Travelling Models III: Diffusion von Recht

Zur weiteren Vorbereitung auf eine Besprechung des Bandes »Travelling Models in African Conflict Management, Translating Technologies of Social Ordering« herausgegeben von Andrea Behrends, Sung-Joon Park und Richard Rottenburg (Leiden 2014) ist ein Blick auf den Begriff der Diffusion und damit verbundene Theorien hilfreich.

William L. Twining hat in zwei Aufsätzen, die aneinander anschließen, die dogmatisch orientierte Rechtsvergleichung, soweit sie sich mit der Frage der einseitigen oder wechselseitigen Beeinflussung verschiedener Rechtskreise befasst, mit der sozialwissenschaftlichen Diffusionstheorie konfrontiert – und beklagt, dass diese nicht rezipiert worden sei. [1]William L. Twining, Diffusion of Law: A Global Perspective, Journal of Legal Pluralism and Inofficial Law 49, 2004, 1-45; ders., Social Science and Diffusion of Law, Journal of Law and Society 32 , … Continue reading

Twining erinnert zunächst daran, dass die Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert einmal parallel zu Anthropologie und Soziologie über die Diffusion von Recht nachgedacht habe. Er nennt Gabriel Tarde, Henry Maine und Max Weber und verweist darauf, Diffusion habe als Gegenmodell zu einer naturgesetzlichen Evolution des Rechts gedient (2004:8; 2005:208). In der frühen Ethnologie kannte man ganz analog eine Konkurrenz von Evolutionismus und Diffusionismus. Für beides hat man heute wenig übrig. Als Autoren des Diffusionismus werden insbesondere Friedrich Ratzel und Leo Frobenius genannt. Wenn überhaupt, rekurriert man heute eher auf Franz Boas.

»Kritik am Diffusionismus … Erfindungen müssen nicht singuläre Ereignisse sein, sondern können durchaus unabhängig voneinander erfolgen. Die Bedeutung von Artefakten erschließt sich nur im sozialen Kontext und nicht im Archiv eines Museums durch einen Kulturvergleich. Aus der Ferne betrachtet könnte der Diffusionismus als eine frühe Form der Globalisierungstheorie erscheinen, doch wurden zentrale Elemente wie die Machtverhältnisse und der kreative Prozess der Aneignung nicht thematisiert. Gegen einen gemäßigten Diffusionismus, der die Verbreitung von Dingen und Gedanken in Zeit und Raum thematisiert, dürfte auch heute wenig einzuwenden sein. Die diffusionistische Forschung übersah jedoch die Pluralität der Deutungsmöglichkeiten von Dingen. Heute geht man davon aus, dass es kein ›Ding an sich‹ gibt, sondern Bedeutungen stets in den Interaktionen geschaffen werden.« [2]Frank Heidemann, Ethnologie, 2001, 62f; vgl. auch die ausführliche Webseite »Anthropological Theories«.

Inzwischen gibt es jedoch eine umfangreiche Literatur, die sich mit der Ausbreitung von Technologien und Unterhaltungsangeboten, Sprache und Religion, Sport und Musik oder Medizin befasst. Twining stellt fest, dass die Rechtswissenschaft den Kontakt mit dieser Forschung verloren habe, bemerkt freilich – mit gutem Grund – auch umgekehrt, dass die verschiedenen Sozialwissenschaften den großen – wie ich hinzufüge: faktengesättigten – Bestand an rechtsvergleichender Literatur nicht zur Kenntnis nehmen (2005:204f.). Deshalb stellt er (2005) einige Höhepunkte der rechtsvergleichenden Forschung dar. Einen Grund, der die juristische Rechtsvergleichung an einer interdisziplinären Orientierung hindert, sieht Twining darin, dass man von einem Exportmodell des Rechts geblendet sei. Das erläutert er in dem ersten Aufsatz von 2004. Im Zusammenhang mit den »Travelling Models« ist es vielleicht von Interesse, dass Twining zu Beginn seiner Laufbahn als Rechtslehrer sieben Jahre im Sudan (Khartum) und in Tansania unterrichtet hat. Vieles, was in der Abhandlung von 2004 zu lesen ist, könne aus der Feder eines Rechtsethnologen stammen.

Twining geht von dem fiktiven Extremfall aus, dass Land A von Land B unverändert ein Gesetz übernimmt, welches dort seither unverändert und unangefochten in Geltung und Wirkung ist. Dieser Fall dient als bloße Kontrastfolie dazu, zwölf Merkmale aufzuzeigen, die das Exportmodell charakterisieren, und um zu betonen, dass keines dieser Merkmale unverzichtbar ist und jedes von ihnen in großen Variationen auftreten kann. [3]Die folgende Liste entspricht der Tabelle von bei Twining 2006, 205f.

1. Ursprung – Ziel: Der Transfer muss nicht bipolar, das heißt von einem bestimmten Exporteur zu einem Importeur ablaufen. Alle Kombinationen kommen vor. Eine Quelle, mehrere Empfänger, mehrere Quellen, ein Empfänger, mehrere Quellen und mehrere Empfänger.
2. Ebenen: Der Transfer muss nicht auf einer Ebene und auch nicht auf Staatsebene stattfinden. Auf beiden Seiten können lokale, regionale oder transnationale Einheiten beteiligt sein.
3. Wege: Transfer verläuft nicht unbedingt in einer Richtung. Der Weg ist oft komplex. Es gibt wechselseitigen Einfluss und Re-Export.
4. Das fremde Recht kann explizit oder implizit, förmlich oder informell übernommen werden.
5. Gegenstand des Transfers können nicht nur Rechtsnormen, Rechtsbegriffe und Institutionen sein, sondern Rechtsphänomene aller Art einschließlich Ideologien, Theorien, Mentalitäten, Methoden, offizielle und inoffizielle Praktiken von Professionellen und Laien, dazu Organisation und Methoden der Juristenausbildung, der Rechtserziehung, literarische Genres, Formen der Dokumentation, Symbole, Rituale u. a. mehr.
6. Als Akteure beim Rechtstransfer kommen nicht bloß Regierungen in Betracht, sondern auch kommerzielle und andere Nicht-Regierungsorganisationen, Armeen, Individuen (Schriftsteller, Lehrer, Aktivisten, Lobbyisten oder Wissenschaftler) oder Gruppen, die ihr Recht mitbringen, wie z. B. Siedler, Missionare, Kaufleute, Sklaven, und Angehörige von Religionen.
7. Nicht immer lässt sich der Rechtstransfer genau datieren. Oft ist der Übernahmeprozess langfristig und ein Ende ist nicht in Sicht.
8. Typisch ist die Vorstellung, dass der Transfer von einem fortschrittlichen zu einem entwicklungsbedürftigen Rechtssystem verläuft, das modernisiert werden soll, in dem Lücken gefüllt oder vorhandenes Recht ersetzt werden soll. Umgekehrt kommt aber auch die Retraditionalisierung »moderner« Rechtsordnungen vor.
9. Auf der einen Seite steht die Vorstellung, das Recht unverändert oder mit geringen Anpassungen übernommen wird. Aber es gilt viel eher: »No transportation without transformation.« [4]Das Zitat bezieht Twining von Bruno Latour, Aramis or the Love of Technology, Harvard UP, 1996, S. 119, und bemerkt dazu: In cultural geography a basic notion is that the diffusing item is both a … Continue reading
10. Die vereinfachende Vorstellung geht dahin, dass das übernommene Recht eine Leerstelle ausfüllt oder vorhandenes Recht vollständig ersetzt. Es kann aber auch zu einer Assimilierung kommen oder es bilden sich verschiedene Rechtsschichten im Sinne eines pluralen Rechts. Manchmal bleibt das übernommene Recht bloße Fassade. Auch dauernder Widerstand gegen das übernommene Recht kommt vor.
11. Nach der vereinfachenden Vorstellung ist die Übernahme des Rechts technisch-instrumentell motiviert. Es handelt sich vornehmlich um »Juristenrecht«, dem politische und ideologische Motive fehlen. Rechtstransfer hat aber auch immer ideologische und kulturelle Aspekte.
12. Eine neue Tendenz in der Literatur, die sich mit der Ausbreitung von Recht befasst, geht dahin, von Erfolg oder Misserfolg einer Übernahme zu sprechen und diese möglichst auch zu messen (»audit culture«).

Was die sozialwissenschaftliche Diffusionstheorie betrifft, so stützt sich Twining zunächst auf die Arbeit von Everett M. Rogers, die ich bereits im Beitrag vom 11. 7. 2011 angesprochen habe. [5]Everett M. Rogers, Diffusion of Innovations, 5. Aufl., New York, NY 2003. Ich zitiere nach der 3. Aufl. von 1983, die als PDF im Internet zur Verfügung steht. Zusammenfassungen der elf Kapitel sind … Continue reading Rogers gilt als Klassiker der Diffusionstheorie.

Twining zieht ferner eine Untersuchung von Trisha Greenhalgh u. a. heran, die ab 2001 im Auftrag des UK Department of Health der Diffusion und Nachhaltigkeit von Innovationen im Gesundheitswesen nachging.

Greenhalgh u. a. haben einen Literaturbericht erstellt, der sich auf 1024 Quellen stützt. Die wesentlichen Ergebnisse wurden zunächst 2004 in einem Aufsatz zusammengefasst [6]Trisha Greenhalgh/Glenn Robert/Fraser Macfarlane/Paul Bate/Olympia Kyriakidou, Diffusion of Innovations in Service Organisations: Systematic Literature Review and Recommendations for Future Research, … Continue reading, der vollständige Bericht ist 2005 unter dem gleichen Titel als Buch erschienen. [7]Das Buch habe ich bisher nicht in der Hand gehabt. Rogers berief sich in der ersten Auflage von 1962 auf 506 empirische Untersuchungen. Bis zur fünften Auflage von 2003 hatte sich die Zahl der in Bezug genommenen Untersuchungen auf 5200 reichlich verzehnfacht. Kein Wunder, dass Greenhalgh u. a. sich mit den methodischen Herausforderungen einer solchen Kompilation befasst haben. [8]Storylines of Research in Diffusion of Innovation: A Meta-Narrative Approach to Systematic Review, Social Science & Medicine 61, 2005, 417–430. Hoffmann hält Rogers in seiner ausführlichen Rezension vor, dass er manches gerade gebogen habe, um sein Theoriegebäude zu bestätigen. Ich vermag das nicht selbst zu beurteilen. Greenhalgh u. a. denken soziologischer als Rogers. Ihre Aussagen sind weniger plakativ. Doch wenn Twining (2005:228) zwischen den Arbeiten von Rogers und Greenhalgh u. a. erstaunliche Konvergenzen feststellt, so ist das wohl doch in der Sache begründet:

»However, a striking feature of Rogers’s and Greenhalgh’s analyses is the unexpected connections, analogies, and generalizations that have emerged. Surprising leaps are taken from hybrid corn to poison pills; from hard tomatoes to modern maths; from family planning to transnational social movements.«

Die Anwendung sozialwissenschaftlicher Theorien auf die Diffusion von Recht erfordert Klarstellungen und Modifikationen, die bislang nicht ausgearbeitet worden sind. Auch wenn ich diese Lücke nicht füllen kann, so will ich doch im nächsten Beitrag berichten, wie ich mit dieser Fragestellung im Kopf Texte von Rogers und Greenhalgh u.a. gelesen habe.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 William L. Twining, Diffusion of Law: A Global Perspective, Journal of Legal Pluralism and Inofficial Law 49, 2004, 1-45; ders., Social Science and Diffusion of Law, Journal of Law and Society 32 , 2005, 203-240.
2 Frank Heidemann, Ethnologie, 2001, 62f; vgl. auch die ausführliche Webseite »Anthropological Theories«.
3 Die folgende Liste entspricht der Tabelle von bei Twining 2006, 205f.
4 Das Zitat bezieht Twining von Bruno Latour, Aramis or the Love of Technology, Harvard UP, 1996, S. 119, und bemerkt dazu: In cultural geography a basic notion is that the diffusing item is both a stimulus to a new innovation and itself subject to modification as it spreads.
5 Everett M. Rogers, Diffusion of Innovations, 5. Aufl., New York, NY 2003. Ich zitiere nach der 3. Aufl. von 1983, die als PDF im Internet zur Verfügung steht. Zusammenfassungen der elf Kapitel sind abgedruckt in dem Reader »Knowledge und Innovation Management«von Prof. Volker Hoffmann, Universität Hohenheim, dort S. 37-50. Dort S. 64-74 auch eine kritische Besprechung des Werk von Rogers, wie es sich über fünf Auflagen entwickelt hat.
6 Trisha Greenhalgh/Glenn Robert/Fraser Macfarlane/Paul Bate/Olympia Kyriakidou, Diffusion of Innovations in Service Organisations: Systematic Literature Review and Recommendations for Future Research, Milbank Quarterly 82, 2004, 581-629
7 Das Buch habe ich bisher nicht in der Hand gehabt.
8 Storylines of Research in Diffusion of Innovation: A Meta-Narrative Approach to Systematic Review, Social Science & Medicine 61, 2005, 417–430.

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Travelling Models II: Modelltransfer in der Governance-Forschung

Dieser und noch einige weitere Beiträge dienen (mir) zur Vorbereitung auf eine Besprechung des Bandes »Travelling Models in African Conflict Management, Translating Technologies of Social Ordering« herausgegeben von Andrea Behrends, Sung-Joon Park und Richard Rottenburg (Leiden 2014). Dieser Band ist gemeint, wenn »Travelling Models« in Anführungszeichen steht. [1]Der am 27. 8. 2014 Eintrag angekündigte Eintrag zur Diffusion folgt als nächster.

Governance-Forschung ist Rechtssoziologie unter fremdem Namen. Sie hat sich in der Wissenschaftslandschaft so breit gemacht, dass sie sich nicht mehr übersehen lässt. Das gilt natürlich aus meiner Sicht in erster Linie im Verhältnis zur Rechtssoziologie und Rechtsvergleichung. Das gilt aber auch für die Ethnologie im Allgemeinen und die »Travelling Models« im Besonderen. 2012 gab es in der Reihe Ethnoskripts des Instituts für Ethnologie der Universität Hamburg ein Schwerpunktheft »Governance«. Im Eintrag vom 23. 10. 2013 hatte ich dieses Heft dahin kommentiert, ich könne nicht erkennen, warum die Ethnologen dem Governance-Begriff nachliefen, es sei denn um an dem Momentum, mit dem dieser Begriff sich durchgesetzt hat, zu partizipieren. Aber das Thema des Modelltransfers ist in der Governance-Forschung so aktuell, und es wird dort so breit bearbeitet, dass man darüber nicht ganz hinweggehen kann. Dabei fällt auf, dass die Governance-Forschung mit Scheuklappen durch die Wissenschaftswelt geht. Von Ethnologie scheint man da noch nie etwas gehört zu haben.

Wo immer man sich in Deutschland mit öffentlichem Recht, Verwaltung, Europäisierung und Globalisierung befasst, ist auch von Governance die Rede, sei es auf breiter Front in Speyer, sei es in Hamburg [2]Hoffmann-Riem, Trute, Pilniok., sei es im Max-Planck-für Gesellschaftsforschung in Köln. [3]Dort gibt es einen Forschungsbereich »Governance of Global Structures«. Ich schätze besonders die Arbeiten von Quack und Djelic. Diese Begriffsverwendung sei hier mit einem Zitat kommentiert:

»Nun ist ja bekanntlich keine Form des Denkens davor gefeit, der Marktlogik unterworfen und in der Form des Begriffsdropping für Zwecke der Eigenreklame oder der Beförderung einer bestimmten Denkschule eingesetzt zu werden; jeder Person, die je Forschungsanträge geschrieben hat, ist diese Form des instrumentellen Denkens vertraut.« [4]Birgit Wagner, Kulturelle Übersetzung. Erkundungen über ein wanderndes Konzept, 2008: http://www.kakanien.ac.at/beitr/postcol/BWagner2.pdf.

Berlin ist das Zentrum der deutschen Governance-Forschung. Bis 2011 hatte das Wissenschaftszentrum Berlin eine Forschungsprofessur und Querschnittsgruppe »Neue Formen von Governance« um Gunnar Folke Schuppert. Zurzeit gibt es dort in der Forschungseinheit »Internationale Politik und Recht« um Michael Zürn eine Unterabteilung »Global Governance«. Am produktivsten ist aber der Sonderforschungsbereich 700 »Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit« an der FU. Er gibt im Nomos Verlag »Schriften zur Governanceforschung« heraus und hat von 2006 bis heute über 60 Working Papers veröffentlicht.

Der SFB 700 ist thematisch sehr nahe an der Ethnologie, weil er die »Räume begrenzter Staatlichkeit« in den Blick nimmt, die das bevorzugte Forschungsfeld der Ethnologen sind. Noch näher kommt er den »Travelling Models« scheinbar durch acht Working Papers, bei denen schon im Titel von »Governance Transfer« die Rede ist. Tatsächlich ist der Abstand enorm, denn die Governanten befassen sich auf der Makroebene mit dem Transfer von Menschenrechten, Demokratie, Rule of Law und Good Governance. Sie legen ein Exportmodell zugrunde, das anscheinend nicht so glatt funktioniert. Im Namen der Exporteure wird beklagt: »The differences we find between the governance transfers of our nine ROs indicate that the process of diffusion we may observe is ›localized‹ (Acharya 2004 ), meaning that it is driven or at least mitigated by region-specific, domestic factors.« Was die Lokalisierung betrifft, kommen sie also nicht weiter als bis 2004. Wenn es dann heißt: »The literature does not provide a theoretical approach that would be capable of explaining our double finding of growing similarities and persisting differences in governance transfer by regional organizations.« (S. 23), möchte man ihnen vorschlagen, sich den Hallenser Anthropologen Rat zu holen.

Eines der jüngsten Forschungspapiere (Nr. 60 von 2013) von Johannes Kode befasst sich mit »Social Conditions of Governance: Social Capital and Governance in Areas of Limited Statehood«. Darin wird ausführlich theoretisiert, dass »Governance ohne Staat»« stattfinden könne, wenn nur hinreichend Sozialkapital vorhanden sei. Für die Behauptung, »Governance without a state appears to be an empirical reality in many parts of the world«, werden Autoren aus dem eigenen Hause benannt, die ihrerseits konzipieren. [5]Nämlich Tanja A. Börzel/Thomas Risse, Governance without a State: Can It Work?, Regulation & Governance 4, 2010, 113-134. Diese führen (auf S. 120) zwar einige Beispiele für Ordnungsinseln an, zitieren dafür aber wiederum fast nur Autoren aus dem eigenen Hause. [6]Überhaupt erklärt sich die Produktivität des SFB erklärt sich zum Teil daraus, dass man sich immer wieder selbst zitiert und wiederholt. Das wichtigste Beispiel ist wohl Somaliland. Die Gewährsleute sprechen hier allerdings von einer »de facto state entity«. [7]Tobias Debiel/Rainer Glassner/Conrad Schetter/Ulf Terlinden, Local State‐Building in Afghanistan and Somaliland, Peace Review 21 , 2009, 38-44, S. 41.

[Nachtrag vom 1. 11. 2014: Ich bin darauf hingewiesen worden, dass Kode in seinem Paper als empirischen Beleg für »Governance ohne Staat« im weiteren Verlauf des Artikels die Autoren Raeymaekers, Rosenau/Czempiel, Richards/Khadija/Vincent, Reno, Mitchell, Lund, Debiel/Glassner/Schetter/Terlinden sowie Colletta/Cullen und Brinkerhoff et al. heranzieht, so dass unzutreffend der Eindruck erweckt werde, er habe sich auf »nur« auf Autoren aus dem eigenen Hause gestützt.]

Zu den umsichtigeren Autoren aus dem SFB zählt Antje Draude. Das zeigte sich schon in ihrer Diplomarbeit, die als Monographie veröffentlicht worden ist [8]Anke Draude, Der blinde Fleck der Entwicklungstheorie. Von der Unüberwindbarkeit der Modernisierungstheorie im Korruptionsdiskurs, 2007.. Mit Interesse habe ich von ihr auch gelesen »Governance in der postkolonialen Kritik: Die Herausforderung lokaler Vielfalt jenseits der westlichen Welt« [9]SFB Working Paper 24, 2010.

Über die Person einer Autorin des Bandes »Travelling Models«, bin ich auf einen gehaltvollen Beitrag zum Interdisziplinaritätshema gestoßen: Veronika Fuest, Alle reden von Interdisziplinarität aber keiner tut es – Anspruch und Wirklichkeit interdisziplinären Arbeitens in Umweltforschungsprojekten, 2004. Anscheinend funktioniert nicht einmal – wie ich sie nennen möchte – die kleine Interdisziplinarität. Gemeint ist die Kooperation zwischen Nachbardisziplinen und hier wiederum zwischen Forschergruppen, aus dem weiteren Bereich der Sozialwissenschaften, die auf dem gleichen Themenfeld tätig sind. Das betrifft nicht nur den SFB 700 in Berlin, sondern auch das GIGA Institut für Afrika-Studien in Hamburg. Die Hallenser (und andere) Ethnologen sind dort anscheinend unbekannt. Sonst hätten etwa Nadine Ansorg und Kim Schultze, Friedensinseln in Subsahara-Afrika, GIGA Focus Afrika, 2014, 1-8, den Text von Behrends und Schlee zitieren können oder gar müssen, in dem diese die These begründen, sei ein Irrtum, dass Ethnizität Ursache von Konflikten sei. [10]Andrea Behrends/Günther Schlee, Lokale Konfliktstrukturen in Darfour und dem Osten des Tschad oder: Was ist ethnisch an ethnischen Konflikten, in: Walter Feichtinger/Gerald Hainzl (Hg.), … Continue reading Auch der Artikel von Matthias Basedau, Annegret Mähler und Georg Strüver, Neue Erdölfunde in Afrika: Können Konflikte vermieden werden? [11]GIGA Focus 7, 2010, 1-8. bietet sich für wechselseitige Bezugnahmen an. Der naive Jurist sucht ferner nach einer Verbindung zwischen dem »Forschungsteam Natürliche Ressourcen und Sicherheit« im GIGA-Institut und dem Projekt »Oil and Social Change in Niger and Chad«, an dem Ethnologen aus Göttingen und Halle beteiligt sind. Sollte es da zwischen den verschiedenen Institutionen der Afrika-Forschung Wahrnehmungssperren geben?

Immerhin, die Zusammenarbeit zwischen vier Max-Planck-Instituten, darunter demjenigen für ethnologische Forschung in Halle, dem dortigen Seminar für Ethnologie und der Universität Freiburg scheint auf den ersten Blick zu funktionieren. Jedenfalls haben sie sich unter der Bezeichnung »International Max Planck Research School on Retaliation, Mediation and Punishment« zusammengefunden. Es gibt eine lange Liste von 71 Veröffentlichungen, die man sich zurechnet. Auch das Seminar für Ethnologie an der Universität Halle unter der Leitung von Richard Rottenburg ist beteiligt. Von dort heißt es vielversprechend: »His research focuses on the anthropology of law, organization, science and technology (LOST).« [12]Vgl. dazu den Eintrag vom 2. 8. 2014.

Noch einmal zurück zu den Transfer-Papers aus Berlin. In allen acht ist mindestens im Vorwort jedenfalls einmal von der »diffusion of a global governance script« die Rede. Beklagt wird auch der schlechte Zustand der »Diffusions- und Vergleichenden Regionalismusforschung«. [13]Bei Tanja A. Börzel/Vera van Hüllen/Mathis Lohaus, Governance Transfer by Regional Organizations, SFB-Governance Working Paper Nr. 42, Januar 2013. Zugegeben: Ich habe die Papiere nicht gründlich gelesen, sondern eher nur gescannt. Aber auch dabei hätte ich eigentlich auf eine Darstellung des beklagten Forschungszustandes treffen müssen. Fehlanzeige. Das ist Anlass, im nächsten Eintrag auf die Diffusion von Recht einzugehen, zumal Diffusion auch bei den Ethnologen ein eher ungeliebtes Thema ist.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Der am 27. 8. 2014 Eintrag angekündigte Eintrag zur Diffusion folgt als nächster.
2 Hoffmann-Riem, Trute, Pilniok.
3 Dort gibt es einen Forschungsbereich »Governance of Global Structures«. Ich schätze besonders die Arbeiten von Quack und Djelic.
4 Birgit Wagner, Kulturelle Übersetzung. Erkundungen über ein wanderndes Konzept, 2008: http://www.kakanien.ac.at/beitr/postcol/BWagner2.pdf.
5 Nämlich Tanja A. Börzel/Thomas Risse, Governance without a State: Can It Work?, Regulation & Governance 4, 2010, 113-134.
6 Überhaupt erklärt sich die Produktivität des SFB erklärt sich zum Teil daraus, dass man sich immer wieder selbst zitiert und wiederholt.
7 Tobias Debiel/Rainer Glassner/Conrad Schetter/Ulf Terlinden, Local State‐Building in Afghanistan and Somaliland, Peace Review 21 , 2009, 38-44, S. 41.
8 Anke Draude, Der blinde Fleck der Entwicklungstheorie. Von der Unüberwindbarkeit der Modernisierungstheorie im Korruptionsdiskurs, 2007.
9 SFB Working Paper 24, 2010.
10 Andrea Behrends/Günther Schlee, Lokale Konfliktstrukturen in Darfour und dem Osten des Tschad oder: Was ist ethnisch an ethnischen Konflikten, in: Walter Feichtinger/Gerald Hainzl (Hg.), Krisenmanagement in Afrika, Erwartungen, Möglichkeiten, Grenzen, Wien 2009, 159-178.
11 GIGA Focus 7, 2010, 1-8.
12 Vgl. dazu den Eintrag vom 2. 8. 2014.
13 Bei Tanja A. Börzel/Vera van Hüllen/Mathis Lohaus, Governance Transfer by Regional Organizations, SFB-Governance Working Paper Nr. 42, Januar 2013.

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Travelling Models I: Rechtsvergleichung

Vor vier Jahren habe ich in zwei Einträgen die travelling models der Hallenser Ethnologen angesprochen. [1]Treibball in die Rechtssoziologie vom 2. Juli 2010 und Wandernde Rechtskonzepte vom 18. September 2010. Damals gab es ein Paper im Internet, das längst wieder verschwunden ist. In diesem Jahr nun ist der angekündigte Sammelband mit dem entsprechenden Titel erschienen. Die Lektüre war durchaus erfreulich, wiewohl die leise Kritik, die ich im Eintrag vom 18. 9. 2010 angedeutet habe, sich als berechtigt erweist.

Andrea Behrends/Sung-Joon Park/Richard Rottenburg (Hg.), Travelling Models in African Conflict Management, Translating Technologies of Social Ordering, Leiden 2014 [2]Das Buch ist weitgehend bei Google-Books einsehbar.

Doch bevor ich mich an einem Bericht über diesen Band versuche, muss ich ein bißchen zur Selbstverständigung reflektieren. Denn einerseits zählen Ethnologie und/oder Anthropologie zu den interessantesten Nachbarwissenschaften der Rechtssoziologie. Andererseits »ticken« die Ethnologen anders, so dass ich ständig in Gefahr bin, etwas falsch zu verstehen oder zu bewerten. Im Vorgriff auf Richard Rottenburg kann ich auch sagen: Ethnologie und (meine) Rechtssoziologie leben mit einem unterschiedlichen kulturellen Code. Unter einem kulturellen Code versteht Rottenburg das Hintergrundverständnis, das die Weltwahrnehmung und -Deutung lenkt. Soweit es um Wissenschaft geht, würde man freilich eher von einem epistemischen Paradigma sprechen. Ethnologen suchen ständig nach Vielfalt. Von nicht wenigen Rechtssoziologen wird dieses Vorverständnis geteilt. Sie sehen sich als Rechtspluralisten und suchen und schätzen die Vielfalt des Rechts. Ich selbst dagegen suche, ohne die Vielfalt zu leugnen oder gar gering zu schätzen, nach der Einfalt in der Vielfalt, das heißt, nach Konvergenz.

Dabei geht es nicht allein um Konvergenz und Differenz auf der Objektebene. Schon hinsichtlich Theorie, Methode und Themenwahl lässt sich über die Disziplingrenzen hinweg nach Konvergenz und Differenzen fragen. Die Konvergenz erscheint mir frappierend, wenn man die Parallelen zwischen Rechtsvergleichung und/oder Rechtssoziologie einerseits und Ethnologie und/oder Anthropologie andererseits ansieht. Dann erscheinen sogar fachinterne Differenzierungen, etwa die zwischen Funktionalisten und Kulturalisten, selbst wiederum als Einfalt der Vielfalt, das heißt letztlich als Konvergenz.

Bei den »Travelling Models« geht es um den Transfer von Ideen oder Konzepten zur Gestaltung der Gesellschaft. Die von den Hallenser Ethnologen als travelling models untersuchten Konzepte haben alle in irgendeiner Weise Rechtscharakter. »Travelling Law«, also der Transfer von Recht, die freiwillige oder erzwungene, beabsichtigte oder unbeabsichtigte Übernahme einer ganzen Rechtsordnung oder einzelner Teile in andere Länder mit einer anderen kulturellen Umgebung ist ein Standardthema von Rechtsvergleichung und Rechtssoziologie – die sich bei seiner Behandlung kaum auseinanderhalten lassen. Das Thema wird heute bevorzugt im Zusammenhang mit der Globalisierung erörtert, und dabei geht es immer wieder um Pluralität, Divergenz und Konvergenz des Rechts.

In der Rechtsvergleichung gibt es im Prinzip drei unterschiedliche Ansätze. Der erste ist die dogmatisch orientierte Regelvergleichung. Sie kommt typisch zum Einsatz, wenn in einem Gerichtsverfahren das Internationale Privatrecht auf ausländisches Recht verweist, etwa für die Frage, wie das inländische Vermögen eines hier verstorbenen Ausländers vererbt wird (Art. 25 EGBGB). Die Regelvergleichung hat zu einer enormen Anhäufung von Einzelwissen geführt, das freilich so vergänglich ist wie das positive Recht selbst.

Schon die bloße Regelvergleichung kommt nicht ohne eine funktionalistische Betrachtungsweise aus, denn die Regeln fremder Rechte sind oft anders benannt und geordnet, so dass man nicht einfach auf bestimmte Regeln zugreifen kann, sondern zunächst das Sachproblem identifizieren muss, für das eine Regel gesucht wird. In diesem Sinne ist die klassische Rechtsvergleichung seit Ernst Rabel, Konrad Zweigert und Hein Kötz funktionalistisch. Sie hat zudem ein praktisches Ziel, nämlich die Suche nach vergleichsweise besseren Problemlösungen. Diese Art der Rechtsvergleichung hat insofern Konvergenz im Hinterkopf, als sie rechtspolitisch in das Geschäft der Harmonisierung oder gar Vereinheitlichung des Rechts eingespannt ist.

Die explizit funktionalistische Rechtsvergleichung geht noch einen Schritt weiter. [3]Ausführlich zur funktionalistischen Rechtsvergleichung Julie de Coninck, The Functional Method of Comparative Law: Quo Vadis?, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht … Continue reading Sie nimmt an, dass die zu regelnden Probleme in verschiedenen Gesellschaften mehr oder weniger gleich sind, und meint, nur im Hinblick auf vergleichbare Problemlagen lasse sich das Recht überhaupt vergleichen. Mindestens hinsichtlich dieses Ausgangspunkts denkt sie universalistisch. Die funktionalistische Rechtsvergleichung entspricht damit dem Vorschlag, mit dem Walter Goldschmidt das Malinowski-Dilemma der Anthropologie lösen wollte, das Problem nämlich, das sich ergibt, wenn man einerseits soziale Institutionen als Produkt einer spezifischen Kultur erklärt, andererseits aber auch die Institutionen als solche vergleichen möchte. Dann fehlt ein tertium comparationis, wenn man nicht davon ausgeht, dass Institutionen jeweils bestimmte gleichartige Probleme lösen. [4]Walter Goldschmidt, Comparative Functionalism: An Essay in Anthropological Theory, Berkeley 1966. Das ist allerdings noch nicht der Weisheit letzter Schluss, den auch Problemwahrnehmung und Definition sind nicht kulturunabhängig.

Die funktionalistische Rechtsvergleichung ist geneigt, auf globaler Ebene eine gewisse Konvergenz der Problemlösungen wahrzunehmen. Bei ihrer Vergleichsarbeit sucht sie nicht bloß nach formellem Recht, dass für die Probleme relevant ist, sondern zieht auch einschlägige informelle Institutionen heran. Damit rückt sie in die Nähe des Neoinstitutionalismus. [5]Dazu voraussichtlich demnächst Travelling Models IV.

Seit nunmehr etwa 30 Jahren hat als dritter der kulturwissenschaftliche Ansatz in Rechtssoziologie und Rechtsvergleichung Eingang gefunden. [6]Ausführlicher Rechtssoziologie-Online § 15, Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft. Er äußert sich in zwei ganz unterschiedlichen Betrachtungsweisen. Die eine betont, dass an die Stelle von Rechtsvergleichung Rechtskulturvergleichung treten solle. Dieser Ansatz, der vor allem auf Arbeiten von Lawrence M. Friedman zurückgeht, sieht das Recht selbst als kulturelles Phänomen, das viel mehr umfasst als das offizielle Recht, nämlich das praktisch gelebte Recht und als dessen Grundlage das Rechtsbewusstsein der Menschen. Es geht gewissermaßen um eine ganzheitliche Betrachtung eines Rechtssystems oder bestimmter Teile. Bevorzugte Untersuchungseinheiten sind nationale Rechtssysteme. Dann ist etwa von den Unterschieden amerikanischer und deutscher Rechtskultur die Rede. Nicht selten wird aber auch die Besonderheit von lokalen Rechtskulturen (local legal cultures) herausgestellt.

Den Gegenpol zur funktionalistischen Rechtsvergleichung, auf den es mir hier ankommt, bildet eine kulturalistische Rechtsvergleichung, die auf Kultur als externe Umgebung des Rechts abstellt. Während der Begriff der Rechtskultur auf Systemeigenschaften des Rechts abzielt, wird »Kultur« hier als Gegenstück zum Recht verstanden, etwa wenn man sagt, das liberal-demokratische Rechtskonzept der westlichen Industrienationen vertrage sich nicht mit der islamischen Kultur (was ich nicht sage). »Kultur« als Umwelt des Rechts kann so zur Erklärung bestimmter Eigenschaften des Rechts dienen.

Die kulturalistische Rechtsvergleichung lässt sich von der Idee bestimmen, dass jede Kultur ein in sich geschlossenes Gefüge eigener Art bildet, ein Ensemble von aufeinander abgestimmten Lebensformen, Verhaltensweisen und Normen, dass die Kulturen untereinander inkommensurabel sind und dass es auch keinen neutralen Maßstab, gibt an dem sie sich messen lassen. Alle Beobachtungen und Interpretationen werden danach von der Zugehörigkeit zu einer Kultur gesteuert und sind insofern relativ. Kulturalistische Rechtsvergleichung sucht daher, anders als die funktionalistische, nicht nach Übereinstimmungen oder gar Konvergenzen in den vielen verschiedenen Rechtsordnungen, sondern sie bleibt bei der Feststellung von Differenzen stehen, um sie aus dem jeweils unterschiedlichen kulturellen Kontext zu erklären. [7]Zur Kritik der funktionalistischen Methode durch »kritische Differenztheoretiker« De Coninck S. 323 ff. Konsequent führt die Wertschätzung kultureller Vielfalt auch zur Wertschätzung von rechtlicher Differenz. Wenn und weil jede Kultur ihre eigene Identität besitzt, ist sie notwendig besonders. Wenn das Recht in die umgebende Kultur eingebettet ist, so muss es notwendig anders sein. [8]Roger B. M. Cotterrell, Comparative Law and Legal Culture, in: Mathias Reimann/Reinhard Zimmermann (Hg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, Oxford 2006, 709-737. S. 711f. Da die Interpretation von Recht und damit auch die Praxis jeweils von einem kulturell geprägten Vorverständnis geleitet werde, lasse sich auch durch eine Angleichung der Regeln letztlich keine Harmonisierung des Rechts erreichen. [9]Pierre Legrand, European Legal Systems Are Not Converging, The International and Comparative Law Quarterly 45, 1996, 52-81.

Da es heute stets um Globalisierung geht, kann man den Gegensatz zwischen funktionalistischer und kulturalistischer Rechtsvergleichung sehr verkürzt dahin formulieren: Die einen haben im Hinterkopf die These von der Konvergenz des Rechts im globalen Maßstab, die anderen arbeiten mit der Vorannahme, dass das Recht wie die Kultur prinzipiell vielfältig bleibt. Es steht sozusagen global legal pluralism [10]Wenn von Rechtspluralismus die Rede ist, meint man allerdings in erster Linie dass zur selben Zeit und am gleichen Ort verschiedene Rechts zur Auswahl stehen, konkurrieren oder sich bekämpfen. Zum … Continue reading gegen die Vorstellung einer globalen Konvergenz des Rechts. Der unterschiedliche Ausgangspunkt dürfte eigentlich kein Problem sein, wenn man den Gegensatz als Frage an die Empirie formuliert, nämlich als Frage, ob und wieviel Konvergenz sich beobachten lässt bzw. umgekehrt, ob und wieviel Differenz [11]Zum Unterschied von Konvergenz und Homogenität einerseits und Divergenz und Differenz im Sinne von Diversität oder Vielfalt andererseits vgl. den Eintrag vom 1. 10. 2012 »Die Einfalt der … Continue reading verbleibt.

Die Übertragung von Institutionen oder auch nur singulären Normen aus einem Rechtskreis in einen anderen wird unter Stichworten wie Einfuhr und Ausfuhr, Rezeption und Oktroyierung von Recht, Rechtstransfer, legal transplant [12]Z. B. John Stanley Gillespie, Transplanting Commercial Law Reform, Developing a »Rule of Law« in Vietnam, Aldershot 2006; Gail J. Hupper, The Academic Doctorate in Law: A Vehicle for Legal … Continue reading oder imposition of law [13]Sandra B. Burman/Barbara E. Harrell-Bond (Hg.), The Imposition of Law, New York 1979. abgehandelt. Die Stichworte konnotieren eher mit intendiertem Handeln. Daneben steht die unbeabsichtigte Diffusion von Ideen, Konzepten und auch konkreten Normierungen. Dazu im nächsten Eintrag.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Treibball in die Rechtssoziologie vom 2. Juli 2010 und Wandernde Rechtskonzepte vom 18. September 2010. Damals gab es ein Paper im Internet, das längst wieder verschwunden ist.
2 Das Buch ist weitgehend bei Google-Books einsehbar.
3 Ausführlich zur funktionalistischen Rechtsvergleichung Julie de Coninck, The Functional Method of Comparative Law: Quo Vadis?, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 74, 2010, 318-350.
4 Walter Goldschmidt, Comparative Functionalism: An Essay in Anthropological Theory, Berkeley 1966.
5 Dazu voraussichtlich demnächst Travelling Models IV.
6 Ausführlicher Rechtssoziologie-Online § 15, Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft.
7 Zur Kritik der funktionalistischen Methode durch »kritische Differenztheoretiker« De Coninck S. 323 ff.
8 Roger B. M. Cotterrell, Comparative Law and Legal Culture, in: Mathias Reimann/Reinhard Zimmermann (Hg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, Oxford 2006, 709-737. S. 711f.
9 Pierre Legrand, European Legal Systems Are Not Converging, The International and Comparative Law Quarterly 45, 1996, 52-81.
10 Wenn von Rechtspluralismus die Rede ist, meint man allerdings in erster Linie dass zur selben Zeit und am gleichen Ort verschiedene Rechts zur Auswahl stehen, konkurrieren oder sich bekämpfen. Zum Rechtspluralismus ausführlich Klaus F. Röhl/Stefan Machura, 100 Jahre Rechtssoziologie: Eugen Ehrlichs Rechtspluralismus heute, Juristenzeitung, 2013, 1117-1128.
11 Zum Unterschied von Konvergenz und Homogenität einerseits und Divergenz und Differenz im Sinne von Diversität oder Vielfalt andererseits vgl. den Eintrag vom 1. 10. 2012 »Die Einfalt der Vielfalt«.
12 Z. B. John Stanley Gillespie, Transplanting Commercial Law Reform, Developing a »Rule of Law« in Vietnam, Aldershot 2006; Gail J. Hupper, The Academic Doctorate in Law: A Vehicle for Legal Transplants?, SSRN: http://ssrn.com/abstract=1126358; Vlad Perju, Constitutional Transplants, Borrowing, and Migrations, http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=1982230; Holger Spamann, Contemporary Legal Transplants – Legal Families and the Diffusion of (Corporate) Law, Brigham Young University Law Review, 2009, 1813-1877. Einen neuen Band zum Thema habe ich noch nicht in der Hand gehabt: Eugenia Kurzynsky-Singer (Hg.), Transformation durch Rezeption?, Möglichkeiten und Grenzen des Rechtstransfers am Beispiel der Zivilrechtsreformen im Kaukasus und in Zentralasien, 2014.
13 Sandra B. Burman/Barbara E. Harrell-Bond (Hg.), The Imposition of Law, New York 1979.

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Luhmanns Theorie der Rechtsgeltung und der Vertrag als Rechtsquelle

Im Eintrag vom 29. 4. 2010 hatte ich eine Stelle aus Luhmanns Geltungsaufsatz von 1991 zitiert, in der davon die Rede ist, das zirkulierende Geltungssymbol solle den Rechtsquellenbegriff ersetzen. Hier noch einmal das (gekürzte) Zitat:

»Im Anschluß an eine Terminologie, die Talcott Parsons in seiner Theorie symbolisch generalisierter Tauschmedien benutzt, kann man auch von einem im System zirkulierenden Symbol sprechen und damit die Metapher der Quelle durch die Metapher des Zirkulierens ersetzen.« [1]Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 279; ähnlich, aber ohne Anspruch auf Ersatz der Rechtsquellenmetapher RdG S. 107.

Mit der ihm eigenen Souveränität erklärt uns Luhmann, wenn man seine Theorie der Rechtsgeltung akzeptiere und mit ihr »Quelle« durch »Zirkulation« ersetze, so führe das »zu weitreichenden Änderungen der theoretischen Beschreibung des Rechtssystems«. [2]S. 283.

»Mit dem formalen Begriff der Geltung in Anspruch nehmenden und transportierenden Operation können mehr Tatbestände erfaßt werden, als mit dem Begriff der Rechtsquelle. Diese Ausweitung unterläuft klassische Einteilungen des Rechts – insbesondere die Einteilung von öffentlichem Recht und Privatrecht und die Einteilung von Gesetzgebung und Rechtsprechung. Vor allem aber gelingt es auf diese Weise, die mit der Vertragsfreiheit gegebenen Gestaltungsmöglichkeiten einzubeziehen. Wir hatten bereits notiert [3]Bei Fn. 8 unter Hinweis auf Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, 1840, S. 12. Savignys Text ist in im Internet verfügbar: … Continue reading, daß Savigny Verträge aus dem Bereich der Rechtsquellen ausgeschlossen hatte. Das kam der zeitgenössischen Vorstellung eines ›unpolitischen‹ Privatrechts entgegen und lenkte im Kontext der liberalen Ideologie davon ab, daß Private mit dem Instrument der Verträge die öffentliche Gewalt dazu zwingen können, zu ihren Gunsten zu intervenieren, ohne daß der Vertragsinhalt zuvor politisch kontrolliert worden wäre.« [4]Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 282.

Um den Vertrag als Rechtsquelle zu erfassen, braucht es Luhmanns Geltungstheorie nicht, wenn man die Privatautonomie als eine vom Recht verliehene Kompetenz versteht [5]So ohne die Nachhilfe Luhmanns schon die erste Aufl. der Allg. Rechtslehre 1994. S. 238, 558f., ein Verständnis, dass Savigny allerdings noch fernlag. In Fußnote auf S. 12 erklärt dieser die »irrtümliche« Einordnung des Vertrages als Rechtsquelle mit dem »vieldeutigen Ausdruck Autonomie«. Versteht man Privatautonomie nicht als originäre, sondern als rechtlich verliehene oder jedenfalls geordnete Kompetenz, dann wird auch klar, dass auch der Inhalt privater Verträge wenn nicht politisch, so doch rechtlich kontrolliert wird, ein Thema, dass heute unter dem Aspekt der Materialisierung des Vertragsrechts breit abgehandelt wird.

Gunther Teubner, der zwar nicht explizit, aber in vielen Formulierungen Luhmanns Geltungslehre übernimmt, sieht die notwendige Veränderung der traditionellen Rechtsquellenlehre »sehr viel radikaler«:

»Der globale Kontext, in dem keine bereits bestehenden Rechtsordnung eine Geltungsquelle globaler Verträge darstellt, nötigt uns dazu, den Vertrags selbst als Rechtsquelle anzuerkennen, gleichgeordnet neben Richterrecht und Gesetzgebung.« [6]A. a. O. S. 22.
In der Sache geht es dabei um die berühmt-berüchtigte lex mercatoria. Teubner fragt:
»Wie ist es denkbar, daß sich, ohne daß ein globales politisches System oder globale Rechtsinstitutionen existierten, ein globaler Rechtsdiskurs auf der Grundlage binärer Codierung und mit Anspruch auf globale Geltung ohne Fundierung in einem nationalen Recht etabliert?« [7]A.a.O. S. 17.

Ich sehe hier von Teubners begriffssoziologischer Konstruktion der »Selbstvalidierung des Vertrages« ab und ziehe nur das Ergebnis in Betracht:

»Private Schiedsgerichte und private Gesetzgebung werden auf diese Weise zum Mittelpunkt eines Entscheidungssystems, das eine Hierarchie von Normen und Entscheidungsstellen zu errichten beginnt.«

Von unserem Standpunkt der Relativität der Rechtsquellenlehre kann ich dem ohne weiteres folgen. Die lex mercatoria ist Rechtsquelle für das Entscheidungssystem der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit, aber nicht Rechtsquelle schlechthin. So dürfte Teubner das aber wohl nicht gemeint haben, auch wenn er vielfach die »Fragmentierung« des Rechts in viele »Privatregimes« betont. Deshalb will ich doch noch einmal auf die Frage nach der Universalität des Rechtssystems zurückkommen.

Das Phänomen, um dessen theoretische Erfassung viele Autoren kämpfen, ist die Tatsache, dass es so etwas wie einen globalen Rechtsdiskurs gibt. Ich wiederhole noch einmal ausführlicher das Teubner-Zitat aus dem Beitrag vom 21. 4. 2014:

»Was wir hier beobachten, ist ein sich selbst reproduzierender Rechtsdiskurs globalen Ausmaßes, der seine Grenzen durch Benutzung des binären Codes Recht/Unrecht schließt und sich selbst durch Prozessieren eines Symbols globaler (nicht: nationaler) Geltung reproduziert. Das erste Kriterium – binäre Codierung – unterscheidet globales Recht von ökonomischen und anderen sozialen Prozessen. Das zweite Kriterium – globale Geltung – grenzt globales Recht von nationalen und internationalen Rechtsphänomen ab.« [8]Gunther Teubner, Globale Bukowina: Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus, Rechtshistorisches Journal 15, 1996, 255-290, Hier zitiert nach der Internetfassung … Continue reading.

Das erste Kriterium, Luhmanns Recht/Unrecht-Code, hat selbst keinerlei Globalisierungsbezug. Daher wird das zusätzliche Kriterium »globale Geltung« eingeführt. Entgegen dem ersten Anschein, ist wohl keine universelle Geltung, sondern (nur) »transnationale« Geltung gemeint, nämlich »Geltung jenseits der Nationalstaaten und sogar jenseits der inter-nationalen Beziehungen« (A. a. O. S. 11.)). Für solche Geltung bietet auch Teubner letztlich kein anderes Erkennungsmerkmal als die Existenz eines Entscheidungssystems, in diesem Fall, der internationalen Handelsschiedsgerichtsbarkeit.

Der Rechts/Unrecht-Code hat, wie gesagt, keinerlei Globalisierungsbezug. Er hat aber auch keinen Bezug auf nationale oder sonstige Rechtssysteme beschränkter Reichweite. Insofern eignet er sich durchaus zur Identifizierung eines universellen Rechtssystems. Klaus Günther spricht von einem universalen Code der Legalität. [9]Klaus Günther, Rechtspluralismus und universaler Code der Legalität: Globalisierung als rechtstheoretisches Problem, FS Habermas, 2001, 539-567; ders., Legal Pluralism or Uniform Concept of Law. … Continue reading Die verschiedenen Akteure (Anwälte, Gesetzgeber, NGOs, Schiedsrichter) seien stets in der Lage, auftauchende Fragen auf der Basis grundlegender Vorstellungen von Rechten und fairen Verfahren, von Sanktionen und Kompetenzen als Rechtsthemen zu behandeln. Das gelinge aber nur unter der stillschweigenden Voraussetzung, dass »Recht« eben doch etwas Einheitliches sei. Günthers »Code« ist gehaltvoller als die bloße Unterscheidung von Recht und Unrecht. Man soll ihn sich als eine Art Metasprache vorstellen, die grundlegende Vorstellungen von Rechten und fairen Verfahren, von Sanktionen und Kompetenzen enthält, wie sie durch historische Erfahrungen geprägt wurden. Eine juristische Rechtsquellenlehre kann sich auf so vage Vorstellungen nicht einlassen. Sie beansprucht Geltung immer nur für ein Entscheidungssystem. Daran kann und will auch Luhmanns Theorie der Rechtsgeltung als zirkulierendes Symbol nicht ändern.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 279; ähnlich, aber ohne Anspruch auf Ersatz der Rechtsquellenmetapher RdG S. 107.
2 S. 283.
3 Bei Fn. 8 unter Hinweis auf Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, 1840, S. 12. Savignys Text ist in im Internet verfügbar: http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10565865_00068.html.
4 Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 282.
5 So ohne die Nachhilfe Luhmanns schon die erste Aufl. der Allg. Rechtslehre 1994. S. 238, 558f.
6 A. a. O. S. 22.
7 A.a.O. S. 17.
8 Gunther Teubner, Globale Bukowina: Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus, Rechtshistorisches Journal 15, 1996, 255-290, Hier zitiert nach der Internetfassung http://www.jura.uni-frankfurt.de/42828668/BUKOWINA_DT.pdf, dort S. 13.
9 Klaus Günther, Rechtspluralismus und universaler Code der Legalität: Globalisierung als rechtstheoretisches Problem, FS Habermas, 2001, 539-567; ders., Legal Pluralism or Uniform Concept of Law. Globalisation as a Problem of Legal Theory, 2008, http://www.helsinki.fi/nofo/NoFo5Gunther.pdf; ders./Shalini Randeria, Recht, Kultur und Gesellschaft im Prozess der Globalisierung, 2001.

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Ebola und die Rationalität des Irrationalen

Auf der Suche nach Rechtssoziologie unter fremdem Namen lese ich gerade wieder ethnologische Literatur. Dort werde ich immer wieder fündig. So gibt es in Halle eine LOST-Research Group. LOST steht für Law, Organisation, Science and Technology. Thema ist die weltweite Diffusion [1]Diffusion ist für die Hallenser Ethnologen allerdings eher ein Unwort. Rottenburg hat über mehr als zehn Jahre eine Theorie der »Übersetzung« ausgearbeitet, über die ich vielleicht demnächst … Continue reading von Ideen und Artefakten, wissenschaftlich-technischen und juristisch-rganisatorischen Problemlösungen. Auf der Internetseite des Projekts liest man:

»The current research programme investigates the hypothesis that the global spread and increasing importance of the principle of equal rights simultaneously triggers two opposing developments: (1) the spread of techno-scientific and organizational solutions that reproduce tacit claims to universal objectivity, and (2) the spread of the right to self-determination that fosters various forms of relativism. The programme investigates the interactions and tensions between these opposing tendencies in different negotiations involving legal and scientific arguments.«

Konkreteres erfährt man dort allerdings nicht, und auch die Suche nach Publikationen aus dem Projekt war vergeblich. Immerhin ist aus dem Umfeld von Rottenburg gerade ein Sammelband erschienen, der mein Interesse geweckt hat [2]Andrea Behrends/Sung-Joon Park/Richard Rottenburg (Hg.), Travelling Models in African Conflict Management, Translating Technologies of Social Ordering, Leiden 2014.. Bei der dadurch veranlassten Lektüre der theoretischen Arbeiten Rottenburgs bin ich auf einen Satz gestoßen, der mir nicht aus dem Kopf will, nachdem ich in diesen Tagen von der Ebola-Epidemie in Westafrika lese und erfahre, auf welche durch traditionelle Bräuche und Überzeugungen bedingte Schwierigkeiten oder gar Abwehr die Bekämpfung der Seuche stößt.

»Die Ethnologie ist seit Beginn des 20ten Jahrhunderts mit der Herausforderung beschäftigt, fremde Kulturen zu analysieren und zu beschreiben, um sie gegenüber dem Vorwurf der Irrationalität zu verteidigen.« [3]Richard Rottenburg, Code-Wechsel. Ein Versuch zur Umgehung der Frage: Gibt es eine oder viele Wirklichkeiten?, in: Matthias Kaufmann (Hg.), Wahn und Wirklichkeit – multiple Realitäten, 2003, … Continue reading

Auf der Ebene der Wissenschaftstheorie kommt man um die Anerkennung der Relativität von Realitäten nicht herum. Aber in der technischen und auch in der sozialen Welt gibt es harte Realitäten, deren Ausblendung durch indigene und neotraditionale Kulturen man wohl doch irrational nennen darf oder gar muss. Ethnologen, die prinzipiell fremde Kulturen gegenüber dem Vorwurf der Irrationalität verteidigen wollen, haben da ein Problem.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Diffusion ist für die Hallenser Ethnologen allerdings eher ein Unwort. Rottenburg hat über mehr als zehn Jahre eine Theorie der »Übersetzung« ausgearbeitet, über die ich vielleicht demnächst noch berichten werde.
2 Andrea Behrends/Sung-Joon Park/Richard Rottenburg (Hg.), Travelling Models in African Conflict Management, Translating Technologies of Social Ordering, Leiden 2014.
3 Richard Rottenburg, Code-Wechsel. Ein Versuch zur Umgehung der Frage: Gibt es eine oder viele Wirklichkeiten?, in: Matthias Kaufmann (Hg.), Wahn und Wirklichkeit – multiple Realitäten, 2003, 153-174, S. 160.

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Campact – Protest auf Bestellung

Auch in Zeiten elektronischer Vernetzung ist politischer Protest ist selten ganz spontan derart dass ein Eintrag auf Youtube, Facebook oder Twitter sich wie ein Virus verbreitet. Der Protest wird in der Regel von Parteien, Interessenorganisationen oder sozialen Bewegungen irgendwie gestartet und organisiert. Das ist völlig in Ordnung und legitim, denn anders hat politischer Protest praktisch keine Chance. Anders liegt es aber vielleicht doch, wenn ein Vielzweckorganisator auftritt, der bereit ist, mehr oder weniger jeden Protest, der sich gegen die institutionalisierte Politik richtet, zu organisieren. Eine solche Multi-Purpose-Protestagentur ist Campact. Alles, wogegen sich oppositionelle Kräfte mobilisieren lassen, kann Thema für eine Kampagne werden. 1.433.986 Emailadressen hat man nach eigenen Angaben gesammelt, und Hunderttausende davon sind immer wieder bereit, sich per Mail, Facebook oder Twitter anzuhängen, wenn es heißt: Stoppt die Politik! Stoppt TTPI! Fracking stoppen! Am 23. 6. Antikohlen-Kette in der Lausitz – stoppt den Klimakiller! Diskutiert und argumentiert wird nicht lange. Was nicht passt, wird mit einem Stopp-Schild versehen. Der Stopp-Imperativ impliziert, dass es sich um etwas Böses handeln muss. Das ganze Unternehmen heißt dann »Demokratie in Aktion«.

Was soll die Politik von solcher Polittechnologie halten? Die guten alten Unterschriftenlisten zeigten mindestens die ernste Betroffenheit der Unterzeichner, selbst wenn sie nicht durch Sorge für das Gemeinwohl, sondern bloß an Nimby interessiert waren. Anders, wer sich im Monatsrhythmus für unterschiedliche Kampagnen mobilisieren lässt. Protest wird damit zu einem expressiven Verhalten, zum Selbstzweck, weil er billig Frust abbaut oder gar Spaß macht. Da verlieren Flashmobs und Twitterstorms ihren Schrecken. Die Politik darf sie so schnell vergessen wie wir die Sommergewitter, die in diesem Wochen über uns ziehen. Auch Präsenzprotest ist nicht mehr das, was er einmal war. Er bleibt immerhin lästig, wenn auch die vermummten Gewalttäter, auf die Campact sicher gern verzichten würde, den Protestaufrufen folgen. Die Frage ist allerdings, ob hinter der Polittechnologie von Campact eine Meta-Agenda steckt. Ich weiß es nicht.

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Gleichheit und Inklusion

Die Rechtstheorie bekommt die Gleichheit nur schwer oder gar nicht in den Griff, zumal nachdem Gleichheit im politischen Diskurs weitgehend gleichbedeutend mit Gerechtigkeit verwendet wird. Heute fand sich in der heimlichen Juristenzeitung (die inzwischen die meisten ihrer interessanten Artikel im kostenpflichtigen Archiv verschwinden lässt) ein wunderbar polemischer Artikel, der auch im Netz offen zugänglich ist [1]Christian Geyer, Eine unglaubliche Gleichmacherei, FAZ Nr. 147 vom 22. Juli 2014 S. 9. Bevor ich den Artikel zur Lektüre empfehle, hier in Kürze, was die Allgemeine Rechtslehre zur Gleichheit im Recht zu sagen hat:

Zunächst sind die Allgemeinheit des Gesetzes, die Gleichheit vor dem Gesetz und die Gleichbehandlung durch das Gesetz zu unterscheiden. Allgemeinheit des Gesetzes fordert nur, dass persönliche Eigenschaften der Betroffenen nicht von Fall zu Fall unterschiedlich berücksichtigt werden. »Abstrakt« könnte das allgemeine Gesetz die unterschiedliche Behandlung von Männern und Frauen oder gar von Freien und Sklaven zulassen.

Art. 3 der Erklärung der Menschenrechte von 1793 sagte:

Touts les hommes sont égaux par la nature et devant la lois.

Mit der Gleichheit vor dem Gesetz war zunächst nur Rechtsanwendungsgleichheit gemeint, denn das Gesetz war hier als Ausdruck des Gemeinwillens im Sinne der volonté générale Rousseaus gedacht, die per definitionem Ausdruck der Gerechtigkeit ist. Aus der naturrechtlichen Gleichheitsvorstellung folgte die politische Forderung, dass bestimmte persönliche Eigenschaften weder abstrakt bei der Gesetzgebung noch konkret bei der Gesetzesanwendung einen Unterschied machen sollen. In der französischen Revolution bezog sich die Forderung nach égalité zunächst auf Standesunterschiede. In der Formulierung hat Art. 3 I GG nur das »devant la lois« aufgenommen:

»Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.«

Gemeint ist aber darüber hinaus auch die Forderung nach Gleichbehandlung durch das Gesetz (Rechtssetzungsgleichheit). Den Katalog der modernen Diskriminie¬rungsverbote enthält Art. 3 III 1 GG: Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Hei¬mat und Herkunft, Glauben, religiöse und politische Anschauungen oder eine kör¬perliche Behinderung sind keine geeigneten Anknüpfungspunkte für Ungleichbe¬handlung.

Aus der Forderung nach Gleichbehandlung durch das Gesetz ist die Forderung nach Gleichheit im Rechtsverkehr geworden. Sie hat ihren Ausdruck im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) vom 14. 8. 2006 gefunden, mit dem Deutschland die drei Europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien umgesetzt hat.

Gleichbehandlung durch das Gesetz führt zu dem als paradox empfundenen Ergebnis, dass in vielen Situationen Ungleiches gleich behandelt werden muss. Daher gilt das Prinzip der Gleichbehandlung uneingeschränkt nur für die negative Diskriminierung. Dagegen hat sich in den letzten 50 Jahren der Gedanke durchgesetzt, dass eine positive Diskriminierung, d. h. der Ausgleich vorrechtlich gegebener Benachteiligungen, zulässig sei, wie sie in Europa durch Frauenförderung, in den USA durch »affirmative action« zugunsten der nicht weißen Bevölkerung oder in Indien zugunsten der unteren Kasten geschieht.

Noch einen Schritt weiter geht die Forderung nach Inklusion, die durch die UN-Behindertenrechtskonvention zum Tagesthema geworden ist. Soziale Institutionen und Veranstaltungen aller Art sollen Menschen grundsätzlich ohne Rücksicht auf persönliche Eigenschaften inkludieren. Die Vielfalt menschlicher Persönlichkeiten soll in jeder Situation selbstverständlich sein und nicht als Defizit definiert werden. Ein an sich vorhandener Förderbedarf soll nicht zu einer Separierung führen, weil diese die Teilhabe an der Gesellschaft einschränkt. Das meist erörterte Beispiel ist die Aufnahme von Schulkindern mit körperlichen oder geistigen Behinderungen oder Verhaltensstörungen in die Regelschule. Ob solche Inklusion funktionieren kann, ist zurzeit ein großes Thema. Dazu also die markante Stellungnahme von Christian Geier.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Christian Geyer, Eine unglaubliche Gleichmacherei, FAZ Nr. 147 vom 22. Juli 2014 S. 9.

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Luhmanns Rechtsgeltungslehre: Hierarchie und Heterarchie in der Autopoiese des Rechts

Im Eintrag vom 21. 4. 2014 hatte ich festgehalten, dass es mit der Universalität des Funktionssystems Recht nicht so weit her ist, denn bei Bedarf werden dazu Teilsysteme und Subsysteme eingebaut und die Leitunterscheidung des Systems, der Recht/Unrecht-Code, dadurch entwertet, dass eben doch nicht alle Rechtskommunikationen wirklich zählen. Heute will ich mich mit der Frage befassen, ob sich mit Hilfe von Luhmanns Systemtheorie der heterarchische oder Netzwerkcharakter des Rechts begründen lässt, den postmoderne Rechtstheorie behauptet:

»Das Recht … bei Luhmann nimmt grundsätzlich die Form eines kooperativen Netzwerks von privaten Rechtsakten und öffentlichen Rechtsentscheiden an.« [1]Thomas Vesting/Ino Augsberg, Einleitung der Herausgeber: »Das Recht der Netzwerkgesellschaft«. Zu Karl-Heinz Ladeurs Rechts- und Gesellschaftstheorie, in: Karl Heinz Ladeur, Das Recht der … Continue reading

Dafür gibt es in Luhmanns Texten insbesondere zwei Anknüpfungspunkte, nämlich die Zurückweisung von Hierarchien und die Beschreibung des Systems als rekursive Verknüpfung von Rechtskommunikationen.

Aus der Sicht der Systemtheorie ist oder war die Hierarchie – neben der sektoriellen und der funktionalen – eine der drei allgemeinen Differenzierungen der Gesellschaft. Mit Normhierarchien, die in der Rechtstheorie interessieren, hat diese soziale Hierarchie nichts zu tun. Zu den Grundlagen der Systemtheorie gehört ferner die Annahme, dass zwischen den funktional differenzierten Teilsystemen der Gesellschaft, zu denen ja auch das Recht zählt, kein hierarchisches Verhältnis besteht. Auch das ragt nicht in die Rechtstheorie hinein. Zurückgewiesen wird ferner die »alteuropäische Vorstellung« einer die »allgemeinen kosmologischen Hierarchie des Wesens der Dinge« und als juristische Version die Hierarchie von »ewigem Recht, Naturrecht und positivem Recht« die »allgemeinen kosmologischen Hierarchie des Wesens der Dinge« (RdG S. 21, 27, 39). Darauf bezieht sich die Feststellung RdG S. 539, »daß es keine ausgeglichene, harmonische Beschreibung mehr gegeben hat, seitdem man auf das Hierarchiemodell der Rechtsquellen verzichten mußte«. Dort ist die Rechtstheorie schon längst angekommen. Von Normenhierarchien handelt schließlich das folgende Zitat aus dem Aufsatz »Die Einheit des Rechtssystems« von 1983:

»Die Normqualität eines jeden Elements verdankt sich der Normqualität anderer Elemente, für die das gleiche gilt. Es kann also keine Normhierarchien geben.« [2]Rechtstheorie 14, 1983, 129-154, S. 140.

Als rechtstheoretische Aussage wäre das Unsinn, denn – das ist der Kern der Stufenbaulehre – jede Norm bezieht ihre Normqualität aus einer hierarchisch übergeordneten Norm. Das wusste natürlich auch Luhmann. In dem Zitat geht es um den Kern der Systemtheorie, nämlich die Kommunikation, deren operativer Vollzug die Autopoiese des Rechts ausmacht. Es geht um die Zirkulation des Rechtsgeltungssymbols, für die »im Vollzug der Operation zwischen Information, Mitteilung und Verstehen« [3]RdG S. 51. nur Anschlussfähigkeit vorausgesetzt wird. Kausalität und Deduktion sind hier fehl am Platze.

»Die Autopoiesis operiert jenseits aller Deduktion und jenseits aller Kausalität.« [4]Ebd. S. 141.

Das heißt wohl, dass für den soziologischen Beobachter Deduktion und damit auch (logische) Normenhierarchien nicht erkennbar sind. Für die Anschlussfähigkeit braucht es keine hierarchische Ordnung von Kommunikationsangeboten. Die Vernetzung der Rechtskommunikationen ist, wie Luhmann betont, eine bloße Form. Luhmanns Beschreibung der Kommunikation als Synthese von Information, Mitteilung und Verstehen spart den inhaltlichen Aspekt der Anschlusskommunikation aus, denn der spielt sich im psychischen System ab, dass über die Sprache mit dem sozialen System strukturell verkoppelt ist. Der Inhalt spielt nur insoweit eine Rolle, als es sich eben um Recht handeln muss, damit die Anschlussfähigkeit gegeben ist. Der konkrete Inhalt ist insoweit ohne Bedeutung. Was dann aber aus dem »Anschluss« wird, hängt dann doch von dem Inhalt der Mitteilung ab. Erst aus diesem Inhalt folgt ggfs. eine Über- oder Unterordnung, wenn er mit anderen Inhalten abgeglichen wird.

»Nur kognitiv, nicht normativ ist der Richter vom Gesetz abhängig: Er muß feststellen, ob es erlassen ist oder nicht, kann sich hier täuschen und muß sich dann korrigieren.« [5]Ebd. S. 142

Ich muss gestehen, dass ich nicht wirklich begreife, was Normativität hier zu bedeuten hat. Ich entnehme dem Text nur, dass es aus der Binnenperspektive der Jurisprudenz eben doch bei der (kognitiven) Vorstellung der Möglichkeit der Deduktion aus Normen und damit auch aus Normhierarchien verbleibt. Der Inhalt der Anschlusskommunikation wird nicht allein dadurch ausgefüllt, dass sie auf eine Kommunikation reagiert, die den Rechtscode nutzt, sondern sie hängt von dem weitergehenden Inhalt der auslösenden Kommunikation ab, und dieser Inhalt kann auch darin bestehen, dass eine Norm Überordnung über eine andere für sich in Anspruch nimmt. Würde die Stadt Bochum durch Satzung eine kommunale Grunderwerbsteuer einführen, würde spätestens das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen den Steuerbescheid aufheben, weil er gegen übergeordnetes Recht verstößt. Auch die darin liegende Zurückweisung einer Rechtskommunikation ist ein »Anschluss«. Und er transportiert auch Geltung, nämlich die Geltung der grundgesetzlichen Kompetenzregeln für die Steuererhebung.

Der langen Rede kurzer Sinn: Es mag sein, dass man durch das systemtheoretische Fernrohr nur wahrnimmt, in welchem Verkehrsnetz = Funktionssystem die Kommunikationen abgewickelt werden. In die Vehikel, die in diesen Netzen verkehren, will die Theorie nicht hineinsehen. Und deshalb macht sie auch keine Aussage darüber, welche Inhalte dort transportiert werden. Zur Begründung des heterarchischen oder Netzwerkcharakters des Rechts taugt die Theorie nicht.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Thomas Vesting/Ino Augsberg, Einleitung der Herausgeber: »Das Recht der Netzwerkgesellschaft«. Zu Karl-Heinz Ladeurs Rechts- und Gesellschaftstheorie, in: Karl Heinz Ladeur, Das Recht der Netzwerkgesellschaft. Ausgewählte Aufsätze 2013, S. 1-28, S. 13.
2 Rechtstheorie 14, 1983, 129-154, S. 140.
3 RdG S. 51.
4 Ebd. S. 141.
5 Ebd. S. 142

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Globale Modernisierung: Die World Trade Organization wird zur World Tourism Organization

Gestern war ich in Münster, wo vor Gästen der Kolleg-Forschergruppe »Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik« deren Fellow Professor Dr. Volker Schmidt (National University of Singapore, Department of Sociology) sein neues Buch »Global Modernity, A Conceptual Sketch« [1]Basingstoke 2014, ISBN 9781137435804, 100 S. zur Diskussion stellte. Vielleicht komme ich noch dazu, eine kleine Besprechung des Buches zu schreiben. Es ist eine Besprechung wert. Aber Rezensionen sind mühsam. Daher bringe ich heute nur einen Gedanken zu Papier, der mir gestern Abend (nach Weingenuss) durch den Kopf ging. Zuvor nur zwei Bemerkungen zu diesem Buch. Erstens: Die Forschergruppe hat die Modernisierungstheorie vor allem unter dem Gesichtspunkt einer »normativen Moderne« im Blick, den ihr Leiter, Thomas Gutmann, ausarbeitet. Zweitens: Schmidt entwickelt auf der Grundlage der Systemtheorie ein Konzept, das die dritte Phase der Modernisierung erfassen soll. In der ersten Phase lag der Schwerpunkt der Modernisierung in Europa, und hier am Ende in England. In der zweiten Phase verlagerte er sich in die USA. Noch immer sprechen Kritiker der Modernisierungstheorie von einem westlichen Modell. Sie haben – so Schmidt – noch nicht wahrgenommen, dass sich der Schwerpunkt der Entwicklung nach Asien verlagert hat und dass die Modernisierung zu einem definitiv globalen Prozess geworden ist. [2]Auf frühere Beiträge Schmidts zur Modernisierungstheorie habe ich im Eintrag vom 24. 9. 2012 Hingewiesen: Kritik der Konvergenzthese III: Eisenstadts »Vielfalt der Moderne«[ … Continue reading

Nun zu meinem Hirngespinst. Im Raum (ganz hinten in der Ecke) stand die These, dass Europa an Gewicht verliere, und auf die Frage, warum das so bedeutsam sei, erhielt ich zu Antwort, dass Europa dann etwa in der WTO an Verhandlungsmacht verliere und sich, wie heute die Entwicklungsländer, die Regeln des Welthandels aus anderen Regionen der Welt diktieren lassen müsse. Meine Überlegung dazu: Bis es soweit kommt, interessiert der Welthandel kaum noch. Eine Folge der unaufhaltsam fortschreitenden Modernisierung wird sein, dass in nicht allzu ferner Zukunft die Regionen der Welt was ihre Versorgung mit materiellen Gütern betrifft, autark sein werden. Der Welthandel wird schrumpfen, denn Rohstoffe verlieren an Bedeutung. Öl, Kohle und Gas werden durch erneuerbare Energien ersetzt, die lokal gewonnen werden können. Andere Rohstoffe werden recycelt oder substituiert. Billigarbeitskräfte, die Hemden nähen und Handys zusammenbauen, wird es auf Dauer nirgends mehr geben. Die Produktion wird daher an den Ort des Verbrauchs zurückgeholt und dort weitgehend automatisiert. Landwirtschaftliche Produkte aller Art, soweit sie nicht gentechnisch den jeweiligen klimatischen Verhältnissen angepasst werden können, lassen sich nach holländischem Vorbild im Treibhaus ziehen. Wirtschaftliche Autarkie war immer wieder Traum der Politik. Die Modernisierung könnte aus dem Traum Wirklichkeit werden lassen – und aus der World Trade Organization wird dann vielleicht die World Tourism Organization [3]Die gibt es schon als UNWTO. Aber dadurch lasse ich mir meinen Gag nicht verderben..

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Basingstoke 2014, ISBN 9781137435804, 100 S.
2 Auf frühere Beiträge Schmidts zur Modernisierungstheorie habe ich im Eintrag vom 24. 9. 2012 Hingewiesen: Kritik der Konvergenzthese III: Eisenstadts »Vielfalt der Moderne«[ https://www.rsozblog.de/kritik-der-konvergenzthese-iii-eisenstadts-vielfalt-der-moderne/].
3 Die gibt es schon als UNWTO. Aber dadurch lasse ich mir meinen Gag nicht verderben.

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Die Ukraine historisch: Das lebende Recht der Bukowina – Idylle oder Elend?

Die Ukraine beherrscht zurzeit die Medien. Was dort geschieht, ist nach den Maßstäben der Merkel-Republik kaum verständlich. Immer wieder müssen wir uns bewusst machen, dass viele Ereignisse sich nur durch Gefühle erklären lassen, die historisch – und das heißt auch ethnisch, religiös, sozial und durch Gewalt – geprägt worden sind.

1913 erschien Eugen Ehrlichs »Grundlegung der Soziologie des Rechts« Aus diesem Anlass hatte ich zusammen mit Stefan Machura einen Artikel über Ehrlichs Rechtspluralismus geschrieben, der im Dezember 2013 in der Juristenzeitung erschienen ist [1]Klaus F. Röhl/Stefan Machura, 100 Jahre Rechtssoziologie: Eugen Ehrlichs Rechtspluralismus heute, Juristenzeitung 2013, 1117-1128. Natürlich gab es im Jubiläumsjahr mehr Würdigungen für Ehrlich: … Continue reading Nun habe ich zufällig im Bücherschrank meines Bruders ein Buch gefunden, das mir zu denken gibt. Es handelt sich um Martin Pollack, Der Kaiser von Amerika. Die große Flucht aus Galizien, Paul Zsolnay Verlag Wien 2010, als DTV-Taschenbuch 2013.

Galizien, bis zum Ende des ersten Weltkriegs ein österreichisches Kronland, setzte sich aus Teilen Polens und der westlichen Ukraine zusammen. Bis zum Großpolnischen Aufstand 1848 gehörte auch die Bukowina Ehrlichs zu Galizien. Danach wurde sie selbständiges Kronland. Der südliche Teil der Bukowina gehört heute zu Rumänien. Die Nordbukowina mit Czernowitz, wo Ehrlich zu Hause war, ist Teil der Ukraine.

Martin Pollock schildert in seinem Buch, wie etwa zwischen 1870 und dem ersten Weltkrieg Hunderttausende verarmter Menschen, in die USA und teilweise auch nach Kanada und Brasilien auswanderten, man muss sagen, ausgewandert wurden. Eine gute Inhaltsangabe bietet die (namenlose) Rezension der NZZ vom 15. 12. 2010. [2]Eine Rezension von Jörg Plath für Arte-TV unter http://www.arte.tv/de/pollack-martin-kaiser-von-amerika/3655690.html.

Das »galizische Elend« war sprichwörtlich. Etwa ab 1870 wuchs die Bevölkerung Galiziens enorm, von etwa 5,5 Millionen auf 8,2 Millionen Einwohner 1914. Da die große Masse von der Landwirtschaft lebte, die durch rückständige Bewirtschaftungsmethoden und die Realteilung im Erbfall zunehmend verelendete, gingen die Menschen in großer Zahl als Saisonarbeiter nach Deutschland, Frankreich oder Dänemark, oder sie wanderten aus nach Übersee. Der Anteil der Juden an der Bevölkerung lag bei 10 %. Zwischen 1880 und 1910 wanderten insgesamt 236.504 von ihnen in die Vereinigten Staaten aus.

Pollacks Buch ist von der Kritik gelobt worden, weil es ein Sachbuch mit literarischem Anspruch sei, dass diesen Anspruch mit der Schilderung von persönlichen Schicksalen realisiert. Ich kann dieses Lob nicht ganz teilen. Die persönlichen Schicksale bleiben blass; sie beschränken sich auf wenige Daten über Herkunft, Hin- und manchmal Rückfahrt nach Amerika und einige allgemeine Bemerkungen über unfallträchtige Arbeit in Bergbau und Stahlindustrie. In keines dieser Schicksale habe ich mich wirklich hineinversetzen können, auch nicht in das des Mendel Beck, der planlos durch das ganze Buch herumgeistert. Aber auch als Sachbuch ist der Band nicht wirklich informativ. Das Kapitel über »Das galizische Elend in Ziffern« ist unergiebig. Aus Wikipedia-Artikeln über Galizien und über Auswanderung erfährt man mehr. Bessere Informationen zur Bukowina bietet eine Internetseite von Prof. Dr. Peter Maser/Münster mit der Überschrift »Galizien: Grenzlandschaft des alten und neuen Europa«. Und dennoch: Pollocks Buch hat mich bewegt und kommt mir jetzt wieder in den Sinn, wo ich jeden Tag über die Ukraine höre und lese. Nicht nur deshalb ist es aktuell. Es schärft auch den Blick für die Armutsfluchtbewegung aus Afrika.

Aus Pollocks Buch erfährt man naturgemäß wenig über das »lebende Recht der Bukowina«. Immerhin: Auf S. 43 ff (»Handel mit delikatem Fleisch«) liest man einiges über Prostitution und den florierenden Mädchenhandel [3]Auf einer Internetseite, die aus der Universität Lemberg kommt, heißt es dazu: »Sozusagen ein ›Nebenprodukt‹ der organisierten Emigration war der Mädchenhandel – nach seriösen Schätzungen … Continue reading, auf S. 59 (»Zum Engelmachen unterbracht«) über die gängige Abtreibungspraxis. Und auf S. 109 ff (»Ein Massenprozess«) erfährt man von einer Justizaktion gegen 65 betrügerische Auswanderungsagenten und korrupte Beamte, von denen 31 verurteilt wurden. Viele seiner Informationen hat der Autor anscheinend aus den Prozessakten. Leider sind die Informationen über den Prozess über das halbe Buch verstreut. [4]In der Judaica-Sammlung der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main (Freimann-Sammlung) findet sich eine zeitgenössische Zusammenstellung von antisemitischen Prozessberichten aus verschiedenen … Continue reading Harmlos dagegen S. 73f: Eier, Butter und Käse gehören traditionell der Bäuerin, die Bienen und ihre Produkt hingegen sind Eigentum des Mannes. Beides wird verkauft, um mit dem Erlös die wichtigsten Anschaffungen zu tätigen. Ich überlege mir aber, ob der Hintergrund des »galizischen Elends« in irgendeiner Weise die Bewertung von Ehrlichs Rechtspluralismus tangiert. Kein Wunder, dass in dem geschundenen Galizien das offizielle Recht der österreichischen Monarchie keine gute Chance hatte. Ehrlich kannte natürlich das »galizische Elend«, insbesondere das der Juden [5]In einem Vortrag aus dem Jahre 1909 empfahl er zur Abhilfe die Assimilierung der Juden und die Industrialisierung der Bukowina: Die Aufgaben der Sozialpolitik im österreichischen Osten (Juden- und … Continue reading Sein »lebendes Recht« erscheint vor diesem Hintergrund jedoch eher wie eine Idylle.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Klaus F. Röhl/Stefan Machura, 100 Jahre Rechtssoziologie: Eugen Ehrlichs Rechtspluralismus heute, Juristenzeitung 2013, 1117-1128. Natürlich gab es im Jubiläumsjahr mehr Würdigungen für Ehrlich: Mikhail Antonov, Eugen Ehrlich – State Law and Law Enforcement in Societal Systems, Rechtstheorie 44Heft 3, 275-286; Hubert Rottleuthner, Das Lebende Recht bei Eugen Ehrlich und Ernst Hirsch, Zeitschrift für Rechtssoziologie 33, 2012/191-206. In demselben Heft (S. 322-325) bespricht Stefan Machura den von Heinz Barta/Michael Ganner/Voithofer Caroline herausgegebenen Sammelband »Zu Eugen Ehrlichs 150. Geburtstag und 90. Todestag« Innsbruck 2013.
2 Eine Rezension von Jörg Plath für Arte-TV unter http://www.arte.tv/de/pollack-martin-kaiser-von-amerika/3655690.html.
3 Auf einer Internetseite, die aus der Universität Lemberg kommt, heißt es dazu: »Sozusagen ein ›Nebenprodukt‹ der organisierten Emigration war der Mädchenhandel – nach seriösen Schätzungen wurden pro Jahr mindestens 10.000 Mädchen aus Galizien an Bordelle in Südamerika, Ägypten oder auch Indien verkauft. Die österreichischen Behörden sahen dem Treiben der Auswanderungsagenten weitgehend tatenlos zu, sie wollten bloß verhindern, dass wehrpflichtige Personen das Land verließen. Nur in einzelnen, besonders krassen Fällen wurden Agenten zur Verantwortung gezogen«.
4 In der Judaica-Sammlung der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main (Freimann-Sammlung) findet sich eine zeitgenössische Zusammenstellung von antisemitischen Prozessberichten aus verschiedenen Zeitungen.
5 In einem Vortrag aus dem Jahre 1909 empfahl er zur Abhilfe die Assimilierung der Juden und die Industrialisierung der Bukowina: Die Aufgaben der Sozialpolitik im österreichischen Osten (Juden- und Bauernfrage), in: Eugen Ehrlich, Politische Schriften, hrsg. von Manfred Rehbinder, 2007, 131-151.

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