Der Zerfall des Privatrechts

Es gibt nicht länger das eine Privatrecht. Das Privatrecht ist zerfallen in ein Privatrecht für Individuen und ein Geschäftsrecht für Organisationen, insbesondere für die Wirtschaft.[1]

Mit dem Privatrecht verbindet sich die Hoffnung, es könne den Bürgern einen geschützten Raum zur freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit, ihrer Fähigkeiten und ihrer Schaffenskraft bieten. Kritisch wird dem Privatrecht deshalb die Konditionierung der Menschen zu egoistischen Individuen oder eine Aufforderung zur Selbstoptimierung vorgehalten. Das Privatrecht bildet zugleich die Basis des Wirtschaftssystems und muss sich deshalb mit der seit Karl Marx andauernden Kapitalismuskritik auseinandersetzen. Nicht zuletzt wird dem Privatrecht vorgehalten, dass es keine Antwort auf Globalisierung und Digitalisierung, auf die Entgrenzung von Natur und Technik sowie auf die Zerstörung von Umwelt und Weltklima habe. Damit steht das Privatrecht unter einem Rechtfertigungszwang, der eine spezifische Theoriediskussion zur Folge hat.

Zeitweise hatte man den Eindruck, als ob das Privatrecht von Sozialkritik und öffentlichem Recht erdrückt würde. Doch dann gab es eine Renaissance der Privatrechtstheorie, erkennbar an einer Flut von einschlägigen Monographien[2] und an den Zivilrechtslehrertagungen von 2015 und 2017[3] .

Den Kern des Privatrechts bildet die Privatautonomie nach Maßgabe der Willenstheorie: Stat pro ratione voluntas. Der Wille = individuelle Selbstbestimmung entscheidet, ohne an Kriterien von Rationalität, Moralität oder Gerechtigkeit gebunden zu sein. Soweit die Privatautonomie reicht, ist die Frage nach der Gerechtigkeit gegenstandslos. Die Privatautonomie leidet anscheinend unter Schwindsucht, so dass selbst die Inhaberin eines Privatrechtslehrstuhls[4] von einem »mystifizierenden Leuchtfeuer« spricht. Aber die Diagnose ist nicht ganz einfach.

In der jungen Bundesrepublik war zunächst eine ordoliberale Privatrechtstheorie bestimmend, die mit den Namen August von Hayek, Franz Böhm, Walter Eucken, Walter Hallstein, Alexander Rüstow und Ernst Joachim Mestmäcker verbunden war. Aber bald wurde, oft unter marxistischen Vorzeichen und mit Beteiligung der Rechtssoziologie, die soziale Frage wieder aufgenommen. Etwa bis zu Jahrtausendwende lag der Schwerpunkt der Kritik am Privatrecht bei den Auswirkungen der Ungleichheit der Akteure auf den Zugang zu privatrechtlich verfügbaren Leistungen und bei der Unausgewogenheit von Transaktionen. Ergebnisse zeigen sich im Verbraucherrecht und im Arbeitsrecht. Die folgenden zwei Jahrzehnte waren durch die Ausrichtung des Privatrechts auf den Kampf gegen Diskriminierungen bestimmt. Heute liegt der Schwerpunkt bei der Einforderung von Nachhaltigkeit und sozialer Verantwortung.

Kritisiert wurde und wird das Fehlen einer sozialen Verantwortung der Privatrechtssubjekte. Auf solche Kritik hat das Recht insoweit reagiert, als es jedenfalls bei wirtschaftlich bedeutenden Unternehmen »Compliance« einfordert. Compliance hat zwei Gesichter. Das eine zeigt sich als gesellschaftliche Verantwortung (CSR = Corporate Social Responsability), das andere in Organisationsanforderungen, die das Recht an Unternehmen stellt und deren Verletzung haftungsrechtliche, ordnungsrechtliche und für die beteiligten Personen auch strafrechtliche Folgen haben kann (Compliance i. e. S.).

§ 289b, 289c sowie §§315b, 315c HGB schreiben daher Kapitalgesellschaften und Konzernen mit mehr als 500 Mitarbeitern vor, eine sogenannte »nichtfinanzielle« Erklärung abzugeben. Darin muss Auskunft gegeben werden über Maßnahmen zum Umweltschutz, zum Arbeitnehmerschutz, zum sozialen Engagement, zur Achtung der Menschenrechte und zur Bekämpfung von Korruption und Bestechung. In der Erklärung ist ebenfalls anzugeben, bis zu welcher Tiefe Lieferanten und Subunternehmer in den Bericht einbezogen werden. Damit wurde 2016 die Corporate Social Responsibility-Richtlinie (2014/95/EU = CSR) umgesetzt. Nach dem Entwurf einer CSR-Richtlinie der EU sollen von 2023 an auch Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitern Rechenschaft darüber ablegen, wie klimaschonend, umweltfreundlich und sozialverträglich sie wirtschaften und wie gut ihre internen Kontrollen funktionieren. Dazwischen steht das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz. Aber damit nicht genug. Der beinahe unendliche Komplex öffentlich-rechtlicher Regulierung trifft in erster Linie die Organisationen als Privatrechtssubjekte. Den Privatmann interessiert insoweit nicht viel mehr als die Landesbauordnung und ein paar Umweltvorschriften, wenn er ein Haus bauen oder modernisieren will.

Die rechtlichen Vorkehrungen zur Gewährleistung von Nachhaltigkeit und sozialer Verantwortung treffen die einzelnen Bürger bisher nur indirekt und als moralischer Appell. Eingeschränkt ist die Autonomie des Wirtschaftens, aber nicht die autonome Gestaltung der privaten Lebensführung. Hier darf man sogar diskriminieren. Ein privater Vermieter darf auch gleichgeschlechtliche Paare ablehnen. Man muss nicht zum Arzt gehen, wenn man eine Ärztin bevorzugt, und man darf den tätowierten Friseur meiden. Für die private Lebensführung ist die Selbstbestimmung sogar erweitert, indem etwa mit der Selbstbestimmung über das Lebensende, mit reproduktiver Selbstbestimmung oder mit der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare neue Möglichkeiten eröffnet wurden. So betrachtet ist das Privatrecht zweigeteilt in ein Privatrecht für Individuen und ein anderes für Organisationen, insbesondere für die Organisationen der Wirtschaft.

Im Privatrecht für Private hat die Selbstbestimmung eine historisch bisher einmalige Ausdehnung erreicht. Zwar redet alle Welt von der »Dekonstruktion des Subjekts«, und die Privatrechtstheorie setzt dem Gerede wenig entgegen, obwohl die subjektiv-rechtliche Struktur des gesamten Rechts, auch des öffentlichen, am Subjektbegriff hängt. Aber die »Dekonstruktion des Subjekts« fällt wohl doch nicht so grundstürzend aus, wenn am Ende aus der Möglichkeit von Selbstbestimmung und Wahlfreiheit die »Regierung des Selbst« wird.

Tiefgreifender ist der Wandel des Privatrechts der Organisationen. Dieses Recht setzt sich aus zwei großen Blöcken zusammen. Der eine bestimmt die Begegnung zwischen Individuen und Organisationen und beschränkt die Privatautonomie zu Lasten organisierter Akteure. Den anderen Block bildet die Wirtschaftsverfassung. Dazu gehören vor allem das Handelsrecht, das Gesellschafts- und das Wettbewerbsrecht. Für das Privatrecht der Organisationen hat Privatautonomie nicht den engen Bezug zu Freiheit und Selbstbestimmung, sondern sie hat funktionale Bedeutung, weil und soweit sie die materielle Basis für das Marktgeschehen liefert. Insoweit erhält die Privatrechtstheorie die Unterstützung von der ökonomischen Analyse des Rechts. Auch das alte Theorem Friedrich von Hayeks, wonach Privatautonomie das über die Gesellschaft verteilte Wissen mobilisiert, hat noch nicht ausgedient.

Die Trennung zwischen dem privaten Privatrecht und dem Privatrecht der Organisationen ist alles andere als sauber. Sie ist hauptsächlich im Schuldrecht institutionalisiert. Beide Bereiche greifen auf ein gemeinsames Sachenrecht und Immaterialgüterrecht zurück. Sie teilen auch die gesetzlichen Schuldverhältnisse insbesondere aus Delikten. Eine Schnittstelle ist die Berufsausübung. Dennoch bleiben die Schwerpunkte so deutlich, dass die Differenzierung die Aufgaben der Privatrechtstheorie erleichtert. Das gilt sowohl für die Funktionsbeschreibung von Privatautonomie als auch für deren Legitimierung.


[1] Ich habe bei weitem nicht alles gelesen, was in den folgenden Fußnoten angeführt wird. Vermutlich gilt auch hier, dass gründliche Lektüre vor Innovationen schützt, dass also meine These längst irgendwo zu finden ist.

[2] Beinahe im Jahresrhythmus ist ein Dutzend einschlägiger Habilitationsschriften zum Thema entstanden: Stefan Arnold, Vertrag und Verteilung. Die Bedeutung der iustitia distributiva im Vertragsrecht, 2014; Marietta Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, 2014; Tim Florstedt, Recht als Symmetrie 2015; Michael Grünberger, Personale Gleichheit. Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Zivilrecht, 2013; Alexander Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, 2016; Bernhard Jakl, Handlungshoheit. Die normative Struktur der bestehenden Dogmatik und ihrer Materialisierung im deutschen und europäischen Schuldvertragsrecht 2019; Oliver Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm 2018; Markus Rehberg, Das Rechtfertigungsprinzip. Eine Vertragstheorie, 2014; Florian Rödl, Gerechtigkeit unter freien Gleichen 2015; Jürgen Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag, 1997; Matthias Wendland, Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit, 2019; Dan Wielsch, Zugangsregeln, 2008.

 

[3] Die Tagungen der Zivilrechtslehrer sind in Sonderausgaben des AcP 216, 2016 und 218, 2018 dokumentiert. Aus einer weiteren Tagung, auf der die Monographien von Dan Wielsch (2008), Marietta Auer (2014) und Florian Rödl (2015) diskutiert wurden, ist der von Grünberger und Jansen hg. Band »Privatrechtstheorie heute« (2017) entstanden. Über die Tagung berichtet Johanna Croon-Gestefeld, Privatrechtstheorie heute, RW 7, 2016, 303-310. 2019 tagten die Deutschen Staatsrechtsleher mit dem Generaltheme »Öffentliches und Privatrecht« (VVDSt Bd. 79, 2020).

 

[4] Anne Röthel, Privatautonomie im Spiegel der Privatrechtsentwicklung: ein mystifizierendes Leuchtfeuer, in: Christian Bumke/Anne Röthel (Hg.), Autonomie im Recht, 2017, 91-116 [Erwiderung von Karl Riesenhuber, Privatautonomie – Rechtsprinzip oder mystifizierendes »Leuchtfeuer«, ZfPW 2018, 352-368]

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Digitalisierung verstärkt die strukturelle Differenz zwischen Individuum und Organisation und erschwert den Zugang zum Recht

Heute, am Tag der Internetsicherheit, ausgerufen von der Europäischen Union, kommen die Schattenseiten der Digitalisierung in den Blick. Digitalisierung befestigt soziale Ungleichheit und erschwert den Zugang zum Recht. Dafür braucht man gar nicht erst nach Spanien zu schauen, wo die Rentner gegen das Online-Banking aufbegehren. Das ist nicht nur ein Altersproblem. Es geht vielmehr um die strukturelle Differenz zwischen Individuum und Organisation, die mit der Digitalisierung wächst.

Allerdings hinken die Alten mit der Internetnutzung hinterher:

Ich bin alt. Aber ich bilde mir ein, noch immer digifit zu sein. Anfang der 1980er Jahre war ich der erste in meiner Umgebung mit einem eigenen PC, einem Kaypro II mit dem CPM-Betriebssystem und zwei Floppy-Disk-Laufwerken mit 195 KB Speicherkapazität.

Das Textverarbeitungsprogramm hieß damals Wordstar. Da musste man noch einige Grundeinstellungen wie z. B. die Seitenränder direkt in das Programm eingeben. Ich habe dann alle Umstellungen auf die neueren Betriebssysteme, zuerst MSDOS und dann Windows mit seinen verschiedenen Versionen mitgemacht. Mein erstes Literaturverwaltungsprogramm habe ich mir mit dBase selbst zusammengebastelt. Leider – so muss ich heute sagen – habe ich irgendwann das wunderbare Textverarbeitungsprogramm Nota Bene zugunsten von Word verlassen. Auch den Wechsel zu cloudbasierten Diensten habe ich hinter mir. Noch in den 1980er Jahre gab es in Bochum die erste Tagung, bei der mit Hilfe der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung in St. Augustin, die damals mit der Digitalisierung der Justizstatistik befasst war, Daten fernübertragen wurden.[1] Als Direktor des Zentralen Rechtswissenschaftlichen Seminars das erste JURIS-Terminal in Betrieb genommen und für Studenten zugängliche PC aufgestellt. Später habe ich für die Vereinigung für Rechtssoziologie eine Webseite eingerichtet, die – völlig veraltet – immer noch im Netz steht. Meine alte Lehrstuhlseite habe ich bis 2009 noch selbst gepflegt. Noch immer betreibe ich mit RSOZBLOG.de und Rechtssoziologie-online aktiv zwei Internetseiten. Nach alledem bilde ich mir ein, noch immer einigermaßen digifit zu sein. Aber nun bin ich doch mit der Steuererklärung mit dem neuen Mein Elster-Programm vorläufig gescheitert.

Ein Freund, der als Steuerberater zugelassen ist und dem ich davon erzählt habe, hat mir erklärt, er selbst wende sich an ein größeres Büro, um seine eigene und die Steuerklärungen seiner (wenigen) Mandanten abzugeben. Als ich mich heute am Tag der Internetsicherheit wieder bei Mein Elster einloggen will, verlangt das Programm, dass ich zuvor Java aktiviere. War nicht dieses Programm grade als Einfallstor für Computerhacks ins Gerede gekommen?

Keine Frage: Die Digitalisierung bringt viele Vorteile. Das Online-Banking bei der Commerzbank funktioniert erstklassig. Die Steuererklärung mit dem alten Elster-Programm lief ganz gut, und mit dem neuen Programm werde ich es auch noch schaffen. Aber es geht nicht um mich, der ich täglich so lange vor dem PC sitze wie andere vor dem Fernseher. Es geht auch nicht allein um Internetzugang und die Kompetenz zum Umgang mit kleinen und großen Endgeräten. Es geht wie gesagt vielmehr um die strukturelle Differenz zwischen Individuum und Organisation, die James S. Coleman schon vor Jahrzehnten für so grundlegend ansah, dass er von der asymmetrischen Gesellschaft sprach[2]. Mit der Digitalisierung ist die Differenz gewachsen, und sie wächst weiter.

Von den acht Merkmalen dieser Differenz, die ich in Rechtssoziologie-online § 76 VI. aufgezählt habe, ist besonders die Außenkommunikation betroffen.

Die alten Kommunikationswege – Präsenz, Brief, Telefon –, die jedermann einfach und kostengünstig zur Verfügung standen, sind unbrauchbar geworden. Sieht man einmal vom stationären Einzelhandel ab, so kommuniziert der Bürger heute mit Behörden und Firmen aller Art in der Hauptsache elektronisch. Der immer noch relativ einfache Email-Kontakt funktioniert in vielen Fällen nicht mehr. Organisationen verlangen, dass man sich auf ihren Webseiten anmeldet. Für den Kontakt genügen nicht Name und Anschrift, sondern es wird nach Passworten und nach vielstelligen Kunden- oder Geschäftsnummern gefragt. Das Individuum muss sich durch eine mehr oder weniger übersichtliche Internetseite durchklicken. Es kann sein Anliegen nicht frei formulieren, sondern nur vorformulierte Antworten ankreuzen. So ist die Kommunikation einseitig kanalisiert. Einen Sachbearbeiter bekommt man nicht mehr zu Gesicht und auch nicht mehr ans Telefon. Behörden und Unternehmen verbergen ihre Durchwahltelefonnummern und bieten nur noch eine Servicenummer an, die in ein Callcenter führt und dort, meistens nach Wartezeiten, oft mit einem automatisierten Sprachdialogsystem beginnt. Personen- oder ressortbezogene Mailadressen bleiben ebenso wie die Telefonnummern verborgen. In Behörden sind persönliche Vorsprachen nur noch nach elektronischer Terminvergabe möglich. Vom Bürger-Individuum wird verlangt, dass es eine Mailadresse unterhält, obwohl es sie aktiv kaum noch nutzen kann. Die Mailadresse dient nur noch den Organisationen als Identifikationsmerkmal und als Zugangskanal. Wenn man heute am Tag der Internetsicherheit in den Zeitungen liest, wie gefährlich der Umgang mit der Email ist, wünscht man sich den guten alten Briefkasten zurück. Man kann seine Email-Adresse aber auch nicht einfach wechseln. Damit hätte man sich aus vielen Diensten ausgesperrt.

Unter dem Thema »Zugang zum Recht – zugängliche Rechte« haben die deutschsprachigen Rechtssoziologie-Vereinigungen für 2023 eine Tagung angekündigt. Ich kann nur hoffen, dass dort auch die Erschwerung des Zugangs zu rechtlichen Dienstleistungen durch die Digitalisierung thematisiert wird.

Nachtrag vom 11. 2. 2022: Auch diese Untersuchung von Herbert Kubicek über »Internetnutzung älterer Menschen in Bremen und Bremerhaven« geht davon aus, dass es allein darum gehe, der »Alterslücke« bei der Digitalisieung auf der Nachfrageseite beizukommen. Aber es geht nicht um digitale Teilhabe, sondern um digitale Überwältigung der Bürger durch Bürokratie und Wirtschaft.


[1] Damals war die vom Bundesministerium der Justiz veranlasste #Strukturanalyse der Rechtspflege« in vollem Gang. JURIS war im Aufbau. Im BMJ stand vor allem Dieter Strempel dahinter, aus der GMD ist mir Hellmut Morasch unvergessen. Aus der umfangreichen im Verlag des Bundesanzeiger erschienenen Schriftenreihe »Rechstatsachenforschung« sei hier nur der von Herbert Fiedler und Fritjof Haft herausgegebene Band »Informationstechnische Unterstützung von Richtern, Staatsanwälten und Rechtspflegern« angeführt.

[2] James S. Coleman, The Asymmetric Society, 1982.

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Sprache im Coronastress

Die ungewohnte Vielzahl der Telefon- und Videokonferenzen bringt es mit sich, dass Politiker und Journalisten von solchen Konferenzen nur noch als von einer Video- usw.-Schalte reden. Das ist hier zum Anlass eines Familienstreits geworden. Man findet diese Ausdrucksweise scheußlich. Ich bin der einzige, der sie zu schätzen weiß. Die Substantivierung mit Hilfe der Ung-Endung ist doch ein eher unschöner Zug der deutschen Sprache. Da muss man über den Wandel froh sein. Es braucht es nur ein wenig Fantasie, um die weitere Entwicklung zu ahnen. Bald werden analoge Wortbildungen auftauchen. Ich freue mich schon auf Verwalte für Verwaltung, Hafte für Haftung und Spalte für Spaltung. Und auch im Alltag wird man sich von der hässlichen Endung befreien. Wir dürfen so schlanke Ausdrücke erwarten wie Quitte für Quittung, Sitze für Sitzung und Zeite für Zeitung.

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Verträge im Coronastress III

Heute hat der BGH über die Mietzahlungspflicht bei coronabedingter Geschäftsschließung entschieden[1], und zwar, »dass im Fall einer Geschäftsschließung, die aufgrund einer hoheitlichen Maßnahme zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie erfolgt, grundsätzlich ein Anspruch des Mieters von gewerblich genutzten Räumen auf Anpassung der Miete wegen Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 Abs. 1 BGB in Betracht kommt.« Für den Maßstab der Mietanpassung verweist das Gesetz auf »alle Umstände des Einzelfalles«. Dazu gibt das Gericht den Hinweis, dass auf Seiten des Mieters primär auf den Umsatzrückgang für die Zeit der Schließung abzustellen sei, und zwar nur den Umsatz des konkreten Mietobjekts, nicht dagegen auf einen möglichen Konzernumsatz. Der zweite Hinweis: Es dürfe nicht zu einer »Überkompensierung« der Verlust etwa durch öffentliche Hilfen kommen. Und drittens sind natürlich die Nachteile des Vermieters zu bedenken.


[1] Urteil vom 12. Januar 2022 – XII ZR 8/21.

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Hellmuth Mayer: Die gesellige Natur des Menschen III: Es gibt keinen geborenen Verbrecher und kein natürliches Verbrechen

Schon der Titel des Buches macht klar: Mayer zeichnet den Menschen anders als Hobbes nicht als potentiellen Feind seines Mitmenschen. Nach dem Untertitel handelt es sich um eine »Sozialanthropologie aus kriminologischer Sicht«. Daher liegt es nahe, Textstellen zu zitieren, die auf Kriminalität Bezug nehmen.[1]

»Daß der Mensch von Natur aus als ζῷον πολιτικόν geneigt ist, unter gewöhnlichen Lebensbedingungen friedlich mit seinesgleichen in gesellschaftlichen Gebilden zusammenzuleben, lehrt die überwiegende Erfahrung. Daß er vermöge einer von der Natur in ihn hineingelegten Entelechie auch wirklich immer diesen Weg einschlägt und zielstrebig verfolgt, muß leider verneint werden.« (S. 2252)

»Die Beschränkung des Sozialdranges auf die Gruppe [von der im vorigen Eintrag die Rede war] entlarvt den Menschen dennoch nicht als aggressiven Bösewicht.« (S. 64)

Dennoch ist nicht alles reine Harmonie:

» Der Mensch ist zugleich Einzelwesen mit einem sehr starken individuellen Selbstbehauptungsdrang. Der Selbstbehauptungsdrang nimmt die vitalen, der Selbsterhaltung dienenden Triebe in seinen Dienst, geht aber über deren Ziele weit hinaus und macht daher die Erscheinung des menschlichen Egoismus möglich.« (S. 64)

Aber mit der Feststellung, dass eine Verhaltensweise aus dem Rahmen des sozial Verträglichen fällt, darf nicht sogleich ein Werturteil verbunden werden. Man soll Menschen nicht deshalb als defizitär definieren, weil die friedliche Grundstruktur versagen kann: »Niemand würde es für vernünftig halten, das Auto als die Maschine zu definieren, welche Pannen erleidet.« (S. 254) So gibt es denn keinen geborenen Verbrecher und kein natürliches Verbrechen.

»Es gibt kein empirisches Phänomen ›crimen‹, welches vor und außerhalb der Steuerungsvorgänge läge. Zwar gibt es soziale Vorgänge, welche Kontrolle und Steuerung durch die Gesellschaft nahelegen und schließlich zur Einrichtung des Strafrechtssystems führen. Aber die Strafrechtsnorm ist logisch immer früher als das crimen, der Strafrichter (die Strafrechtsnorm) immer früher als der Straftäter. Bevor es den Strafrichter gibt, gibt es nur soziale Vorgänge, die als Störungen empfunden werden können, nicht müssen.« (S. 4)

»Die meisten Straftäter unterscheiden sich kaum vom Durchschnitt, wohl aber erleiden sie durch das Erlebnis ihrer Straffälligkeit und das Stigma der öffentlichen Strafe eine mehr oder weniger schwere psychische Schädigung. … Das Schema von Schuld und Sühne machte es dem Bürger leichter, den Mann, der seine Tat gesühnt hatte, eine neue Chance zu geben. Von äußerster Grausamkeit ist es, das künftige Verhalten des Täters vorausberechnen zu wollen und im Fall einer negativen Prognose ihn durch Dauerverwahrung zu eliminieren.« (S. 131)

»Es war eine verhängnisvolle Illusion der älteren Gefängnisreformer, wenn sie meinten, daß bloße Arbeitsgewöhnung den Menschen sozialisiere, d. h. zum Sozialverhalten dressiere. Arbeit hilft nur, wenn sie als Erfüllung der Persönlichkeit erlebt wird.« (S. 155)

»So übertrieben auch die Meinung der sozialistischen Kriminologen war, die Kriminalität sei eine Folge der Klassenunterschiede, so wahr ist es, daß im Widerspruch zwischen Gleichheitsbedürfnis und faktischen sozialen Unterschieden eine der Hauptursachen für soziale und kriminelle Konflikte zu sehen ist.« (S.165)

Fortsetzung folgt.


[1] Alle Zitate aus Hellmuth Mayer, Die gesellige Natur des Menschen, 1977.

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Hellmuth Mayer: Die gesellige Natur des Menschen II

Eine Grundfrage jeder Anthropologie geht dahin, ob der Mensch »von Natur aus« gesellig sei. Mayer gibt schon mit dem Titel seines Buches die positive Antwort: Zur »vitalen Grundstruktur« des Menschen gehört ein »Sozialdrang«. Die Antwort wird doppelt qualifiziert. Die Lebensform des Frühmenschen ist der Kleinstamm mit Arbeitsteilung. Diese Form wirkt auch im modernen Menschen noch nach. Offen bleibt, wie diese Nachwirkung gesichert ist, ob sie genetisch oder sozial tradiert wird. Die neuere Vorstellung epigenetischer Vererbung kannte Mayer noch nicht. Er richtet den Blick zurück auf den »Frühmenschen« und erschließt die »vitale Grundstruktur« aus historischen und prähistorischen Reminiszenzen. Das ist eine ebenso verbreitete wie anfechtbare Methode. Heute weiß man, dass genetische Veränderungen in relativ kurzer Zeit stattgefunden haben.[1] Wie lange genetische, epigenetische oder soziale Prägungen halten, ist unklar. Mayer ist davon überzeugt, dass es eine »vitale Grundstruktur« gibt und dass sie über die Jahrtausende hält. Aber – das ist der springende Punkt seiner Anthropologie – alle Prägungen sind nur Startkapital oder Schulden an die tierische oder frühmenschliche Vergangenheit. Das Bewusstsein und seine Äußerungen als »objektiver Geist« ändern alles. Alle Antriebe, Emotionen oder Verhaltensmuster müssen nicht, aber sie können den Weg durch das Bewusstsein nehmen. Sie wirken – um es mit der Metapher zu sagen, die ich schon im letzten Eintrag verwendet habe – wie Rückenwind oder Gegenwind beim Fahrradfahren. So ist es auch mit der geselligen Natur des Menschen.

Dabei vermeidet Mayer jede Theoretisierung der Beziehung zwischen Körper und Geist. Er betont die »Doppelnatur des Menschen, der zugleich als Tier und als menschliche Persönlichkeit beschrieben werden muß.« Der Kleinstamm bildet die elementare Form der Gesellung. Den haben wir anscheinend immer noch in den Knochen. Das könnte erklären, was in der Psychologie als In-Group-Mechanismus und in der Soziologie als Othering geläufig. Was man heute »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit«[2] nennt, wäre dann nur die Kehrseite der ursprünglich geselligen Natur des Menschen. Der moderne Kampf für die Überwindung dieser Grenze ist eine geistige Errungenschaft. Er leidet darunter, dass zu bekämpfende Phänomen als (nur) sozial geprägt vorschnell in eine moralische Ecke gestellt wird. Das ist schwarze Pädagogik. Von Mayer kann man lernen, das es gilt, nicht zu tadeln, sondern zur Nächstenliebe aufzurufen. Dazu aus den nachfolgenden Zitaten vorweg:

»Sowohl der vitale Sozialdrang wie auch der geistige appetitus societatis beziehen sich zunächst auf die Gruppe, … . Erst auf sehr viel höherer geistiger Stufe wird der Gruppenfremde zum Nebenmenschen. Jesus von Nazareth sagte seinen judäischen Zeitgenossen mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter wirklich etwas Neues.«

Es folgen weitere Zitate aus dem Originaltext:

»Nur wenige Tiere leben solitär, begnügen sich also mit vorübergehender geschlechtlicher Begegnung. Die meisten Tiere leben sozial, wobei recht erhebliche Sozialleistungen zustandekommen. [31]

Das soziale Verhaltensinventar ist zu reich gegliedert, als daß es von einem einzigen Strukturelement ausgelöst und gesteuert werden könnte. Ein solcher Antriebsmechanismus müßte teleologische Fähigkeiten haben, was nur Vitalisten glauben können. [35]

Die einfachste Form aller Sozialbindungen finden wir in der Brutpflege. [36]

Die Menschheit ist ohne Zweifel eine primär – nicht etwa sekundär – gesellig lebende Species. Die sozialen Antriebe ergeben insgesamt einen sehr starken Sozialdrang, der sich nicht selten bis zur Aufopferung des Einzelnen steigert. Insbesondere kann keine Rede davon sein, daß die Menschen sich untereinander feindlich oder gar aggressiv gegenüberstünden. Dem Menschen eignet aber zugleich ein individueller Selbstbehauptungswille, wie ihn vielleicht in dieser Stärke keine andere gesellig lebende Art besitzt. Im Miteinander und Gegeneinander dieser beiden hauptsächlichen Teilstrukturen entfaltet sich das menschliche Sozialleben. [58]

Der Sozialdrang. – Geselligkeitstrieb ist ein viel zu schwacher Ausdruck – ist dem Menschen sowohl in seiner vitalen Grundstruktur mitgegeben als auch in seinem geistigen Wesen angelegt.

  1. Der vitale Sozialdrang wirkt schon vor jeder Reflexion. Vielfach ist sich der Mensch dieses seines Dranges gar nicht bewußt, wenn er ihn sich natürlich auch bewußt machen kann. Die stammesgeschichtliche Herkunft erweist den Menschen wie auch die Primaten als soziales Tier. Man hat wohl mit Recht gesagt, ein einzelner Schimpanse sei gar kein rechter Schimpanse. Der Sozialdrang ist die Voraussetzung der Homination. Wären nicht bereits die Prähominiden von diesem Drang erfüllt gewesen, wäre er nicht durch Selektion gesteigert worden, so hätte es niemals den Menschen, homo sapiens geben können. Als Einzelexemplar wäre der Mensch ein sehr schwaches und hilfloses Geschöpf, von der Natur weder zu wehrhaftem Kampf gerüstet noch zu schneller Flucht befähigt. Hätte er erst auf seine Bedürftigkeit reflektieren müssen, um sich sekundär zu Gruppen zusammenzuschließen, so wäre er längst ausgerottet worden, bevor ihm Gruppenbildung hätte gelingen können. [59] Denn die Natur hat den Menschen zum gefährlichen Leben in der Steppe gedrängt, wo er sich Raubtieren, namentlich Raubkatzen gegenüber behaupten mußte. Weil der gesellige Mensch von Haus aus in der Gruppe wohl versorgt und mächtig war, so mußte die Selektion ihm keine natürlichen Waffen und keinen panikartigen Fluchtinstinkt anzüchten, welche beide den Weg zum homo versperrt hätten.

Baumaffen haben es verhältnismäßig bequem. Gefährliches Raubzeug kann ihnen kaum nachklettern. Sie können sich also mit einem sehr primitiven Sozialleben begnügen. Bei den Pavianen ist dies bereits etwas anders. Aber nur der Frühmensch mußte sogleich die komplizierte Lebensform des Kleinstammes entwickeln. Wir heben einige Grundelemente vorläufig hervor, wie sie sich in befriedigenden Hypothesen darstellen, welche durch Beobachtungen an Wildbeutern und anderen Primitiven wahrscheinlich gemacht werden. Der Stamm muß immerhin so menschenreich sein, daß er eine hinlängliche Anzahl von Männern zum Kampf gegen Raubwild und zur Jagd auf Großtiere herausstellen kann. Nur das Großwild liefert eine für den Stamm genügende Menge Fleisch. Die Mammutjagd ist denn auch schon für sehr frühe Zeiten durch Funde erwiesen und der rezente Buschmann jagt heute noch die Giraffe. Solche Jäger müssen unter sich in fester Kameradschaft zusammenstehen, also in einem Männerbund, in welchem jeder grundsätzlich den gleichen Rang des Kriegers und Jägers besitzt, unbeschadet der Autorität des möglicherweise charismatisch vorgestellten Vorkämpfers. Nur unter dieser Voraussetzung genügt eine etwas gesteigerte Schimpansenintelligenz dazu, den Kampf mit dem Raubwild aufzunehmen und Großtiere zu jagen. Der Massaijüngling von heute erlegt zwar als Einzelkämpfer den Löwen, aber eben mit dem eisenbeschlagenen Speer. Der Frühmensch konnte nur in der Gruppe abwehren und jagen. Hatte er aber erst einmal gelernt, mit Feuer die Spitze der Holzstangen zu härten, so konnte er dem Raubzeug so schrecklich werden, daß auch heute noch die Raubkatzen auf freier Strecke den aufrecht gehenden Mann fürchten. Der Stamm kann übrigens nur leben, wenn die Frauen eine intensive Sammeltätigkeit aufnehmen. So bereitet sich sehr früh eine strenge Arbeitsteilung der Geschlechter vor, weil sie auch den Bedürfnissen der tragenden, gebärenden und stillenden Frau entspricht. Die frühzeitig einsetzende Hypersexualisierung nötigt zum dauernden paarweisen Zusammenleben. [61] Die lebenswichtige Kampfkameradschaft der Männer läßt keinen Boß aufkommen, der alle Weibchen für sich reklamiert.

  1. Auch die geistige Verfassung des Menschen ist auf soziale Verbindung ausgerichtet, wie auch Hugo Grotius den appetitus societatis nicht als Instinkt, sondern als geistige Bestimmung der Menschheit denkt. … Dabei kommen freilich sehr verschiedene Lösungen vom Nein bis zum Ja vor. Aber gewöhnlich wird die naive Verbundenheit doch auch klar gedacht und bejaht. Sentimentales, vernünftiges und auch intellektuelles Verhalten steigern sich also wechselseitig. Die egoistische Reflexion auf die soziale Interdependenz ist eine geschichtlich späte Erscheinung. [63f]
  1. Sowohl der vitale Sozialdrang wie auch der geistige appetitus societatis beziehen sich zunächst auf die Gruppe, … . Erst auf sehr viel höherer geistiger Stufe wird der Gruppenfremde zum Nebenmenschen. Jesus von Nazareth sagte seinen judäischen Zeitgenossen mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter wirklich etwas Neues. Vorher ist in allen ursprünglichen Rechten der Fremde rechtlos. Die Beschränkung des Sozialdranges auf die Gruppe entlarvt den Menschen dennoch nicht als aggressiven Bösewicht. Der naive Sozialdrang kann sich nämlich naturgemäß nur soweit durchsetzen, als soziales Zusammenleben überschaubar ist. Der Primitive denkt und fühlt über den Kleinstamm zunächst nicht hinaus, wenn auch der Wildbeuter sich auch fremden Stämmen gegenüber relativ friedlich verhält. Sozietät setzt sprachliche Verständigung voraus. Die Sprache verbindet nicht nur, sie trennt auch den Griechen vom ›Barbaren‹, der vermeintlich keine Sprache hat.« [64]

Fortsetzung folgt.


[1] VanessaVillalba-Mouco u. a. , Genomic Transformation and Social Organization During the Copper Age–Bronze Age Transition in Southern Iberia, Science Advances Vol 7 vom 17. 11. 2021.

[2] Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit heißt das Konzept des Erziehungswissenschaftler Wilhelm Heitmeyer, mit dem das Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung in jährlich wiederkehrenden Untersuchungen nach Rassissmus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Antiziganis-mus, Islamfeindlichkeit, Sexismus, Homophobie, der Abwertung von Obdachlosen, Behinderten, Lang-zeitarbeitslosen und nach Etabliertenvorrechten fragt.

 

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Wahlrecht für Tiere?

Zoom machts möglich. Eben habe ich den Vortrag angehört, den der Philosoph Bernd Ladwig im Berliner Seminar Recht im Kontext über die Politische Philosophie der Tierrechte gehalten hat. Der Vortrag hat mich nicht einmal neugierig gemacht. Nun weiß ich jedenfalls, dass ich Ladwigs Buch[1] nicht lesen muss. Aber es ist so dick, dass ich es in meine Literaurhinweise aufnehme.

Ein zentrales Argument Ladwigs: Tiere haben schützenswerte Interessen, denn auch Menschen können kreatürlich, also wie Tiere, leiden. Tiere müssen unter der Zwangsordnung des Rechts leben. Der Rechtsphilosoph Dworkin habe erklärt, eine Zwangsordnung könne nur gerechtfertigt werden, wenn alle ihr Unterworfenen gleich behandelt würden. Also müssten Tiere, wenn es nicht gerade um Fragen der Religionsfreiheit gehe, wie Menschen geschützt werden. Ausbeuterische Nutztierhaltung ist damit passé. Tiere hätten Anspruch auf freie Entfaltung ihrer Tierpersönlichkeit und müssten auch politisch einbezogen werden. Ich ziehe daraus die Konsequenz: Wahlrecht für Tiere!

Der Vortrag gibt mir keinen Anlass, meinen Entwurf des Lehrbuchkapitels über Eigenrechte der Natur zu überarbeiten. Ich stelle den Entwurf nachfolgend ein. Einige Passagen werden den Lesern von Rsozblog bekannt vorkommen.

Eigene Rechte für die Natur?

Literatur: Heike Baranzke, Natur als Subjekt von Eigenrechten – eine sinnvolle Rede?, in: Gerald Hartung/Thomas Kirchhoff (Hg.), Welche Natur brauchen wir?, 2014, 439-460; Klaus Bosselmann, Wendezeit im Umweltrecht. Von der Verrechtlichung der Ökologie zur Ökologisierung  des Rechts, Kritische Justiz 1958, 345-361; ders., Eigene Rechte für die Natur?, Kritische Justiz 1986, 1-22; Sue Donaldson/Will Kymlicka, Zoopolis, A Political Theory of Animal Rights, 2011; William K. Frankena, Ethik und die Umwelt, in: Angelika Krebs (Hg.), Naturethik, 1997, 271-295; Malte-Christian Gruber, Rechtsschutz für nichtmenschliches Leben, 2006; Günter Hager, Das Tier in Ethik und Recht, 2015; Jens Kersten, Das Anthropozän-Konzept, Kontrakt, Komposition oder Konflikt, 2014; Christian Kummer, Pflanzenwürde: Zu einem Scheinargument in der Gentechnikdebatte, Stimmen der Zeit 138, 2013, 21-30; Bernd Ladwig, Politische Philosophie der Tierrechte, 2020; Jörg Luy, Welche Rechte haben Tiere?, Spektrum der Wissenschaft Heft 12/2010, 80-84;Tom Regan, The Case for Animal Rights, 1988; Michael Schlitt, Haben Tiere Rechte? ARSP 78, 1992, 225; Peter Singer, Animal Liberation, 1975; Tom Sparks, Protection of Animals through Human Rights. The Case-Law of the European Court of Human Rights, SSRN Journal, 2018 Katy Sowery, Sentient Beings and Tradable Products: The Curious Constitutional Status of Animals Under Union Law, Common Market Law Review 55, 2018, 55-99; Christopher D. Stone, Umwelt vor Gericht. Die Eigenrechte der Natur, 1987; Holger Zaborowski/Christof A. Stumpf, Menschenwürde versus Würde der Kreatur, RTh 36, 2005, 91-115; Wikipedia, Great Ape Project.

Heft 3/2016 der Zeitschrift »Rechtwissenschaft« ist als Themenheft »Tier und Recht« erschienen. Aus den Beiträgen lässt sich die ältere Literatur rückverfolgen.

Anfang 1988 kam es in der Nordsee zu einem massenhaften Robbensterben. Bilder von angeschwemmten Kadavern beunruhigten Zeitungsleser und Fernsehzuschauer. Umweltschutzverbände machten mit verschiedenen Aktionen auf die zunehmende Verschmutzung der Nordsee aufmerksam. Einige Verbände klagten »im Namen der Robben« – erfolglos – gegen die Einleitung von Schadstoffen in die Nordsee (VG Hamburg, JuS 1989, 240). Als Kuriosität berichtete die JuS auf der Umschlagseite XIII von Heft 6/1992 über einen unveröffentlichten Beschluss des OVG Hamburg, in dem das Gericht übereinstimmend mit der Vorinstanz die erstaunliche Feststellung getroffen hatte, dass die im Rubrum der Entscheidung als »Antragsteller zu I.« aufgeführten »Seehunde der Nordsee« nach dem für die Gerichte maßgeblichen geltenden Recht für ein verwaltungsgerichtliches Verfahren nach § 61 VwGO nicht beteiligungsfähig seien.

So kurios ist die Sache nicht mehr, seitdem die Tierschutzorganisation Peta – vergeblich – Urheberrechte für einen Affen geltend gemacht hat, indem sie in San Franzisko eine Klage im Namen des Affen Naruto von der indonesischen Insel Sulawesi einreichte, mit der für Naruto das Urheberrecht an einem Selfie geltend gemacht wurde. Der britische Fotograf David Slater hatte 2011 eine Serie von Tierbildern aufgenommen. In einem später veröffentlichten Buch fügte er zwei von Naruto aufgenommene Selbstporträts hinzu – die Bilder des grinsenden Affen gingen um die Welt. Slater argumentierte damals, er habe das Urheberrecht an den Fotos, weil er das Stativ aufgebaut habe und dann nur für wenige Minuten weggegangen sei. In dieser Zeit habe der Affe seine Kamera an sich gerissen. Nach Pressemeldungen vom Januar 2016 ist die Klage abgewiesen worden.

Mitte März 2017 meldete die Presse, das Parlament in Wellington/Neuseeland habe dem Whanganui River auf Wunsch der Maori Rechtspersönlichkeit verliehen und ihm einen Vertreter der Maori und einen Vertreter der Regierung als Treuhänder bestellt. Im gleichen Monat entschied der High Court des indischen Bundesstaates Uttarakhand, dass der Ganges und sein wichtigster Nebenfluss, der Yamuna, Rechtspersönlichkeit hätten. Ähnliche Entwicklungen gibt es in Kolumbien und Ekuador. Sie sind inspiriert und legitimiert durch Naturvorstellungen indigener Bevölkerungen, die unter Raubbau und Umweltzerstörung leiden. (Vgl. auchdie engl. Wikipedia-Seite Environmental Personhood.)

Nach geltendem Recht haben Tiere und Pflanzen und Flüsse in Deutschland keine Rechtspersönlichkeit und damit keine eigenen subjektiven Rechte. Sie sind aber durch das objektive Recht geschützt.

Nach § 90a BGB sind Tiere keine Sachen. Doch finden auf Tiere grundsätzlich weiterhin die für Sachen geltenden Vorschriften Anwendung. Nach Art. 141 der bayerischen Verfassung werden Tiere als »Lebewesen und Mitgeschöpfe geachtet und geschützt«. Ähnliche Bestimmungen finden sich auch in den Verfassungen von Berlin, Niedersachsen, Thüringen und des Saarlandes. Im Jahre 2002 wurde der Tierschutz in Art. 20a GG verankert. Bisher hält die Rechtstradition, die die Rechtspersönlichkeit für den Menschen und die von ihm geschaffenen Organisationen reserviert.

Eine breite Tierrechtsbewegung marschiert, um die normative Differenz zwischen Mensch und Tier einzuebnen. Sie erhielt Anschub durch das 1993 erschienene Buch »Menschenrechte für die Großen Menschenaffen – Das Great Ape Projekt« (Originaltitel: The Great Ape Project: Equality Beyond Humanity), das von den Philosophen Paola Cavalieri und Peter Singer herausgegeben wurde. Seither wird in der Diskussion um ein ökologisches Recht nachdrücklich, teilweise sogar militant, die Anerkennung der Rechtsfähigkeit für die Natur oder gar für einzelne Tiere und Pflanzen gefordert. Das wohl jüngste Argument beruft sich auf das Anthropozän-Konzept, das besagt, wir seien in ein Zeitalter eingetreten, in dem nicht länger die Natur, sondern die Menschen die Gestalt der Erde und das Leben auf ihr formten. Als Gegengewicht sollten Teilen der Natur, Tieren und Landschaften, eigene Rechte zugestanden werden.

Die ontologisch-deontologischen Argumentationen lassen sich auf die Frage nach Eigenwert, Würde oder moralischer Qualität, auf die kantische Frage nach dem »Zweck an sich selbst« zuspitzen. Frankena unterscheidet in diesem Zusammenhang acht Ethik-Typen mit weiteren Unterteilungen. Hier genügt es, die üblichen Antworten als »Zentrismen« zu sortieren:

Theozentrismus: Alle Lebewesen zählen kraft ihrer Beziehung zu Gott. Der Theozentrismus ist offen für eine Privilegierung des Menschen, indem er auf die Ebenbildlichkeit des Menschen zu Gott abstellt. Er kann aber auch die Geschöpflichkeit alles Lebendigen und damit die Ehrfurcht vor allem Lebenden betonen. In diesem Sinne ist in Art. 120 II der Schweizerischen Bundesverfassung von der »Würde der Kreatur« die Rede.

Ratiozentrismus und Logozentrismus machen die Frage, ob Wesen um ihrer selbst zählen, von ihrer (potentiellen) Vernunftfähigkeit und ihrem Sprachvermögen abhängig.

Pathozentrismus stellt auf die Empfindungsfähigkeit von Lebewesen ab. Sie zählen moralisch um ihrer selbst willen, wenn sie empfindungsfähig sind und etwas in irgendeiner Form als gut oder schlecht erfahren können.

Biozentrismus: Lebewesen sind moralisch um ihrer selbst zu berücksichtigen, weil sie leben.

Anthropozentrismus: Die Privilegierung des Menschen ist als Anthropozentrismus geläufig. Sie hat eine religiöse und eine ratiozentrische Begründungstradition, die im Begriff der Menschenwürde zusammenfinden.

Die Rechtsprechung nimmt bislang einen anthropozentrischen Standpunkt ein, so auch der EGMR (Spark).

Die Tierschutzorganisation PETA stellte für eine Werbeaktion gegen die Massentierhaltung Bilder aus Tierställen neben Bilder von toten oder lebenden Häftlingen in Konzentrationslagern. Nachdem Berliner Zivilgerichte die Werbeaktion untersagt hatten und Verfassungsbeschwerden erfolglos blieben, entschied auch der EGMR (43481/09) gegen PETA und ließ damit erkennen, dass Tierschutz letztlich ein menschliches Interesse ist.

Die Diskussion um Rechte für die Natur ist zu einem Machtdiskurs im Sinne Foucaults geworden, in dem nicht mehr Argumente, sondern Fußnoten zählen. An die Stelle von Argumenten tritt der Kampfbegriff des Speziezismus, der den Anthropozentrismus in die Nähe von Rassismus und Sexismus rückt. Wer sich äußert, äußert sich in der Regel im Sinne der Tierrechtsbewegung. Die Mehrheit bleibt stumm, bis sie eines Tages nicht mehr reden darf. Es ist daher an der Zeit, Farbe zu bekennen.

Es ist müßig, weiter über ontologische Differenzen zwischen Mensch und Tier zu streiten. Aus naturwissenschaftlicher Sicht ist der Mensch ein höheres Tier. Es lohnt sich auch kaum, darüber zu diskutieren, ob die traditionelle Auffassung, der Mensch unterscheide sich vom Tier durch seinen Vernunftgebrauch, haltbar ist. Dadurch verlagert sich der Streit nur auf den ohnehin problematischen Vernunftbegriff. Man kann Tieren weder Kognitionen noch Emotionen absprechen.

Kaum eine empirische Grenze ist so scharf, wie diejenige zwischen Mensch und Nichtmensch. Bisher ist jedenfalls kein Fall bekannt, indem die Eigenschaft eines Lebewesens als Mensch oder Nichtmensch zweifelhaft gewesen wäre. Die Artgrenze zwischen Mensch und Tier hat seit unvordenklicher Zeit gehalten. Aber auch sie ist grundsätzlich nicht evolutionsfest. Ganz gleich ob es eine fundamentale Grenze zwischen Mensch und Tier gibt, so kann man doch eine solche Grenze ziehen, wenn man der Ansicht ist, dass die Menschenwürde der oberste Wert bleiben soll. Die große Errungenschaft der Grund- und Menschenrechte verliert durch die Proliferation ins Tier- oder gar ins Pflanzenreich an Kraft. Solange Milliarden Menschen nicht in Frieden und Freiheit leben, solange sie hungern, leiden und Ungleichheit ertragen müssen, gilt es, die Grund- und Menschenrechte auf diese Menschen zu konzentrieren. Naturschutz und Tierschutz sind diesem Ziel untergeordnet.

Juristen könnten – besser noch als Theologen – wissen, dass sich nicht das dominium terrae der biblischen Schöpfungsgeschichte, sondern allenfalls eine bestimmte Auslegungstradition für die ökologische Krise der Welt verantwortlich machen lässt. Die Einordnung des gegenwärtigen Erdzeitalters als Anthropozän bestätigt das dominium terrae nicht als Imperativ, sondern als Faktum. Wenn darauf überhaupt noch eine Reaktion möglich, dann nur als solche von Menschen, die den Schaden, den sie sie angerichtet haben, zu begrenzen und vielleicht ein wenig zu reparieren suchen. Hier sind allein Menschen als Pflichtsubjekte gefordert. Deshalb sollten sie auch als Rechtsubjekte privilegiert bleiben. Das ist das Argument von der Rechte-Pflichten-Symmetrie (Baranzke S. 452).

Da hilft es nicht – etwa mit Hilfe des Ethnologen Philippe Descola (Jenseits von Natur und Kultur, 2011) – an animistische Stammesgesellschaften zu erinnern, für die Tiere und Pflanzen beseelt sind und über ein soziales Leben verfügen. Man kann dann die Weltsicht der von Descola beobachteten Jívora-Indianer mit dem Programm des Postmodernismus zu einer der modernen Weltsicht gleichberechtigten Wahrheit erklären. Das ändert den Lauf der Welt nicht mehr.

Solche Privilegierung des Menschen muss nicht deontologisch begründet werden. Wir ziehen einen bescheidenen Utilitarismus vor; bescheiden, weil es nicht um das größte Glück, sondern nur um die Ausräumung großen Unglücks geht. Allerdings ist der klassische Utilitarismus anthropozentrisch; Ausgangspunkt für die Beurteilung jeder Entscheidung ist das Wohl und Wehe der betroffenen Menschen. Deshalb müssen Naturschutz und Tierschutz nicht zurückstehen. Ein menschenzentrierter Utilitarismus bedenkt auch das Wohl der nachfolgenden Generationen und inkorporiert damit das Prinzip der Nachhaltigkeit, das ohne intensiven Tier- und Naturschutz nicht zu halten ist. Damit wird die Frage, welche Schmerzen, Leiden oder Schäden Tieren zugefügt werden und wann sie getötet werden dürfen, zu einer Frage der Verhältnismäßigkeit, bei deren Beantwortung das Wohl von Menschen ein deutliches Übergewicht erhält. Es wiegt so schwer, dass im Interesse menschlichen Wohlergehens selbst die Tötung von Tieren zulässig ist. Alles andere wäre Heuchelei.

Wollte man der Natur Würde im Rechtssinne zuerkennen, so wären die materiell-rechtlichen Konsequenzen begrenzt. Jede gewollte oder auch nur vermeidbare Schädigung von Tieren und Pflanzen wäre danach unmoralisch und müsste wohl auch rechtlich verboten sein. Die (indische) Religion des Jainismus verwirft jede Tötung von Tieren. So weit gehen nicht einmal westliche Vegetarier. Die Idee, dass man nicht bloß Tiere, sondern auch Pflanzen nicht mehr essen und aus ihnen keine Rohstoffe mehr gewinnen dürfe, bedeutete das Ende der Menschheit. Tierwürde und Pflanzenwürde könnten nie in dem Sinne absolut geschützt werden wie die Menschenwürde.

Die Allgemeine Rechtslehre kann zu dieser Auseinandersetzung dadurch beitragen, dass sie feststellt: Rechtstechnisch ist es überhaupt kein Problem, bestimmten Teilen der belebten oder unbelebten Natur Rechtsfähigkeit zu verleihen und ihnen in der Folge auch subjektive Rechte zuzuerkennen. Natürlich muss dann durch eine Vertretungsregelung die Handlungsfähigkeit der zur Rechtsperson erhobenen Gebilde hergestellt werden. Deshalb wären es im Ergebnis doch Menschen, die die »Rechte der Natur« wahrnehmen müssten. Auf Dauer schließt diese Sichtweise nicht aus, dass auch Tieren Rechte zugestanden werden. Es handelt sich, wie gesagt, um ein rechtstechnisches Problem. Wenn dem Menschen durch Tierrechte besser gedient wäre als ohne, sollte man sie einrichten. Aber es wären Rechte zweiter Klasse.

Ohnehin werden Tierrechte bald nur noch einen Nebenschauplatz bilden. Die neuen Möglichkeiten zu einer Genveränderung mittels CRISPR/Cas9 und die heraufziehende künstliche Intelligenz bilden die Zukunftsfront, an der es die Menschlichkeit zu verteidigen gilt und die erst recht einen anthropozentrischen Standpunkt fordert.


[1] Bernd Ladwig, Politische Philosophie der Tierrechte, 2020 (Suhrkamp).

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Neue Zeitschrift: American Journal of Law and Equality

Inflation überall. Es gibt einmal wieder eine neue Zeitschrift, und zwar mit dem Titel American Journal of Law and Equality. Sie erscheint in Open Access bei MIT Press. Jedenfalls zwei von den drei Herausgebern sind so prominent, dass man den Neuling wohl beobachten muss: Martha Minow und Cass Sunstein. Der dritte im Bunde, Randall Kennedy (Harvard Law School), war mir bisher nicht bekannt.

Das erste Heft berichtet über ein »Symposium on Michael Sandel’s The Tyranny of Merit«. Sandels Buch nimmt zum Ausgang den Skandal um William Singer, der wohlhabenden Eltern gegen hohe Schmiergelder für ihre Sprösslinge den Zugang zu Eliteuniversitäten verschaffte, und verallgemeinert diesen Skandal dahin, dass das Leistungsprinzip im Erziehungssystem der USA von den reicheren Familien unterlaufen werde. Sandel stellt die Frage, ob es hier nur um eine Korrumpierung des Prinzips gehe oder ob das Prinzip als solche problematisch sei. Das eigentliche Problem findet er darin, dass das Leistungsprinzip die Reichen verführe, ihren Reichtum, wie auch immer sie ihn erworben haben, für moralisch gerechtfertigt zu halten. Das bedeutet umgekehrt, dass man denen, die es nicht geschafft haben, sagen kann: selbst schuld. Die Selbstgerechtigkeit der Reichen spiegele sich wiederum in dem populistischen Aufstand gegen die Eliten. Tatsächlich sei unter der Rhetorik der Chancengleichheit die Ungleichheit geradezu explodiert. Der amerikanische Traum, dass Talent und harte Arbeit zum Erfolg führten, sei an der Realität gescheitert. Es sei moralisch keineswegs selbstverständlich, dass Talent belohnt werden müsse. Die Meritokratie verschütte das Gefühl für Schicksal und Zufall. Demut sei angezeigt.

»A perfect meritocracy banishes all sense of gift or grace. It diminishes our capacity to see ourselves as sharing a common fate. It leaves little room for the solidarity that can arise when we reflect on the contingency of our talents and fortunes. This is what makes merit a kind of tyranny, or unjust rule.«

Vielleicht hatte Macron Sandels  Buch gelesen, bevor er im April die Schließung der ENA ankündigte. Das Buch[1] gibt jedenfalls reichlich Stoff zur Diskussion, insbesondere seine These, Bildung sei nicht das Allheilmittel gegen soziale Ungleichheit. Aber deshalb muss man nicht alles lesen, was dazu in der neuen Zeitschrift steht. Hilfreich ist schon die Rezension von Günther Nonnenmacher in der FAZ. Eine kurze Kritik der Kritik der Meritokratie (ohne Bezug auf Sandel) bietet der auch sonst bemerkenswerte Aufsatz von Philipp Kowalski, Geschlechterquoten im Kapitalgesellschaftsrecht Eine interdisziplinäre Analyse, Rechtswissenschaft 12, 2021, 148-183.


[1] Deutsch als Michael J. Sandel, Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt, 2021.

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Hellmuth Mayer: Die gesellige Natur des Menschen I

Aus der Skizze einer Anthropologie aus dem damals aktuellen Anlass der großen Strafrechtsreform ist 1977 eine komplette Sozialanthropologie geworden: Die gesellige Natur des Menschen. Es handelt sich um die letzte Veröffentlichung des Autors. Darin findet noch einmal die ganze Persönlichkeit Hellmuth Mayers Ausdruck: Historisch gebildet und scharfsinnig, lebenserfahren und illusionslos, konservativ–liberal und rechtsstaatsfest, bekennender Protestant, dessen Nächstenliebe nicht zuletzt den Obdachlosen und hoffnungslos weggesperrten Sicherungsverwahrten galt.

Manche Stellen dem Buch von 1977 werden dem Leser von heute anstößig erscheinen. Zumal Leserinnen werden sich empören so, wenn es S. 39 heißt:

»Der einzige Zwang, der die Handlungsfreiheit der Frau wirklich einengt, ist der Zwang der Natur, nicht die angeblich patriarchalische Gewalt des Mannes. In diese Verhältnisse greift die moderne Emanzipation der Frau ein. … Die Emanzipationsbewegung übersieht aber, daß der Mann ebenso in den Familienzusammenhang eingebunden ist wie die Frau. Die emanzipatorischen Postulate sind darum ein Protest gegen die Natur.«

Diese und andere Passagen zur Frauenemanzipation sind in der Tat problematisch. Sie vernachlässigen die Wechselwirkung von Biologie und Sozialgeschichte in Gestalt der Folgen der industriellen Revolution für die familiäre Arbeitsteilung. Darauf werde ich vielleicht in einem besonderen Abschnitt über Mayers Ausführungen zur Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern eingehen. Mayers Pointe liegt in der anthropologischen These, dass Bewusstsein und in der Folge subjektiver und objektiver Geist sich überhaupt gegen die Natur stellen können und dass das unter anderem in der Frauenbewegung erfolgreich geschehen sei. Ein »zurück zur Natur« kommt daher auch für Mayer nicht in Betracht. Der »Protest gegen die Natur« ist wie Fahrradfahren bei Gegenwind. Es ist anstrengend, und es kommt darauf an, ob das Ziel die Anstrengung lohnt.
Ich werde nun kein Inhaltsreferat des Buches[1] liefern, sondern beschränke mich darauf, in diesem einige Fundstücke zu zitieren, die mir bemerkenswert, bedenkenswert oder gar behaltenswert erscheinen.
Heute beginne ich mit Zitaten zur vergleichenden Verhaltenslehre. Die bisherige Annahme der vergleichenden Verhaltenslehre, »der Mensch sei das nicht festgestellte Tier, ein Instinktmangelwesen, eine allen Inhalten offene Struktur« wird relativiert:

»Die neuere Verhaltensforschung legt großen Wert darauf, daß man im vitalen menschlichen Bereich ziemlich fest ausgeformte Instinkte finden kann wie etwa den Suchreflex der Säuglinge, etwa auch die Äußerungsformen, z. B. das Lächeln. Für uns ist wichtiger, daß auch im höheren Verhaltensbereich vieles dem Menschen von Natur nahegelegt erscheint, andere Wege ihm erschwert oder geradezu versperrt sind. Eine völlig offene Struktur ist der Mensch keinesfalls, er besitzt vielmehr eine halbfertige Instinktstruktur, welche zwar große, aber doch nicht jede Freiheit zuläßt.« (S. 6)

»Als Naturwesen ist der Mensch ein Säugetier. Die menschliche Verhaltenslehre muß im Rahmen der vergleichenden Verhaltenslehre gesehen werden. Allerdings hat der Mensch die grundlegende Besonderheit, daß sein soziales Verhalten ohne introspektive Betrachtung nicht einmal zu beschreiben geschweige denn zu erklären ist. Der Mensch ist ein bewußtes Wesen. Sozial-relevante Verhaltensweisen kommen nur zustande, wenn die Antriebe im Bewußtsein verarbeitet wurden … .« (S. 7)

»Wir gehen von der Doppelnatur des Menschen aus, der zugleich als Tier und »als menschliche Persönlichkeit beschrieben werden muß. …
1. Als Tier der Mensch durch seine Leiblichkeit ausgewiesen. Auch sein neurales System erweist ihn trotz aller seiner Sonderheiten als Glied in der Säugetierreihe. Wir gehen daher von der Arbeitshypothese aus, daß die vitale Grundstruktur des Menschen zunächst mit den Mitteln der Naturwissenschaft zu untersuchen ist.

2. Persönlichkeit ist der Mensch als subjektiver Geist, welcher durch die Leiblichkeit bedingt ist, diese aber zugleich in seinen Dienst stellt. Die Äußerungen des subjektiven Geistes reichen von den Anfängen halbbewußten Erlebens, also von den Empfindungen bis zu den höchsten geistigen Leistungen der Phantasie, des begrifflichen und produktiven Denkens, des bewußten verantwortlichen Willens, bis zum Gewissen und zur Selbstgestaltung der Persönlichkeit. … Die empirische Wirklichkeit des subjektiven Geistes, das Spiel der Gefühle und Empfindungen, der erlebten Antriebe und Handlungstendenzen läßt sich schlechterdings nicht von außen, sondern nur von innen, also introspektiv und analogisch verstehend erfahren.« (S. 8f)

»Nach uralter Vorstellung ist das Tier ganz, der Mensch wenigstens teilweise von Instinkten gelenkt. Der Begründer der allgemeinen vergleichenden Verhaltenslehre, Tinbergen, bezeichnet das Forschungsgebiet noch als ›Instinktlehre‹. Diese Bezeichnung ist aber insofern ungenau, als mindestens beim höheren Tier zu fragen ist, ob sein Verhalten nicht teilweise in Lernen und Nachahmung, ja sogar in einsichtigem Tun besteht. Außerdem ist die Bezeichnung Instinkt mit vitalistischen Vorstellungen belastet. Allerdings ist die Bezeichnung Verhalten auch nicht ideal und erinnert an den Irrtum des Behaviourismus, daß nur das bloß äußere Verhalten wissenschaftlich erforschbar sei. Nun sind aber beim Tier seelische Regungen zu vermuten, beim Menschen zum Verständnis seines äußeren Verhaltens unentbehrlich.« (S.19)

»Triebe sind erlebte Instinke.« (S. 23)

»Jedenfalls besitzen alle höheren Tiere die Disposition zu Nachahmungs-Lernhandlungen. Es finden sich sogar Beispiele angelernter Handlungen, wenn auch von verstandener Tradition kaum die Rede sein kann. Endlich kommen auch einsichtige, insbesondere einsichtige Lernhandlungen vor. Allerdings ist der Radius, in welchem sich die Tiere außerhalb des vorprogrammierten Regelsystems bewegen können, doch recht klein. … Aber daß diese Möglichkeit beim Tier überhaupt besteht, zeigt, daß es außer dem vorprogrammierten Verhaltenssystem auch Dispositionen zu Nachahmungs- und Lernhandlungen gibt und daß einsichtige Handlungen vorkommen. Die Existenz eines solchen Oberbaues zeigt grundsätzlich, daß es dem Prinzip eines Regelsystems nicht widerspricht, daß es von übergeordneten Zentren aus gelenkt werden kann. Anders ausgedrückt, ein Regelsystem kann darauf eingerichtet sein, gelenkt zu werden. Durch lenkende Eingriffe werden dann die vorgegebenen Instinkte nicht etwa ›frustriert‹. Diese Erkenntnis ist für den Vergleich von Tier- und Menschenverhalten wichtig.« (S. 29)

»Die entscheidende Besonderheit des Menschen besteht endlich darin, daß er Träger des subjektiven Geistes und damit Schöpfer des objektiven Geistes ist. … Wir betrachten die Phänomene des Geistes als empirische Gegebenheiten … . (S. 48)

»Grundstufe ist das menschliche Bewußtsein. Man darf auch beim höheren Tier Bewußtsein vermuten. Das menschliche Bewußtsein ist aber sehr viel reicher entwickelt als das tierische und befähigt zu bewußtem Willensentschluß, welcher beim Tier kaum vorkommt.« (S. 49)
[gegen Freud geerichtet]: »In Wahrheit stoßen wir nur an den neuralen Apparat, wo die Arbeit unseres Bewußtseins aufhört.« (S. 50)

[Fortsetzung folgt]


[1] Das Referat von Willsch liest sich wie eine buchhalterische Pflichtübung (Natalie Willsch, Hellmuth Mayer (1895-1980), S. 335-342).

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Widerruf: Jetzt gegen die Legalisierung von Cannabis

Mit der Aussicht auf eine Ampelkoalition rückt die auch von mir in einem Eintrag vom 4. 4. 2012 befürwortete Legalisierung des Cannabiskonsum näher. Die Nachträge zu dem alten Blogpost zeigen, dass sich meine Einstellung langsam geändert hat. Großen Anteil daran hatte meine Tochter, die mir über ihre Erfahrungen als Notärztin in einer Großstadt berichtet und mich mit medizinischer Literatur versorgt hat.

Das Thema ist ausdiskutiert. Ich wäre auch gar nicht in der Lage, noch einen ausgewogenen Bericht über die einschlägigen Erfahrungen und Argumente zu geben. Die Zukunft entwickelt sich ohnehin immer wieder anders als vorhergesehen[1]. Man muss sich entscheiden. Kurzum: Ich widerrufe. Ich will nicht länger für die Legalisierung von Cannabis eintreten.

Ich nutze diesen Eintrag als willkommene Gelegenheit zu einem Zitat aus dem Buch von Hellmuth Mayer »Die gesellige Natur des Menschen« (1977), das ich in anderem Zusammenhang gerade herangezogen habe. Der Abschnitt steht unter der Überschrift »Rauschtrank und Rauschgift-Ekstase« (S. 247f).

»1. Im europäischen Kulturkreis ist seit der Antike der Alkohol das vorrangige Mittel zunächst zur Beruhigung und Steigerung, dann aber auch zur Entrückung im Rausch. Die abendländischen Völker sind seit Jahrtausenden daran gewöhnt, mit dem Alkoholrausch zu leben, die sozialen Sitten sind auf Beherrschung und Steuerung des Rausches eingerichtet. Fremdländische Drogen, sog. Rauschgifte, sind in Europa vielleicht nur deshalb so gefährlich, weil keine hinreichenden Sitten zu ihrer Beherrschung ausgebildet sind. Allerdings sind harte Rauschgifte wie die konzentrierten Derivate des Morphium von vornherein gesundheitlich hoch gefährlich und führen bei dauerndem Genuß schnell zur Süchtigkeit und zum gesundheitlichen und geistigen Verfall. Dieses ist zwar beim Alkohol auch möglich, aber schädliche Wirkungen treten doch so langsam ein, daß die kulturellen Hemmungen meist noch zum Greifen kommen.

2. Wir befassen uns daher in erster Linie mit dem Alkoholrausch. Die Wirkung des Alkohols empfindet der Mensch zunächst als wohltätig. Individuation bedeutet den Zusammenschluß der menschlichen Gefühle und Strebungen in der Einheit der Person. Dieses Ziel erreicht der Mensch niemals völlig und leidet daher an seiner Widersprüchlichkeit. Namentlich junge Menschen kommen über ihre Hemmungen nicht so leicht hinweg. Die innere Freiheit wird getrübt durch Affekte, durch Schwäche und Abspannung. In allen diesen Fällen gilt der Alkohol als ›der Trank der Labe‹ (Schiller). Im Alkoholrausch wird aber auch die völlige Enthemmung gesucht, welche die Verbrüderung mit den Zechgenossen ermöglicht, also die verbindende Ekstase.

Kant schreibt: ›Alle stumme Berauschung, welche die Geselligkeit und Gedanken mitteilen, hat etwas Schädliches an sich.‹ Der individuelle mäßige Gebrauch kann aber wohltätige Arznei sein.

Bei allen Kriegervölkern wurde die Ekstase durch Genuß gemeinsamen Rauschtrankes bei Opfermählern gepflegt. Der Brauch wurde später in den Bierdörfern der studentischen Renommisten fortgesetzt, die kommentmäßigen Studentenkneipen waren und sind die letzten Ausläufer. Die Gefahren des Alkohols haben um 1900 eine Antialkoholbewegung ausgelöst, welche zeitweise sehr große Erfolge hatte. Die freiwillige Enthaltung ist auf jeden Fall sehr nützlich, das zwangsweise Verbot ist aber sehr gefährlich, weil das Verlangen nach Alkohol doch zu stark ist. Als in den USA eine Mehrheit von Frauen zusammen mit einer Minderheit von Männern den Männern das Trinken verbot (Prohibition), erwuchs aus dem Alkoholschmuggel eine Gangsterkriminalität, wie sie die Welt bis dahin noch nicht gesehen hatte. Prohibition machte die harmlosen Alkoholika unerreichbar, so daß namentlich junge Menschen auf harte Spirituosen oder auch auf Drogen umstiegen.

Während der Alkoholgenuß bei mäßigem Verhalten die Persönlichkeit nicht verändert, kommt es bei anderen Drogen nicht nur zur Berauschung, sondern auch zur Einschläferung und zur Bewußtseinsveränderung. Opium mag in manchen Regionen, wo das Opium einheimisch ist und unter der Kontrolle gesellschaftlicher Bräuche steht, noch nicht sehr gefährlich sein. Die Meinungen gehen hier sehr auseinander. Gegenüber der Verharmlosung der Haschischprodukte sei aber doch an das historische Beispiel der Assassins erinnert. Assassin heißt an sich nur Haschischesser, in Erinnerung und Sprache der Franzosen wurde der Assassin zum Mörder schlechthin. Es kommt auch heute noch eine dauernde Abhängigkeit von Anführern in Betracht, welche Morde befehlen können, die der Haschischesser kaltblütig ausführt.

Alkoholkriminalität und Suchtkriminalität sind jedenfalls auch heute überaus groß. Man darf aber eben nicht vergessen, daß die Ekstase und damit auch die künstliche Ekstase ein Urbedürfnis der Menschheit befriedigt.«

Nachtrag — einige Literaturhinweise:

Cannabis Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin e.V.

Celia Morgan u. a., Individual and combined effects of acute delta-9-tetrahydrocannabinol and cannabidiol on psychotomimetic symptoms and memory function.


[1] Dazu heute in der heimlichen Juristenzeitung der Bericht von Thomas Gutschker »Vom Coffeeshop zum Drogenkrieg«.

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