Die Invisibilisierung des (zweiten) Mediationsparadoxes

Am 26. September fand im Landgericht Hannover der Konfliktmanagement-Kongress 2015 mit (Referenten eingeschlossen) über 300 Teilnehmern statt. Die Organisation war perfekt. Zur perfekten Organisation gehört auch die bemerkenswerte Dokumentation des Verlaufs im Internet. [1]Rückblick auf den 12. Konfliktmanagement-Kongress am 25./26.9.2015. Für das leibliche Wohl der Teilnehmer einschließlich Goodies war so überreichlich gesorgt, dass Kritik am Mediationsprojekt in weite Ferne rückte. Aber es lässt sich nicht verbergen: Die Mediation als Alternative zum Gerichtsverfahren ist ein Diffusionsflop. In der Begründung zur Zertifizierten-Mediatoren-Ausbildungs-Verordnung – ZMediatAusbV – des Verbraucherschutzministeriums war von aktuell 7500 ausgebildeten Mediatoren die Rede. Von denen wird erwartet, dass sie jährlich mindestens zwei Mediationsverfahren führen, um ihre Zertifizierung zu behalten. Reiner Ponschab, sicher einer der Kenner der Szene, meinte dazu, dass die dazu erforderlichen 15.000 Fälle im Jahr kaum erreicht werden dürften. [2]Stolpersteine aus dem Weg räumen, Online-Magazin »Dispute Resolution«, o. J. (2014).

In Hannover sollte ich bei dem Versuch helfen, eine Erklärung für die Mediationsabstinenz des Publikums zu finden. Vor zwei Jahren hatte ich insoweit vom zweiten Mediationsparadox gesprochen. Zur Erinnerung: Als Mediationsparadox hatten McEwen und Milburn [3]Craig A. McEwen/Thomas W. Milburn, Explaining a Paradox of Mediation, Negotiation Journal, 1993, 23-36. das bemerkenswerte Phänomen bezeichnet, dass die obligatorische Teilnahme an einem Mediationsverfahren die Erfolgsrate nicht wesentlich beeinträchtigt. Auch hier gilt das von mir so genannte Naturgesetz der Vermittlung, nach dem konstant etwa zwei Drittel aller Mediationsverfahren mit einer Einigung enden, wenn es gelingt, die Parteien an den Verhandlungstisch zu bringen. Als zweites Mediationsparadox bezeichne ich die Beobachtung, dass die Mediation ungenutzt bleibt, obwohl sie doch so erfolgreich, nämlich schneller, besser und billiger als Gerichtsverfahren sein soll.

Eine einfache Erklärung für diesen merkwürdigen Widerspruch ist nicht zu finden. Justus Heck (Universität Bielefeld) versuchte es mit einer Mischung aus Systemtheorie und Neoinstitutionalismus: Die Mediation sei in den letzten Jahrzehnten zu einem wissenschaftlich gestützten Weltprojekt geworden, dem sich niemand entziehen wolle, das aber nur der Außendarstellung von Justiz, Anwaltschaft und anderen Institutionen diene und nicht wirklich gelebt werde. Das mag eine bis zu einem gewissen Grade zutreffende Beschreibung der Mediationsabstinenz sein, erklärt sie aber nicht wirklich.

Auch mir fiel für diese Veranstaltung nicht mehr ein, als die bekannten Hypothesen [4]Vgl. den Eintrag vom 2. März 2010 aufzuzählen und sie geringfügig zu ergänzen. Neu erfunden habe ich eine Verbraucher- schutzhypothese und eine Entmündigungshypothese.

Nach der bekannten Streitkulturhypothese gibt es eine verbreitete kulturelle Disposition gegen Vermittlung und Kompromiss. Insbesondere wir Deutschen sagen uns selbst übertriebene Streitsucht nach. Daher betonen die Befürworter der Mediation, das Ziel aller Anstrengungen müsse eine Veränderung der Streitkultur sein. McEwen und Milburn halten entgegen, dass die Streitkulturhypothese auf einem Zirkelschluss beruhen könnte, weil die Streitkultur erst durch die Beobachtung des Streitverhaltens erschlossen werde. Das ist nicht von der Hand zu weisen, denn nun gibt es eine neue Entwicklung, die an einer verfestigten Streitkultur zweifeln lässt. Seit 2005 hat die die Zahl der Zivilprozesse ganz erstaunlich abgenommen hat, und zwar gegenüber dem Jahr 2000 bei den Amtsgerichten um über 20 % und bei den Landgerichten um knapp 15 %. [5]Prof. Christian Wolf von der Universität in Hannover hat zum Juristentag 2014 eine Zivilprozeßstatistik zusammengestellt, die einen um noch 10 % höheren Rückgang der Amtsgerichtsverfahren … Continue reading Da liegt es nahe, diesen Rückgang auf Alternativen zur Justiz zurückzuführen. Ich kenne allerdings keine Statistik, die einen vergleichbaren Anstieg der Mediationsverfahren zeigt. Um hier wirklich von einer Entlastungsfunktion der Alternativverfahren sprechen zu können, müsste man möglichst viele andere Gründe für den Rückgang der Prozessflut ausschließen.

Einen solchen Grund benennt meine Verbraucherschutzhypothese. In den Anfangszeiten der Alternativenbewegung suchte man nach einer einfachen und kostengünstigen Alternative besonders auch für Verbraucherstreitigkeiten, die nur schwer Zugang zu den Gerichten fanden. In vielen Gewerbezweigen wurden dazu so genannte Schieds- und Schlichtungsstellen eingerichtet. Aber auch die waren letztlich kein echter Erfolg. Im Laufe er letzten Jahrzehnte hat sich auf diesem Gebiet jedoch viel geändert. Das gilt zunächst für das materielle Recht, das die Rechte der Verbraucher in vieler hinsichtlich erheblich gestärkt hat mit der Folge, dass die Anbieter begründeten Beschwerden auch ohne Nachhilfe eher nachkommen. Das ist ein Gesichtspunkt, der m. E. unterschätzt wird. Die Rechtslage ist für die Verbraucher heute relativ klar und günstig. Und die größeren Unternehmen haben gelernt, dass Kulanz ein gutes Marketing ist. Außerdem gibt es jetzt für besonders streitanfällige Branchen hochkarätig besetzte Ombudsmänner und Beschwerdestellen, die viele Fälle auf sich ziehen und sie ganz überwiegend auch im Verbraucherinteresse erledigen. Das geschieht in einem objektiven Prüfungsverfahren. Mit Mediation hat das nichts mehr zu tun. Die Mediation wäre für die auf der Passivseite beteiligten Anbieter von Waren und Dienstleistungen viel zu aufwendig, fordert sie doch die Anwesenheit mindestens eines Bevollmächtigten in einer Präsenzverhandlung. [6]Eine Form des Verbraucherschutzes ist auch das Verbraucherinsolvenzverfahren. In demselben Zeitraum, in dem die Eingänge beim Amtsgericht um 20 % zurückgegangen sind, ist die Anzahl der … Continue reading

Die Entmündigungsthese – vielleicht gibt es einen prägnanteren Namen [7]Z. B. Autarkiehypothese oder Selbständigkeitshypothese. – besagt, dass Menschen sich entmündigt fühlen, wenn man ihnen zumutet, für Kompetenzen, die sie sich selbst zutrauen, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Man ist zwar durchaus bereit, sich abstrakt über Kommunikationsprobleme, Verhandlungstechniken und auch über psychische Probleme, zu informieren, ist jedoch von der eigenen Kompetenz so überzeugt, dass man sich konkret nicht gerne helfen lässt. Deshalb geht man mit eigenen Problemen nicht gerne zum Psychologen oder gar zum Psychiater. Zumal Anwälte und Geschäftsleute sind davon überzeugt, dass sie selbst kommunizieren und verhandeln können. Und wer dazu noch erlebt hat, wie schnell man in einer arrangierten Gruppe von der Prozessdynamik erfasst wird, obwohl man überzeugt war, man könne an dem Prozess bloß als Beobachter teilnehmen, der wird befürchten, durch eine Mediation irgendwie manipuliert zu werden. Solche Befürchtungen wirken, auch wenn sie nicht zutreffen.

Die von Maurits Barendrecht [8]Understanding the Market for Justice. (TISCO Working Paper Series on Civil Law and Conflict Resolution Systems, 06/2009. übernommene Transaktions- kostenhypothese habe ich noch etwas ausgebaut. Anschließend vertiefte der Psychologe Peter Fischer aus Regensburg diese Hypothese auf seine Art, indem er zunächst erklärte, etwa 70 % aller Handlungsentschlüsse seien durch Abwägung von positiven und negativen Erwartungen begründet, und sodann einige negative Erwartungen aufzählte, die mit der Aussicht auf ein Mediationsverfahren verbunden sein könnten. Dazu gehöre neben der Furcht vor dem Unbekannten des Verfahrens auch die Scheu vor einer direkten Kommunikation mit dem Streitgegner. Zu meiner Entmündigungsthese verwies Fischer auf die Psychotherapie. Auch dieses Angebot sei vor einigen Jahren in Deutschland, anders als in den USA, kaum angenommen worden. Inzwischen gebe es eine rege Nachfrage, so dass man auf Therapieplätze mehrere Monate warten müsse. Mediation könnte sich ähnlich entwickeln.

Meine vorsichtigen Hinweise, dass in der Literatur durchaus auch kritische Stellungnahmen zu Mediation zu finden seien [9]Vgl. den Eintrag »Mit harten Bandagen in die Mediation?«., führte zu keiner Nachfrage, und auch mein Fazit stieß auf taube Ohren. Als Ergebnis hatte ich festgehalten: Die angeführten Hypothesen sind mehr oder weniger plausibel. Aber keine hat für sich genommen hinreichende Erklärungskraft, und wahrscheinlich reichen auch alle zusammen noch nicht aus, um die Mediationsabstinenz zu erklären. Vor allem aber zeigen sie keinen Ausweg, wie man der Mediationsverweigerung anders als durch Druck beikommen könnte. Diesen Ausweg hat kürzlich Eidenmüller in einem großen Aufsatz in der Juristenzeitung vorgeschlagen. [10]Obligatorische außergerichtliche Streitbeilegung: Eine contradictio in adiecto?, Juristenzeitung, 2015, 539-547. Damit redet er einem m. E. unerträglichen Paternalismus das Wort (und entfernt sich von seiner früheren, relativ liberalen Stellungnahme zum Paternalismusproblem [11]Liberaler Paternalismus, Juristenzeitung 2011, 814-821; dazu der Eintrag »Kirste und Eidenmüller über Selbstbestimmungsrecht und Paternalismus«.).

Bisher konnte man sich trösten: Gut Ding will Weile haben. Der Gütegedanke braucht Zeit, um sich durchzusetzen. Heute kann man wohl sagen, dass die Zeit für einen solchen »In-the-Long-Run-Optimismus« abgelaufen ist. Die vielen Versuche, den Gütegedanken zu institutionalisieren, die im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu beobachten waren, mag man vergessen, weil die historische Kontinuität nicht gegeben ist. Aber nun sind wieder 40 Jahre vergangen, in denen aus Wissenschaft und Rechtspolitik, von Professionen und aus der Zivilgesellschaft kontinuierlich für die außergerichtliche Streitbeilegung geworben wurde. Deshalb ist es jetzt wohl an der Zeit, dass die Rechtspolitik aus dem Mediationstraum erwacht und die weitere Entwicklung den freien Kräften überlässt. Genug gefördert. Entweder die Sache lebt aus sich heraus, oder sie taugt nicht viel.

Die Justizministerin Niewisch-Lennartz hatte in ihrer Eröffnungsrede die Frage gestellt, wer denn Schuld daran trage, dass die Mediation nicht ankomme, ob es an »den« Rechtsanwälten oder »der« Justiz läge? Ob Konzepte zur Mediationsverpflichtung helfen könnten? Um eine gründliche Diskussion führen zu können, müsse man grundlegende Forschungsarbeit leisten. Bericht Kieper. Am Ende des Forums 5 stellte die Moderatorin Beatrice Rösler ein Projekt mit dem (mir) rätselhaften Namen GANDALF vor, dass von der der Deutschen Stiftung Mediation [12]Die Stiftung präsentiert sich auf einer gut gestalteten Webseite. Aber wer dahinter steckt und wer GANDOLF ist, erfährt man dort nicht. getragen wird. Mit dem Projekt soll wissenschaftlich und interdisziplinär untersucht werden, warum sich Mediation in Deutschland so schwer tut. Meinen Einwand, es sei zur Sache schon so viel geforscht, dass keine grundsätzlich neuen Einsichten zu erwarten seien, wollte niemand mehr hören. Sinnvoll wäre eine Metastudie, die die zahlreich vorhandenen Einzeluntersuchungen unter den Leitgesichtspunkten der soziologischen Diffusionstheorie ordnet und zusammenfasst.

Nun endlich zu der in der Überschrift angekündigten »Invisibilisierung« des Mediationsparadoxes. In meinem »Impulsvortrag« hatte ich McEwen und Milburn (S. 31) zitiert mit dem Satz »The paradox of mediation is that it offers disputing parties precisely what they do not want when they most need it.« und dazu ironisch angemerkt, das sei nun schon das dritte Mediationsparadox. Doch das wurde, wie der zusammenfassende Bericht über das Forum zeigt [13]Robert Glunz, Konfliktmanagementkongress 2015 – Forum 5 Warum kommt Mediation nicht an? – Kann die Wissenschaft das Paradoxon lösen?., ernst und wichtig genommen, weil, um es mit Christian Morgenstern zu sagen, »nicht sein kann, was nicht sein darf«. Irgendwie muss das (zweite) Mediationsparadox aus der Welt. Die gängige Invisibilisierungsstrategie wurde – ganz unbeabsichtigt – von Jakob Tröndle vorgetragen: [14]Das ist meine leicht missbräuchliche Verwendung seines lesenswerten Vortrags »Mediationsdefizit« – Voraussetzungen eines Problems. Das Mediationsprojekt oder – im kulturwissenschaftlichen Jargon – der Mediationsdiskurs war und ist so erfolgreich, dass die ausbleibende Nachfrage als Mediationsdefizit erscheint. Das gelte aber nur, wenn man den Blick eng auf das »idealtypische Mediationssetting« richte. Wirkung und Verbreitung von Mediation müssten »nicht eins zu eins mit den Anwendungszahlen« typischer Mediationsverfahren gleichgesetzt werden. »Mediation entfaltet ihre Wirkung auf unsere Gesellschaft wohl vorwiegend indirekt, das heißt über den Transfer, den Mediatorinnen und Mediatoren aus ihren Ausbildungen in ihre bisherigen Arbeitsfelder und auch ihre private Lebensgestaltung mitnehmen.« Damit schlug Tröndle eine Richtung ein, in die Stephan Breidenbach vorangegangen war. Von einer Jubiläumsveranstaltung »10 Jahre Master-Studiengang Mediation an der Europa-Universität Viadrina« heißt es:

»In seinem Impulsvortrag am Vorabend des Kongresses steckte Prof. Dr. Stephan Breidenbach den thematischen Rahmen ab: In einer persönlichen Rückschau betonte er insbesondere die Bedeutung des geschulten Blickes auf individuelle Interessen als ›evolutionären Schritt‹ mit gesellschaftstransformatorischer Wirkung. Bei der weiteren Entwicklung der Mediation in Deutschland müsse die Mediation über die Fokussierung auf Konflikte hinausgehen und als Verfahren zur Begleitung komplexer Entscheidungsprozesse verstanden, gelehrt und praktiziert werden. Es sei an der Zeit, dass ausgebildete Mediatoren nicht ›den Konflikt‹, sondern ›das Leben‹ als Lern- und Anwendungsfeld begriffen.«

So wird das (zweite) Mediationsparadox hinter evolutionärem Fortschritt unsichtbar gemacht.

Noch mehr Mediationsparadoxien (Nachtrag vom 17. Oktober 2015)

Erst im Anschluss an die Hannoveraner Tagung habe ich von Justus Heck den Artikel »Mediationsforschung als Selbstbeschreibung. Ein soziologischer Kommentar« gelesen, der in der Zeitschrift »Perspektive Mediation« [15]Die Zeitschrift erscheint im elibrary Verlag Österreich und ist nicht frei zugnglich. 2015 Heft 1 S. 26-31 erschienen ist. Darin stellt Heck einige Probleme der Mediation in relativ aufwendiger theoretischer Verpackung als »Paradoxien« dar. Er hält die Verpackung für notwendig, weil Selbstbeschreibungen einschließlich Reflexionsthorien immer affirmativ seien. Ob das schlechthin zutrifft, wage ich zu bezweifeln. [16]Ein Gegenbeispiel gibt ein Artikel von David A. Hoffmann, auf den Heck sich stützt: Paradoxes of Mediation, American Bar Association Magazine – Fall/Winter 2002. Dort stellt sich der Autor Hoffman … Continue reading Aber richtig ist sicher, dass die gängige Mediationsforschung affirmativ ist und daher viele Probleme nicht in den Blick bekommt. Daher ist Hecks »Fremdbeschreibung« verdienstvoll. Das Grundproblem findet Heck in dem »Paradox aus Mediatorintervention und Selbstbestimmung der Parteien«, ein anderes in der bei den Beteiligten geweckten Erwartung, es könnten nach dem Muster des »berüchtigten Orangen-Beispiels« alle ohne Zugeständnisse aus dem Verfahren herauskommen.

Das erste Heft der Zeitschrift für Rechtssoziologie soll 2016 als Themenheft zur »Soziologie der Mediation« erscheinen. Darin ist auch ein Beitrag von Justus Heck über »Den beteiligten Unbeteiligten. Wie vermittelnde Dritte Konflikte transformieren« vorgesehen. Ich habe diesen Beitrag schon gelesen, und fand das der Mühe wert, kann aber natürlich hier nichts vorweg nehmen.

2. Nachtrag vom 18. 10. 2015: Eben finde ich auf SSRN ein Manuskript von Lydia R. Nussbaum, Mediation as Regulation: Expanding State Governance Over Private Disputes, das für den Utah Law Review 2016 bestimmt ist. Nussbaum beschreibt für die USA als De-facto-Entwicklung, was Eidenmüller sich für Deutschland wünscht, die breite Institutionalisierung der Mediation als obligatorisch. Das Manuskript ist so lang, dass ich es nicht wirklich gelesen habe.

3. Nachtrag vom 17. 11. 2015: Das Bundesjustizamt hat (schon im Oktober) eine Ausschreibung zu Vergabe eines Forschungsvorhabens zum Thema »Evaluierung des Mediationsgesetzes« veröffentlicht.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Rückblick auf den 12. Konfliktmanagement-Kongress am 25./26.9.2015.
2 Stolpersteine aus dem Weg räumen, Online-Magazin »Dispute Resolution«, o. J. (2014).
3 Craig A. McEwen/Thomas W. Milburn, Explaining a Paradox of Mediation, Negotiation Journal, 1993, 23-36.
4 Vgl. den Eintrag vom 2. März 2010
5 Prof. Christian Wolf von der Universität in Hannover hat zum Juristentag 2014 eine Zivilprozeßstatistik zusammengestellt, die einen um noch 10 % höheren Rückgang der Amtsgerichtsverfahren ausweist. (Zivilprozess in Zahlen). Das liegt allerdings daran, dass er als Basisjahr 1995 gewählt hat, das Jahr mit den höchsten Eingängen überhaupt. In jedem Fall ist der Rückgang der Prozessflut bemerkenswert.
6 Eine Form des Verbraucherschutzes ist auch das Verbraucherinsolvenzverfahren. In demselben Zeitraum, in dem die Eingänge beim Amtsgericht um 20 % zurückgegangen sind, ist die Anzahl der Verbraucherinsolvenzen auf bis zu 150.000 jährlich gestiegen. Das sind wiederum fast 20 % der jährlichen Amtsgerichtsklagen. Ob und wie da ein Zusammenhang besteht, vermag ich nicht zu sagen. Ziemlich sicher ist nur: Wer Insolvenz anmeldet, wird kaum noch klagen.
7 Z. B. Autarkiehypothese oder Selbständigkeitshypothese.
8 Understanding the Market for Justice. (TISCO Working Paper Series on Civil Law and Conflict Resolution Systems, 06/2009.
9 Vgl. den Eintrag »Mit harten Bandagen in die Mediation?«.
10 Obligatorische außergerichtliche Streitbeilegung: Eine contradictio in adiecto?, Juristenzeitung, 2015, 539-547.
11 Liberaler Paternalismus, Juristenzeitung 2011, 814-821; dazu der Eintrag »Kirste und Eidenmüller über Selbstbestimmungsrecht und Paternalismus«.
12 Die Stiftung präsentiert sich auf einer gut gestalteten Webseite. Aber wer dahinter steckt und wer GANDOLF ist, erfährt man dort nicht.
13 Robert Glunz, Konfliktmanagementkongress 2015 – Forum 5 Warum kommt Mediation nicht an? – Kann die Wissenschaft das Paradoxon lösen?.
14 Das ist meine leicht missbräuchliche Verwendung seines lesenswerten Vortrags »Mediationsdefizit« – Voraussetzungen eines Problems.
15 Die Zeitschrift erscheint im elibrary Verlag Österreich und ist nicht frei zugnglich.
16 Ein Gegenbeispiel gibt ein Artikel von David A. Hoffmann, auf den Heck sich stützt: Paradoxes of Mediation, American Bar Association Magazine – Fall/Winter 2002. Dort stellt sich der Autor Hoffman selbst als Mediator vor. Ich zitiere diese Arbeit (die ich bisher nicht kannte) nach einem im Internet verfügbaren PDF.

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Berliner Rechtssoziologie-Kongress: Versprechungen gehalten

Vom 9. bis 11. September fand in Berlin der dritte Kongress der deutschsprachigen Rechtssoziologie-Vereinigungen »Die Versprechungen des Rechts« statt. Die erste Veranstaltung dieser Art gab es 2011 in Luzern, die zweite 2013 in Wien. Die Berliner Tagung hat, soweit ich beobachten konnte, alle Erwartungen erfüllt, die man an eine solche Veranstaltung haben kann. Das Programm verzeichnet 220 aktive Teilnehmer. Den Veranstaltern war es gelungen, nicht wenige Teilnehmer aus Fächern wie Rechtsethnologie, Politikwissenschaft und Governance-Forschung zu mobilisieren, die (wie ich zu sagen pflege) Rechtssoziologie unter fremdem Namen betreiben. Die Tagung war makellos organisiert. Das war wohl nicht zuletzt das Verdienst von Christian Boulanger. Der Tagungsort in der Humboldt-Universität in Berlin-Mitte hatte durch seine Nähe zu Macht und Museen ein gewisses Flair. Susanne Baer hielt am Abend des ersten Tages einen glanzvollen Festvortrag, der den Teilnehmern im Audi-Max den Eindruck vermittelte, dass Rechtssoziologie eigentlich die wichtigste Disziplin sei, wenn es darum geht, die Probleme der Welt mit Hilfe des Rechts zu bewältigen. Das Tagungsformat kopierte das bewährte Muster der Law & Society Association: Bis zu vier Vorträge und möglichst auch noch zwei vorbereitete Kommentare in 90 Minuten. Echte Diskussionen kamen da nicht auf. Aber das ist auch nicht die Funktion solcher Veranstaltungen. Es geht viel mehr um einen Marktplatz der Themen und Ideen und nicht zuletzt um ein Forum, auf dem sich die Anfänger des Fachs das erste oder zweite Mal erproben können. Vermisst habe ich nur, dass praktisch keiner der Referenten seinen Langtext als Paper anbot. Dafür bot das Veranstaltungsprogramm [1]In Buchform mit ISBN-Nr. (978-907230-25-1) herausgegeben von Josef Estermann und Christian Boulanger. relativ ausführliche Zusammenfassungen, und ehrlich, viel mehr hätte man auch kaum lesen können.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 In Buchform mit ISBN-Nr. (978-907230-25-1) herausgegeben von Josef Estermann und Christian Boulanger.

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Hypertext-Sampling nach dem Xanadu-Prinzip:Programm(ierer) gesucht

In der Kunst ist fremdreferenzielles Arbeiten als Collage, Remix, Mashup oder Covering zu einer eigenen Gattung geworden. [1]Leonhard Dobusch/Valle Dordjevic (Hg.), Generation Remix, 2014. Auf der Rechtssoziologie-Tagung »Die Versprechungen des Rechts«, die vom 9. bis 11. September in Berlin stattfinden soll, befasst sich daher ein Panel mit den Wechselwirkungen von Urheberrecht, technologischen Innovationen und künstlerischen Praktiken. Frédéric Döhl spricht über das Mash-Up Genre. Seine (anscheinend noch unveröffentlichte) Habilitationsschrift trägt den Titel »Mashup. Fremdreferenzielles Komponieren und Urheberrecht«. Ich zitiere aus dem Abstract des Referats, das Georg Fischer angekündigt hat: »Referentielle Produktionspraktiken wie Sampling und Covering stehen dabei im Fokus. Beim Sampling werden kurze Ausschnitte (›Samples‹) aus existierenden Musikstücken oder anderen Klängen entnommen, digital verarbeitet und zu neuer Musik zusammengefügt. Dieses ›Cut-and-Paste‹-Verfahren bildet die Grundlage für sog. ›Remixes‹. Beim Covering wird die Komposition eines Stückes neu eingespielt und dabei absolut originaltreu behandelt: Melodie, Rhythmus, Arrangement und Text werden komplett übernommen; es wird lediglich eine neue Instrumentierung der Komposition angefertigt.«

Zur Charakterisierung juristischer Dissertationen hieß es früher abschätzig, da werde aus 100 (oder 1000) Quellen ein neuer Text gebastelt. Heute würde man vielleicht – in Analogie zur Kunstszene – positiver von Mashup- oder Remix-Kreationen sprechen. Ich fände es reizvoll, einmal einen wissenschaftlichen Text anzufertigen, der durchgehend einigermaßen originell sein eigenes Thema behandelt, aber ausschließlich aus Schnipseln fremder Texte besteht.

Leser von Rsozblog kennen bereits die – von Hoffmann-Riem so genannte – »offene Patchworkmethode«. Sie besteht darin, einen Text aus offen ausgewiesenen Zitaten mit verbindenden Texten zu bauen. Sie findet ihre Grenzen im Urheberrecht, das den Umfang zulässiger Zitate begrenzt. Die Umfangsbegrenzung gilt jedoch nur für die Entnahme aus einem Text. Es gibt keine Beschränkung für die Anzahl von (Kurz-)Zitaten aus verschiedenen Texten. Daher lässt sich ein neuer Text vollständig aus Fremdzitaten herstellen. Vom urheberrechtlich unzulässigen Musik-Sampling [2]BGH U. vom 13.12.2012 Az. I ZR 182/11 unterscheidet sich die Zitatensammlung dadurch, dass die zitierten Texte nicht mechanisch kopiert, sondern abgeschrieben werden. Auch eine Collage, die nur aus Zitaten besteht, dürfte ihrerseits ein selbständiges Sprachwerk i. S. von § 51 Nr. 2 UrhG sein.

Der Extremfall wäre ein Hypertext-Essay nach dem Xanadu-Konzept [3]Darüber Georg Jünger, Xanadu – Ein Wissens- und Informationssystem (www.xanadu.net), Artikel in der taz vom 17./18. April 2003, S. 14. Vgl. auch die Webseite http://www.xanadu.com/., der nur aus einer Zusammenstellung von Links bestünde. Praktisch scheitert dieses Vorhaben bisher daran, dass es an der technischen Möglichkeit fehlt, über einen eingebetteten Link nur einen Ausschnitt aus dem verlinkten Dokument sichtbar zu machen, wie es Xanadu vorgesehen hatte. Xanadu sollte wohl ein vergütungspflichtiges Textarchiv bilden, in dem alle Dokumente soweit untergliedert werden sollten, dass auch einzelne Sätze per Hyperlink ansprechbar gewesen wären.

Sollte es nicht möglich sein, einen gezielten Hyperlink zu entwickeln, also einen solchen, der nur einzelne Absätze, Sätze oder Wortfolgen aus einem fremden Dokument adressiert, so dass man mit dem Aufruf den gemeinten Schnipsel als Zitat vor sich hätte? Dazu könnte man vielleicht den Abstand des gewünschten Zitats vom Anfang und vom Ende der Datei vermessen und das Zwischenstück dann ausschneiden.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Leonhard Dobusch/Valle Dordjevic (Hg.), Generation Remix, 2014.
2 BGH U. vom 13.12.2012 Az. I ZR 182/11
3 Darüber Georg Jünger, Xanadu – Ein Wissens- und Informationssystem (www.xanadu.net), Artikel in der taz vom 17./18. April 2003, S. 14. Vgl. auch die Webseite http://www.xanadu.com/.

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Casus und Regula

Das Verhältnis von Casus und Regula, von Einzelfallenscheidung und Norm, ist ein uraltes Thema, das ebensowenig an Aktualität verloren hat wie es einer Lösung näher gekommen ist. Heute taucht das Problem besonders in folgenden Zusammenhängen auf:

  • in der Rechtsquellenlehre als Frage nach der Allgemeinheit des Gesetzes,
  • in der Methodenlehre als Forderung regelbewussten Entscheidens,
  • in der Kritik der von der Rechtsprechung nicht zuletzt des Bundesverfassungsgerichts geforderten Abwägung aller Umstände des Einzelfalls,
  • in der Vorstellung von Rechtsprinzipien, die an Stelle von Regeln juristische Entscheidungen leiten könnten,
  • in der Position des Regelskeptizismus, der besagt, dass Begriffe und folglich auch Regeln keine Bedeutung an sich haben, sondern ihre Bedeutung nur aus Summe der erinnerten oder vorgestellten Anwendungsfälle beziehen,
  • in der These von der Verschleifung von Regel und Entscheidung
  • bei der Suche nach einem theoretischen Verständnis von Abstraktion.

Es handelt sich bei der Frage nach dem Verhältnis von Regel und Fall wohl um ein Henne-Ei-Problem. Aber ich habe ein Vor-Urteil zugunsten der regula als Henne, und um mich dessen zu vergewissern, wollte ich eine Spur verfolgen die – einmal wieder – Niklas Luhmann gelegt hat. In »Recht der Gesellschaft« (S. 523) ist zu lesen:

»Für das römische und das mittelalterliche Rechtsdenken war ja die Regel nur eine brevis rerum narratio gewesen. Das in der Sache selbst liegende ius, das für gerecht befundene Recht war entscheidend. Daher konnte auch nicht davon die Rede sein, daß die Regel selbst als Bedingung für die daraus abzuleitende Entscheidung einer sie legitimierenden Rechtsquelle bedürfe.«

Vorab will ich bekennen, dass ich mit meiner Spurensuche gescheitert bin. Aber auch das ist ein Ergebnis, das für das Sachproblem, also das Verhältnis von Regel und Fall, nicht irrelevant zu sein scheint. Deshalb soll hier von einigen Begegnungen auf der Suche berichtet werden. Denn immerhin, zwei Ergebnisse scheinen mir bemerkenwert. Erstens: Die Suche führt einmal wieder zur Konvergenzen zwischen unverbundenen wissenschaftlichen Dikussionssträngen. Zweitens: Das Luhmann-Zitat enthält zwei Sachaussagen. Die erste verneint den Regelcharakter römischen Rechts. Die zweite baut darauf auf und bestreitet die Existenz von legitimierenden Rechtsquellen. Beide Aussagen scheinen mir nicht haltbar zu sein.

Luhmann bezieht sich auf die berühmte Digestenstelle D. 50,17,1

Paulus libro sexto decimo ad Plautium. Regula est, quae rem quae est breviter enarrat. Non ex regula ius sumatur, sed ex iure quod est regula fiat. Per regulam igitur brevis rerum narratio traditur, et, ut ait Sabinus, quasi causae coniectio est, quae simul cum in aliquo vitiata est, perdit officium suum.
[Eine Regel ist die kurze Wiedergabe der Rechtslage. Das Recht wird nicht der Regel entnommen, sondern die Regel dem Recht, wie es ist. Eine Regel gibt wird also in kurzer Form die Rechtslage wieder. Sie bildet, wie Sabinus sagt, gleichsam eine Zusammenfassung der Gründe. Ist die Regel insoweit irgendwie fehlerhaft, verliert sie ihre Verbindlichkeit.]

Sie steht an der Spitze der justinianischen Regelsammlung D. 50, 17 De diversis regulis iuris antiqui. Dieser Text führt in die Prinzipatszeit zu den Rechtsschulen der Prokulianer und Sabinianer [1]Detlef Liebs, Rechtsschulen und Rechtsunterricht im Prinzipat, in: Hildegard Temporini/Wolfgang Haase (Hg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der … Continue reading und ihrem (angeblichen?) Methodenstreit über den Vorrang von casus oder regula und er führt weiter in eine große Kontroverse unter Romanisten über den Einfluss griechischer Philosophie auf römische Juristen.

Die Prokulianer haben ihren Namen zwar von Sempronius Proculus, ihr Gründer war jedoch M. Antistius Labeo (54 v.Chr. – 10 oder 11 n.Chr.). [2]Paul Jörs, Antistius 34, in: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft Band I, 2, 1894, Sp. 2548–2557 [http://de.wikisource.org/wiki/RE:Antistius_34]. Auch die Sabinianer tragen diesen Namen nicht nach ihrem Schulhaupt C. Ateius Capito, sondern nach Masurius Sabinus. Die Prokulianer gelten als die eher fortschrittlichen Reformer, die Sabinianer als eher konservativ. Das hat zunächst mit ihrer unterschiedlichen Einstellung zum Prinzipat zu tun. Labeo blieb der Gesinnung nach Republikaner, während Capito unter Augustus politische Karriere machte. [3]Vgl. dazu etwa Marie Theres Fögen, Römische Rechtsgeschichten, 2002, S. 199ff.; Dieter Nörr, Pomponius oder »Zum Geschichtsverständnis der römischen Juristen«, in: Hildegard Temporini/Wolfgang … Continue reading Immerhin brachte es auch Labeo zum Praetor. Von der Sache her ist die Einschätzung Labeos als eher fortschrittlich überraschend, denn im Vergleich zu den Prokulianern erscheint er eher als formalistischer Begriffsjurist. Jedenfalls war er äußerst produktiv. Sextus Pomponius, der etwa 200 Jahre später die Geschichte des Römischen Recht aufzeichnete, berichtet (D. 1.2.2.47), Labeo habe das Konsulat abgelehnt, um sich ganz der Wissenschaft zu widmen. Er soll 400 Buchrollen hinterlassen haben. Fögen hat nachgezählt:

»Seine Werke sollten so einflußreich werden wie die keines anderen der älteren Juristen: 563 Mal kommt Labeo in den Digesten zu Wort …. Sein Konkurrent Ateius Capito schafft es auf nicht mehr als sechs Erwähnungen.« [4]Marie Theres Fögen, Römische Rechtsgeschichten, 2002, S. 202.

Eine lange Liste von sachlichen Meinungsverschiedenheiten zu einzelnen Rechtsfragen hat Liebs zusammengestellt. [5]Liebs aaO. hat sie S. 243ff. Dass es einen »Methodenstreit« gegeben hätte, ist dagegen nicht so sicher. Bei Waldstein/Rainer [6]Wolfgang Waldstein/Johannes Michael Rainer, Römische Rechtsgeschichte, 11. Aufl. 2014, S. 227. heißt es: »Die Kontroversen zwischen den beiden Schulen bezogen sich nur auf Einzelfragen, nicht auf Unterschiede in der juristischen Arbeitsweise oder im Denken.« Dagegen konstatiert Michael von Albrecht [7]Geschichte der römischen Literatur, 2012, S. 748 Fn. 5 einen deutlichen Unterschied:

»Die Sabinianer oder Cassianer stellen wissenschaftliches Denken (das in Rom notwendigerweise zuweilen an Stoisches erinnert) überwiegend in den Dienst der Ordnung des gesamten Rechts und der Bewahrung der Tradition; sie schreiben also vielfach Gesamtdarstellungen. Die Leistung der Proculianer (bei denen man neben stoischem auch peripatetischen Einfluß vermutet hat) liegt in der präzisen und logischen, auch vor Innovationen nicht zurückscheuenden Behandlung des Einzelfalles; ihre Schriften sind meist kasuistisch. Der Gegensatz verblaßt im 2. Jh.«

Okko Behrends ordnet das Rechtsdenken der Prokulianer als »institutionell« ein im Unterschied zu den »prinzipiell« verfahrenden Sabinianern. Institutionelles Rechtsdenken geht von Rechtsfiguren (Instituten) aus, die durch Gesetz oder Juristenarbeit entstanden sind mit der Folge, dass »die Berechtigungen und Haftungen, die aus ihnen fließen, als Rechtsfolgen fest und genau eingeplant sind. Sie sind juristische Klassenbegriffe, die entsprechend ihrer juristisch-technischen Fassung über Berechtigungen und Verpflichtungen genau Auskunft geben« (S. 16). Ein Prinzip dagegen wie Treu und Glauben (bona fides) das »sowohl im römischen Recht als auch gegenwärtig das schlechthin Bedeutendste ist und den präzisen Rechtsinstituten am schärfsten entgegengesetzt ist«, ist ein offenes Wertprinzip, das anleitet, die Entscheidung über Rechts und Pflichten nach den Bedürfnissen des Rechtsverkehrs unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu treffen. Hier schimmern immerhin unterschiedliche Auffassungen von dem Verhältnis von casus und regula durch. Später spricht Behrends spricht von zwei »geistigen Traditionen«:

» … die eine Tradition, die über die Sabinianer auf die veteres zurückgeht [denkt] sich ein umfassendes, alles ergreifendes und umfassend interpretierbares Recht (ein ius quod est) und mahnt daher: non ex regula ius sumatur, sed ex iure quod est regula fiat, während die andere Tradition, die über die Prokulianer und Labeo auf Servius Sulpicius zurückgeht, sich das Recht als eine vom Menschen geschaffene, nicht erschöpfende, sondern gegenüber dem ungeregelten factum amtsrechtlich ergänzungsbedürftige, aber doch abschließend definierte Ordnung denkt und daher sagen kann: cum ius finitum et possit esse et debeat. [8]Es handelt sich um eine Sentenz des Prokulianers Neraz D. 22,6,2. Gleich ob man aber nun mit den Formalisten das Recht für eine jeweils abgeschlossene Ordnung von subsumtionsfähigen Regeln hält oder mit der Tradition der veteres für eine Summe von konkretisierungsfähigen und -bedürftigen Prinzipien, immer kann ich das Recht nur kennen, wenn ich die jeweilige Rechtstradition durchdringe.« [9]Okko Behrends, Der Kommentar in der römischen Rechtsliteratur (1995), in: ders., Institut und Prinzip, Siedlungsgeschichtliche Grundlagen, philosophische Einflüsse und das Fortwirken der beiden … Continue reading

Worum es dabei letztlich ging, ist für Juristen oder gar Soziologen, die mit dem römischen Recht nicht wirklich vertraut sind, schwierig nachzuvollziehen, zumal sich nicht einmal die Experten einig sind. Ihre und meine Schwierigkeiten rühren daher, dass man sich die außerordentliche Leistung der römischen Jurisprudenz ohne Methode eigentlich nicht vorstellen kann, die Römer selbst ihre Methoden aber so gut wie gar nicht explizit reflektiert haben, so dass man auf Rekonstruktionen [10]Wie etwa von Max Kaser, Römische Rechtsquellen und angewandte Juristenmethode, Ausgewählte, zum Teil grundlegend erneuerte Abhandlungen, Wien 1986. angewiesen ist.

[Fortsetzung folgt – wahrscheinlich.]

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Detlef Liebs, Rechtsschulen und Rechtsunterricht im Prinzipat, in: Hildegard Temporini/Wolfgang Haase (Hg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der neueren Forschung, Berlin [etc.] 1976, S. 197-286; Heinrich Vogt, Die sogenannten Rechtsschulen der Proculianer und der Sabinianer oder Cassianer, in: Dieter Nörr/Dieter Simon (Hg.), Gedächtnisschrift für Wolfgang Kunkel, Frankfurt a.M 1984, S. 515-521.These: Die beiden Rechtsschulen hat es real gegeben (Heinrich Vogt, Die sogenannten Rechtsschulen der Proculianer und der Sabinianer oder Cassianer, in: Dieter Nörr/Dieter Simon (Hg.), Gedächtnisschrift für Wolfgang Kunkel, 1984, 515-521).
2 Paul Jörs, Antistius 34, in: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft Band I, 2, 1894, Sp. 2548–2557 [http://de.wikisource.org/wiki/RE:Antistius_34].
3 Vgl. dazu etwa Marie Theres Fögen, Römische Rechtsgeschichten, 2002, S. 199ff.; Dieter Nörr, Pomponius oder »Zum Geschichtsverständnis der römischen Juristen«, in: Hildegard Temporini/Wolfgang Haase (Hg) Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, 1976, S. 497-604, S. 573f.
4 Marie Theres Fögen, Römische Rechtsgeschichten, 2002, S. 202.
5 Liebs aaO. hat sie S. 243ff.
6 Wolfgang Waldstein/Johannes Michael Rainer, Römische Rechtsgeschichte, 11. Aufl. 2014, S. 227.
7 Geschichte der römischen Literatur, 2012, S. 748 Fn. 5
8 Es handelt sich um eine Sentenz des Prokulianers Neraz D. 22,6,2.
9 Okko Behrends, Der Kommentar in der römischen Rechtsliteratur (1995), in: ders., Institut und Prinzip, Siedlungsgeschichtliche Grundlagen, philosophische Einflüsse und das Fortwirken der beiden republikanischen Konzeptionen in den kaiserzeitlichen Rechtsschulen: ausgewählte Aufsätze, 2004, 225-266, S. 263.
10 Wie etwa von Max Kaser, Römische Rechtsquellen und angewandte Juristenmethode, Ausgewählte, zum Teil grundlegend erneuerte Abhandlungen, Wien 1986.

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Zur Rezeption literaturwissenschaftlicher Rezeptionstheorien durch die Rechtstheorie

Diese Fortsetzung des Eintrags über »Ein Carl Schmitt der Literaturwissenschaft und die Rechtstheorie: Hans Robert Jauß« und die weiteren Fortsetzungen wurden gelöscht, weil sie zusammen in  der Zeitschrift RECHTSTHEORIE gedruckt werden.

Jetzt erschienen: Klaus F. Röhl, Literaturwissenschaft und Rechtstheorie, Rechtstheorie 51, 2020, 413-432.

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Zur Konvergenz von Rezeptionsästhetik und Reader-Response-Theorie

Diese Fortsetzung des Eintrags über »Ein Carl Schmitt der Literaturwissenschaft und die Rechtstheorie: Hans Robert Jauß« und die weiteren Fortsetzungen wurden gelöscht, weil sie zusammen in der Zeitschrift RECHTSTHEORIE gedruckt werden.

Jetzt erschienen: Klaus F. Röhl, Literaturwissenschaft und Rechtstheorie, Rechtstheorie 51, 2020, 413-432.

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Der Master of Sexeconomics besucht Deutschland

Vor Jahr und Tag hatte ich eine kleine Serie über Prostitution; erotisches Kapital und Frauenpower begonnen. Anlass war die damals aktuelle Diskussion über eine rechtliche Regelung der Prostitution. Ich hatte auf die schmale und zum Teil schiefe Grundlage der rechtspolitischen Diskussion hingewiesen und anschließend die Frage gestellt, ob das Phänomen der Prostitution nicht bloß Ausfluss der allgemeinen Marktlage im Geschlechterverhältnis sei, die durch einen männlichen Nachfrageüberhang gekennzeichnet werde. Im Folgebeitrag hatte ich aus dem damals noch aktuellen Buch von Catherine Hakim, Erotisches Kapital (2011), die These vom männlichen Sexdefizit übernommen, um weiter zu fragen, warum es Frauen im Laufe der Geschichte nicht gelungen sei, ihre überlegene Position auf dem Markt der sexuellen Beziehungen in Status und Macht umzusetzen.

Ich hatte zwar schon eine Fortsetzung präpariert, habe die Serie dann aber abgebrochen, weil ich mich dem Thema nicht gewachsen fühlte. Ein Grund dafür war die Arbeit von Roy F. Baumeister und Kathleen D. Vohs, Sexual Economics, Culture, Men, and Modern Sexual Trends, Society 49, 2012, 520-524. Nach der Lektüre war ich ratlos. Ich zögere nicht, zentrale Thesen von Baumeister und Vohs (BuV) skandalös zu nennen. Eine kritische Stellungnahme zu den Thesen von BuV konnte ich nicht finden. Zu einer fundierten eigenen Kritik sah ich mich nicht im Stande, zumal ich grundsätzlich die Ausgangsposition von BuV teile, nämlich die Annahme, dass die Geschlechterbeziehungen sich als Austauschverhältnis modellieren lassen und dass es daher auch möglich sein müsste, sie einer quasi-ökonomischen Analyse zu unterziehen. Nun lese ich, dass Roy F. Baumeister mit Hilfe eines großzügig dotierten Humboldt-Forschungspreises für einen längeren Forschungsaufenthalt nach Bamberg kommt. In der Ankündigung heißt es, er zähle zu den 30 einflussreichsten Psychologen aller Zeiten. Außerdem finde ich einen brandneuen Artikel von Catherine Hakim, The Male Sexual Deficit: A Social Fact of the 21st Century [1]International Sociology 30, 2015, 314–335. Da ist wohl doch noch eine Fortsetzung fällig.

Was zunächst den Artikel von Hakim betrifft, so verteidigt sie die These vom männlichen Sexdefizit gegen die feministische Kritik, es handle sich dabei um einen entlarvten Mythos. Viel Neues bietet Hakim nicht. Sie kann immerhin eine eindrucksvolle Menge sozialempirischer Untersuchungen heranziehen. Sie betont zwar, dass das Design der Untersuchungen für eine adäquate Metastudie zu unterschiedlich sei, meint aber doch, aus den vielen Primärstudien und manchen Zusammenfassungen entnehmen zu müssen, das männliche Sexdefizit sei eine kulturell universell anzutreffendes Phänomen. Mir erscheint Hakims Ergebnis auf Grund der mitgeteilten Daten einleuchtend. Ich kann aber nicht wirklich beurteilen, ob sie das Feld richtig bestellt hat.

Auch Roy F. Baumeister und Kathleen D. Vohs (BuV), die sich selbst als Erfinder der Sexualökonomik vorstellen, gehen, wie früher schon, von der Sexdefizit-These aus.

»In simple terms, we proposed that in sex, women are the suppliers and men constitute the demand (Baumeister and Vohs 2004) [2]Roy F. Baumeister/Kathleen D. Vohs, Sexual Economics: Sex as Female Resource for Social Exchange in Heterosexual Interactions. Personality and Social Psychology Review 8, 2004, 339–63.. Sexual marketplaces take the shape they do because nature has biologically built a disadvantage into men: a huge desire for sex that makes men dependent on women.«

Im Grunde haben sie auch Hakims These vom »erotischen Kapital« vorweggenommen:

»Women certainly desire sex too—but as long as most women desire it less than most men, women have a collective advantage, and social roles and interactions will follow scripts that give women greater power than men (Baumeister et al. 2001) [3]Baumeister, Roy F./ Kathleen R. Catanese/ Kathleen D. Vohs, Is There a Gender Difference in Strength of Sex Drive? Views, Conceptual Distinctions, and a Review of Relevant Evidence. Personality and … Continue reading

In dem Aufsatz von 2012 geht es auf den ersten Blick um die Interpretation einer Untersuchung von Regnerus und Uecker aus dem Vorjahr über vorehelichen Sex und die Einstellung zur Ehe in den USA. [4]Mark Regnerus/Jeremy Uecker, Premarital Sex in Amercia: How Young Americans Meet, Mate and Think about Marrying. New York: Oxford University Press, 2011. Ich habe das Buch nicht in der Hand gehabt. Unter der Hand wird daraus jedoch eine sexualökonomische Erklärung mehr oder weniger aller sozialen Beziehungen, die im Geschlechterverhältnis relevant sind, aus dem Marktungleichgewicht von Angebot und Nachfrage nach sexuellen Kontakten. Das meiste war schon in früheren Arbeiten zu lesen, doch nicht so bündig und plakativ. Ich kann mir schwer vorstellen, dass die Sache so einfach ist.

Wenn ich im Folgenden Thesen und Zitate von BuV anführe, so geschieht das nicht affirmativ, sondern in der Überzeugung, dass andere, die in diesem Diskursfeld besser zu Hause sind, sich damit ernsthaft auseinandersetzen sollten.

Im Mittelpunkt der Arbeit von BuV steht die These, die historisch über lange Zeit und in vielen Gesellschaften zu beobachtende kulturelle Unterdrückung weiblicher Sexualität sei mit Hilfe der Sexualökonomie besser zu erklären als mit den geläufigen evolutionspsychologischen oder feministisch-konstruktivistischen Theorien, denn Frauen hätten sich selbst Zurückhaltung im Umgang mit ihrer Sexualität auferlegt, um, ähnlich wie die OPEC beim Öl, durch Verknappung des Angebots den Marktwert zu steigern.

»Similar to how OPEC seeks to maintain a high price for oil on the world market by restricting the supply, women have often sought to maintain a high price for sex by restricting each other’s willingness to supply men with what men want.«

Die sexuelle Revolution der 1970er Jahre lasse sich als Marktkorrektur erklären. Mit wachsender Gleichberechtigung seien die Frauen nicht länger darauf angewiesen, den Preis für Sex in die Höhe zu treiben.

»Recent work has found that across a large sample of countries today, the economic and political liberation of women is positively correlated with greater availability of sex (Baumeister and Mendoza 2011 [5]Roy F. Baumeister/ Juan Pablo Mendoza, Cultural Variations in the Sexual Marketplace: Gender Equality Correlates with More Sexual Activity. The Journal of Social Psychology, 151, 2011, 350 – … Continue reading). Thus, men’s access to sex has turned out to be maximized not by keeping women in an economically disadvantaged and dependent condition, but instead by letting them have abundant access and opportunity.«

Für die Männer sei das schlimm, denn solange Sex knapp war, mussten sie Leistungen vorweisen, um eine Frau zu erringen, und wurden auf diese Weise zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft.

»The man’s overarching goal of getting sex thus motivated him to become a respectable stakeholder contributing to society.«

Die Leistungen der Männer erschöpften sich aber nicht in individuellen Karrieren, sondern sie seien schlechthin die Basis für Fortschritt aller Art:

»That fact can explain most of the history of gender relations, in which the gender near equality of prehistorical societies was gradually replaced by progressive inequality – not because men banded together to oppress women, but because cultural progress arose from the men’s sphere with its large networks of shallow relationships, while the women’s sphere remained stagnant because its social structure emphasized intense one-to-one relationships to the near exclusion of all else (see Baumeister 2010). All over the world and throughout history (and prehistory), the contribution of large groups of women to cultural progress has been vanishingly small.«

Was nunmehr seit einem halben Jahrhundert als Erfolg der Frauenpolitik erscheint, sei nichts weiter als sein großer Handel, in dem die Geschlechter hergäben, was ihnen weniger teuer sei, um Wichtigeres einzutauschen.

»Women, meanwhile, want not only marriage but also access to careers and preferential treatment in the workplace.«

Warum Frauen mehr wollen als Heirat und Kinder, dafür bleiben BuV freilich eine Erklärung schuldig. Die Männer aber, so meinen sie, machent sich für Sex zum Narren, indem sie den Frauen Zugang und sogar Vorzugsbehandlung in Schulen und Universitäten, Wirtschaft und Politik konzedierten, wiewohl doch der Aufbau all dieser Organisationen eine Männerleistung gewesen sei.

»All of this is a bit ironic, in historical context. The large institutions have almost all been created by men. The notion that women were deliberately oppressed by being excluded from these institutions requires an artful, selective, and motivated way of looking at them. Even today, the women’s movement has been a story of women demanding places and preferential treatment in the organizational and institutional structures that men create, rather than women creating organizations and institutions themselves. Almost certainly, this reflects one of the basic motivational differences between men and women, which is that female sociality is focused heavily on one-to-one relationships, whereas male sociality extends to larger groups networks of shallower relationships (e.g., Baumeister and Sommer 1997; Baumeister 2010). Crudely put, women hardly ever create large organizations or social systems.«

Zum Beschluss ein Zitat, das mich vollends vom Hocker gestoßen hat:

»Because of women’s lesser motivation and ambition, they will likely never equal men in achievement, and their lesser attainment is politically taken as evidence of the need to continue and possibly increase preferential treatment for them.«

Viel Spaß in Bamberg!

Anmerkungen

Anmerkungen
1 International Sociology 30, 2015, 314–335
2 Roy F. Baumeister/Kathleen D. Vohs, Sexual Economics: Sex as Female Resource for Social Exchange in Heterosexual Interactions. Personality and Social Psychology Review 8, 2004, 339–63.
3 Baumeister, Roy F./ Kathleen R. Catanese/ Kathleen D. Vohs, Is There a Gender Difference in Strength of Sex Drive? Views, Conceptual Distinctions, and a Review of Relevant Evidence. Personality and Social Psychology Review 5, 2011, 242–73.
4 Mark Regnerus/Jeremy Uecker, Premarital Sex in Amercia: How Young Americans Meet, Mate and Think about Marrying. New York: Oxford University Press, 2011. Ich habe das Buch nicht in der Hand gehabt.
5 Roy F. Baumeister/ Juan Pablo Mendoza, Cultural Variations in the Sexual Marketplace: Gender Equality Correlates with More Sexual Activity. The Journal of Social Psychology, 151, 2011, 350 – 360.

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Konvergenzen und Divergenzen zwischen juristischer Methodenlehre und Literaturtheorie

Diese Fortsetzung des Eintrags über »Ein Carl Schmitt der Literaturwissenschaft und die Rechtstheorie: Hans Robert Jauß« und die weiteren Fortsetzungen wurden gelöscht, weil sie zusammen in Heft 2/2020 der Zeitschrift RECHTSTHEORIE gedruckt werden.

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Ein Carl Schmitt der Literaturwissenschaft und die Rechtstheorie: Hans Robert Jauß

Dieser Eintrag und die Fortsetzungen wurden gelöscht, weil sie zusammen in der Zeitschrift RECHTSTHEORIE gedruckt werden.

Jetzt erschienen: Klaus F. Röhl, Literaturwissenschaft und Rechtstheorie, Rechtstheorie 51, 2020, 413-432.

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Diszipliniert Foucault: Mehr Anschlüssse als bei der Deutschen Bahn

Die große Anschlussfähigkeit Foucaults rührt daher, dass er weit- und scharfsichtig Stichworte in die Welt gesetzt hat, an die sich mehr oder weniger überall, wo heute Gesellschaftskritik geübt wird, anknüpfen lässt. Da er nach seiner Distanzierung von der kommunistischen Partei politisch nicht eindeutig festzulegen ist, können Autoren aus allen wissenschaftlichen und politischen Lagern ihr eigenes Werk adeln, indem sie sich auf Foucaults Autorität berufen, ohne konkrete Aussagen übernehmen zu müssen. [1]Wie z. B. Susanne Baer, Juristische Biopolitik: Das Wissensproblem im Recht am Beispiel »des« demografischen Wandels, in: Michelle Cottier u. a. (Hg.), Wie wirkt Recht?, 2010, 181-201.

Die Foucaultphilie [2]Der Eintrag vom 4. 4. 2012 zeigt, wo ich diesen Ausdruck gelernt habe. der Kulturwissenschaften ist manifest. Es liegt auch auf der Hand, dass man sich in epistemologische Debatten auf Foucault berufen kann. [3]Dazu der Eintrag vom 9. 3. 2015: Diszipliniert Foucault: Wahrheiten für Juristen. Die Kritik an der klassischen Philosophie, die seit Descartes das Subjekt als Quelle des Wissens behandelt, und an der traditionellen Soziologie, die das handelnde Subjekt voraussetzt, speist sich auch aus Texten Foucaults, in denen gezeigt wird, wie das Subjekt seine Identität aus diskursiven Praktiken gewinnt. Die Analyse des Sexualitätsdispositivs durch Foucault selbst hat in Feminismus und Queer-Theorie ein großes Echo bei der Dekonstruktion von »Geschlecht« gehabt. Die Disziplinargesellschaft formt nicht nur soziales Verhalten, sondern schon den Körper und ist damit Anknüpfungspunkt für eine »Soziologie des Körpers« [4]Robert Gugutzer, Soziologie des Körpers, 2004; Markus Schroer (Hg.), Soziologie des Körpers, 2005. Der Begriff der Sicherheitsgesellschaft ist (nicht erst) durch Terrorismus und die NSA-Affäre zum Thema geworden. Die Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität sind ein beliebtes Sprungbrett in die Kritik des Neoliberalismus. Aus den »Technologien des Selbst« wird »Das unternehmerische Selbst«. [5]Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst, 5. Aufl. 2013 (2007). Die »Genealogie« des historisch-politischen Diskurses seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts, die bis zum nationalsozialistischen Staatsrassismus geführt wird, ist ein beinahe obligatorischer Anknüpfungspunkt der Rassismuskritik.

Für Juristen bieten Foucaults Analysen der Unterwanderung des Rechts durch Behandlung und Prävention Anregung zur Kritik. [6]Dazu ausführlich Christian Schauer, Aufforderung zum Spiel: Foucault und das Recht, S. 119-163. Aktuell ist gerade wieder das Verhältnis von Psychiatrie und Justiz. Man wundert sich nur, dass der Machtanspruch der Humanwissenschaften, den Foucault so kritisch im Blick hatte, heute eigentlich kein Thema mehr ist. Er benutzte historisches Material und konzentrierte sich auf große Diskurse, die mit Hilfe der Humanwissenschaften geführt wurden. Der naive Foucault-Leser erwartet nun, dass dieser oder jener seinem Vorbild folgt. Das ist aber wohl nur hinsichtlich des nächstliegenden Themenfeldes, nämlich für das Femina-Dispositiv geschehen. Andere naheliegende Themenfelder wären heute Umweltschutz, Tierschutz oder Energiewende. Nirgends scheinen sich der Wille zur Wahrheit und der Wille zur Macht so zu verbinden, wie aktuell im der Diskussion um den Klimawandel. Aber die zeitgenössischen Humanwissenschaftler beteiligen sich lieber direkt an den einschlägigen Diskursen, als dass sie die Diskurse »archäologisch« und »genealogisch« analysieren.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Wie z. B. Susanne Baer, Juristische Biopolitik: Das Wissensproblem im Recht am Beispiel »des« demografischen Wandels, in: Michelle Cottier u. a. (Hg.), Wie wirkt Recht?, 2010, 181-201.
2 Der Eintrag vom 4. 4. 2012 zeigt, wo ich diesen Ausdruck gelernt habe.
3 Dazu der Eintrag vom 9. 3. 2015: Diszipliniert Foucault: Wahrheiten für Juristen.
4 Robert Gugutzer, Soziologie des Körpers, 2004; Markus Schroer (Hg.), Soziologie des Körpers, 2005.
5 Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst, 5. Aufl. 2013 (2007).
6 Dazu ausführlich Christian Schauer, Aufforderung zum Spiel: Foucault und das Recht, S. 119-163.

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