Wie Modernisierung auf Erdöl ausrutscht: »Crude Domination«

Will man sich nicht mit Zeitungsleserwissen zufrieden geben, so bieten Ethnologen, Anthropologen und die zahlreichen auf Entwicklung und Entwicklungsländer spezialisierten Forschungseinrichtungen [1]Eine ganz unvollständige Aufzählung im Posting vom 14. 7. 2012: Die Rolle des Rechts im Prozess der nachholenden Modernisierung. Informationen beinahe im Überfluss, so dass man Schwierigkeiten hat, aus der Fülle des Gebotenen das relevante Wissen herauszuziehen. Man kann nicht alles lesen und als Fachfremder nur schwer Verallgemeinerungen treffen. Doch von Zeit zu Zeit finden sich Perlen, die andere Quellen überstrahlen und vielleicht auch ersetzen können. Eine solche Perle will ich hier vorstellen, nämlich den von Andrea Behrends, Stephen P. Reyna und Günther Schlee herausgegebenen Band »Crude Domination«. [2]Berghahn Books, New York, 2011, ISBN 9780857452559.
Der Band ist bemerkenswert, weil er das übliche ethnologisch-anthropologische Klein-Klein hinter sich lässt. Er liest sich wie eine Analyse negativer Governance. Wer von Governance redet [3]Wie z. B. Julia Eckert/Andrea Behrends/Andreas Dafinger, Governance – and the State: An Anthropological Approach. – das geschieht in diesem Buch nicht –, will analysieren, wie verschiedene Ebenen und Akteure an der Herstellung gesellschaftlicher Ordnung beteiligt sind. In der Regel werden vier Ebenen unterschieden, die lokale, die regionale, die staatlich-nationale und die globale (S. 23). Als Akteure werden genannt Individuen mit ihren Familien und Clans, ethnische Gruppen, lokale, regionale und staatliche Funktionäre und Behörden, Militär, Polizei, Rebellengruppen, auf allen Ebenen auch NGOs und Wirtschaftsunternehmen und schließlich die offiziellen Global Player wie Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IMF). »Crude Domination« konzentriert den Blick auf das Erdöl, oder vielmehr darauf, was Ölvorräte und Ölförderung in den Entwicklungs- und Transformationsländern angerichtet haben. Es geht um den Fluch des Ölreichtums (the oil’s crazy curse). Das Öl, das doch eigentlich Wohlstand und Entwicklung bringen könnte, hat in den sog. Petrostaaten vielfach zu einer verheerenden Kombination von Stillstand und Verarmung der Massen, zu oft gewaltsamen Konflikten und nicht selten zu autoritären Regimen geführt (S. 19).
Für den Fachfremden ist der wichtigste Abschnitt des Buches die Einleitung von Andrea Behrends und Stephen P. Reyna. [4]The Crazy Curse and Crude Domination, S. 3-29. Über das eingangs angedeutete Weltkrisenszenario – der Ölverbrauch steige, aber Hubbard’s Peak sei überschritten; Ersatztechnologien seien technisch und ökonomisch nicht verfügbar; so steuere die Welt auf eine lange und tiefe Depression zu, in der sie zusätzlich vom Klimawandel gebeutelt werde – lässt sich trefflich streiten, ebenso wie über den Schluss, die Zukunft der Welt hänge am Öl und wie die Menschheit davon Gebrauch mache (S. 4f.). Aber es nimmt für die Autoren ein, dass sie zunächst feststellen, der Beitrag ihres eigenen Faches, der Anthropologie, sei begrenzt; andere Sozialwissenschaften hätten schon mehr zum Thema gesagt, und dass sie dazu die wichtigsten Thesen aus Ökonomie und Politikwissenschaft referieren. Ökonomen kennen die aversen Effekte von Ressourcenreichtum, dessen Geldfluss Handel und produzierendes Gewerbe fortspült. Eine moderne Erscheinungsform ist als holländische Krankheit (dutch disease) bekannt, wenn Exportüberschüsse, wie sie in den Niederlanden nach der Entdeckung von Gasvorkommen entstanden, einen Importboom zur Folge haben, unter dem die einheimische Produktion leidet. Rohstoffvorkommen verleiten zur unproduktiven Rentensuche (rent-seeking [5]Der Begriff wurde von Anne O. Krueger geprägt. (The Political Economy of the Rent-Seeking Society, The American Economic Review 64, 1974, 291-303. Dazu Uwe Mummert, Freihandel als Schlüssel zur … Continue reading). Sie verbindet sich mit dem in der Politikwissenschaft als Neo-Patrimonialismus bekannten Phänomen. Wichtig auch, dass die Autoren die Pfadabhängigkeit der Entwicklung betonen (S. 7). Eingeführt wird auch das Greed-Modell [6]Paul Collier/Anke Hoeffler, Greed and Grievance in Civil War, Oxford Economic Papers 56, 2004, 563-595 (hier zitiert nach einer im Internet verfügbaren Fassung von 2002). zur Erklärung von Bürgerkriegen, von dem Behrends später (S. 84f., 95) zurückhaltenden Gebrauch macht. Es stellt darauf ab, dass in den Entwicklungsländern weniger das Leiden der Bevölkerung zur offenen Rebellion führt als vielmehr die Möglichkeiten zur Rekrutierung und Finanzierung einer Rebellenarmee, die manche Akteure, um sich ihren Teil etwa des Ölreichtums zu sichern.
Der Fluch des Öls verfolgt die afrikanischen Staaten schlimmer als Lateinamerika und Russland. Aber selbst Norwegen hat es nicht ganz geschafft, die holländische Krankheit zu vermeiden. [7]Jonathan Friedman, Oiling the Race to the Bottom, in dem hier besprochenen Band S. 30-45, S. 33. In Lateinamerika scheint sich immerhin, insbesondere unter der indigenen Bevölkerung, eine gewisse Protestkultur herausgebildet zu haben. In Afrika scheint sie zu fehlen. Zwei Beiträge des Bandes berichten davon, wie dort magische Vorstellungen, die sich in Hexereivorwürfen äußern, als kleines Ventil dienen.
Klar, dass die Autoren den besonderen Beitrag herausstellen, den die Anthropologie zum Thema leistet. Er besteht darin, dort zu beobachten, wo die Menschen sind. Dazu gehören die lokalen Kontexte. [8]Dazu aus der Sicht der Ethnologie Johanna Pfaff-Czarnecka, Lokale Identitäten, Lokalismus und globale Horizonte (Vortragsmanuskript, 2003). Dort zeigt sich auch, wie tradierte Kultur den Lauf der Dinge beeinflusst. (S. 11) Alle reden davon, dass Globalisierung auch in Transaktionen, die oberflächlich betrachtet lokaler Natur sind, zu spüren ist. Globalisierungsromantiker sprechen von einer Vermischung oder Hybridisierung [9]Vgl. dazu den Eintrag über »Zur Hybridisierung der Kulturen« vom 15. 10. 2012., die etwas Neues entstehen lässt, in der die Ursprünge aufgehoben werden. Aus der Sicht von »Crude Domination« ist das eine böse Verharmlosung. Der Kampf um das Öl hat wenige Gewinner und viele Verlierer. Der Kampf um das Öl ist ein Nullsummenspiel und damit ein Machtkampf, der in Lateinamerika eher auf der politischen Ebene entschieden wird und in Afrika eher durch Gewalt. Im einen Fall könnte man von einer politischen Rente, im anderen von einer Gewaltrente sprechen. In jedem Fall – das ist das Ziel des Buches – geht es darum, die Strukturen zu beschreiben, in denen sich der Kampf um das Öl abspielt.
Auf das Einleitungskapitel von Behrends und Reyna folgt ein weiteres, in dem Jonathan Friedman, ein Grandseigneur der Anthropologie, unter der Überschrift »Oiling the Race to the Bottom« (S. 30-45) betont, dass von einem Ressourcen- oder Öl-Determinismus keine Rede sein könne; dass zeige die unterschiedliche Entwicklung in Lateinamerika und Afrika, in Russland/Sibirien und Tschetschenien und schließlich Norwegen. Im Übrigen kann ich mit dieser zweiten Einleitung, die etwas gedankenflüchtig das Thema in den Zusammenhang des Globalisierungsdiskurses stellt, wenig anfangen. Im mittleren Teil des Buches folgen drei Kapitel mit vier Beiträgen über Afrika, drei Beiträgen über Lateinamerika und zwei Beiträgen zu Russland. Über einige werde ich vielleicht in einem späteren Eintrag noch berichten. Behrends und Reyna haben diese Beiträge informativ zusammengefasst (S. 13-19).
In einem kurzen Nachwort präzisiert der Mitherausgeber Günther Schlee noch einmal den Zusammenhang, oder vielmehr umgekehrt, die bloß indirekte Verbindung zwischen dem Öl und der Entwicklung von Konflikten: Ebenso wenig wie Ethnizität lasse sich das Öl (oder andere Ressourcen) als »Ursache« von Konflikten identifizieren, denn solche Gegebenheiten kämen regelmäßig erst ins Spiel, wenn sich bereits Konfliktlinien formiert hätten. Das Zusammenspiel mit dem Öl ist das faszinierende Thema dieses Bandes.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Eine ganz unvollständige Aufzählung im Posting vom 14. 7. 2012: Die Rolle des Rechts im Prozess der nachholenden Modernisierung.
2 Berghahn Books, New York, 2011, ISBN 9780857452559.
3 Wie z. B. Julia Eckert/Andrea Behrends/Andreas Dafinger, Governance – and the State: An Anthropological Approach.
4 The Crazy Curse and Crude Domination, S. 3-29.
5 Der Begriff wurde von Anne O. Krueger geprägt. (The Political Economy of the Rent-Seeking Society, The American Economic Review 64, 1974, 291-303. Dazu Uwe Mummert, Freihandel als Schlüssel zur Entwicklung. Rent-seeking als Hindernis, E. +Z. – Entwicklung und Zusammenarbeit Nr. 9, September 2001, S. 268-270.
6 Paul Collier/Anke Hoeffler, Greed and Grievance in Civil War, Oxford Economic Papers 56, 2004, 563-595 (hier zitiert nach einer im Internet verfügbaren Fassung von 2002).
7 Jonathan Friedman, Oiling the Race to the Bottom, in dem hier besprochenen Band S. 30-45, S. 33.
8 Dazu aus der Sicht der Ethnologie Johanna Pfaff-Czarnecka, Lokale Identitäten, Lokalismus und globale Horizonte (Vortragsmanuskript, 2003).
9 Vgl. dazu den Eintrag über »Zur Hybridisierung der Kulturen« vom 15. 10. 2012.

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Zeitungsleserwissen über den Lauf der Modernisierung

Der Versuch, die Modernisierungstheorie für die Rechtssoziologie zu rezipieren, stößt immer wieder auf das Problem des Unwissens. Man möchte wissen, was im Zuge der Modernisierung in den Entwicklungsländern wirklich geschieht. Auf der einen Seite steht das Zeitungsleserwissen. In der vergangenen Woche sind mir in der FAZ zwei einschlägige Artikel aufgefallen, nämlich im Wirtschaftsteil vom 20. Oktober »Bankgeschäfte in Lagos werden diskret betrieben« von Christan von Hiller und »Im Reich des Garanten« über das Regime von Idriss Déby im Tschad. Beide Artikel waren mit attraktiven Bildern illustriert. Zu dem Artikel über Bankgeschäfte in Lagos wurde der smarte Banker Bismarck Rewane gezeigt, ferner eine Luxusyacht und der Stadtteil von Lagos, wo die Privatbanken zu Hause sind. Der Artikel über den Tschad war geschmückt mit einem Foto [1]Als Bildurheber wird AFP angegeben. des Diktators in seinem glanzvollen Salon, wie ihm der strahlende französische Außenminister Fabius gegenübersitzt.

Es trifft sich, dass ich gerade den von Andrea Behrends, Stephen P. Reyna und Günther Schlee herausgegebenen Band »Crude Domination. An Anthropology of Oil« auf dem Tisch habe. [2]Berghahn Books, New York, ISBN 9780857452559. Ein Bild gibt es dort nur auf dem Buchdeckel. [3]In besserer Qualität findet man das Bild man in einer Earth Picture Gallery der Zeitung »The Telegraph«.

Es handelt sich dabei um ein preisgekröntes Foto von Ed Kash, das – nach der Legende – Jugendliche im Dorf Kbean (Ogoniland, Nigeria ) zeigt, die darauf warten, dass der Ölkonzern Shell seine Leute schickt, um ein Feuer zu löschen, das an einer seit Wochen leckenden Ölleitung ausgebrochen ist. Auf den ersten Blick scheint es, als könnte die Anmutung der Bilder unterschiedlicher nicht sein. Auf den zweiten Blick schwindet der Unterschied. Beide Bilder sind sozusagen Hochglanzfotografien. Die Szene aus Nigeria ist viel dramatischer. Aber wenn man das Bild in einer Reihe von 25 anderen, die für den Prix Pictet in die engere Auswahl gezogen wurden, ansieht, so kann der Eindruck entstehen, dass es wegen seiner ästhetischen Qualitäten ausgewählt wurde. Erst wenn man weiß, dass der hochdotierte Preis von der gleichnamigen Schweizer Privatbank mit dem Ziel gestiftet wurde, herausragende Bilder zu prämieren, die uns mit den dringendsten sozialen und Umweltproblem konfrontieren oder wenn man es gar unter dem Buchtitel »Crude Domination« sieht, gewinnt es eine eindeutige Aussage. Welchen Bildern soll man trauen? Trauen kann man überhaupt keinen Bildern, sondern allenfalls Texten. Nach dem Text über Bankgeschäfte in Lagos zu urteilen, ist dort alles in Ordnung. Man erfährt gerade noch, Nigeria ringe noch um seine nationale Ordnung. Aber es geht in dem Artikel ja auch nur darum, dem Leser nahezubringen, dass es in Nigeria einen veritablen Finanzmarkt gibt. Anders der Artikel über den Tschad. Das Bild täuscht (oder auch nicht). Hinreichend deutlich wird im Text klargestellt, dass Déby ein Diktator war und ist, der keine Untat gescheut hat. Aber jetzt will Frankreich ihn gegen die Rebellen in Mali mobilisieren. Das ist ein Dilemma, nach dem Bild zu urteilen allerdings nicht für den französischen Außenminister. Soweit das Zeitungsleserwissen. Das nächste Posting soll sich mit dem genannten Buch befassen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Als Bildurheber wird AFP angegeben.
2 Berghahn Books, New York, ISBN 9780857452559.
3 In besserer Qualität findet man das Bild man in einer Earth Picture Gallery der Zeitung »The Telegraph«.

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Zur Hybridisierung der Kulturen

Als ich den Artikel über Homogenisierung und Hybridisierung der Kulturen schrieb, hatte ich kurz zuvor zwei wunderbare Musikveranstaltungen der Ruhrtriennale besucht, nämlich John Cages Europeras und ein Konzert ausschließlich mit Kompositionen von Charles Ives unter der Leitung von Kent Nagano. Die Musik beider Komponisten kann man als Hybridisierung oder Melange einordnen, Bei Europeras geht es um eine Melange aus 100 klassischen Opern, bei Charles Ives um einer Verbindung neuromantischen Kompositionsstils mit Kirchenliedern, Volksliedern und Schlagermelodien.

Im Autoradio gab es am 3. 9. eine Gratulation zum 70. Geburtstag des brasilianischen Sängers Caetano Veloso. So wurde er zitiert:

Wir wuchsen mit dem Bossa Nova auf. Aber dann kombinierten wir englischen Beat und amerikanischen Rock mit schwarzen Rhythmen. Wir mischten Musik mit Fahrradklingeln und Pop mit sakraler Musik. Wir hatten für nichts Respekt, nicht für die Familie, das Vaterland, nicht einmal für den Karneval. Wir liebten Antonio Carlos Jobim und Cool Jazz, und daraus entstand dieses merkwürdige Phänomen, das man Tropicalismo nennt.

Am 4. 9. folgte, gleichfalls im DLF, ein Bericht über ein neues Album der Sängerin Gabby Youngs. Der Bericht wurde eingeleitet mit den Sätzen:

Mit ihrem Debütalbum »We’re All In This Together« eroberte Gabby Young die englische Musikszene im Sturm. Die wilde Stilmischung, die verrückte Kleidung der Sängerin, ihre fantastische Stimme und der Sound der 7-köpfigen Big Band faszinierten Publikum wie Kritik.

Auf der XIII. documenta hatte der chinesische Künstler Yan Lei in einem Raum die Wände vollgehängt, ein Bild für jeden Tag, und zwar Bilder, die er nicht selbst geschaffen, sondern aus verschiedenen Quellen übernommen hatte. Auch das eine Rekomposition. Während des Soziologentages in Bochum habe ich einen auswärtigen Besucher genötigt, sich von mir durch die »Situation Kunst« führen zu lassen. Da gibt es einen Raum mit den Übermalungen von Arnulf Rainer (nicht mein Lieblingsraum).[1]

Wer auch nur einen Augenblick nachdenkt, wird diese Liste nach hinten und vorne beliebig verlängern können.

Irgendwie drängt sich der Eindruck auf, dass es nur noch durch Hybridisierung oder mit Hilfe eines Zufallsgenerators möglich ist, etwa Neues entstehen zu lassen. Nähern wir uns einem Zustand, in dem alle ästhetischen Ausdrucksformen schon einmal da gewesen sind?

 


[1] Zum Glück gibt es in der »Situation Kunst« auch noch einen Afrika-Raum, darin u. a. einige 2500 Jahre alte Figuren aus Nigeria. Und zum Glück gibt es dort Jan Schoohoven und Richard Serra.

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Die Einfalt der Vielfalt: Von der organischen zur normativen Solidarität

Vielfalt oder Pluralität ist zum Standard der Modernität geworden. Auf dem Soziologentag, der zur Zeit in Bochum stattfindet, wird die Anschlussfrage gestellt, was die Vielfalt der Gesellschaft zusammenhält.

»Während die – von Vielen als wachsend wahrgenommene – Pluralität sozialer Lebensäußerungen und -formen also einerseits als Bedrohung des ›sozialen Bands‹ thematisiert wird, erscheint sie andererseits geradezu als Voraussetzung und grundlegender Mechanismus der Stiftung (neuer) sozialer Bindungen.« (Programm S. 14)

Es geht um nichts weniger als um Nachfolgekandidaten für die von Durkheim so genannte organische Solidarität.

Der faktische Pluralismus, der nicht zuletzt als Folge der Globalisierung überall zu beobachten ist, kann je nach dem Zustand der Gesellschaft der Modernisierung einen weiteren Schub geben und zu Wohlstand und Reichtum führen oder er kann die Entwicklung blockieren und Konflikt und Selbstzerstörung hervorbringen. Die unterschiedlichen Gesellschaftszustände lassen sich als positiver und negativer Pluralismus kennzeichnen.

Die Vielfalt, wie sie als Melange aus der Globalisierung und ihren Rückkopplungsprozessen entsteht, ist für moderne Gesellschaften zwar eine laufende Quelle von Querelen, etwa um die Grenzen der Zuwanderung oder den Raum, den man einer importierten Religionspraxis geben soll. Aber davon wird eine moderne Gesellschaft nicht zerissen, sondern eher bereichert. Das gilt auch für die durch das Abstreifen von Traditionen möglich gewordene Vielfalt der Familienformen einschließlich solcher, in denen traditionell unterdrückte sexuelle Orientierungen zu ihrem Recht kommen. Moderne Gesellschaften sind in der Lage, einen positiven Pluralismus zu leben. Besonders in den Entwicklungs- und Transformationsländern zeigt sich der faktische aber als negativer Pluralismus. Im Schatten der unvollständigen Modernisierung gibt es viele destruktive Konflikte.

Von negativem Pluralismus ist die Rede, wo die Sicherung der Vielfalt gegen Selbstzerstörung nicht gewährleistet ist. Unter den Bedingungen der Globalisierung ist dieser Zustand vor allem bei den Modernisierungsverlierern anzutreffen. Sie machen über die Hälfte der Weltbevölkerung aus. Modernisierungsverlierer gibt es auch in modernisierten Gesellschaften. Aber dort wird jedenfalls soweit für sie gesorgt, dass ein offener und destruktiver Konflikt vermieden wird. Die große Masse Modernisierungsverlierer konzentriert sich jedoch in den Entwicklungs- und Transformationsländern, wo sie auf sich selbst angewiesen sind.

Die Modernisierungsverlierer sind nicht einfach nur arm, sondern sie sind in gewisserweise funktionslos geworden, weil sie im Zuge der Modernisierung ihre überkommene Existenzgrundlage verloren, im modernen Wirtschaftsprozess aber keinen neuen Platz gefunden haben. Sie zahlen als Preis der Modernisierung mit einer Relativierung ihrer Kultur und dem Verlust gewachsener Identitäten. An vielen Plätzen hat die Veränderung der natürlichen Umwelt durch die Ausbreitung von Infrastruktur und Technik und oft auch durch Umweltzerstörung ihnen ihre natürlichen Lebensgrundlagen genommen. Unter den so Marginalisierten provoziert die Globalisierung lokale und partikulare Gegenbewegungen, die gerade in ihrer Gegnerschaft zu den globalisierenden Tendenzen neue soziale Identitäten hervorbringen. Sie suchen ihr Heil in religiösen oder ethnischen, rassischen oder ideologischen Zugehörigkeiten. Konsequenz sind gesellschaftliche Spaltungen und Konfrontationen, die den negativen Pluralismus ausmachen.

»Negative pluralism refers to any totalizing affiliation which results in the transformation of interests into principle and results in cleavage politics and increasingly differentiated societies. An example of such totalizing affiliations is race. Another is religion.« (David E. Apter, The Political Kingdom in Uganda, A Study of Bureaucratic Nationalism, 3. Aufl., London [u.a.] 1997, Fn. 85 auf S. LXXV)

Diese Definition lässt sich leicht in die bekannte Unterscheidung zwischen Wertkonflikt und Interessenkonflikt übersetzen. In einer modernen Gesellschaft ist die gesellschaftlich organisierte Interessenwahrnehmung selbstverständlich. Die Modernisierungsverlierer suchen ihre Zuflucht aber nicht in Interessenverbänden, sondern in traditionellen oder neotraditionellen Formationen, die Werte über Interessen stellen, indem sie deren religiöse, ethnische oder rassische Basis zu einem kompromissfeindlichen Prinzip steigern.

Als moralisches und als rechtsphilosophisches Problem ist die Frage nach den Grenzen des Pluralismus altbekannt. Es genügt hier, an das Problem der Selbstdestruktion der Toleranz oder der Demokratie zu erinnern. Die Philosophen wissen auch Rat, etwa John Rawls mit Forderung nach einem »overlapping consensus«[1]. Aber Philosophie hält keine Gesellschaft zusammen. In der Realität gibt keine durchschlagende Lösung. Man kann nur beobachten, dass in einem Teil der Welt die Gesellschaft an der neuen Vielfalt nicht zerbricht, sondern mehr oder weniger gut integriert bleibt, während in vielen anderen Teilen aus der Vielfalt Konfliktlinien wachsen.

Will man diese Beobachtung theoretisieren, so bieten sich die Überlegungen der Meyer-Schule an. Den Zusammenhalt garantiert die Institutionalisierung eines positiven Pluralismus, wenn und soweit sie gelingt. Die Antwort ist allerdings auch beinahe trivial. Immerhin impliziert sie dreierlei. Erstens: Es geht um eine soziologische Frage, nicht um ein moralisches oder philosophisches Problem. Zweitens: Anscheinend begegnet die Institutionaliserung des Pluralismus auf der Ebene der Weltkultur geringeren Widerständen und ist dort weiter fortgeschritten als in nationalen und regionalen Gesellschaften. Drittens: Die nationale und regionale Institutionalisierung eines positiven Pluralismus korreliert positiv mit den Indikatoren, die für Modernisierung stehen.

Positiver Pluralismus beruht auf der Wertschätzung von Diversität als (materielle und ideelle) Bereichung und als Quelle laufender Innovation. Er ist eingebettet in einen institutionellen Rahmen, der einer konflikthaften Selbstzerstörung vorbeugt. Moralisch gehört dazu das Toleranzgebot und politisch Formen der Partizipation, wie sie in Demokratie und Rechtsstaat vorgesehen sind.

Auf der Ebene der Weltkultur ist der positive Pluralismus fest institutionalisiert. Dafür stehen, ganz abgesehen von den Achtungsansprüchen und Antidiskriminierungsregeln der Menschenrechtserklärung die UNESCO-Konvention über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen und die United Nations Declaration on the Rights of Indigenous Peoples von 2007. Man kann verfolgen, wie der Imperativ kultureller und religiöser Pluralität und als seine Kehrseite Diskriminierungsverbote in zahllosen nationalen und internationalen Dokumenten und Traktaten instututionalisiert ist. Repräsentativ ist wohl der UNESCO World Report, Investing in Cultural Diversity and Dialogue, 2009 [2000]. Man könnte diese Institutionalisierung eines positiven Pluralismus in der Weltkultur als normative Solidarität benennen, um dann nach der Reichweite der normativen Solidarität zu fragen.

Die Programmautoren der DGS haben die »die ›klassische‹ (Parsonssche) Sichtweise, soziale Kohäsion werde vor allem durch normative Integration gesichert« auf das Altenteil geschickt (Programm S. 18). Damit liegen sie falsch. Sicher gibt es unterhalb der normativen Ebene unzählige Konstellationen, in denen sich organische Solidarität bewährt, weil Vielfalt vielerlei Arbeitsteilung und Austausch nach sich zieht. Aber ohne den großen normativen Rahmen, ohne den institutionalisierten Imperativ der Diversität und Toleranz, gibt es in größeren Gesellschaften keinen positiven Pluralismus.

Literatur: David E. Apter, Globalisation and the Politics of Negative Pluralism, International Social Science Journal 59, 2008, 255-268; ders., Marginalization, Violence, and Why We Need New Modernization Theories, in: World Social Science Report, Paris 2010, S. 32-37.



[1] Dazu Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 300f.

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Die Einfalt der Vielfalt

Die (alte) Modernisierungstheorie wurde von Differenzierungs­theorien beerbt, die sich gegen die großen Entwicklungstrends einer vermeintlich universellen Globalisierungslogik wenden und die Konvergenzthese in Frage stellen. In den Blickpunkt des Interesses rückte die Frage, wie sich Konvergenz und Divergenz als simultane und wechselseitig verschränkte Prozesse begreifen lassen. Niemand bestreitet, dass die Globalisierung einen umfassenden Wandlungsprozess anschiebt. Aber zum guten Ton, den auch das Programm des Soziologentags in Bochum anstimmt, gehört die Aussage, dass die Globalisierung nicht einseitig auf die von der Modernisierungs­theorie prognostizierte Konvergenz hinauslaufe, sondern viel eher als ein großer Differenzierungsprozess zu verstehen sei, mindestens aber, dass Konvergenz und Divergenz gleichzeitig als gegenläufige Entwicklungen zu beobachten seien.

Zur Kritik der Modernisierungstheorie taugt die Entgegensetzung von Konvergenz und Divergenz wenig. Konvergenz bezeichnet eine gerichtete Entwicklung. Anders als der Konvergenzbegriff der Modernisierungstheorie gibt der Divergenzbegriff ihrer Kritiker keine Tendenzen an, sondern beschränkt sich auf die Verneinung von Konvergenz. Dass die Welt jenseits der Differenz von entwickelten und weniger entwickelten Gesellschaften in bestimmter Weise auseinanderdriftet, behaupten auch die Kritiker der Modernisierungs­theorie nicht ernsthaft. Sie insistieren nur auf Vielfalt oder Diversität. Divergenz ist also nicht dasselbe wie Diversität oder Vielfalt. Mit letzerer hat die Modernisierungstheorie kein Problem. Für eine fortgeschriebene = modernisierte Modernisierungstheorie bedeutet Konvergenz nicht Homogeni­sierung, sondern strukturelle Vielfalt. Traditionelle Gesellschaften waren sehr viel homogener als moderne. Erst die Modernisierung hat die Welt pluralistisch gemacht. Neue Vielfalt wird laufend durch die Modernisierung selbst produziert, und zwar auf mindestens vier unterschiedlichen Wegen, nämlich durch die Pfadabhängigkeit sozialen Wandels, durch eine »Melange« vorhandener Kulturelemente (Hybridisierung), durch die Abkopplung (decoupling, John Meyer) lokaler Praxis von globaler Institutionalisierung sowie durch ständige Rückkopplungsprozesse.

Die Globalisierung steckt voller Rekursivität. Sie löst lokale Veränderungen aus, die wiederum auf die globale Ebene zurückwirken. Wer solche Schleifen zu Paradoxien hochstilisiert, ist schnell dabei, gegenläufige Entwicklungen zu entdecken. Wer nach Differenzen oder Varietäten sucht, wird sie finden. Die Suche nach Ähnlichkeiten ist schwieriger, denn sie muss Vergleichsmaßstäbe angeben. Die Modernisierungstheorie hat sich auf Parameter festgelegt, an denen Konvergenz gemessen werden soll. Die Differenzierungstheorien haben nichts Vergleichbares vorzuweisen. Deshalb läuft die Kritik der Modernisierungstheorie, wie sie von Eisenstadt formuliert worden ist, ins Leere.

Das bedeutet nicht, dass die Modernisierung verlustfrei zu haben wäre. Der Preis für die Teilhabe an der Weltgesellschaft ist eine Relativierung von Kultur und Religion, der Verlust partikularer Identitäten. Er ist auch schon dort zu zahlen, wo die Modernisierung erst begonnen hat. Besonders die Gesellschaften, denen die Modenernisierung von außen aufgedrängt wird, leiden unter der beinahe gewaltsamen Zerstörung gewachsener Strukturen. Globalisierung wird so zur neuen Form der Entfrem­dung. Der Weg zurück zum Naturzustand, der bekanntlich erst im Zustand der Entfremdung zum Thema wird, führt zur Suche nach besonderen Lebensformen, die sich zur Identitätsbildung anbieten. Die wichtigsten sind wohl Religion, ethnische Zugehörigkeit und als deren spezielle Ausprägung Indigenität.

»Indigen« sind nach der Definition der Vereinten Nationen die Erstbewohner eines Territoriums, die freiwillig kulturelle Besonderheiten zu bewahren versuchen suchen, sich selbst als abgrenzbare Gemeinschaft wahrnehmen und Erfahrungen mit Unterdrückung, Marginalisierung und Diskriminierung gemacht haben. Für einen Überblick auf das International Indigenous Peoples Movement sei verwiesen auf Lorie Graham/Nicole Friederichs, Indigenous Peoples, Human Rights, and the Environment, (erscheint in Yale Human Rights and Environment Dialogues Report).

Große Bestände an Kulturmustern finden sich in der Vergangenheit. Sie haben den Vorzug dass sie sich als Tradition selbst legitimieren. So produziert die Modernisierung den lokalen Neotraditionalismus, der insbesondere im subsaharischen Afrika große Bedeutung erlangt hat. Diesen bedient auf globaler Ebene die Ethnologie.[1]

Damit ist die Rückkopplung zwischen global und lokal aber immer noch nicht beendet. Die Globalisierung liefert wiederum die Instrumente zu ihrer Unterwanderung, indem sie das globale Konzept der Menschenrechte zur Absicherung regionaler Besonderheiten anbietet. So ist im Zuge der Globalisierung die Berufung auf Pluralität im Allgemeinen und auf Indigenität im Besonderen selbst zu einem Konvergenzphänomen geworden. Auf diese Weise geht die Institutionalisierung universalistischer Rechtsvorstellungen auf der globalen Ebene örtlich mit einer Rückwendung zu nationalen, indigenen oder religiösen Rechtstraditionen einher. Rechtspluralismus ist angesagt. Er findet sich in dem Revival der Scharia oder in den Versöhnungskommissionen, die in Südafrika auf die Ubuntu-Tradition und in Ruanda auf das alte Rechtssystem des Gacaca zurückgreifen. Was als originäre Identität einer Rechtskultur auftritt, ist in dieser Perspektive nichts Authentisches, Ursprüngliches, sondern ein Aspekt von und ein Produkt der Globalisierung, eben Neotraditionalismus. Die Betonung des Eigenwerts partikularer Rechtskulturen als Reaktion auf die Globalisierung ist ihrerseits eine globale Erscheinung.

Die Ironie der Entwicklung liegt darin, dass Konvergenz sich auf einem übergeordneten Niveau als Konvergenz zur Vielfalt ereignet. Der Vergleich ist schief, aber doch erhellend: Überall wollen Jugendliche sich ihrer Besonderheit, Diversität oder Individualität versichern, indem sie sich auffällig irgendwie anders als der Mainstream verhalten oder auch nur aussehen, und sie versuchen es mit Tattoos, Piercings, bunten Haartrachten oder Phantasiemoden. Das Ergebnis ist eine neue Uniformität der Individualität.

»We appear to live in a world in which the expectation of uniqueness has become increasingly institutionalized and globally widespread.«[2]

Robertson[3] spricht von der Universalisierung der Partikularität, Schwinn[4] von einer Standardisierung der Differenzen:

»Kulturen werden verschieden in sehr uniformen Wegen.«

Vielfalt oder Pluralität ist zum Standard der Modernität geworden. Das ist die Einfalt der Vielfalt.

Nachtrag vom 2. 12. 2919:

Was ich hier die Einfalt der Vielfalt genannt habe, erscheint bei Andreas Reckwitz als »Die Gesellschaft der Singularitäten« (2017). Im der Einleitung zu seinem neuen Buch (Das Ende der Illusionen, 2019, S. 20) formuliert Reckwitz:

»Sie [die Logik der Singularisierung] hat eine unweigerlich paradoxe Struktur: Es bilden sich in gesellschaftlichen Kernbereichen allgemeine Strukturen und Praktiken aus, deren Interesse systematisch am Besonderen ausgerichtet ist.«

 


[1] Karl-Heinz Kohl, Die Ethnologie und die Rekonstruktion traditioneller Ordnungen, in: Johannes Fried/Michael Stolleis (Hg.), Wissenskulturen. Über die Erzeugung und Weitergabe von Wissen, 2009, S. 159-180.

[2] Roland Robertson, Glocalization: Time-Space and Homogeneity-Heterogeneity, in: Mike Featherstone/Scott Lash/Roland Robertson (Hg.), Global Modernities, London 1995, 25-44, S. 28.

[3] Roland Robertson, Globalization, Social Theory and Global Culture, London 1992, S. 130.

[4] Thomas Schwinn, Konvergenz, Divergenz oder Hybridisierung? Voraussetzungen und Erscheinungsformen von Weltkultur, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 58 , 2006, 201-232, S. 226.

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Isomorphie der Institutionen und die Entkoppelung von Recht und Realität

Um die Serie über die Modernisierungstheorie endlich mit der »Einfalt der Vielfalt« zu Ende zu bringen, brauche ich als Baustein noch die Weltkulturtheorie. Auf den ersten Blick liest sie sich wie eine Bestätigung der Konvergenztheorie. Auf den zweiten Blick sieht die Welt dann aber doch ganz anders aus.

Die »Isomorphie der Institutionen« ist ein Begriff aus der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie. Heute beobachtet man mehr oder weniger überall auf der Welt eine lange Reihe von rechtlich geprägten Institutionen, die einander mindestens der äußeren Form nach ähnlich sind. Die wichtigste Konvergenz dieser Art ist die Aufteilung der Welt in Nationalstaaten nach dem zweiten Weltkrieg. Fast alle Staaten haben geschriebene Verfassungen[1] angenommen, politische Wahlen eingeführt, Parlamente installiert, die förmliche Gesetze erlassen, und offizielle Gerichte für die Entscheidung von Streitigkeiten eingerichtet. Mehr oder weniger überall gibt es Universitäten mit juristischen Fakultäten, eine Anwaltschaft, Gefängnisse und Polizei.

Diese Gleichförmigkeit hat fraglos etwas mit Modernisierung und Globalisierung zu tun. Für die genauere Bestimmung des Zusammenhangs sind verschiedene Erklärungen geläufig. Die schlichteste läuft auf bloße Nachahmung hinaus. Funktionale Erklärungen verstehen die jeweils gewählten institutionellen Arrangements als Lösung praktischer Probleme. Das ist wohl die heimliche Theorie der Entwicklungshilfe, wenn sie darauf abstellt, dass die rule of law notwendige Bedingung für wirtschaftlichen und humanitären Fortschritt sei. Es lässt sich auch (hoffentlich) nicht ganz ausschließen, dass westliche Ideen von Rechtsstaat und Demokratie, Bildung und Daseinsvorsorge auf Grund ihrer Überzeugungskraft gewirkt haben. In der Rechtssoziologie ist von imposition of law die Rede, wenn machtüberlegene Länder anderen ihr Rechtsmodell aufdrängen. Eine anspruchsvollere Theorie, die alle diese Erklärungen bis zu einem gewissen Grade in sich aufnehmen kann, bietet die Meyer-Schule in Stanford. Sie erklärt die weltweite Gleichförmigkeit der Institutionen nicht primär aus Diffusions-, Planungs- oder Nachahmungsprozessen, sondern aus einer vorgängigen globalen Weltkultur (world polity), welche die institutionelle Umgebung aller Akteure, seien sie Individuen, Organisationen oder Staaten, prägt.

Der Forschergruppe des »Stanford Center for Research in Development in Teaching« um John W. Meyer war aufgefallen, dass Bildungseinrichtungen – gegliederte Schulsysteme, Universitäten, typisierte Abschlüsse usw. – sich jedenfalls äußerlich weltweit ähnlich geworden waren. Auf der Suche nach einer Erklärung stellten sie zunächst fest, dass Organisationen – und zwar nicht nur Schulen und Universitäten – in ihrer konkreten Ausgestaltung den Anforderungen ihrer institutionellen Umgebung folgen, um sich damit Legitimität und Ressourcen zu verschaffen. Die institutionelle Umgebung von Organisationen besteht aus verfestigten Komplexen von Normen, Erwartungen und Leitbildern. Eine Schule, als Organisation betrachtet, entspricht also dem, was man allgemein von einer Schule erwartet und was überwiegend auch in Gesetzen festgeschrieben ist. Das ist an sich beinahe trivial. Neu war aber die These, mit der die Ähnlichkeit von Institutionen über Ländergrenzen hinweg erklärt wurde, die These nämlich, dass die institutionelle Umgebung von Organisationen von einer einheitlichen world polity geprägt werde. Kern dieser Weltkultur ist instrumentelle Rationalität, »die Strukturierung des täglichen Lebens entlang von standardisierten unpersönlichen Regeln, die die soziale Ordnung auf unpersönliche Zwecke hin ausrichten. Im Zuge von Rationalisierungsprozessen konstituiert sich Autorität ausdrücklich als formale und zunehmend bürokratisierte Rechtsordnung; Tauschprozesse richten sich an Regeln der rationalen Kalkulation und Buchführung sowie an Regeln zur Konstitution von Märkten aus und beinhalten weitergehende Prozesse wie Monetarisierung, Kommerzialisierung und bürokratische Planung.«[2]. Im Ursprung ist die globale Weltkultur aber religiösen, und hier wiederum vornehmlich christlichen Ursprungs.

Die institutionellen Regeln, die diese Rationalisierung vorantreiben, »liegen auf einer sehr allgemeinen (jetzt oft globalen) Ebene …«. Sie leiten sich aus einer »herrschenden universalistischen historischen Kultur« ab. Aus den »transzendenten Gottheiten (Jehova, Gott, Allah)« sind »transzendentale Begriffe« geworden: Gleichheit, Freiheit, Rechte, Fortschritt. Sie gelten in jeder modernen oder sich modernisierenden Gesellschaft mit der Folge, »dass die konkreten institutionellen Ziele und Definitionen in der Praxis fast überall auffallend ähnlich sind« … »Zum Beispiel pflegen Lehrer unterschiedliche Unterrichtsstile, Unternehmen unterschiedliche Managementmethoden und staatliche Regime unterschiedliche ideologische Standpunkte – aber alles innerhalb der konstitutiven Festlegung dessen, was ein Lehrer, ein Wirtschaftsunternehmen oder ein Nationalstaat überhaupt ist.«.

Bezogen auf den Nationalstaat heißt es etwa:

»Nationalstaaten sind das Produkt von außen kommender, universalistischer und rationalisierter kultureller Modelle und werden von diesen als letztlich ähnliche Akteure konstituiert und konstruiert. Dies führt zu einem hohen Grad an Isomorphie und isomorphem Wandel zwischen Nationalstaaten, ebenso wie zu einem hohen Grad von Diffusion zwischen verschiedenen Nationalstaaten einerseits und zwischen den Zentren des globalen Diskurses und einzelnen Nationalstaaten andererseits.« (Meyer 2005, 158f.)

Im Detail ist die Herleitung der world polity natürlich viel komplexer. Darauf und damit auch auf Zustimmung oder Ablehnung will ich mich hier nicht einlassen. Unbestreitbar scheint jedenfalls die weltweit zu beobachtende Isomorphie der Institutionen zu sein. Gäbe es noch eine unberührte Insel – so Meyer – , dann würden die internationalen Organisationen von den Vereinten Nationen bis Attac, von der Weltbank bis Greenpeace sie schnell in einen Nationalstaat mit Gewaltenteilung, Behörden und Instanzen, Minderheitenschutz, Schulen und Religionsfreiheit verwandeln. Wer Mitglied der UNO werden und an der Entwicklungshilfe der Weltbank und anderer Einrichtungen teilhaben will, kann dies nur als Nationalstaat tun mit einer Regierung an der Spitze, die in ihrer Organisation die westlichen Bürokratiemuster spiegelt. Der Staat muss mindestens pro forma Resolutionen und Leitlinien zu Menschenrechten oder Umweltschutz usw. akzeptieren. Ein Heer von Beratern, »interesselosen« Wissenschaftlern und Experten, IGOs und INGOs tritt in Aktion und sorgt für die Diffusion westlicher Normen und Institutionen.

Für die Rechtssoziologie ist besonders ein dritter Argumentationsstrang interessant, der 1977 von Meyer und Rowan eingeführt worden ist. Ihre These war, dass Organisationen aller Art sich nach außen formal und rational geben, dass sie intern aber nicht, wie es das Gebot der Rationalität eigentlich fordert, bürokratisch mit Weisung und Kontrolle arbeiten, sondern sich von der Formalität abkoppeln (decoupling) und mit informellen Vertrauensbeziehungen arbeiten. Isomorphie der Institutionen heißt deshalb nicht, dass die Organisationen überall gleich sind, sondern dass sie äußerlich einem übergeordneten Rationalitätsimperativ entsprechen. Dieses Formalitätsgebot sei der Mythos, der den Organisationen helfe, in ihrer Umgebung zu überleben, indem er ihnen Legitimität verschaffe und zu Ressourcen verhelfe.

Die Differenz zwischen der formalen Struktur von Organisationen und ihrem praktischen Funktionieren ist ein alter Hut der Organisationsforschung. Auch die Idee, dass Organisationen sich unter gleichen Umweltbedingungen einander angleichen, war in der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie nicht neu. Neu war aber die Verortung dieser Umweltbedingungen auf der abgehobenen Ebene der world polity und damit verbunden die Radikalisierung der Differenz zwischen Formalstruktur und Realität von Institutionen: Bis zu einem gewissen Grade ist die globale Isomorphie bloßer Schein. Staaten und Institutionen passen sich äußerlich den globalen »Vorgaben« an, setzen sie aber nur formal oder symbolisch um und füllen sie mit eigenen Inhalten. Oft besteht nur eine sehr äußerliche Ähnlichkeit der Institutionen, die tatsächlich von Land zu Land und teilweise von Ort zu Ort ganz unterschiedlich funktionieren. Historisch betrachtet sind sich die Länder der Welt ähnlicher geworden, und zwar die Rechtssysteme sogar noch stärker als die Kulturen. Diese Konvergenz bedeutet aber keine Homogenität. Homogenität scheitert an der Differenz zwischen Rechtsanspruch und Rechtswirklichkeit, die überall unterschiedlich ausfällt, und an der kulturellen Färbung, die die Institutionen in ihrer Umgebung jeweils annehmen.

Literatur: John W. Meyer u. a., Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, 2005 (Übersetzung von acht Aufsätzen von Meyer und Koautoren, die zwischen 1997 und 2001 veröffentlicht wurden; eine Rezension des Bandes von Michael Hölscher in der Online-Zeitschrift H-Soz-u-Kult 19. 5. 2006); John W. Meyer/John Boli-Bennett/Chase-Dunn Christopher, Convergence and Divergence in Development, Annual Review of Sociology 1, 1975, 223-246. John W. Meyer/Brian Rowan, Institutionalized Organizations: Formal Structure as Myth and Ceremony, American Journal of Sociology 83, 1977, 340-363.


[1] Zur globalen Konvergenz von Verfassungen David S. Law/Mila Versteeg, The Evolution and Ideology of Global Constitutionalism, 2010, http://ssrn.com/abstract=1643628, auch in California Law Review, Vol. 99, 2011,1163-1253. Die Autoren versuchen ein Ranking aller erreichbaren Verfassungen, allerdings nur unter dem Aspekt subjektiver Individualrechte.

[2] Zitate aus John W. Meyer u. a., Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, 2005, S. 32, 34, 37, 40.

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Kritik der Konvergenzthese V: Kampf der Kulturen?

Als Gegenreaktion hat der globale Prozess der Verbreitung von Kultur die Sorge um kulturelle Identitäten, Diversität und Einmaligkeit hervorgerufen. Man befürchtet, dass die exzessive Kommunikation fremder kultureller Produkte eine einheimische Kultur beschädigen oder gar zerstören könne. Manche Beobachter zeichnen das Bild der kulturellen Konvergenz daher nicht als wechselseitige Bereicherung, sondern stellen sich die Welt als kulturelles Schlachtfeld vor. Unter der Überschrift »The Clash of Civilizations« hat Samuel P. Huntington (1993) die These vertreten, in der Welt von morgen würden Konflikte zwar nicht länger aus konkurrierenden politischen Ideen oder wirtschaftlichen Rivalitäten entstehen.[1] Dafür werde es aber zum Zusammenstoß von Zivilisationen kommen, in erster Linie wohl zwischen der europäisch orientierten Industriegesellschaft und den verschiedenen nicht westlichen Zivilisationen.

Huntington unterscheidet sechs große Zivilisationen, die ihrerseits in zahlreiche lokale Kulturen untergliedert sind, den Westen, den Islam, den Konfuzianismus, den Hinduismus, die slawisch-orthodoxe Welt, die japanische Zivilisation und den Latinoamerikanismus. Er lässt offen, ob auch Afrika als Zivilisation in diesem Sinne gelten kann. Der Kalte Krieg werde durch eine neue Form des internationalen Konflikts abgelöst, weil das Bewusstsein der Menschen, einer bestimmten Zivilisation zuzugehören, wachse oder wiedererwache und sie von anderen Zivilisationen abgrenze.

Huntington ist von der Kritik behandelt worden, als hätte er etwas Unanständiges gesagt. Ich halte mich daher an Tenbruck, wenn er der »allseitigen Öffnung, Durchdringung und Vermischung der Kulturen«, die durch die »globale Präsens der Massenmedien in neue Dimensionen« hineingetrieben werde, ein neuartiges Konfliktpotential zuschreibt:

»Das ergibt im Dauereffekt nicht ein ›Kulturkonzert‹ mit Austausch, Bereicherung und Befruchtung auf Gegenseitigkeit, sondern eine Konfrontation, welche den Fortbestand der einzelnen Kulturen in ihrer selbständigen Individualität und Lebendigkeit bedroht. Eine nüchterne Betrachtung der Lage lehrt, daß hier mit verschiedensten kulturellen Kolonialisierungen, Selbstbehauptungsbewegungen, Deklassierungen zu Subkulturen wie auch mit dem Sprachverlust, der Einschmelzung, ja dem Ende von Kulturen gerechnet werden muß. Neu daran aber ist, daß all dies ohne Eroberung vor sich geht wie ein globaler Kulturkampf, dessen Träger und deren Ziele kaum zu erfassen sind. Hier vollzieht sich Geschichte in einer neuen Form, für die uns noch die Kategorien fehlen. Doch eines ist sicher: daß darin nur einige Kulturen und Kulturmuster sich behaupten werden.«[2]

Die Konflikthaftigkeit des Modernisierungsprozesses ist nicht zu übersehen. Konsequente Anhänger der Theorie führen sie jedoch nicht in erster Linie auf religiöse und kulturelle Differenzen zurück, sondern auf die Ungleichheiten, die die Modernisierung durch das unterschiedliche Tempo in den verschiedenen Ländern hat aufbrechen lassen.[3] Danach sind die aktuellen Proteste gegen Mohammed-Videos oder Karikaturen nicht in erster Linie als religiöser oder kultureller Konflikt, sondern als Auflehnung der Modernisierungsverlierer zu interpretieren.

 


[1] Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations?, Foreign Affairs 72, 1993, 22-49.

[2] A. a. O. Fn. 1027, S. 14, ausführlicher noch S. 30f.

[3] Wolfgang Zapf, Modernisierungstheorie – und die nicht-westliche Welt, in: Thomas Schwinn (Hg.), Die Vielfalt und Einheit der Moderne, 2006, 227-235, S. 234; Thomas Schwinn, Konvergenz, Divergenz oder Hybridisierung?, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 58 , 2006, 201-232, S. 214.

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Kritik der Konvergenzthese IV: Kulturalistische Kritik

Kulturalistische Kritik macht geltend, dass die Modernisierungstheorie die Bedeutung der Kultur für die Entwicklung der Gesellschaft prinzipiell verkenne. Meistens wird mehr oder weniger stillschweigend ein holistischer Kulturbegriff zugrunde gelegt. Holistisch ist ein Kulturbegriff, der sich viele große oder eher kleinere Kulturkreise vorstellt, die voneinander verschieden sind, in sich aber geschlossen, homogen und relativ statisch erscheinen. Er verbindet sich mit dem Kulturrelativismus[1], der jede Kultur als einzigartig ansieht, so dass sie ihren Wert in sich trägt. Das typische Argument lautet dann, die Übertragung einer modernen Institution in eine prämoderne Gesellschaft werde entweder misslingen oder deren indigene Kultur zerstören. Als Folge wird eine globale Homogenisierung oder McDonaldisierung konstatiert. Zur Abwehr dient die Forderung nach der Pflege kultureller Diversität. Kulturelle Diversität wird neben Biodiversität zu einem Wert an sich. Solche Kritik kann die Konvergenzthese aber nicht widerlegen, sondern nur beklagen.



[1] Zur Kritik des Kulturrelativismus sei verwiesen auf Thomas Sukopp, Wider den radikalen Kulturrelativismus – Universalismus, Kontextualismus und Kompatibilismus, Auflärung und Kritik 2, 2005, 136-154; zum Stand der Theoriediskussion in der Ethnologie auf Karl-Heinz Kohl, Ethnologie – die Wissenschaft vom kulturell Fremden, 3. Aufl., 2011, S. 130ff.

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Kritik der Konvergenzthese III: Eisenstadts »Vielfalt der Moderne«

Vorbemerkung: Herr Boulanger hat in seinem Kommentar zum Posting vom 18. September über »Konvergenz als Ende der Geschichte« darauf aufmerksam gemacht, dass auf Sozblog der (deutsche) Soziologe Volker H. Schmidt aus Singapur gerade eine Beitragsserie zum Modernisierungsthema schreibt. Die war mir bisher entgangen, und da ich verreist war, habe ich Schmidts Beiträge erst heute gelesen. Sie sind lesenswert und wichtig, denn sie bieten eine Fortschreibung der Modernisierungstheorie, die deutlich über das hinausgeht, was etwa Wolfgang Zapf oder David E. Apter angeboten haben und die ich selbst nicht leisten kann. Ich hatte immerhin Schmidts Aufsatz über »Die ostasiatische Moderne« (Berliner Journal für Soziologie 20, 2010, 123-152) gefunden. Er hat mir sehr geholfen, als ich in den letzten Monaten mit einem Festschriftbeitrag über »Entwicklungshilfe durch Recht und die Konvergenzthese« befasst war. Ich hätte natürlich gleich auf Schmidts Webseite gehen und nach weiteren einschlägigen Arbeiten fahnden sollen. Das habe ich versäumt, bis ich heute seine Postings auf Sozblog las. Ich bin ein bißchen in Eile, weil ich mit meiner Beitragsreihe zur Modernisierung noch bis zum Soziologentag in Bochum am 1. Oktober bei der »Einfalt der Vielfalt« ankommen möchte. Deshalb in diesem Monat die schnelle Folge der Beiträge, die ich teilweise schon auf Vorrat geschrieben hatte und die WordPress zu vorbestimmten Terminen dann automatisch veröffentlicht hat. Auch der heutige Beitrag ist schon länger fertig. Ich habe ihn nicht mehr verändert, obwohl Schmidt dazu allerhand Wichtiges gesagt hat. Immerhin liege ich wohl ziemlich genau auf seiner Linie, wozu sein Aufsatz über »Die ostasiatische Moderne« entscheidend beigetragen hat.

Die Berücksichtigung der Pfadabhängigkeit führt zu einer Verfeinerung der Modernisierungstheorie, lässt deren zentrale Aussage aber unberührt. Dagegen wird das Konzept der multiplen Modernen von Shmuel N. Eisenstadt von vielen so verstanden, als rühre es an die Substanz der Modernisierungstheorie.

»Im Gegensatz zur Ansicht, moderne Gesellschaften seien der natürliche Endpunkt der bisherigen Evolution menschlicher Gesellschaft, geht diese Sicht davon aus, dass die Moderne eine im Westen entstandene Zivilisation ist, die sich zum Teil analog zu der Kristallisierung und Expansion der großen Religionen — Christentum, Islam, Buddhismus, Konfuzianismus – in der ganzen Welt ausgebreitet hat. Die zweite Annahme multipler Modernen ist, dass diese Zivilisation, mit ihrem spezifischen kulturellen Programm und seinen institutionellen Auswirkungen sich ständig verändernde kulturelle und institutionelle Muster hervorgebracht hat, die unterschiedliche Reaktionen auf die Herausforderungen und Möglichkeiten, die in den Kernmerkmalen moderner zivilisatorischer Prämissen enthalten sind, darstellen. Mit anderen Worten, die Expansion der Moderne brachte keine uniforme und homogene Zivilisation hervor, sondern, in der Tat, multiple Modernen.« (Eisenstadt 2006:37)

Eisenstadt geht zwar davon aus, dass es sozusagen einen Kern der Moderne gibt, der aber unterschiedliche Ausprägungen findet, die nicht bloß als Varianten einer zielgerichteten Entwicklung verstanden werden dürfen, sondern jeweils eigenständige Gesellschaftsformationen bilden. Die Basis der Moderne verlegt Eisenstadt in die (von Karl Jaspers so getaufte) Achsenzeit, also in die Zeit von 800 bis 200 v. Chr., in der mythische Kulturen durch abstrakt-transzendente Religionen abgelöst wurden und in der sich die vier großen Kulturkreise gebildet haben, die bis heute die Welt prägen, die griechisch-römische Antike, das Judentum, der Buddhismus und der Konfuzianismus. Eisenstadt dehnt die Achsenzeit noch auf die Entstehung des Islam aus und bedenkt die japanische als eine Kultur ohne ausgeprägte transzendente Konzeption. Das führt zu einer Betonung der Nachwirkung dieser Kulturkreise auch für den Modernisierungsprozess.

Mit diesem Modell hat Eisenstadt viel Zustimmung erfahren. Das Problem liegt darin, dass das, was Eisenstadt selbst als »Kern der Moderne« bezeichnet, verschwommen bleibt.

Stichworte aus Eisenstadt 2006:»Anerkennung der Möglichkeit …, zwischen mannigfaltigen, über festgelegte und askriptive hinausgehende Rollen« zu wählen und »Teil umfassender translokaler, womöglich auch sich wandelnder Gemeinschaften zu sein« (S. 38f.); Reflexivität und Autonomie. Größeren Wert legt Eisenstadt auf die mit der Moderne verbundenen »Spannungen« (Suche nach Wiederherstellung von Gewissheit, Spannung zwischen »Kontrolle und Autonomie, oder Disziplin und Freiheit« (S. 39), Zweckrationalität und Wertrationalität (S. 40), zwischen »absolutierenden« und pluralistischen Tendenzen (S. 40).»Verlust der Grundlagen aller Gewissheit und die Suche nach ihrer Wiederherstellung« (S. 39), »zentrale Rolle des Politischen« (S. 42), »Nationalstaaten und revolutionäre Staaten als charismatische Träger des Leitbildes der Modernität« (S. 51), »Anerkennung der Möglichkeit …, zwischen mannigfaltigen, über festgelegte und askriptive hinausgehende Rollen« zu wählen und »Teil umfassender translokaler, womöglich auch sich wandelnder Gemeinschaften zu sein« (S. 38f.)

Mit Blick auf die Globalisierung charakterisiert Eisenstadt die »klassische Epoche der Moderne« auf eine Art, dass man ihn für einen Anhänger der Modernisierungstheorie halten könnte:

»… vier unterschiedliche Prozesse: erstens, weitreichende, mit der Entwicklung neuer Technologien und der Herausbildung neuer Muster der politischen Ökonomie eng verbundene strukturelle Transformationen hin zur Wissens- und Informationsgesellschaft … ; zweitens, gleichzeitige umfangreiche Veränderungen der allgemeinen sozialen Strukturen sowie der Klassen- und Statusbeziehungen; drittens, kontinuierliche Demokratisierungstendenzen auf der gesamten Welt …; viertens, ein umfassender ideologischer und kultureller Wandel.« (S. 46.)

Was Eisenstadt als »Kern der Moderne« bezeichnet lässt sich nicht empirisch festmachen, ebenso wenig wird die Qualität der Varianten deutlich formuliert. Deshalb fällt es leicht, überall Variation, Differenz oder gar Divergenz zu finden. Eisenstadts Paradebeispiel für eine eigenständige Variation der Modernität ist das moderne Japan.[1] Wenn man sich auf operationalisierbare Parameter festlegt, mit denen Modernisierung gemessen wird[2], so entspricht die Entwicklung Japans, und auch die der asiatischen Tigerstaaten, sehr genau den Prognosen der Modernisierungstheorie. Das hat kürzlich Volker H. Schmidt vorgerechnet.[3]

Wenig überzeugend ist auch die Auszeichnung fundamentalistischer Bewegungen als Variante der Moderne, weil sie insofern modern sind, als sie antimoderne Ideen verkünden.[4] Eisenstadt betont, dass sie »die Grundthematik der Moderne« nicht verlassen. Er bescheinigt ihnen, sie seien »zutiefst reflexiv«  und »sich dessen bewusst, dass es keine definitiven Antwort auf die Spannungen der Moderne gibt, selbst wenn jede auf ihre Art eindeutige, unbestreitbare Antworten auf die unlösbaren Dilemmas der Moderne anzubieten versucht.« (2006:59) So zeigen sich im Prozess der Globalisierung für Eisenstadt vielfältige Reaktionen auf die »Grundantinomien des modernen Programms«. Ich werde sie gleich noch als Rückkopplungsschleifen einordnen. Der andauernden Schubkraft dieses Programms tun sie keinen Abbruch.

Eisenstadt stellt auch die Interdependenzbehauptung der Modernisierungstheorie in Frage, denn »in allen oder fast allen Gesellschaften zeigen die verschiedenen institutionellen Sphären – Wirtschaft, Politik, Familie – stets relativ voneinander unabhängige Merkmale«.[5] Richtig ist sicher, dass die Institutionen eines jeden Landes – außer den genannten auch Recht und Religion, Bildungssektor und Arbeitsmarkt, Gesundheitssystem und soziale Sicherung – nicht nur in ihrer je einzelnen Ausprägung, zu spezifischen Paketen »verschnürt« sind, die dem Lauf der Modernisierung jeweils Tempo und Richtung vorgeben.[6] Doch eben darin besteht die Pfadabhängigkeit der Entwicklung. Das Interdependenztheorem behauptet nicht mehr, als dass alle Institutionen der Gesellschaft vom Modernisierungsprozess affiziert werden. Es behauptet keinen Gleichschritt und keine Homogenisierung. Eisenstadts Vielfaltsthese ist letztlich nur eine emphatische Ausarbeitung des Theorems von der Pfadabhängigkeit der Entwicklung.

Die große Zustimmung, die Eisenstadt gefunden hat[7], dürfte darauf beruhen, dass er die Modernisierung aus der Verklammerung mit einer amerikanischen Leitkultur befreit, ohne einen global wirksamen Modernisierungstrend in Abrede zu stellen. Damit hat er mehr zur Stützung der Modernisierungstheorie beigetragen, als zu ihrer Überwindung.

Literatur: Shmuel N. Eisenstadt, Comparative Civilizations and Multiple Modernities, Leiden 2003 (Aufsatzsammlung, darin »Multiple Modernities in an Age of Globalization« von 1999 sowie »Multiple Modernities« von 2000); ders., Multiple Modernen im Zeitalter der Globalisierung, in: Thomas Schwinn (Hg.), Die Vielfalt und Einheit der Moderne, 2006, 37-61; ders., Die Vielfalt der Moderne, 3. Aufl., 2011; Volker H. Schmidt, Die ostasiatische Moderne – eine Moderne ›eigener‹ Art?, Berliner Journal für Soziologie 20, 2010, 123-152; Thomas Schwinn, Multiple Modernities: Konkurrierende Thesen und offene Fragen, Zeitschrift für Soziologie 38, 2009, 454-476.



[1] Die Vielfalt der Moderne, 3. Aufl., 2011, Kap. 3, S. 110ff.

[2] Als solche werden genannt und in verschiedenen Reports gemessen: Bruttosozialprodukt je Einwohner, relativer Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion, Urbanisierung, Anstieg der Lebenserwartung, höhere Bildungsbeteiligung, höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen, Abnahme der Kinderzahl und Verkleinerung der Familie, Freiheitlichkeit, Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit, Effektivität des Regierungshandelns und Korruptionskontrolle, Infrastruktur und Innovationsfähigkeit.

[3] Volker H. Schmidt, Die ostasiatische Moderne – eine Moderne ›eigener‹ Art?, Berliner Journal für Soziologie 20, 2010, 123-152.

[4] Die Vielfalt der Moderne, 3. Aufl., 2011, Kap. 4, S. 174ff.

[5] Die Vielfalt der Moderne, 3. Aufl., 2011, S. 11.

[6] Thomas Schwinn, Konvergenz, Divergenz oder Hybridisierung?, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 58 , 2006, 201-232, S. 207.

[7] Zur Kritik etwa Johannes Berger, Die Einheit der Moderne, in: Thomas Schwinn (Hg.), Die Vielfalt und Einheit der Moderne, 2006, 201-225.


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Kritik der Konvergenzthese II: Pfadabhängigkeit der Modernisierung

Das Konzept der Pfadabhängigkeit wendet sich nicht direkt gegen die Modernisierungstheorie, leistet aber eine gerne akzeptierte Differenzierung. Die Pfadabhängigkeit begründet einen gewissen Widerstand gegen die Konvergenz gesellschaftlichen Wandels. Sie bewirkt, dass Wirtschaftsverfassung und Demokratie, Rechts- und Sozialstaat, Familie und Kultur je nach den historischen und situativen Gegebenheiten unterschiedlichen »Pfaden« folgen und sich variantenreich entwickeln können.

Das Konzept der Pfadabängigkeit kommt aus der Wirtschaftswissenschaft, wo aufgefallenen war, dass sich von mehreren Alternativen nicht immer die effizientesten durchsetzen. Der Gedanke wurde populär, nachdem Paul A. David ihn dazu nutzte, um am Beispiel der Qwerty-Tastatur zu zeigen, warum eine Technologie auch dann noch langfristig überleben kann, wenn der für ihre Entwicklung verantwortliche Grund längst weggefallen ist, so dass sich eigentlich unter Effizienzgesichtspunkten eine verfügbare bessere Technologie durchsetzen müsste. Später machte Douglass North (1990) Pfadabhängigkeiten zur Grundlage für eine Theorie des institutionellen Wandels.

Grob gesprochen geht es bei der Pfadabhängigkeit darum, dass historisch gegebene Situationsbedingungen Einfluss darauf haben, wie sich aus einem neuen Impuls etwas entwickelt, kurz gesagt: Geschichte bleibt wichtig (»history matters«). Gemeint ist nicht nur die politische Geschichte, sondern Geschichte in einem umfassenderen Sinn, so dass man sagen muss, auch »culture matters« und religion matters«. Die Pfadabhängigkeit begründet einen gewissen Widerstand gegen Wandlungsprozesse überhaupt, so dass manchmal von einem »institutional lock-in« die Rede ist. Die Übernahme des Konzepts in die Soziologie hat wohl zu einer Pfadabhängigkeit im soziologischen Denken geführt derart, dass es die gesellschaftlichen Beharrungstendenzen im Allgemeinen überschätzt (Werle S. 129). olitische Geschichte, sondern Geschichte in einem umfassenderen Sinn, so dass man sagen muss, auch »culture matters« und religion matters«. Die Pfadabhängigkeit begründet einen gewissen Widerstand gegen Wandlungsprozesse überhaupt, so dass manchmal von einem »institutional lock-in« die Rede ist. Die Übernahme des Konzepts in die Soziologie hat wohl zu einer Pfadabhängigkeit im soziologischen Denken geführt derart, dass es die gesellschaftlichen Beharrungstendenzen im Allgemeinen überschätzt (Werle S. 129).

Literatur: Jürgen Beyer, Pfadabhängigkeit ist nicht gleich Pfadabhängigkeit, 34, 2005, 5–21; Paul A. David, Clio and the Economics of QWERTY, The American Economic Review 75, 1985, 332-337; Raymund Werle, Pfadabhängigkeit, in: Arthur Benz u. a. (Hg.), Handbuch Governance, Wiesbaden 2007, 119-131.

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