Prüfen auf dem Prüfstand: Prüfungskultur in der Rechtswissenschaft

Jahrestagung des Zentrums für rechtswissenschaftliche Fachdidaktik Hamburg
Gastbeitrag
von

Claudio Marti, MLaw;

lic. iur. Lukas Musumeci;

Ref. iur. Mareike Schmidt, LL.M.

Am 20./21. März 2012 fand die Jahrestagung des Zentrums für rechtswissenschaftliche Fachdidaktik an der Universität Hamburg statt. Die Tagung trug den Titel »Prüfen auf dem Prüfstand: Prüfungskultur in der Rechtswissenschaft« und bestand aus sechs Themenblöcken:

  • Grundlagen
  • Kompetenzorientiertes Prüfen
  • Prüfungen in anderen fachbezogenen Hochschuldidaktiken
  • Prüfungen im europäischen Vergleich
  • Prüfungsformate
  • Prüfungsforschung

Die Vorträge wurden durch drei alternative Diskussions-Workshops zu den folgenden Fragestellungen ergänzt:

  • Was können wir aus anderen fachbezogenen Hochschuldidaktiken lernen?
  • Was können wir aus dem europäischen Vergleich lernen?
  • Was können wir aus der allgemeinen Hochschuldidaktik lernen?

Das detaillierte Programm findet sich hier.

Anschließend möchten wir einige Themen und Vorträge vorstellen, die unser Interesse aus den unterschiedlichsten Gründen besonders geweckt haben.

(Mareike Schmidt)

In seinem Grußwort formulierte Prof. Dr. Reinhard Bork, Direktor des Zentrums für rechtswissenschaftliche Fachdidaktik, zwei Thesen, die während der Tagung wiederholt und aus verschiedenen Perspektiven aufgegriffen wurden. Erstens: Prüfen will gelernt sein. Zum Prüfen gehört nicht nur Prüfungsaufgaben zu stellen, sondern auch die Korrektur derselben. Zweitens: Prüfungen und Unterricht sollen in dem Sinne zusammenhängen, dass geprüft wird, was gelehrt wird. Diese zweite These wurde im einführenden Themenblock 1 in den Referaten von Dr. Oliver Reis und Prof. Dr. Hans-Heinrich Trute weiterentwickelt. So sollen Lernziele, Lehr-/Lernaktivitäten sowie Prüfung im Sinne eines »constructive alignment« aufeinander abgestimmt werden.[1] Dadurch soll ein lernendes System entstehen. Die Prüfung erhebt, ob die Studierenden die Lernziele erreicht haben und stellt dadurch auch eine Evaluation von Unterricht und Lernzielen dar. Die Ergebnisse dieser Evaluation erlauben es dem Lehrenden anschließend, die Abstimmung weiter zu verfeinern und somit die Qualität der Lehre zu verbessern.

Diese beiden Thesen stellen grundlegende didaktische Fragen an den Einsatz von Korrektoren. Dieser führt dazu, dass Prüfungsstellung und Prüfungskorrektur personell entkoppelt werden. Dadurch wird die Abstimmung von Lernzielen, Lehre und Prüfung abgeschwächt.[2] Um ein constructive alignment zu gewährleisten, müssen Rückkopplungsschlaufen eingebaut werden, die es erlauben, dass die Ergebnisse der Korrekturen wieder zurück zum Lehrenden fließen. Diese Rückkopplung könnte etwa dadurch erreicht werden, dass der Korrektor dem Prüfer detailliert über die Prüfungsergebnisse berichtet.

Die These, dass Korrigieren gelernt sein will, erfuhr im sechsten Themenblock durch das Referat von Prof. Dr. Urs Kramer und Bernadette Hauser unter dem Titel »Die Korrektur juristischer Arbeiten – ist sie heute schon auf Examensniveau?« Bestätigung.[3] Die beiden Referenten erforschen an der Universität Passau qualitativ, was eine gute Prüfungskorrektur ausmacht. Dabei berücksichtigen sie die Perspektive von Studierenden, Prüfungstellern und Korrektoren. Ein zentrales Qualitätsmerkmal einer Korrektur ist deren Nachvollziehbarkeit. So legen Studierende etwa Gewicht darauf, dass Fehler direkt in der Klausur angezeichnet und kommentiert werden, anstatt in einem Schlusskommentar pauschal darauf hinzuweisen. Zur Nachvollziehbarkeit gehört auch, dass aus der Korrektur erkennbar ist, welche Aussagen bewertet wurden. Von Seiten der Prüfungssteller wird erhofft, nachvollziehbare Korrekturen würden Remonstrationen vermindern. Das Beispiel zeigt, dass Korrekturen mit verhältnismäßig einfachen, problemlos umsetzbaren Mitteln nachvollziehbarer gestaltet werden können. So einleuchtend diese aber auch erscheinen, ist deren Einsatz nicht selbstverständlich. Korrektoren müssen dafür sensibilisiert werden.

Viel größere Probleme stellen sich für Korrektoren hingegen bei der eigentlichen Bewertung. Lösungs- und Bewertungsskizzen, vom Klausursteller erstellt, sind eine erste Hilfe. Sie sind aber nur ein Lösungsvorschlag. Für den Klausursteller ist es aber kaum möglich alle Antworten und Aussagen zu antizipieren, welche seine Aufgabenstellungen zu provozieren vermögen. Hier entsteht das Leid des Korrektors. Die Studierenden tendieren dazu, sich nicht an den Lösungsvorschlag zu halten. Die Korrekturarbeit beinhaltet somit nicht nur ein bloßes Abgleichen von Klausur und Lösungsvorschlag. Vielmehr nimmt der Korrektor häufig die eigentliche Wertung vor. Dazu bedarf es aber eines Verständnisses dafür, was die Qualität eines studentischen Lösungsvorschlages ausmacht, der nicht ganzheitlich der Lösung des Klausurstellers folgt. Ein Korrektor sollte somit vertiefte Fachkenntnisse im abgeprüften juristischen Gebiet mitbringen. Er braucht aber auch didaktische Kenntnisse über die Qualitätsmerkmale einer Klausur und einer Korrektur. Deshalb ist eine Schulung für Korrektoren angebracht und gemäß der Passauer Untersuchung von den Korrektoren auch gewünscht.

Die Forschung von Kramer und Hauser weist aber auch auf das Problem des Zeitaufwandes hin. Qualitativ hochwertige Korrekturen erfordern nebst der eigentlichen Korrekturarbeit auch Vor- und Nacharbeit, etwa indem der Klausursteller die Korrektoren einführt oder sich Korrektoren, welche die gleiche Prüfung korrigieren, unter einander absprechen. Häufig treten Fragen und Probleme erst während der Korrekturarbeit zu Tage, was ein nachmaliges Abstimmen unter den Korrektoren oder eine Nachfrage an den Klausursteller erfordert. Leider setzen die heute vielerorts üblichen tiefen Akkordlohnansätze keine Anreize, die Korrekturen mit der notwendigen zeitintensiven Sorgfalt auszuführen.

In der anschließenden Diskussion kam zudem auf, dass es um hochwertige Korrekturen zu gewährleisten einer Qualitätskontrolle bedarf. So könnte etwa der Prüfer einen gewissen Anteil Klausuren aus allen Bereichen des Notenspektrums gegenkorrigieren. Dies wäre zudem auch eine Variante das Prüfungsergebnis an die Prüfung rückzukoppeln. Dieses Beispiel zeigt auch, dass der Einsatz von Korrektoren, soll er didaktisch sinnvoll sein, die Klausursteller zwar teilweise entlasten kann, aber dennoch deren Einbindung in die Korrekturarbeit erfordert.

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Korrektoren zweifellos verlässliche Korrekturen leisten können. Dazu bedarf es allerdings eines entsprechenden zeitlichen und auch finanziellen Aufwandes. Auf alle Fälle sollte der Einsatz von Korrektoren nicht nur aus ökonomischer und institutioneller, sondern auch aus didaktischer Perspektive näher betrachtet werden.

(Lukas Musumeci)

 

Der Themenblock 4 widmete sich dem Thema »Prüfungen im europäischen Vergleich«. Dieser bestand einerseits in einem Referat der Herren Dr. Oliver Knöfel und Dr. Sebastian Mock, LL.M. von der Universität Hamburg mit dem Titel »Juristische Prüfungen in Europa – eine rechtsvergleichende Tour d’horizon«. Darin stellten die beiden Referenten anschaulich dar, welch unterschiedliche Konzeptionen dem juristischen Prüfungswesen in den europäischen Ländern zugrunde liegen. Gemeinsamkeiten sind kaum auszumachen. Es bleibt einzig die Feststellung, dass allgemein der Fokus stark auf schriftlichen Klausuren liegt. Große Unterschiede hingegen bestehen beispielsweise in der Frage der Einheitlichkeit der Prüfungen zwischen denjenigen Staaten, in welchen die Prüfungen direkt von den staatlichen Ämtern durchgeführt wird wie dies in Deutschland der Fall ist, und denjenigen, in welchen die einzelnen (staatlichen) Universitäten für die Ausgestaltung und die Durchführung von Prüfungen verantwortlich zeichnen, was zu einer relativ umfassenden Lehr- und Prüfungsautonomie der einzelnen Hochschulen führt. Ein solches Modell kennen neben der Schweiz auch beispielsweise Italien und weitere südeuropäischen Staaten. Sehr illustrativ zeigten die beiden Referenten am Beispiel von Finnland auf, welch unterschiedliche Herausforderungen sich an das Prüfungswesen in Ländern stellen, in welchen eine Eintrittsprüfung zur Aufnahme ins Jura-Studium besteht. In Finnland liegt die Durchfallquote bei diesen Numerus clausus Prüfungen bei rund 90% (!). Dadurch entfällt in Finnland de facto die andernorts umstrittene und heiß diskutierte Notwendigkeit der Selektion während des Studiums (Stichwort »wegprüfen«) und auch findet kaum ein Verdrängungswettbewerb unter den Studienabgängern statt, da aufgrund ihrer relativ geringen Anzahl keine Gefahr eines übersättigten Markts besteht.

Einen eigentlichen Höhepunkt dieser Tagung bildete für mich das Referat von Herrn Prof. Dr. Rolf Sethe, LL.M. von der Universität Zürich zum Thema »Vom Staatsexamen/Lizenziat zur Modulprüfung – Erste Erfahrungen mit juristischen Prüfungen im Bologna-System« in welchem Herr Sethe in einer an analytischer Schärfe kaum zu überbietenden Klarheit am Beispiel der Universität Zürich die massiven Auswirkungen der Bologna-Reform an den juristischen Fakultäten der Schweizer Universitäten aufzeigte: So stieg durch die Umsetzung der Bologna-Reform die Anzahl Prüfungsleistungen an der Juristischen Fakultät der Universität Zürich um den Faktor 5 (!). In fast jedem Semester ein oder mehrere Prüfungen absolvieren zu müssen ist durch die Bologna-Umsetzung zum Alltag eines jeden Schweizer Jura-Studierenden geworden, was den in der Schweiz bislang üblichen Nebenerwerb von Studierenden erschwert oder zu einer Studienzeitverlängerung führen kann. Eines der Ziele der Bologna-Reform an den Schweizer Universitäten war jedoch eine Verkürzung der Regelstudienzeit.

Eine weitere Auffälligkeit der Bologna-Umsetzung liegt in der sogenannten Noteninflation: So verzehnfachte (!) sich die Anzahl der vorzüglichen Abschlüsse (Gesamtnotendurchschnitt von über 5,5 auf einer Skala von 1-6 mit 6 als bester Note) im Masterabschluss im Vergleich zum früheren Lizentiatsabschluss. Dies führt zu einer viel geringeren Aussagekraft der Master-Prädikate für die zukünftigen Arbeitgeber. Die bisherige Erfahrung zeigt, dass die potentiellen Arbeitgeber als Konsequenz davon in ihren Beurteilungen den Bachelornoten eine größere Relevanz beimessen, da dort eine geringere Noteninflation zu beobachten ist. Die Krux dabei liegt jedoch wiederum darin, dass diese Prüfungsleistungen rund zwei Jahre vor dem Studienabschluss erzielt wurden und dadurch keine verlässlichen Angaben über die nachfolgende Entwicklung der Studierenden miteinbezogen werden können. Herr Sethe führte den Tagungsteilnehmenden sehr anschaulich vor Augen, welche indirekten Konsequenzen eine solche Noteninflation hat: Weitere, sachfremde Faktoren wie die soziale Herkunft oder das Geschlecht gewinnen bei den Einstellungsentscheiden der Arbeitgeber an Bedeutung und ein sozialer Aufstieg durch das Jura-Studium wird noch schwieriger, da Absolvierende aus Bildungshaushalten sich noch leichter durchsetzen als bisher. Solche Tendenzen können meiner Auffassung nach nicht im Interesse einer modernen Hochschulpolitik liegen.

Herrn Sethes erhellende Ausführungen befeuerten eine lebhafte Diskussion über Sinn und Unsinn der Bologna-Reform im Anschluss an sein Referat, welche im darauf folgenden Workshop ihre Fortsetzung fand. Weitgehend einig war man sich in der Feststellung, dass eine qualitativ erfolgreiche Umsetzung der Bologna-Reform ohne eine Erhöhung der von der Politik dafür bereit gestellten Mittel nicht gelingen kann. Mein persönliches Fazit: Ob die Prämisse »Hände weg von Bologna« der richtige Weg ist oder ob die oben beschriebenen Probleme ihre Ursachen nicht eher in der Umsetzung des Systems »Bologna« haben als im System an sich bleibt eine unbeantwortete Frage, über welche hoffentlich auch über diese Konferenz hinaus dies- und jenseits des Rheins fundiert debattiert wird.

(Claudio Marti)

 

Im Themenblock 6: Prüfungsforschung trug Frau Jun.-Prof. Dr. Stefanie Kemme von der Universität Hamburg unter dem Titel »Am Lernergebnis orientierter Lehr-Lernprozess« Ergebnisse einer quasiexperimentellen Untersuchung zum Erwerb juristischer Methodenkompetenz vor.

Im Zusammenhang ihrer Vorlesung zum Strafrecht BT versuchte Frau Kemme herauszufinden, ob sich durch die veränderte, kompetenzorientierte Gestaltung von Arbeitsgemeinschaften (AGs) zu dieser Vorlesung bessere Klausurergebnisse seitens der Studierenden erzielen ließen. So wurde die Hälfte der entsprechenden AGs nicht nach dem bekannten »Wir lösen einen Fall«-Vorgehen unterrichtet, bei dem der/die AG-Leiter/in – im besten Fall im Frage-Antwort-Spiel mit den Studierenden, im Extremfall in Form des Frontalunterrichts – jede Stunde einen Fall mit den Studierenden löst. Stattdessen erhielt jede AG die Aufgabe, sich selbst einen klausurmäßigen Fall auszudenken. In der Gestaltung des Sachverhaltes waren die Studierenden jedoch nicht gänzlich frei, sondern erhielten Vorgaben darüber, welche juristischen Probleme in den Fall einzuarbeiten waren. Die ausgearbeiteten Sachverhalte wurden dann jeweils an andere AGs weitergeleitet und dort gelöst. Anschließend erfolgte eine Rückleitung an die AG, die den Fall erstellt hatte. Diese staunte mitunter nicht schlecht, welche von ihr nicht vorhergesehenen Probleme noch in ihrem Fall drin steckten bzw. wie sehr die Lösung von der beabsichtigten abwich. Diese Erkenntnisse flossen dann in eine abschließende Überarbeitung der Ausgangsfälle ein.

Zunächst möchte ich an dieser Stelle Frau Kemme meinen Respekt dafür zollen, dass sie nicht nur »einfach mal versucht« hat, ihre AGs anders zu gestalten (auch wenn ihr allein dafür schon Respekt gebührt). Frau Kemme hat dieses Experiment zudem im Rahmen einer kleinen Studie durch Erhebung eines umfangreichen Datensatzes wissenschaftlich ausgewertet und auf eine Reihe von Korrelationen hin untersucht. Erfreulicherweise ließ sich dabei ein positiver (wenn auch schwacher) Effekt der kompetenzorientiert gestalteten AGs auf die Prüfungsleistung der Studierenden feststellen. An dieser Stelle wird es sich also sicher lohnen weiterzuforschen. Ein interessantes Nebenergebnis war die Feststellung, dass die Motivation der Studierenden sich auf ihre Prüfungsleistung kaum auswirkte. Dieses Ergebnis überrascht, da es im Gegensatz zu weit verbreiteten Annahmen der Hochschuldidaktik steht. Es sollte sicherlich ebenfalls weiter hinterfragt werden.

Es war jedoch ein anderer Faktor, welcher zur größten Diskussion im Anschluss an den Vortrag Anlass gab: Den mit Abstand stärksten Prädiktor für die Prüfungsleistung stellt gemäß Frau Kemmes Studie die Abiturnote der Studierenden dar. Dieser Befund wirft gleich eine Reihe von Fragen auf: Welche Faktoren bestimmen überhaupt den Erfolg in juristischen Klausuren bzw. im Jurastudium als Ganzem? Sind es dieselben wie im Abitur? Perpetuiert das Jurastudium letztlich nur die Undurchlässigkeit des Bildungssystems? Ketzerisch ließe sich auch fragen: Warum sollten wir uns über juristische Lehre überhaupt den Kopf zerbrechen, wenn aus »guten« Abiturient/innen ohnehin – und gleichsam automatisch – »gute« Absolvent/innen werden? Genau hier jedoch setzt in meinen Augen unser Auftrag als Lehrende an. Zum einen ist es dringend an der Zeit – dies war auch an der Hamburger Tagung ein wiederkehrendes Petitum –, dass wir als juristische Fakultäten uns darüber vergewissern, was unsere Absolvent/innen können und was wir dementsprechend lehren und prüfen sollen. Zum anderen sollten wir uns die Frage stellen, wie wir die Lehre verändern können, um möglichst gute Jurist/innen auszubilden,[4] und zwar unabhängig davon, ob diese bereits als gute Abiturient/innen zu uns kommen oder nicht. Nicht nur, aber auch gerade vor dem Hintergrund steigender Abiturientenzahlen sowie verkürzter Gymnasialzeiten gehört hierzu meines Erachtens insbesondere auch die Frage, ob wir als Dozierende voraussetzen können, dass Studienanfänger/innen in der Lage sind selbstbestimmt zu lernen oder ob nicht auch Studieren gelernt sein will.

Frau Kemmes Beitrag war als Anstoß zu dieser Diskussion in Hamburg sehr willkommen und wird hoffentlich zu weiteren Studien auf diesem Gebiet führen.

(Mareike Schmidt)


[1] Siehe dazu John Biggs, Enhancing teaching through constructive alignment, Higher Education 32 (1996) 347-364.

[2] Dieses Problem stellt sich auch dann, wenn der Lehrende nicht der Prüfende ist.

[3] Siehe dazu auch Christian Metzger/Charlotte Nüesch, Fair Püfen: Ein Qualitätsleitfaden für Prüfende an Hochschulen, St. Gallen 2004. Darin insbesondere zur Korrektur S. 90-100.

[4] Wie viel gute Noten in den Klausuren während des Studiums bzw. in den Staatsexamina über die Qualität eines Juristen bzw. einer Juristin aussagen, sei an dieser Stelle dahingestellt. Gerade im Zusammenhang mit unserem Absolventenprofil scheint es jedoch zwingend, dieser Frage nachzugehen.

Ähnliche Themen

Was stimmt nicht mit dem Urheberrecht?

Mit dem Urheberrecht stimmt etwas nicht. Das zeigt die intensive Debatte, die bis in den politischen Raum ausgreift.
Der Wutausbruch des Sängers Sven Regener auf Youtube hat Schule gemacht. Ein »offener Brief von 51 Tatort-Autoren«, den diese am 29. 3. 2012 auf der Seite des Verbandes Deutscher Drehbuchautoren ins Netz gestellt haben, hat eine hübsche Kontroverse ausgelöst. Die Autoren heben ihre Urheberrechte auf Verfassungsebene und verlangen von der Netzgemeinde, sich von allerhand Lebenslügen zu verabschieden. Die erste sehen sie in der »demagogischen Suggestion«, es gebe keinen freien Zugang mehr zu Kunst und Kultur; die zweite in der »demagogischen Gleichsetzung von frei und kostenfrei« und die dritte darin, dass die Verwertungsindustrie zum großen Übeltäter erklärt werde, der zur Kasse gebeten werden müsse.
Für die Adressaten (»Liebe Grüne, liebe Piraten, liebe Linke, liebe Netzgemeinde!«) haben noch am gleichen Tag 51 Hacker des Chaos Computer Club den »lieben Tatort-Drehbuchschreibern« erwidert. Ihre Antwort kam nicht nur blitzeschnell, sondern war vergleichsweise auch sehr sachlich. »Auch wir sind Urheber, sogar Berufsurheber, um genau zu sein.« Sie meinen, in erster Linie sollten Urheber sich von ihren Auftraggebern bezahlen lassen. Sie vermeiden es, darauf hinzuweisen, dass das Publikum, das eine milliardenschwere Zwangsabgabe an die Fernsehsender zahlt, vielleicht erwartet, die Tatort-Autoren (und alle anderen Fernsehschaffenden) würden von daher ausreichend bezahlt. In der Tat sehen die Hacker ein Problem bei der Verwertungsindustrie unter Einschluss der Verwertungsgesellschaften. Sie wollen die aber nicht einfach zur Kasse bitten, sondern werfen ihr vor, dass sie sich keine Mühe gebe, die geschützten Werke über die längst verfügbaren Bezahlmodelle zu angemessenen Konditionen anzubieten, sondern sich auf massenhafte Abmahnungen versteife.
Der Briefwechsel hat im Netz viele Kommentare ausgelöst. Im Feuilleton der Heimlichen Juristenzeitung vom 4. April hat sich Reinhart Müller eingemischt. Er schreibt: »51 ›Tatort‹-Autoren beklagen die Vernichtung ihrer Rechte im Internet, 51 Hacker halten dagegen – womit? Mit Ignoranz!« Der Artikel ist nur larmoyant. Er beschwört – und verschleißt damit – Menschenrechte, geht aber nicht auf die Argumente der Hacker ein, und rückt am Ende die rechtswidrige Kopie in die Nähe des Plagiats. Plagiat und unberechtigter Kopie (Raubdruck usw.) gehören nicht in einen Topf. Ein Plagiat leugnet die Urheberschaft des Schöpfers und verweigert ihm damit die verdiente Anerkennung. Das Urheberrecht schützt nicht die Idee, sondern nur seine Materialisierung. Anders als das Plagiat leugnet eine Raubkopie nicht die Urheberschaft des Schöpfers. Bei der Raubkopie geht es allein um die wirtschaftliche Komponente des Urheberrechts. Im Übrigen ist Ignoranz die beste Voraussetzung zum Querdenken, das doch sonst so angesehen ist.
Vielen Internetnutzern geht es in der Tat nur um kostenlosen Konsum geschützter und gegen Entgelt angebotener Inhalte. Aber fair use ist nicht bloß ein Rechtsbegriff. Der Fairnessgedanke steckt so tief in allen Menschen, dass die User wohl bereit wären, faire Entgelte zu zahlen. Sie finden sich jedoch unfair behandelt, weil sie das Gefühl haben, für die Urheberrechte doppelt und dreifach zu Kasse gebeten zu werden. Urheberabgaben auf Kopierer, Scanner, Faxgeräte, Drucker und Computer und für Computer nun auch noch zusätzlich Rundfunkgebühren – da kann tatsächlich der Eindruck entstehen, dass man zum Ausgleich frei herunterladen, speichern und kopieren dürfe. Wo auch immer man sich im Internet bewegt (und selbst im öffentlich-rechtlichen Fernsehen) muss man Werbung erdulden. Da kann man doch glauben, dass damit die Inhalte hinreichend bezahlt seien. Über das fehlende Unrechtsbewusstsein darf man sich jedenfalls nicht wundern. Nach der Vorstellung des Publikums gehören vermutlich jede Art der Privatkopie und auch der private Austausch zum fair use. Daher wird jeder Versuch, digitale Privatkopien zu verbieten, genauso scheitern wie der Krieg gegen die Drogen.
Fraglos muss es ein Urheberrecht geben, das den Kreativen Anerkennung und Lebensunterhalt sichert. Auch die Piraten-Partei verlangt keine Abschaffung deds Urheberrechts, sondern nur die Freistellung nichtkommerzieller Kopien. [1]Vgl. das Parteiprogramm. Aber der Schutz geht zu weit.
Der Schutz des Urheberrechts ist von keinen Qualitätsanforderungen abhängig. So werden viele Trivialitäten geschützt. Ein schlimmer und unverständlicher Exzess ist etwa der Schutz jedes Amateurfotos. Da gibt es natürlich ein Problem. Wer soll die Qualität beurteilen? Hier kommt nur eine indirekte Lösung in Betracht, insbesondere eine Registrierung, wie sie ja in manchen Ländern praktiziert wird. Vielleicht genügt sogar eine Selbstdeklaration.
Der individualistische Urheberbegriff ist problematisch geworden. Alle anspruchsvolleren Werke beruhen auf Gemeinschaftsarbeit. Sie wird in den spärlichen Danksagungen der Vorworte nicht ausreichend gewürdigt. Einen besseren Eindruck gibt der Abspann mancher amerikanischer Filme. Aber die organisierte Zusammenarbeit ist nur die halbe Miete. Jedenfalls in der Unterhaltungsindustrie, in der Kunst und in den Geisteswissenschaften leben alle mehr oder weniger von den Vorleistungen anderer. Schlimme Plagiatoren sind insoweit Journalisten, die selten oder nie ihre Quellen angeben. Da ist es kein Wunder, dass es im Urheberrecht kaum noch oder gar nicht mehr um Anerkennung und Schutz der Urheberpersönlichkeit geht, sondern um kaltes Geschäft. Ein Unterschied zum Finanzmarkt besteht immerhin darin, dass es den Usern leichter gelingt, auf fremde Konten zuzugreifen.
Die Dauer des Urheberrechts ist mit 70 Jahren über den Tod des Urhebers hinaus viel zu lang. Patente erlöschen, und zwar auch schon zu Lebzeiten des Erfinders, nach 20 Jahren. Es lässt sich darüber streiten, ob das Urheberrecht enger mit der Person des Schöpfers verbunden ist als das Patent mit der Person des Erfinders. Hier wirkt vermutlich die Genieästhetik nach (die ich sehr schätze). Aber ein Schutz bis zum Tode des Autors, mindestens jedoch 20 Jahre, müsste genügen.
Die Perpetuierung des Urheberrechts wird dadurch verstärkt, dass bloße Bearbeitungen fremder Werke ihrerseits Urheberrechtsschutz genießen. Das ist unangemessen, insbesondere dann, wenn die Bearbeitung eine vertretbare Leistung ist, etwa eine neue Edition an Hand zusätzlicher Quellen, die auch von anderen Kundigen geleistet werden könnte. [2]Dafür werde ich, wenn überhaupt jemand diese Sätze liest, Prügel beziehen. Ich werde mich wehren. Für Editionen, die die Vorleistung eines anderen einschließen, sollte es vielleicht ein 3%-Urheberrecht geben (das sich natürlich nicht realisieren lässt). Nach § 70 UrheberrechtsG gilt allerdings eine verkürzte Schutzfrist von 25 Jahren nach dem Erscheinen der Bearbeitung.
Es trifft sich, dass die Heimliche Juristenzeitung gleichfalls am 4. April 2012 einen Artikel des Heidelberger Germanisten Roland Reuß [3]Privater Reichtum durch philologische Kafka-Editionen? , S. N5, im Internet nur gegen Entgelt zugänglich. abdruckt, der Ende März Strafanzeige wegen der Verbreitung von Raubkopien zweier Bände aus der von ihm besorgten Kafka-Edition [4]Peter Staengle Historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte, Stroemfeld Verlag Frankfurt, Peter Staengle. Originalpreis: 128 Euro. Bei Amazon wurden anscheinend … Continue reading erstattet hatte. Die Nachricht über die Strafanzeige [5]Darüber berichtete auch die FAZ am 29. 3. 2012 mit einem Artikel von Felicitas von Lovenberg unter der Überschrift »Hehlerei von geistigem Eigentum. im Börsenblatt des Deutschen Buchhandels vom 29. 3. 2012 hatte bis zum 4. 4. im Internet 37 Kommentare auf sich gezogen. Besonders empört zeigt Reuß sich über einen Kommentar, in dem es heißt:
»Ohne das Verhalten von Amazon und Nabu Press gutheißen zu wollen: Da ist ein Professor für neuere deutsche Literaturwissenschaft in Heidelberg und erhält seine Bezüge von uns Steuerzahlern. Teil seiner wissenschaftlichen Arbeit ist die Kommentierung von Kafka, für die er durch den Steuerzahler entlohnt wurde. Nun nimmt er sich das Recht heraus und publiziert diese in einem Verlag. Dieser Verlag hat kaum Kosten, da der Steuerzahler bereits die Kosten der wissenschaftlichen Bibliothek, das Arbeitszimmer, inkl. Einrichtung und vor allem die monatlichen Bezüge von Herrn Reuß übernommen hat.«
Reuß beschimpft die Kommentarspalten der Internetseiten als »angeblich so basisdemokratische Art, unter Pseudonym ›die Sau rauslassen zu können‹ «. Doch anstatt auf die Meinung der Kommentatorin einzugehen [6]Sie hatte ihren Namen genannt. Ich kann nicht erkennen, dass es sich um ein Pseudonym handelt., dass aus Steuermitteln bezahlte Wissenschaftler den Ertrag ihrer Arbeit doch eigentlich frei zugänglich machen müssten – eine Ansicht, mit der der Kommentar nicht alleine steht – erklärt Reuß, dass er die Arbeit für die Kafka-Edition als selbstfinanzierte Nebentätigkeit im häuslichen Arbeitszimmer erledigt habe. Da ist Mitleid angezeigt. Davon abgesehen: Die Forderung nach Open Access für wissenschaftliche Veröffentlichungen stützt sich in erster Linie nicht auf die Finanzierungsform, sondern auf den öffentlichen Charakter der Wissenschaft und ist damit eines Frage des wissenschaftlichen Ethos. [7]Gerhard Fröhlich, Die Wissenschaftstheorie fordert Open Access (am 12. 9. 2009 auf Telepolis).
Eine andere Perpetuierung des Urheberrechts, die immer wieder auf Unverständnis stößt, ist der Schutz für bloße bildliche Reproduktion eines an sich schon gemeinfreien Werkes. Ich halte es hier mit Wikimedia Commons, die in Anlehnung an das New Yorker Urteil Bridgeman Art Library v. Corel Corp. (1999) davon ausgehen, dass jede auf Originaltreue angelegte Reproduktion eines gemeinfreien zweidimensionalen Werks ihrerseits gemeinfrei ist.
Das Urheberrecht in seiner gegenwärtigen Gestalt hat seine Legitimation verloren.

Nachtrag Juni 2012:
Manchmal merke ich selbst nicht gleich, wie nahe die Dinge beieinander liegen. Die Blogsoftware von WordPress verweist automatisch am Ende eines Eintrags auf »ähnliche Artikel«. Das System, nachdem diese Verweisungen funktionieren, ist mir nicht klar. So hätte bei diesem Eintrag eigentlich auch auf Rechtssoziologisches zum Urheberrecht? verwiesen werden müssen. Verwiesen wird immerhin auf den Eintrag vom 12. Mai 2011 Das Urheberrecht ist nicht komisch: Bound by Law. Dabei ist mir selbst eine wichtige Verknüpfung zunächst nicht aufgefallen. In jenem Eintrag ging es eigentlich um Keith Aoki. Aber als sein Mitautor wurde auch James Boyle genannt.
James Boyle ist ein wichtiger Theoretiker und Praktiker der kulturellen Allmende. Bisher hatte ich ihn nur als Praktiker zur Kenntnis genommen und als solchen in dem Eintrag über Keith Aoki erwähnt. Erwähnung verdient er aber auch als Theoretiker der Urheberrechtsdebatte. Er prägte er den Begriff des Second Enclosure Movement [8]James Boyle, The Second Enclosure Movement and the Construction of the Public Domain, Law and Contemporary Problems 66, 2003, 32-74. Gemeint war die schleichende Ausweitung der Immaterialgüterrechte, sei es der Patentrechte auf das menschliche Genom, auf Naturstoffe, biologische Prozesse und traditionelle Rezepte, sei des Urheberrechts durch Ausweitung des Umfangs und Ausdehnung auf Ideen, Software und Daten. »Second« Enclosure deshalb, weil Boyle diese Ausweitung des geistigen Eigentums mit Auflösung der Allemenden im 18. und 19. Jahrhundert und ihrer Überführung in Privateigentum (enclosure of the commons) verglich.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Vgl. das Parteiprogramm.
2 Dafür werde ich, wenn überhaupt jemand diese Sätze liest, Prügel beziehen. Ich werde mich wehren.
3 Privater Reichtum durch philologische Kafka-Editionen? , S. N5, im Internet nur gegen Entgelt zugänglich.
4 Peter Staengle Historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte, Stroemfeld Verlag Frankfurt, Peter Staengle. Originalpreis: 128 Euro. Bei Amazon wurden anscheinend Raubdrucke für unter 20 Euro angeboten. Das ist sicher unerhört, aber nach meiner Vorstellung weniger wegen eines Urheberrechtsverstoßes als nach dem UWG wegen der gewerblichen Ausnutzung einer fremden Vorleistung.
5 Darüber berichtete auch die FAZ am 29. 3. 2012 mit einem Artikel von Felicitas von Lovenberg unter der Überschrift »Hehlerei von geistigem Eigentum.
6 Sie hatte ihren Namen genannt. Ich kann nicht erkennen, dass es sich um ein Pseudonym handelt.
7 Gerhard Fröhlich, Die Wissenschaftstheorie fordert Open Access (am 12. 9. 2009 auf Telepolis).
8 James Boyle, The Second Enclosure Movement and the Construction of the Public Domain, Law and Contemporary Problems 66, 2003, 32-74.

Ähnliche Themen

Nachträge zu älteren Postings

Heute habe ich wieder verschiedene Nachträge zu älteren Postings geschrieben. Die Leser meines Blogs werden die alten Einträge kaum nach solchen Ergänzungen durchforsten. Andererseits würde das Blog künstlich aufgebläht, wenn aus jedem Nachtrag ein selbständiger Eintrag würde. Daher werde ich in Zukunft gelegentlich eine kleine Sammlung von Nachträgen posten, diesen Eintrag dann aber nach etwa einem Monat wieder löschen. Die Nachträge als solche bleiben erhalten. Sonst werden grundsätzlich keine Einträge gelöscht.
Hier also die Nachträge aus den letzten Tagen:

Zu »Lawfare«
Nachtrag vom 5. April 2012: In der Heimlichen Juristenzeitung berichtet Katja Gelinsky heute unter der Überschrift »Recht ohne Grenzen« über den aktuellen Stand der Kontroverse über die Reichweite des Alien Tort Claims Act in den USA. Der Artikel ist nur im kostenpflichtigen Archiv der Zeitung zugänglich. Nähere Informationen findet man auf Scotus-Blog. Auch die zahlreichen Amicus-Briefs sind verlinkt, darunter auch derjenige, mit dem sich die deutsche Bundesregierung gegen die extraterritoriale Anwendung des Gesetzes wendet.

Zu »Herstellung und Darstellung juristischer Entscheidungen«
Nachtrag vom 5. April 2012: Als Beiheft 44 der Zeitschrift für Historische Forschung, hg. von Barbara Stollberg-Rilinger und André Krischer, ist 2010 ein Tagungsband »Herstellung und Darstellung von Entscheidungen, Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne« erschienen. Auf HSozKult gibt es einen Tagungsbericht von Andreas Pecar und eine Rezension von Hanna Sonkajärvi. Ich habe den Band noch nicht in der Hand gehabt. Nach den Berichten zu urteilen, handelt es sich um das übliche Wiederkäuen etablierter rechtssoziologischer Themen und dem kulturwissenschaftlichen Label. Die Differenz von Herstellung und Darstellung, die mein Thema war, wird in dem Band anscheinend nicht behandelt.

Zu »In eigener Sache IX: Wissenschaftsblogging wird domestiziert«
Nachtrag vom 5. April 2012: Nun gibt es bei HSozKult einen wirklich informativen Tagungsbericht von Christof Schöch.
Nachtrag vom 28. März 2012: Hier noch etwas ausführlicher die Links zu der Münchener Tagung und zu den dort gehaltenen Vorträgen, die zum Teil mit Podcasts und Vodcasts verbunden sind:
Programm und Ankündigung der Tagung »Weblogs in den Geisteswissenschaften«
Klaus Graf: Wissenschaftsbloggen in Archivalia & Co. Schriftliche Fassung des Beitrags
Eröffnungsvortrag von Mareike König.
Darin bezieht sich Frau König auf folgende Veröffentlichungen:
Anita Bader, Gerd Fritz und Thomas Gloning, Digitale Wissenschaftskommunikation 2010-2011: Eine Online Befragung, Justus-Liebig-Universität 2012, S. 12, 67, 71, 72
Klaus Graf, Mareike König: Entwicklungsfähige Blogosphäre – ein Blick auf deutschsprachige Geschichtsblogs, 2011
Alle Vorträge sollen online im iTunes-Canal der LMU frei zugänglich sein. Ich habe sie mir nicht angetan.
An Stelle einer Blogroll gibt es den Verweis auf einen »Katalog«, der immerhin 354 Blogs aus 16 Ländern, darunter fünf deutsche, verzeichnet. Ich habe keinen gefunden, der für meine Blogroll von Interesse sein könnte.

Ähnliche Themen

Zu Legalisierung von Cannabis II: Steht die zweite Prohibition vor dem Aus?

Im Juni 2011 erschien der Bericht einer »Weltkommission für Drogenpolitik« mit dem Titel »Krieg gegen die Drogen«. Er beginnt dramatisch mit der Feststellung:

Der weltweite Krieg gegen die Drogen ist gescheitert, mit verheerenden Folgen für die Menschen und Gesellschaften rund um den Globus.

und schlägt vor:

Der Kriminalisierung, Ausgrenzung und Stigmatisierung von Menschen, die Drogen konsumieren, aber anderen keinen Schaden zufügen, ein Ende setzen. Die verbreiteten falschen Vorstellungen über Drogenmärkte, Drogenkonsum und Drogenabhängigkeit in Frage stellen, statt sie zu bekräftigen.

Wer die Kommission eingesetzt hat, ist mir weder aus dem Bericht noch aus ihrer Webseite richtig klar geworden. Aber die Mitglieder sind so prominent, dass ihr Wort Gewicht hat. Irgendwann sind zu einem Thema mehr oder weniger alle Argumente ausgetauscht. Dann können nur noch soziale Bewegungen oder Autoritäten die Dinge im politischen Raum vorantreiben. Die Mitglieder der Kommission verfügen über so viel Autorität, dass die Dinge in Bewegung kommen könnten, nicht zuletzt, weil viele von ihnen aus dem konservativen Lager kommen, das den von Präsident Nixon vor 40 Jahren ausgerufenen War on Drugs als moralischen Kreuzzug versteht. Mitglieder der Kommission sind u. a. die früheren Präsidenten von Brasilien und Mexico, Fernando Henrique Cardoso und Ernesto Zedillo, aus der Ära Ronald Reagans der Außenminister George Shultz und der Chairman des Federal Reserve System Paul Volcker, der frühere Generalsekretär der UN, Kofi Annan, und der Schriftsteller Mario Vargas Llosa.
Anlass zu diesem Posting ist ein kurzer Artikel in der »Time« vom 2. April 2012 [1]Fareed Zakaria, Incarceration nation. The war on drugs succeded only in putting Millions of Americans in jail., der darauf aufmerksam macht, dass die extreme Zahl der verhängten und vollstreckten Haftstrafen in erster Linie auf Drogendelikte (und die dafür verhängten Mindeststrafen) zurückgeht. In den USA beträgt die Quote der Strafgefangenen 760 auf 100.000 Einwohner. In Deutschland sind es 90. [2]Die World Prison Population List des King College London, International Centre for Prison Sudies, nennt etwas abweichende Zahlen, nämlich für die USA für 743 (2009) und für Deutschland 85 (2010). Inzwischen entwickelt die teilweise privatisierte Gefängnisindustrie in den USA insofern eine Eigendynamik, als sie zur Methode der Wirtschaftsförderung in unterentwickelten Landstrichen geworden ist. Vielleicht kommt aus dieser Ecke jetzt ein hartnäckigerer Widerstand gegen die Liberalisierung des Drogenkonsums als von der Front der Moralapostel. Diesen Punkt hat schon vor vielen Jahren Nils Christie in »Crime Control as Industry« (3. Aufl. 2000) aufgespießt.
Natürlich ist die Problematik der Masseninhaftierung in den USA längst zum Thema geworden. Aber darüber kann ich nicht kompetent berichten. Hier nur einige Literaturhinweise, die ich noch nicht alle ausgewertet habe:
Loïc Wacquant, Von der Sklaverei zur Masseneinkerkerung. Zur »Rassenfrage« in den Vereinigten Staaten, Das Argument Nr. 294 vom 20. 1. 2004, teilweise unter http://www.linksnet.de/de/artikel/18600.
Marie Gottschalk, The Prison and the Gallows: The Politics of Mass Incarceration in America, Cambridge University Press 2006 (Rez. von Joseph F. Spillane, Law & Society Review 41, 2007, 936-937);
Mary Bosworth, Explaining U. S. Imprisonment, Sage Publications, 2010;
Jonathan Simon, Governing Through Crime: How the War on Crime Transformed American Democracy and Created a Culture of Fear, Oxford Univ. Press, 2009;
Bernard E. Harcourt, On the American Paradox of Laissez Faire and Mass Incarceration; University of Chicago Institute for Law & Economics Olin Research Paper No. 590; U of Chicago, Public Law Working Paper No. 376 (2012), verfügbar bei SSRN: http://ssrn.com/abstract=2020659. Es handelt sich um die Ewiderung auf eine Rezension eines eigenen Buches, das an sich mit dem Thema nicht direkt etwas zu tun hat. Harcourt wendet sich u. a. gegen den Vorwurf der »Foucaultphilie«. Den Ausdruck kannte ich noch nicht.
Nachtrag Juni 2012:
Nachzutragen ist ein Hinweis auf Gary S. Becker/Kevin M. Murphy/Michael Grossman, The Economic Theory of Illegal Goods: The Case of Drugs, 2004 (NBER Working Paper 10976: http://www.nber.org/papers/w10976). Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass eine Legalisierung weicher Drogen verbunden mit einer hohen Besteuerung wirksamer ist als die strafrechtliche Verfolgung, auch wenn es natürlich Versuche geben werde, die Steuer zu vermeiden. Langsam schwenken auch die Medien auf den Legalisierungskurs ein, so ein großer Artikel von Claudius Seidl und Harald Staun in der FamS vom 29. 4. 2012 (»Machen wir Frieden mit den Drogen«).

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Fareed Zakaria, Incarceration nation. The war on drugs succeded only in putting Millions of Americans in jail.
2 Die World Prison Population List des King College London, International Centre for Prison Sudies, nennt etwas abweichende Zahlen, nämlich für die USA für 743 (2009) und für Deutschland 85 (2010).

Ähnliche Themen

In eigener Sache IX: Wissenschaftsblogging wird domestiziert

Da möchte man auf seine alten Tage noch Pirat werden. Anfang März gab es in München eine Tagung über »Weblogs in den Geisteswissenschaften«, veranstaltet vom Deutschen Historischen Institut Paris und dem Institut für Kunstgeschichte der LMU. Juristen und Soziologen als Blogger hatte man da anscheinend nicht auf der Rechnung. Aber das ist jetzt nicht mein Punkt. Was ich über diese Tagung in Zeitung und Netz gelesen habe, läuft auf eine Selbstkastration der Bloggerei hinaus. Aus vier Richtungen werden die Blogger in die Enge getrieben, nämlich erstens werden sie in die Unselbstständigkeit geführt, zweitens wird ihnen Zensur angedroht, drittens werden sie gewarnt, herkömmlichen Veröffentlichungen keine Konkurrenz zu machen, und viertens werden sie von Rechts wegen zur Ordnung gerufen. »Die Schattenseiten dieser Kommunikationsform sind allerdings auch offensichtlich«, heißt es in einem Tagungsbericht [1]von Alexander Grau, FAZ vom 14. 3. 2012, S. N 4.. Man hat sich anscheinend kräftig bemüht, die Schmuddelkinder ans Licht zu zerren.
1) Der Solo-Blogger ist suspekt. Kaum noch einer wagt es, auf eigene Faust zu bloggen. Anständige Blogger suchen sich eine institutionelle Rückendeckung oder Unterschlupf in einem Blogportal. Mindestens aber schließt man sich zu einem Gemeinschaftsblog zusammen. Die Wissenschaftsblogging wird organisiert. Als Organisator schon länger bekannt ist Marc Scheloske [2]In eigener Sache I: Über Wissenschaftsblogs.. Nun soll ein neues geisteswissenschaftliches Blogportal mit dem griffigen Namen »de.hypotheses.org« (und einem verwirrenden Layout) Ordnung schaffen. Wenn es sich nur um ein Blogportal handelte, wäre die Sache noch erträglich. Aber – so liest man: »Dieses Portal enthält Beiträge, die von der wissenschaftlichen Redaktion aus den deutschsprachigen Wissenschaftsblogs von Hypotheses.org ausgewählt wurden.« Berücksichtigt werden vermutlich nur Blogs, die man selbst hostet. Schon die Aufnahme in das Blogportal ist von einer Aufnahmeprüfung abhängig. Lockmittel ist kostenloses Hosting und technischer Support, finanziert anscheinend vor allem von der Gerda-Henkel-Stiftung. Das ist Verrat an der Blogging-Idee. Ein Weblog ist eigentlich ein Tagebuch, und das schreibt man persönlich, und zwar als Einzelner und nicht als Institution. Es ist heute eine der wenigen Möglichkeiten, sich als Individuum ohne Rücksichtnahme auf Institutionen und etablierte Fachgemeinschaften in einer Weise zu artikulieren, die jedenfalls potentiell von Jedermann wahrgenommen werden kann.
2) »Neben der harmlosen Tatsache, dass unendlich viel Belangloses kommuniziert wird, ermöglichen Weblogs die Verbreitung von Meinungen oder Informationen, die, freundlich formuliert, eher exzentrisch oder eskapistisch daher herkommen.« [3]Grau a. a. O. Das ist natürlich unerhört, und deshalb – so wird Cornelius Puschmann aus Berlin zitiert – müssten die Wissenschaftsblogs »einer Qualitätskontrolle unterliegen, institutionell anerkannt und forschungspolitisch angeregt sein«. Die wichtigste Qualität scheint allerdings die Quote zu sein. Daher gibt es vor allem Ratschläge, wie man mit seinem Blog Akzeptanz findet. Wichtiger als eine Qualitätskontrolle scheint mir eine Code of Conduct für das Wissenschaftsblogging zu sein, wie ich ihn im Eintrag vom 20. März 2011 gefordert habe.
3) Blogs bilden die Schmutzkonkurrenz zu den etablierten wissenschaftlichen Veröffentlichungsformen, insbesondere zu den Zeitschriften. Deshalb wird den Wissenschaftsbloggern (von Marc Scheloske) nahe gelegt, keine ernsthaften wissenschaftlichen Texte einzustellen, sondern sich subjektiv und fragmentarisch zu äußern.
4) Ohne erkennbaren Zusammenhang mit der Münchener Tagung wollen Karl-Heinz Ladeur und Tobias Gostomzyk [4]Der Schutz von Persönlichkeitsrechten gegen Meinungsäußerungen in Blogs, NJW 2012, 710-715. Weblogs juristisch an die Kette legen. Sie haben zwar nicht gerade die Wissenschaftsblogs im Blick, aber auch diese werden von ihrem Vorschlag betroffen, dass Serviceprovider gehalten sein sollen, Speicherplatz nur zur Verfügung zu stellen, wenn die Bewerber sich für äußerungsrechtliche Konflikte einer Schiedsvereinbarung unterwerfen.
Was folgt aus alledem? Blogger, wählt die Piratenpartei!
Hier noch etwas ausführlicher die Links zu der Münchener Tagung und zu den dort gehaltenen Vorträgen, die zum Teil mit Podcasts und Vodcasts verbunden sind:
Programm und Ankündigung der Tagung »Weblogs in den Geisteswissenschaften«
Klaus Graf: Wissenschaftsbloggen in Archivalia & Co. Schriftliche Fassung des Beitrags
Eröffnungsvortrag von Mareike König.
Darin bezieht sich Frau König auf folgende Veröffentlichungen:
Anita Bader, Gerd Fritz und Thomas Gloning, Digitale Wissenschaftskommunikation 2010-2011: Eine Online Befragung, Justus-Liebig-Universität 2012, S. 12, 67, 71, 72
Klaus Graf, Mareike König: Entwicklungsfähige Blogosphäre – ein Blick auf deutschsprachige Geschichtsblogs, 2011
Alle Vorträge sollen online im iTunes-Canal der LMU frei zugänglich sein. Ich habe sie mir nicht angetan.
An Stelle einer Blogroll gibt es den Verweis auf einen »Katalog«, der immerhin 354 Blogs aus 16 Ländern, darunter fünf deutsche, verzeichnet. Ich habe keinen gefunden, der für meine Blogroll von Interesse sein könnte.
(Der Eintrag wurde am 28. März 2012 ergänzt.)
Nachtrag vom 5. April 2012: Nun gibt es bei HSozKult einen wirklich informativen Tagungsbericht von Christof Schöch.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 von Alexander Grau, FAZ vom 14. 3. 2012, S. N 4.
2 In eigener Sache I: Über Wissenschaftsblogs.
3 Grau a. a. O.
4 Der Schutz von Persönlichkeitsrechten gegen Meinungsäußerungen in Blogs, NJW 2012, 710-715.

Ähnliche Themen

Postmoderne Methodenlehre II: Methodenkritik

Im Eintrag vom 14. 10 2008 hatte ich angekündigt, demnächst ein Vortragsmanuskript über Kripkoquinose und andere Krankheiten ins Netz zu stellen. Ich bin immer noch nicht dazu gekommen, obwohl ich jetzt gerne auf diese Vorarbeit für meine Auseinandersetzung mit der Postmodernen Methodenlehre verweisen würde. Auch heute langt es nur für einige Stichworte.
Postmoderne Rechtstheorie [1]Einen Überblick bietet Sonja Buckel/Ralph Christensen/Andreas Fischer-Lescano (Hg.), Neue Theorien des Rechts, 2006 (2. Aufl. 2010). baut auf einen fundamentalen Antifundamentalismus und auf radikalen Konstruktivismus, die beide aus der Wissenschaftstheorie in die Methodenlehre importiert werden. Sie knüpft bei Wittgenstein und Kripke, bei Quine und Davidson, bei Sellars und Brandom an. Sie tauscht Kant gegen Nietzsche und sucht sich ihre Kronzeugen in Frankreich: Foucault und Deleuze, Derrida und Lyotard. Oder sie übernimmt von Luhmann die autopoietische Version der Systemtheorie.
Postmoderne Rechtstheorie verabschiedet die Cartesianische Bewusstseinsphilosophie und mit ihr die klassischen Wahrheitstheorien, die Subjekt-Objekt-Trennung und den Dualismus von Sein und Sollen. Bei der Beobachtung der Welt stößt sie auf blinde Flecken, irritierende Paradoxien und Iterativität im Sinne transformierender Wiederholung. Bei der Beobachtung des Rechts findet sie den Verlust etatistischer Einheit, Pluralisierung des Rechts, Fragmentierung der Gesellschaft und konfligierende Binnenrationalitäten oder Eigenlogiken in den Fragmenten.
Die Methodenlehre wird zunächst mit der Paradoxie oder gar Unmöglichkeit des Entscheidens konfrontiert, wie sie von Luhmann formuliert und von seinen Anhängern vielfach übernommen worden [2]Z. B. Karl-Heinz Ladeur/Ino Augsberg, Auslegungsparadoxien, Rechtstheorie 36, 2005, 143-184; Vesting, Rechtstheorie, 2007 Rn. 224ff. ist.

»Die Entscheidung muß über sich selbst, aber dann auch noch über die Alternative informieren, also über das Paradox, daß die Alternative eine ist (denn sonst wäre die Entscheidung keine Entscheidung) und zugleich keine ist (denn sonst wäre die Entscheidung keine Entscheidung).« [3]Zitat nach Niklas Luhmann, Organisation und Entscheidung, 2000, 142; ferner ders., Die Paradoxie des Entscheidens, VerwArch 84, 1993, 287-310; ders., Das Recht der Gesellschaft, 1993, 308; ders., Die … Continue reading

Damit spielt Luhmann auf die Vorstellung an, dass juristische Entscheidung Rechtserkenntnis sei. Wenn die Lösung jedoch schon vorgezeichnet ist und bloß erkannt zu werden braucht, gibt es nichts zu entscheiden. Ist sie dagegen nicht aus Regeln ableitbar, kann man nicht entscheiden. Darin liegt also das Paradox. Auch wenn juristische Entscheidungen in der Methodenlehre noch immer gern als Rechtserkenntnis dargestellt werden, hat sich doch die Jurisprudenz längst von der Vorstellung verabschiedet, dass ihre Urteile kognitiver Natur sind. Luhmann beutet nur den Doppelsinn der Begriffe aus; einmal verwendet er Entscheidung für den kognitiven Vorgang der Deduktion, das andere Mal gleichbedeutend mit Dezision. Auch der Zirkel, »der sich ergeben würde, wenn man zugeben müsste, dass das Gericht das Recht erst ›schafft‹, das es ›anwendet‹ « Luhmann 1993:306) ist keiner. Ein Zirkel ergibt sich nur, wenn man sich über den Doppelsinn des Wortes »Recht« als vorgegebene Regel und als Fortbildung der Regel täuschen lässt. Man kann auch sagen: Was uns höchst kunstvoll als Paradoxie des Entscheidens oder als Auslegungsparadox vorgeführt wird, ist nichts anderes, als das alte Werturteilsproblem in neuer, nicht gerade nutzerfreundlicher Verpackung.
Die postmoderne Rechtstheorie versteht sich als externe Beobachterin der Rechtspraxis. Wegen des rechtsexternen Beobachterstandpunkts sind ihre Beschreibungen aber zu einer Kritik der juristischen Methodenlehre prinzipiell ungeeignet sind. Aus dem von Luhmann entwickelten Gedanken der Autonomie des Rechtssystems müssten sie der juristischen Methode ihre Eigenständigkeit belassen. Doch wiewohl immer wieder betont wird, dass alle wissenschaftlichen Aussagen relativ zum Standpunkt des Beobachters seien, wird die vom Selbstverständnis der Methodenlehre abweichende Fremdwahrnehmung in Kritik umgemünzt.
Systemtheoretisch orientierte Autoren beschreiben die Rechtsgewinnung als evolutionäres Geschehen. Als Folge des technologischen Wandels und der unaufhaltsamen Globalisierung, der sich beschleunigenden Selbsttransformation der Gesellschaft und deren wachsender Komplexität werden der Verlust der Einheit, zunehmende Fragmentierung und Pluralisierung des Gegebenen und der Zerfall von hierarchischen oder vertikalen Systemen festgestellt. Die methodische Einsicht lautet, nur die ständige Revision des Rechts im Zuge seiner Anwendung könne der Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung Rechnung tragen. Die Dynamitätsrhetorik, von der diese Einsicht getragen wird, wird nahezu widerspruchslos hingenommen, verliert aber im Rückblick an Plausibilität. Spätestens seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts hat wohl jede Zeit von sich selbst den Eindruck, sie entwickle sich besonders schnell und radikal. Die gesellschaftliche Entwicklung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert war aus der Sicht der Zeitgenossen nicht weniger aufregend als in der zweiten oder nach der Jahrtausendwende.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Einen Überblick bietet Sonja Buckel/Ralph Christensen/Andreas Fischer-Lescano (Hg.), Neue Theorien des Rechts, 2006 (2. Aufl. 2010).
2 Z. B. Karl-Heinz Ladeur/Ino Augsberg, Auslegungsparadoxien, Rechtstheorie 36, 2005, 143-184; Vesting, Rechtstheorie, 2007 Rn. 224ff.
3 Zitat nach Niklas Luhmann, Organisation und Entscheidung, 2000, 142; ferner ders., Die Paradoxie des Entscheidens, VerwArch 84, 1993, 287-310; ders., Das Recht der Gesellschaft, 1993, 308; ders., Die Rückgabe des zwölften Kamels, Zeitschrift für Rechtssoziologie 21 , 2000, 3-60, 6. Dazu kritisch Klaus F. Röhl/Hans C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, 105f.

Ähnliche Themen

Schattenwirtschaft in Griechenland

In einem Artikel in der Heimlichen Juristenzeitung vom 27. 2. 2012 äußert sich Dominik H. Enste vom Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln zum Umfang der Schattenwirtschaft in Griechenland. Sie soll in den PIGS Staaten mit 19 bis 25 % doppelt so hoch liegen wie in den angelsächsischen Ländern. Eine Quelle wird nicht angegeben.
Definition und Ermittlung der Schattenwirtschaft sind notorisch ungenau. Das OECD-Handbuch »Measuring the Non-Observed Economy« (2002) unterscheidet vier Formen der Schattenwirtschaft:
(1) Underground Economy. Sie umfasst alle an sich rechtlich erlaubten wirtschaftlichen Betätigungen, die vor den Behörden verborgen werden, um Steuern und Abgaben zu sparen, um rechtliche Standards für die Bezahlung von Arbeitnehmern, Arbeitszeitregelungen sowie Sicherheit- und Gesundheitsvorkehrungen zu vermeiden. Der wichtigste Einzelposten ist wohl die gewöhnlich so genannte Schwarzarbeit.
(2) Illegal Production: Hierher zählen vor allem strafbare Formen der Prostitution und die Produktion von und der Handel mit kriminalisierten Drogen, ferner die marktorientierte organisierte Kriminalität. Auf diesen Bereich bezieht sich das Paper von Frank Wehinger, Illegale Märkte, auf das ich am 1. 11. 2011 hingewiesen habe.
(3) Informal Sector: Zur Schattenwirtschaft gehört ferner der so genannte informelle Sektor. Er umfasst die marktorientierten wirtschaftlichen Tätigkeiten, die sich staatlichen Regelungs- und Abgabenansprüchen entziehen. Viele Beispiele dafür gibt es in Deutschland nicht. Zu denken ist wohl in erster Linie an den Wohltätigkeitsbereich, etwa die »Tafeln«, die Lebensmittel an Bedürftige ausgeben, oder an den Verkauf selbstgemachter Marmelade auf dem Weihnachtsbazar.
(4) Household production for own final use: Zur Schattenwirtschaft im weiteren Sinne gehört schließlich die Subsistenzwirtschaft. Sie umfasst alle wirtschaftlichen Tätigkeiten für den Eigenkonsum, also insbesondere die Betätigung in Haus und Garten. Dieser Bereich ist weitgehend rechtsfrei. Es scheint so, dass dieser Bereich eine Tendenz zur Schrumpfung aufweist.
Bei den angebotenen Schätzungen weiß man nicht immer so genau, welchen Bereich sie einschließen. Außerdem färbt die eindeutige Verurteilung der illegalen Märkte auf die nicht ganz so eindeutig negativ besetzte Schattenwirtschaft ab.
Als Schattenwirtschaft im engeren Sinne interessiert die underground economy. Nur im Hinblick auf diesen Sektor stellt sich ernsthaft die Frage, ob die Schattenwirtschaft bei der Wirtschaftskraft und Wettbewerbsfähigkeit eines Landes positiv berücksichtigt werden soll. Sie wird durchgehend negativ beantwortet, aber so ganz selbstverständlich ist das nicht. Dazu müsste man schon genaueres über Charakter und Umfang der Schattenwirtschaft wissen. Die zweite Frage ist, ob die Schattenwirtschaft die offizielle stört oder ob sie ihr sogar hilft. Auch hier ist die Antwort nicht selbstverständlich.
Der Umsatz der Schattenwirtschaft in Deutschland betrug nach Angaben des Bundesfinanzministeriums im Jahre 2004 356 Milliarden EUR und lag damit bei 16,4 % des Bruttosozialprodukts. Enste nannte in einem Fernsehinterview aus dem Jahre 2009 für Schwarzarbeit im engeren Sinne einen Betrag von 150 Milliarden Euro. Es besteht ein gewisser Verdacht, dass der Umfang der Schattenwirtschaft von Wirtschaft und Politik systematisch überschätzt wird, um eine verstärkte Regulierung und Kontrolle zu rechtfertigen.

Ähnliche Themen

Postmoderne Methodenlehre I

»Postmoderne Methodenlehre«, so überschreibt Thomas Vesting einen Abschnitt in seiner »Rechtstheorie« (2007, S. 119-127). Die Postmoderne ist längst aus dem Schneider. [1]Ich bin nicht sicher, dass dieser Ausdruck heute noch allen Lesern geläufig ist, nachdem ich bei meinen Enkelkindern habe feststellen müssen, dass Schüler heute nicht mehr Skat spielen. »Aus dem … Continue reading Aber sie ist immer noch nicht erwachsen geworden.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts teilt die Methodenlehre sich weiter in zwei große Lager. Das eine wird oft als das traditionelle oder positivistische bezeichnet. Neutraler kann man von der semantischen Schule der Methodenlehre sprechen. Tragender Pfeiler dieser Schule ist die Vorstellung vom Wortlaut des Gesetzes als Ausgangspunkt und Grenze der Auslegung, allerdings in unterschiedlichen Schattierungen. Sie wird durch die großen Lehrbücher von Larenz/Canaris, Bydlinski und Pawlowski oder die kompakteren Darstellungen von Wank und Zippelius repräsentiert. Ihr führender Theoretiker ist wohl Ulfried Neumann. Ihr folgt der Mainstream der juristischen Dogmatik, und ihr folgen weitgehend die Gerichte. Sie stützt sich vor allem auf die klassische Hermeneutik und hat in der von Alexy entwickelten Argumentationstheorie eine kräftige Stütze gefunden. Sie investiert relativ wenig in epistemologische Debatten und vertraut auf die Standardmethoden der Auslegung. Das andere Lager, das die Rolle, aber nicht unbedingt das Erbe, der Freirechtsschule übernommen hat, sieht sich selbst als das neuere oder modernere. Es wird von Regelskeptizismus geprägt, der sich aus den wissenschaftstheoretischen Positionen postmoderner Rechtstheorie speist. Auch dieses Lager, das sich als das konstruktivistische kennzeichnen lässt, ist in sich wenig homogen. Eine relativ geschlossene Gruppe bildet die Müller-Schule (Friedrich Müller, Ralph Christensen, Hans Kudlich u. a.), die sich dadurch auszeichnet, dass sie mit großem Aufwand moderne Linguistik und Sprachphilosophie rezipiert und am Ende zu erstaunlich konventionellen Lösungen findet. [2]»Wir wollen nicht, dass die Gerichte etwas grundlegend anders machen. Sie sollen lediglich das, was sie bisher getan haben, mit klarerem Bewußtsein tun.« (Ralph Christensen/Hans Kudlich, Theorie … Continue reading Eine andere Gruppe besteht aus systemtheoretisch orientierten Autoren (Teubner, Amstutz, Ladeur, Vesting u. a.). Der Gegensatz der beiden Lager zeigt sich darin, dass die semantische Schule am Begriff der Rechtsanwendung festhält, während die Konstruktivisten regelskeptisch jeder Entscheidung prinzipiell den Charakter einer Neuschöpfung zusprechen.
Esser [3]Vorverständnis und Methodenwahl 1970,71ff. hatte darauf hingewiesen, dass das Konzept einer bloßen Anwendung von Rechtsnormen durch die Rede von der Konkretisierung verdrängt worden sei. Sie besagt in ihrer schlichten Gestalt, dass eine für die unmittelbare Anwendung noch zu allgemeine Norm spezifiziert werden muss, damit eine Subsumtion möglich wird. Das Ergebnis ist die nunmehr genauer formulierte, anwendungsgeeignete Regel. Elaborierter sind die (von Fikentscher [4]Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. III Kap. 29 VI; Bd. IV Kap. 31 VII. 3) = S. 180 ff. Fikentscher unterschied drei Rechtsanwendungslehren, die klassische Lehre, die die Rechtsanwendung … Continue reading so genannten) Gleichsetzungslehren, die durch wechselseitige Zurichtung von Recht und Sachverhalt die Subsumtion überflüssig machen. Als Vertreter nannte Fikentscher Engisch‘ Lehre von der Konkretisierung [5]Karl Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 1953, 2. Aufl. 1968. Dazu Fikentscher S. 750 f. Das »Hin- und Herwandern des Blicks zwischen Obersatz und … Continue reading, die von Esser in »Grundsatz und Norm« ausgeführte Idee, nach der die Entscheidung zugleich Interpretation und die Interpretation zugleich Entscheidung sei [6]Josef Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956. Dazu Fikentscher S. 688., und Arthur Kaufmanns Konzept einer hermeneutischen Verdichtung, die Recht und Sachverhalt assimiliert [7]Arthur Kaufmann, Analogie und »Natur der Sache«. Zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Typus, Vortrag gehalten vor der Juristischen Studiengesellschaft in Karlsruhe am 22. April 1964, Karlsruhe 1965. … Continue reading. Fikentscher steuerte noch seine Lehre von der »Fallnorm« bei. [8]»Hermeneutische Verdichtung« führt zur Fallnorm, »wenn der hermeneutische Zirkel nur noch einmal zwischen Norm und Sachverhalt ›aufsteigt und absteigt‹ und keine weitere positiv zu … Continue reading Solche Konkretisierung erschöpft sich zwar nicht in nackter Subsumtion, bleibt aber als Zurichtung eines nicht substanzlosen Textes doch Rechtsanwendung.
Erst mit der postmodernen Rechtstheorie wird die Konkretisierung zur Konstruktion. [9]So ausdrücklich Müller/Christensen, Juristische Methodik, 10. Aufl. 2009, Rn. 14. Nach dem Vorbild der Literaturwissenschaftler, die den Tod des Autors ausgerufen haben, verkünden Konstruktivisten den Tod des Gesetzgebers. Sie sprechen seinen Texten einen semantischen Gehalt ab und erklären die Gesetzesbindung zur Fiktion. [10]Ralph Christensen, Sprache und Normativität, S. 138. Die Konstruktion ist eine doppelte. Zunächst werde der prinzipiell für unbestimmt gehaltene Normtext in der Anwendungssituation zur konkreten Entscheidung gestaltet. Darüber hinaus verändere jede Heranziehung einer Norm als Entscheidungsgrundlage die Norm selbst und lasse damit die Vorstellung einer bloßen Anwendung von Rechtsnormen obsolet werden. Die »Verschleifung von Regel und Anwendung« (Ladeur) und damit die »Erschütterung der Trennung von Rechtssetzung und Rechtsanwendung« führe dazu, die »Vorstellung eines steuernden Subjekts in Form des Gesetzesautors« zu verabschieden [11]Ino Augsberg, Das Gespinst des Rechts. Zur Relevanz von Netzwerkmodellen im juristischen Diskurs, Rechtstheorie 38 , 2007, 479-493, 491..
Hinter der These von der Verschleifung von Regel und Entscheidung steckt ein theoretisch wohl begründeter, aber für die Praxis unangemessener Regelskeptizismus. Es ist an sich richtig, dass jede Anwendung einer (sozialen) Norm auf die Norm selbst zurückwirkt. Es ist auch gar nicht selten, dass eine Norm im Zuge ihrer Verwendung eine inhaltliche Veränderung erfährt. Aber der Normalfall der Anwendung führt eher zu einer Befestigung der Norm. Durch jede Heranziehung wird die Regel bestätigt. Durch jede Konkretisierung wird die Summe der erinnerten oder vorgestellten Anwendungsfälle konsolidiert. In der großen Mehrzahl der Anwendungsfälle ist die Veränderung so marginal [12]Thomas Vesting, Rechtstheorie, 2007, Rn. 53, spricht von einer »kaum sichtbaren Mikrovariation einer an sich stabil gedachten Regel«, verwirft aber dennoch das Anwendungsmodell, das er mit dem … Continue reading, dass das Anwendungskonzept Bestand haben kann.
Wenn man das Anwendungskonzept verwirft, hat das Folgen. Wer der Ansicht ist, eine Rechtsanwendung sei gar nicht möglich, versteht sich bei der Herstellung juristischer Entscheidungen als Gestalter und fühlt sich im Umgang mit Gesetz und Präjudizien freier. Vesting [13]Rechtstheorie 2007, Rn. 225. sieht die Aufgabe einer modernen Methodenlehre darin, »das Bewusstsein für die Eigenleistung der rechtsprechenden Gewalt« zu schärfen – dagegen wäre nichts einzuwenden – und will dazu »die Vorstellung einer hierarchischen Überordnung des Gesetzgebers über den Richter … aufgeben« – damit hintergeht er die verfassungsmäßig vorgesehene Arbeitsteilung zwischen Gesetzgeber und Richter. Praktisch folgt daraus eine größere Nähe zu der so genannten objektiven Auslegungstheorie mit der Konsequenz etwa, dass »Normbildung« oder »Rechtsfortbildung« zum Prozesszweck erhoben werden. Die semantische Schule dagegen müsste eigentlich eher der subjektiven Auslegungstheorie zuneigen. Sie ist insoweit jedoch gespalten. Während für die einen die Anwendung des Rechts die Anwendung von Gesetzen und die Bezugnahme auf Regeln aus Präjudizien bedeutet, verstehen andere, für die stellvertretend Alexy genannt sei, Rechtsanwendung nicht bloß als Anwendung vorfindlicher Regeln, sondern als Anwendung des Rechts einschließlich seiner Prinzipien und Werte. Auch die Erwartung, dass die semantische Schule eher dem von Sunstein so genannten Rechtsprechungsminimalismus [14]Solcher Minimalismus zeigt sich in einer doppelten Selbstbeschränkung. Er vermeidet, bei der Entscheidung eines Falles darüber hinaus weitere Fälle lösen zu wollen. Und er vermeidet, die … Continue reading zuneigt, lässt sich nicht bestätigen. Schließlich ist auch die betonte Einzelfallabwägung, die eher bei Konstruktivisten naheliegt, in beiden Lagern anzutreffen.
(Fortsetzung folgt.)

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Ich bin nicht sicher, dass dieser Ausdruck heute noch allen Lesern geläufig ist, nachdem ich bei meinen Enkelkindern habe feststellen müssen, dass Schüler heute nicht mehr Skat spielen. »Aus dem Schneider« ist beim Skat, wer mehr als 30 Punkte (und damit mehr als die Hälfte der zum Gewinn notwendigen Punktzahl) erreicht. Im übertragenen Sinne bedeutet das natürlich, dass jemand über 30 Jahre alt ist.
2 »Wir wollen nicht, dass die Gerichte etwas grundlegend anders machen. Sie sollen lediglich das, was sie bisher getan haben, mit klarerem Bewußtsein tun.« (Ralph Christensen/Hans Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001, S. 24). »Absicht des Positivismus war es, die Jurisprudenz möglichst weit zu verwissenschaftlichen und eine rationale Dogmatik zu liefern. … Die Strukturierende Methodik fällt nicht hinter den dogmatischen Standard an Technizität zurück, den der Positivismus anstrebte.« (Müller/Christensen, Juristische Methodik, 10. Aufl., S. 292 Rn. 299).
3 Vorverständnis und Methodenwahl 1970,71ff.
4 Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. III Kap. 29 VI; Bd. IV Kap. 31 VII. 3) = S. 180 ff. Fikentscher unterschied drei Rechtsanwendungslehren, die klassische Lehre, die die Rechtsanwendung als Subsumtion des konkreten Falles unter eine allgemeine Norm versteht, die Theorie normfreien Entscheidens (die er der Freirechtsschule zuschrieb) und die Gleichsetzungslehren (Bd. III, 1976, 736 ff.).
5 Karl Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 1953, 2. Aufl. 1968. Dazu Fikentscher S. 750 f. Das »Hin- und Herwandern des Blicks zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt« wird in der Regel nur zitiert um zu zeigen, dass der Sachverhalt, der Ausgangspunkt einer Forderung ist, sich im Lichte einer Rechtsnorm verändern kann, weil bisher unbeachtete Umstände relevant werden, während andere ihre Bedeutung verlieren. Engisch’ berühmte Formel war aber auch schon von ihrem Erfinder zweiseitig gemeint. Es verändert sich aus dem Blickwinkel einer Norm nicht bloß der relevante Sachverhalt, sondern umgekehrt kann der Sachverhalt auch inhaltlich auf die Norm zurückwirken.
6 Josef Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956. Dazu Fikentscher S. 688.
7 Arthur Kaufmann, Analogie und »Natur der Sache«. Zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Typus, Vortrag gehalten vor der Juristischen Studiengesellschaft in Karlsruhe am 22. April 1964, Karlsruhe 1965. Dazu Fikentscher Bd. III, S. 751 f.
8 »Hermeneutische Verdichtung« führt zur Fallnorm, »wenn der hermeneutische Zirkel nur noch einmal zwischen Norm und Sachverhalt ›aufsteigt und absteigt‹ und keine weitere positiv zu beantwortende Rückfrage mehr erfolgt, ob der Sachverhalt auch die richtige Norm zu seiner Beurteilung gewährt. Das Kriterium der Fallnorm ist, mit anderen Worten, die letztmögliche Konkretion des Normativen angesichts der Sachverhaltsbestandteile.« (Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. III Kap. 29 VI = S. 736ff, Bd. IV Kap. 31 VII. 3) = S. 180 ff., 199ff., Zitat S. 201.) Fikentscher definiert: »Fallnorm ist diejenige Regel des objektiven Rechts, die einem lösungsbedürftigen Sachverhalt eine ihn regelnde Rechtsfolge zuordnet. Die Fallnorm ist der Rechtssatz im technischen Sinne.« (Bd. IV S. 202), oder S. 382: »Da fast jeder Fall vom anderen abweicht, sind Fallnormen sehr weit in den faktischen Bereich, in den zu subsumierenden Sachverhalt vorgeschoben. Trotzdem sind Norm und Sachverhalt nicht das gleiche. Die Fallnorm, so fallzugeschnitten wie auch immer, ist doch Norm und daher allgemein, und somit vom Fall zu unterscheiden.«
9 So ausdrücklich Müller/Christensen, Juristische Methodik, 10. Aufl. 2009, Rn. 14.
10 Ralph Christensen, Sprache und Normativität, S. 138.
11 Ino Augsberg, Das Gespinst des Rechts. Zur Relevanz von Netzwerkmodellen im juristischen Diskurs, Rechtstheorie 38 , 2007, 479-493, 491.
12 Thomas Vesting, Rechtstheorie, 2007, Rn. 53, spricht von einer »kaum sichtbaren Mikrovariation einer an sich stabil gedachten Regel«, verwirft aber dennoch das Anwendungsmodell, das er mit dem Subsumtionsmodell gleichsetzt. Er vernachlässigt, dass »Mikrovariationen« zur Befestigung der Regel führen.
13 Rechtstheorie 2007, Rn. 225.
14 Solcher Minimalismus zeigt sich in einer doppelten Selbstbeschränkung. Er vermeidet, bei der Entscheidung eines Falles darüber hinaus weitere Fälle lösen zu wollen. Und er vermeidet, die Begründung der Entscheidung auf allgemeine Theorien und Prinzipien zu stützen (Cass R. Sunstein, One Case at a Time: Judicial Minimalism at the Supreme Court, 1999). Dazu auch schon der Eintrag »Anti-Court-Movement« vom 10. 12. 2008.

Ähnliche Themen

Volkswagen Stiftung checkt die Juristenausbildung III

(Fortsetzung des Tagungsberichts vom 26. und 28. Februar 2012) [1]Die geneigten Leser bitte ich um Nachsicht für die Zerstückelung meines Berichts. Sie hat zwei Gründe, nämlich erstens die Diskrepanz zwischen dem Wunsch nach Aktualität und der Lust an der … Continue reading
Die »Neuorientierung der Methodenlehre« war das Thema des zweiten Tages. Der Kölner Chefpräsident Johannes Riedel sprach über »Das Zurichten des Sachverhalts« in ganz anderer Weise als ich es erwartet hatte. [2]Zu meinen Erwartungen der Eintrag vom 21. 2. 1012. Er zitierte eingangs die Beobachtungen Mohammeds aus Dürrenmatts »Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht« [3]Hier findet man die hübsche Geschichte im Internet. Daraus entwickelte er eine bemerkenswert fundamentalistische Wahrheitsskepsis, die in Ermahnungen zur Sensibilisierung für die Arbeit am Sachverhalt mündete.
Arne Pilniok führte gewissenhaft aus, wie wichtig Organisation und Verfahren seien, so dass sie neben dem materiellen Recht auch in der Ausbildung stärkere Berücksichtigung finden müssten, und zeigte damit, wie sehr Juristen Einsichten, die noch vor einer Generation als soziologische Esoterik galten, verinnerlicht haben. Mit dem Hinweis, dass auch Organisation und Verfahren die Juristen vor Gestaltungsaufgaben stellen, schlug Pilniok die Brücke zur Governance.
Barbara Dauner-Lieb und Katharina Gräfin von Schlieffen äußerten sich über »Ansätze zur Urteilsanalyse«. Dauner-Lieb wies nur ganz kurz auf die Wichtigkeit der Lektüre und Analyse von Originalentscheidungen hin. »Daraus lernt man Judiz.« Gräfin von Schlieffen demonstrierte die Urteilsanalyse mit den Methoden der rhetorischen Rechtstheorie. Der Vortrag war ein kleines rhetorisches Meisterstück. Aber nicht deshalb, sondern wegen des Inhalts staunten die Teilnehmer, als ob sie davon noch nie gehört hätten. Hatten sie wohl nicht.
Ich habe schon im Posting vom 28. 1. 2012 zum Ausdruck gebracht, wie mich das Tagungskonzept irritiert hat, indem es auf »Methodenlehre« abstellt, ohne zwischen Rechtstheorie, Methoden überhaupt, der traditionell so genannten Methodenlehre, Didaktik als Methodik der Stoffvermittlung und dem Curriculum zu differenzieren. Am deutlichsten zeigte das Referat von Horst Eidenmüller, wie die »Neuorientierung der Methodenlehre« gemeint ist. Eidenmüller kündigte eine neuartige Vorlesung über »Methodenlehre« an, in der die tradierte Methodenlehre mit den Kanones der Auslegung im Mittelpunkt nur noch das erste von acht Kapiteln bildet. Weitere sieben Kapitel sollen den Jungjuristen Kompetenzen vermitteln, die sie für die Beratungspraxis benötigen, nämlich 1. Prozessrisikoanalyse mit Hilfe von Entscheidungs- und Spieltheorie, 2. Vertragsgestaltung [4]Zu diesem Thema das Posting vom 13. Dezember 2011., 3. Buchführungs- und Bilanzierungskenntnisse wie sie etwa der Staatsanwalt für Wirtschaftsverfahren braucht, 4. Verfahren der Unternehmensbewertung, auf die ein Anwalt etwa bei der Errechnung des Versorgungsausgleichs zurückgreifen muss, 5. Mikroökonomik, wie sie für das Kartellrecht relevant wird, 6. Ökonomische Theorie des Rechts, die etwa die Folgen eines flächendeckenden Rücktrittsrechts eruiert, und 7. Statistik, wie sie in Antidiskriminierungsfällen zum Einsatz kommt. Das sind zwar nicht, wie im Vortragstitel versprochen, »analytische Methoden«. Aber das war eine klare Ansage: Juristen müssen selbst das notwendige außerjuristische Wissen in ihre Vorlesungen einbringen, natürlich jeder nur im Rahmen seiner eigenen Kompetenz und ohne Anspruch auf Vollständigkeit. So könnte der Prozessualist die Psychologie der Zeugenaussage und der Familienrechtler ein Kapitel Kinder- und Jugendpsychologie beisteuern. Schön wäre es.
Vor 50 Jahren noch galten Juristen als Spezialisten für das Allgemeine, und mit dieser Kompetenz waren sie in der Lage, viele Führungspositionen in der Gesellschaft auch außerhalb von Justiz und Verwaltung zu besetzen. Dann wurden sie, etwa aus den Vorständen großer Unternehmen, zunehmend durch Ökonomen und Ingenieure verdrängt. Von Generalisten wurden sie zu Spezialisten für Rechtsfragen und innerhalb großer Organisationen zu besseren Sachbearbeitern. [5]Michael Hartmann, Juristen in der Wirtschaft. Eine Elite im Wandel, 1990. Mehr oder weniger alle Tagungsbeiträge vermittelten im Unterton die Botschaft, Juristen sollten mit dem Anspruch auftreten, mehr als bloß ein paar Verträge zu gestalten, und entsprechend ausgebildet werden. In der Abschlussdiskussion mahnte Clifford Larsen ein Leitbild für die Juristenausbildung an. Das heimliche Leitbild der Tagungseilnehmer war der Jurist als Gesellschaftsmanager.
Ihre frühere Führungsrolle in der Wirtschaft werden Juristen kaum zurückerobern können. Heute geht es darum, dass sie nicht auch noch auf dem internationalen Parkett ins Hintertreffen geraten. Das verlangt nach Elite oder, vornehmer, nach Exzellenz, und die wiederum scheint in der deutschen Juristenausbildung keinen Platz zu haben. Keiner wagt es zu sagen: Die Juristenausbildung ist ein Massengeschäft. Es gibt kein billigeres Verfahren, jedes Jahr 10.000 Studenten zu einem akademischen Abschluss zu führen, der nicht in Arbeitslosigkeit mündet. Es wäre ein hoffnungsloses Unterfangen, alle Absolventen so auszubilden, wie es den Tagungsteilnehmern vorschwebte. Es gibt die Schwachen, und man muss sie nicht auch noch mit Prüfungsanforderungen in Grundlagenfächern und Schlüsselqualifikationen quälen, sondern ihnen helfen, notfalls auch mit verschulter Paukerei, die für einen Brotberuf notwendigen Examen zu bestehen. Die Besseren haben noch immer die Gelegenheit ergriffen, mehr zu tun, als für das Examen notwendig, und sie sind auch im Examen besser, weil sie mehr tun und mehr verstehen. Jedem sollte die Wahl bleiben, ob er sich opportunistisch nach Schlüsselqualifikationen umsieht, die vermutlich berufstauglich sind, ob er sich idealistisch in Philosophie oder Geschichte vertieft oder sich auf eine Karriere als Weltverbesserer vorbereiten will. Es ist die List der Vernunft, dass Exzellenz in Examen und Beruf sich nicht ganz selten einstellen, ohne direkt angezielt zu werden. Entscheidend ist, dass jeder die Chance erhält, zu den Besseren zu gehören.
In der Abschlussdiskussion sollten Vorschläge gemacht werden, wie die mit der Erneuerung der Juristenausbildung verbundenen Stoff- und Themenwünsche durch das Abschmelzen alter Bestände ausgeglichen werden könnten. Nennenswertes kam dabei nicht zutage. Die Lösung kann nur darin liegen, Grundlagenfächer und Schlüsselqualifikationen als Angebot zu verstehen, mit dem man sich im Examen Pluspunkte verdienen, derentwegen man aber nicht verlieren kann. Die erwünschten Eliten bilden sich dann von alleine. Separate Elitebrütereien sind überflüssig.
Hat die Tagung ihr Ziel erreicht? Ich bin da nicht so sicher. Eigentlich hätte sie die Diskussion aufnehmen müssen, die Andreas Fischer-Lescano mit einem Artikel im Februarheft der Blätter für deutsche und internationale Politik wieder angefacht hat [6]Andreas Fischer-Lescano, Guttenberg oder der »Sieg der Wissenschaft«?. Darauf nehmen Bezug Manuel Bewarder, Guttenberg-Enthüller geißelt die Rechtswissenschaft, Welt online vom 29. 1. … Continue reading
Fischer-Lescano hat die von ihm ins Rollen gebrachte Plagiatsaffäre noch einmal zum Anlass genommen, »das Verhältnis der Rechtswissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu hinterfragen«. Die Jurisprudenz ist ein Massenfach, und da wäre es ein Wunder, wenn nicht laufend plagiiert würde. Plaghunting ersetzt keine Gesellschaftsdiagnose. Selbst wenn die Plagiatsaffäre Guttenberg »weit über den spektakulären Einzelfall hinausweist« [7]Was sicher der Fall ist. Ich habe selbst zwei Mal erlebt, dass ein Buch eingestampft werden musste, weil es ein ganzes Kapitel aus meiner »Rechtssoziologie« abgeschrieben hatte. Aber darauf war ich … Continue reading, ist nicht erkennbar, wie gerade das Plagiatsunwesen die von Fischer-Lescano für zentral gehaltene Frage aufwirft: »Welches Maß an Kolonialisierung durch Politik und Ökonomie darf die Rechtswissenschaftswelt zulassen, ohne dass ihre Autonomie und ihre gesellschaftliche Funktion untergraben werden?« Aber das ändert nichts daran, dass die Frage berechtigt und notwendig ist. Ich sehe aber wiederum nicht, dass man dafür die juristische Dogmatik verantwortlich machen könnte. Viel problematischer ist die Governance-Mentalität, solange nicht klar ist, was als Good Governance anzustreben ist.
Hintergrund der neuen Intervention Fischer-Lescanos ist wohl ein Richtungsstreit in der Frankfurter Rechtsfakultät, der durch die Emeritierung Gunther Teubners ausgelöst wurde. In Mittelpunkt des Streits wiederum steht das Frankfurter House of Finance, dem Fischer-Lescano bescheinigt, eine »Kadettenanstalt der Finanzmärkte« zu sein. Früher verstand sich Frankfurt einmal als Zentrum kritischer Rechtstheorie. Aber die Teubner-Schule hatte sich zum Hort einer esoterischen Begriffssoziologie entwickelt [8]Dazu darf ich auf eine Serie von Postings verweisen: Begriffssoziologie I: Fragmentierung Begriffssoziologie II: Sektorielle Differenzierung des globalen … Continue reading und den Anschluss an die lebende Jurisprudenz verloren. Auf der Tagung der Volkswagen Stiftung war die Frankfurter Fakultät durch Thomas Vesting vertreten, der seine eigene Position einer »postmodernen Methodenlehre« [9]Thomas Vesting, Rechtstheorie, 2007, insbesondere S. 119-127. schon in Celle als Kritik der Theorielosigkeit an dem bekannten Grundrechtslehrbuch von Pieroth/Schlink eingebracht hatte. Eine kritische Gesellschaftstheorie ist von der postmodernen Rechtstheorie, wie sie vor allem von Ladeur, Vesting und Ino Augsberg betrieben wird, nicht zu erwarten. [10]Das bedarf der Begründung, die ich nachliefern werde. Aber eine große Gesellschaftstheorie nach alter Frankfurter Sitte wäre für die Jurisprudenz auch gar nicht erwünscht. Die Rechtswissenschaft sollte sich auf Qualitäten des positiven Rechts besinnen, die dessen »innere Moralität« [11]Lon L. Fuller, The Morality of Law, 1964, 2. Aufl. 1968; dazu Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, 298ff. begründen. Damit gewinnt sie eine Basis für die Kritik der gesellschaftlichen Phänomene, mit denen sie umgehen muss.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Die geneigten Leser bitte ich um Nachsicht für die Zerstückelung meines Berichts. Sie hat zwei Gründe, nämlich erstens die Diskrepanz zwischen dem Wunsch nach Aktualität und der Lust an der Schreibarbeit und zweitens, dass Blogeinträge jenseits von etwa 2000 Zeichen nur noch mühsam lesbar sind.
2 Zu meinen Erwartungen der Eintrag vom 21. 2. 1012.
3 Hier findet man die hübsche Geschichte im Internet.
4 Zu diesem Thema das Posting vom 13. Dezember 2011.
5 Michael Hartmann, Juristen in der Wirtschaft. Eine Elite im Wandel, 1990.
6 Andreas Fischer-Lescano, Guttenberg oder der »Sieg der Wissenschaft«?. Darauf nehmen Bezug Manuel Bewarder, Guttenberg-Enthüller geißelt die Rechtswissenschaft, Welt online vom 29. 1. 2012;
Thomas Thiel, Institute for Theorieschwund, FAZ vom 29. 2. 2012.
7 Was sicher der Fall ist. Ich habe selbst zwei Mal erlebt, dass ein Buch eingestampft werden musste, weil es ein ganzes Kapitel aus meiner »Rechtssoziologie« abgeschrieben hatte. Aber darauf war ich eher stolz, als dass ich davon viel Aufhebens gemacht hätte.
8 Dazu darf ich auf eine Serie von Postings verweisen:
Begriffssoziologie I: Fragmentierung
Begriffssoziologie II: Sektorielle Differenzierung des globalen Rechts
https://www.rsozblog.de/?p=1497
Begriffssoziologie IV: Der Schauplatz der Regime-Kollisionen
Begriffssoziologie V: Konstitutionalisierung strukturell
Begriffssoziologie VI: Zur funktionalen Seite der Konstitutionalisierung
Begriffssoziologie VII: Zur empirischen Seite der Konstitutionalisierung.
9 Thomas Vesting, Rechtstheorie, 2007, insbesondere S. 119-127.
10 Das bedarf der Begründung, die ich nachliefern werde.
11 Lon L. Fuller, The Morality of Law, 1964, 2. Aufl. 1968; dazu Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, 298ff.

Ähnliche Themen