genannte Nichtigkeitsdogma. Der Verstoß eines Gesetzes gegen die Verfassung hat danach ipso jure und ex tunc die Nichtigkeit der Norm zur Folge. Es bedarf dazu keiner vorgängigen Entscheidung des Verfassungsgerichts.

Die Lehre von der Ipso-jure-Nichtigkeit steht allerdings keineswegs außer Streit. Die automatische Nichtigkeit kann dazu führen, dass Lücken gerissen werden, die gravierender sind als die vorläufige Geltung des verfassungswidrigen Gesetzes. Das Bundesverfassungsgericht begegnet diesem Problem mit der so genannten Unvereinbarkeitserklärungen. In der Theorie versucht man, diese Urteilspraxis mit der Lehre von der Nichtigerklärung zu rechtfertigen. Sie besagt, dass ein verfassungswidriges Gesetz nicht ipso jure und ex tunc nichtig ist, sondern erst durch rechtsgestaltendes Urteil des Verfassungsgerichts ex nunc vernichtet wird.

Die theoretische Grundlage der Verfassungsgerichtsbarkeit hatte eigentlich die Stufenbaulehre von Adolf Merkl und Hans Kelsen geliefert, indem sie zeigte, dass Rechtssetzung, auch wenn sie durch den Gesetzgeber erfolgt, Rechtsanwendung ist und insoweit von einem Gericht kontrolliert werden kann. Auf den ersten Blick scheint die Lehre von der Nichtigerklärung mit der Stufenbautheorie unvereinbar zu sein. Doch wenn logische Widersprüche auftauchen, kann man sie durch die Einführung von Zusatzannahmen ausräumen. Das hat in diesem Falle kein geringerer als Kelsen selbst getan. Aus der Tatsache, dass eine Verfassung ein Normenkontrollverfahren vorsieht, wollte Kelsen folgern: »Die sogenannten ›verfassungswidrigen‹ Gesetze sind verfassungsmäßige, aber in einem besonderen Verfahren aufhebbare Gesetze«[8]. Er baute damit in die Verfassung eine zusätzliche Norm ein, die besagt, dass verfassungswidrige Gesetze gültig sind, bis sie von dem zuständigen Gericht für nichtig erklärt werden. In Österreich ist diese Theorie geltendes Verfassungsrecht.

Für unser Problem bedeutet das: Folgt man der Nichtigkeitslehre, so ist klar, dass die Entscheidung über die Geltung des Reformgesetzes mit einfacher Mehrheit erfolgen kann, wenn es denn verfassungswidrig ist. Verlangt man dagegen eine konstitutive Nichtigerklärung, liegt die Sache weniger klar. Wenn verfassungswidrige Gesetze gültig sind, bis sie von dem zuständigen Gericht für nichtig erklärt werden, müsste eigentlich für das Normenkontrollverfahren die qualifizierte Mehrheit des Reformgesetzes verlangt werden. Wenn man dieses Ergebnis nicht als Argument gegen die Vernichtbarkeitslehre ausreichen lässt, kann man noch nach einer ungeschriebenen übergeordneten Norm suchen. Man denkt vielleicht an eine Regel, dass Vorschriften grundsätzlich nicht selbstbezüglich angewendet werden dürfen. Aber eine solche Regel gibt es nicht, und sie wäre auch nicht zu begründen. Wenn etwa eine Satzung vorsieht, dass alle Änderungsbeschlüsse mit einfacher Mehrheit zu treffen sind, so besteht kein Bedenken, dass mit einfacher Mehrheit beschlossen wird, dass künftig nur noch mit qualifizierter Mehrheit zu beschließen sei. Die gesuchte Regel könnte nur eingeschränkt besagen, dass die Normenkontrolle nicht durch Selbstbezüglichkeit der zu kontrollierenden Norm präjudiziert werden darf. Das wäre der Fall, wenn das neue Mehrheitserfordernis eine Vernichtung des Reformgesetzes verhinderte. Aber auch dazu müsste man sich zunächst wieder über die Verfassungswidrigkeit des Reformgesetzes einig sein. Es gibt also keine logisch klare Lösung. Man muss sich entscheiden.

Was die Entscheidung über das Reformgesetz vom 22. Dezember 2015 als einfaches Gesetz betrifft, liegen die Dinge kaum einfacher. Die Prüfungskompetenz des Verfassungsgerichtshofs steht außer Frage. Das Gesetz ist ayuch insoweit ohne Aufschub in Kraft getreten, verlangt also eigentlich seine sofortige Anwendung. Hier ist die materielle Frage nach der Verfassungsmäßigkeit etwas leichter zu beantworten. Allerdings fehlt es auch insoweit an einem klaren Verfassungsverstoß. Die Verfassungsmäßigkeit lässt sich nur aus dem Zusammenwirken der verschiedenen Details der Reform begründen, die dazu führen, dass der Gerichtshof praktisch lahm gelegt wird.

Unterstellt also, das Reformgesetz wäre deshalb verfassungswidrig, stellt sich die Situation ähnlich wie hinsichtlich der Änderung des Art. 190 Nr. 5 dar. Folgt man dem Nichtigkeitsdogma, ist das Gesetz mit seiner Regelung des Quorums und der Geschäftsordnung unanwendbar. Folgt man dagegen der Lehre von der Vernichtbarkeit, stellt sich wieder die Frage, ob seine Anwendung an der Selbstbezüglichkeit scheitern muss. Und erneut ist die Antwort vom Ergebnis abhängig.

Eine Komplikation entsteht noch daraus, dass die Verfassungsänderung und die Reform des Verfahrens getrennt zu beurteilen sein könnten. Die Art. 190 Nr. 5 betreffende Verfassungsänderung und die Änderung des einfachen Rechts aus Art. 197 scheinen formell in einem Gesetz zusammengefasst worden zu sein.[9] Damit stellt sich für den Fall, dass man die Verfassungsänderung als solche für zulässig hält, analog § 139 BGB die Frage nach Gesamtnichtigkeit oder Teilnichtigkeit des Gesetzes. Die Änderung der Mehrheitsregel nach Art. 190 Nr. 5 ist wohl ein selbständiger Teil des Reformpakets, der für sich Bestand haben kann. Das hätte zur Folge, zwar eine Zweidrittel-Mehrheit erforderlich, das neue Quorum dagegen unbeachtlich wäre. Wenn also zwei Drittel der beteiligten Richter einfachgesetzliche Vorschriften des Reformgesetzes für nichtig erklären, dann sind sie nichtig. Auf das Quorum kommt es nicht an und auch nicht auf die Beachtung des neuen Gebots der Entscheidung nach der Reihenfolge des Eingangs. Ein Verstoß dagegen könnte wohl ohnehin nur einen für die Wirksamkeit der Entscheidung unerheblichen Verfahrensfehler begründen.

Nach alledem ist letztlich gar keine Stellungnahme zur Problematik selbstbezüglicher Vorschriften notwendig.

PS: Ein Tweet von Christian Boulanger verweist darauf, das sich das Rad in Polen schon weiter gedreht hat

[1] Stellungnahme der Venedig Kommission Nr. 33.

[2] Ebd. Nr. 39.

[3] Ebd. Nr. 41.

[4] Dazu Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 108ff.

[5] Der Artikel ist im selben Jahr auf Deutsch erschienen: Nomic: ein Spiel, das die Rückbezüglichkeit im Rechtswesen auslotet, Spektrum der Wissenschaft, August 1982, 8-13. Das Nomic-Spiel hatte Peter Suber erfunden. Er hatte es damals noch nicht veröffentlicht, aber mit Hofstadter diskutiert. Suber veröffentlichte sein Buch »The Paradox of Self-Amendment« erst 1990. Vgl. auch von Suber den kurzen Lexikon-Artikel Self-Reference in Law, 1999.

[6] Ein analoges Problem stellt sich auch ganz trivial im Vertragsrecht. Häufig wird in Verträgen, die nach dem Gesetz formlos abgeschlossen werden können, Schriftform vereinbart, die insbesondere auch für Änderungen des Vertrages gelten soll. Kaum weniger häufig werden dann doch formlos neue Abreden getroffen, so dass die Frage entsteht, ob die Schriftformklausel auf sich selbst anwendbar ist oder ob sie mündlich, eventuell sogar konkludent, aufgehoben werden kann Näher Florian Wagner-von Papp, Die privatautonome Beschränkung der Privatautonomie, AcP 205, 2005, 342; Micha Bloching/Daniel Ortloff, Schriftformklauseln in der Rechtsprechung von BGH und BAG, NJW 2009, 3393-3397.

[7] Ebd. Nr. 43.

[8] Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960, S. 278.

[9] Vgl. Stellungnahme der Venedig Kommission Nr. 30.

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Semantische Ohnmacht

In der Reihe von Einträgen unter dem Obertitel »Diszipliniert Foucault« fehlt noch immer ein Posting zu Foucaults Machtbegriff. Ein Problem, mit dem ich mich (nicht als erster) herumschlage, besteht darin, dass der Machtbegriff seine Konturen zu verlieren scheint, wenn man Max Webers Herrschaftskonzept verlässt und Foucaults »Mikromacht« oder »kapillare Macht« unter einen allgemeineren Machtbegriff subsumiert.

Es gibt so viele Mächte. Bei der Lektüre eines Aufsatzes von Fabian Steinhauer [1]Fabian Steinhauer, Montagen des Rechts. Ein Lehrbuch von Hermann Jahrreiss, Zeitschrift für Medienwissenschaft (ZfM), 111-123, S. 112. ist mir der Begriff der semantischen Macht untergekommen. (Steinhauers Aufsatz verdient in anderem Zusammenhang einen separaten Eintrag). Die Rede von der Macht der Sprache oder von Definitionsmacht ist durchaus verbreitet. Steinhauer nennt als Urheber dieses Begriffs Armin von Bogdandy und Ingo Venzke mit einem 2014 bei Suhrkamp erschienen Titel [2]In wessen Namen? Internationale Gerichte in Zeiten globalen Regierens, Berlin (Suhrkamp) 2014, 152 – 154. Ich habe die Stelle nicht nachgelesen. Es scheint sich um die Buchversion einer Arbeit zu handeln, die in Aufsatzform schon mehrfach publiziert wurde. [3]Zur Herrschaft internationaler Gerichte: Eine Untersuchung internationaler öffentlicher Gewalt und ihrer demokratischen Rechtfertigung, ZaöRV 70, 2010, 1-49, und auf Englisch in: The European … Continue reading. In diesen Aufsätzen ist noch nicht von »semantischer Macht«, aber doch von »semantischem Kampf« die Rede, und zu dieser Figur werden Ralf Christensen und Michael Sokolowski [4]Recht als Einsatz im Semantischen Kampf, in: E. Felder (Hg.) Semantische Kämpfe, Macht und Sprache in den Wissenschaften, 2006, 353. Ekkehard Felder stellt sein Einleitungskapitel unter das Motto » … Continue reading zitiert. Gugelt man nach »semantischer Macht«, so findet man den Ausdruck spätestens ab 2001. Nach einer Wiener Diplomarbeit [5]Michaela Müllner, Stadtrythmen, 2009, S. 42. zu urteilen, könnte Roland Barthes [6]Das semiologische Abenteuer, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1988, S. 201f. (oder sein Übersetzer) der Erfinder des Begriffes sein. Oder sollte man dem Pseudo-Anonymus MortenMorten für einen Eintrag vom 27. Februar 2013 auf der berüchtigten Internetseite Politically Incorrect die Ehre der Urheberschaft zubilligen?

Warum diese Beckmesserei? Drei Gesichtspunkte haben mich veranlasst, darauf eine reichliche Zeitstunde zu verwenden.

Erstens: Es ist gar nicht so einfach zu entscheiden, welche Begriffe als Allgemeingut der Wissenschaft keines Nachweises bedürfen. Was für Begriffe gilt, gilt auch für Sätze, denn Begriffe sind bekanntlich Namen für Sätze.

Zweitens: Um ja keinen Verstoß gegen die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis zu begehen, werden viel mehr Nachweise verwendet als notwendig, und das ist nicht nur generell von Übel, sondern besonders dann, wenn die genannte Quelle keine originale ist.

Drittens: Wissenschaftliche Publikationen schaffen es auf diese Weise, immer wieder als neu erscheinen zu lassen, was als Allgemeinwissen in der Luft liegt.

Darüber bin ich in semantische Ohnmacht gefallen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Fabian Steinhauer, Montagen des Rechts. Ein Lehrbuch von Hermann Jahrreiss, Zeitschrift für Medienwissenschaft (ZfM), 111-123, S. 112.
2 In wessen Namen? Internationale Gerichte in Zeiten globalen Regierens, Berlin (Suhrkamp) 2014, 152 – 154.
3 Zur Herrschaft internationaler Gerichte: Eine Untersuchung internationaler öffentlicher Gewalt und ihrer demokratischen Rechtfertigung, ZaöRV 70, 2010, 1-49, und auf Englisch in: The European Journal of International Law 23, 2012; 7-41.
4 Recht als Einsatz im Semantischen Kampf, in: E. Felder (Hg.) Semantische Kämpfe, Macht und Sprache in den Wissenschaften, 2006, 353. Ekkehard Felder stellt sein Einleitungskapitel unter das Motto » Herrschaft und Macht werden auch über Semantik ausgeübt.«.
5 Michaela Müllner, Stadtrythmen, 2009, S. 42.
6 Das semiologische Abenteuer, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1988, S. 201f.

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Negantis maior potestas: Der strategische Vorteil des Skeptikers

Im Alter freut man sich an alten Weisheiten. Bei Georg Jellinek[1] lese ich:

»Wenn irgendwo, so gilt auf dem Gebiete der ethischen Wissenschaften der Satz: Negantis maior potestas. Der beharrlich Leugnende ist dadurch stets im Vorteil, dass sich dem absolut Widerstrebenden kein theoretisch zwingender Beweis irgend einer ethischen Grundanschauung geben lässt, die bis zu einem gewissen Grade stets Sache nicht weiter ableitbarer persönlicher Ueberzeugung ist.«

Den Ursprung der Parömie habe ich nicht ermitteln können. Mit Gugels Hilfe war nur zu erfahren, dass auch Kelsen sie einst verwendet hat. Der für das römische Recht zuständige Fakultätskollege Fabian Klinck bestätigt, dass sie in den Quellen des römischen Rechts nicht vorkommt.[2] Er meint, vielleicht handle es sich um eine Umformung des Satzes »negantis nulla probatio«, der auf Diocl. C. 4, 19, 23 und Diocl. C. 4, 30, 10 zurückgeht, oder des Satzes »Ei incumbit probatio, qui dicit, non qui negat« (Paul. D. 22, 3, 2), beides zu finden bei Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter.[3] Sollte unter meinen Lesern jemand die Quelle der Sentenz kennen, wäre ich für einen Hinweis dankbar.

Natürlich geht es hier um die allen Juristen geläufige Beweislastregel, nach der derjenige, der (eine ihm günstige) Tatsache behauptet, den Beweis erbringen muss. In der abstrakten Formulierung, in der die Sentenz von Jellinek verwendet wurde, trägt sie jedoch weiter als im Rechtsprozess. Jellinek zieht sie für das Werturteilsproblem heran. Sie erklärt aber auch den Zustand der Epistemologie.

Es gehört zur Eigendynamik jeder Argumentation, dass sich der Neinsager in einer strategisch besseren Position befindet. Das zeigt sich im Extrem am so genannten Fundamentalproblem der Wissenschaftstheorie oder am Regelskeptizismus der Sprachphilosophie und führt die Skeptiker zu einem fundamentalistischen Antifundamentalismus. Den radikalen Skeptiker kann man nicht überzeugen. Man sollte ihn deshalb auch nicht zu ernst nehmen.

[1] Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. 1905, S. 11. S. 32 wird die Sentenz noch einmal angeführt: »Sätze wie: negantis maior potestas, Vorgänge wie die Kassation eines Urteils durch die obere Instanz sind vom empirisch-psychologischen Standpunkte aus einfach unerklärlich. Sie sind aber nicht etwa Fiktionen, denn die ihnen zugrunde liegenden Tatbestände sind die des praktischen Lebens imd der praktischen täglichen Anschauungen. Vor dem Richterstuhl einer absoluten Erkenntnis allerdings zerstäuben sie in nichts.«

[2] Herr Klinck hat mich bei dieser Gelegenheit auf das im Internet frei verfügbare Programm amanuensis hingewiesen, dass sich in der Tat ganz hervorragend zur Recherche in römischen Rechtstexten eignet.

[3] Es lassen sich noch weitere Versionen ergugeln, jedoch alle ohne Quellenangabe: Auf der spanischen Seite Aforismos y latinazgos heißt es: Negantis factum nulla est probatio. Maxims of Law from Bouvier’s 1856 Law Dictionary führen an: Affirmati, non neganti incumbit probatio.

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