Mehr Mut zur Gestattung der Namensänderung als Integrationshilfe

Für den Einheimischen ist es schwer, die Befindlichkeit von Menschen nachzufühlen, die durch ihren Namen sogleich als Zugewanderte identifiziert werden können. Vermutlich streiten unterschiedliche Gefühle, einerseits eine heimatliche und familiäre Identität, andererseits der Wunsch, sich einer neuen Umwelt anzupassen. Im Spiel ist auch ein gesunder Opportunismus, der allfälligen Diskriminierungen ausweichen will.

Jeder kennt Beispiele für die Anglisierung fremdländischer Namen. Die simpelsten wären Bill für Wilhelm und Miller für Müller. In vorbürokratischen Zeiten geschahen solche Einbürgerungen mehr oder weniger von allein. Meldewesen und Datenverarbeitung lassen jedoch keine informellen Namensänderungen mehr zu. Für formelle Namensänderungen sind in Deutschland Personenstands- und Namensänderungsgesetz maßgeblich. Danach unterscheidet man die personenstandsrechtliche und die öffentlich-rechtliche Namensänderung.[1]

Ausländer haben im Falle der Einbürgerung nach Art. 47 EGBGB[2] ein beschränktes Wahl- und Änderungsrecht hinsichtlich ihres Namens. Ferner bietet bei Eheschließungen die Wahl des Ehenamens Gelegenheit, einen ausländisch klingenden Namen abzulegen. Es wäre interessant zu wissen, in welchem Umfang von diesen Wahlrechten Gebrauch gemacht wird. Daraus könnte man einen Eindruck gewinnen, ob die Betroffenen überhaupt einen Bedarf sehen. Dazu gibt es aber anscheinend keine Zahlen.

Im Übrigen ist für die öffentlich-rechtliche Namensänderung das Namensänderungsgesetz einschlägig, wenn Menschen ihren fremdländisch klingenden Namen ablegen wollen. Es bestimmt in § 3 Abs. 1, dass ein Familienname nur geändert werden darf, wenn ein wichtiger Grund die Änderung rechtfertigt. Damit steht die Zulässigkeit der Namensänderung weitgehend im Ermessen der Behörde und letztlich in der Hand der Gerichte, die dieses Ermessen überprüfen. Da drängt sich die Frage auf, ob angesichts der aktuellen Integrationsprobleme der Integrationswunsch des Namensträgers stärker ins Gewicht fallen sollte.

Das Ermessen der Verwaltungsbehörden wird durch eine Allgemeine Verwaltungsvorschrift (NamÄndVW) gesteuert, deren Nr. 37 besagt:

(1) Aus der Tatsache allein, daß ein Familienname fremdsprachigen Ursprungs ist oder nicht deutsch klingt, kann ein wichtiger Grund für eine Namensänderung im allgemeinen nicht abgeleitet werden; jedoch werden bei fremdsprachigen Familiennamen die Voraussetzungen der Nummer 36 häufig vorliegen.

(2) Im Anschluß an die Einbürgerung eines Ausländers kann der Familienname geändert werden, wenn dieser die ausländische Herkunft des Namensträgers in besonderem Maße erkennen läßt und der Antragsteller im Interesse der weiteren Eingliederung Wert auf einen unauffälligeren Familiennamen legt.

(3) Außerdem können Besonderheiten ausländischen Namensrechts, die bei Gebrauch im Geltungsbereich des Gesetzes hinderlich sind, durch eine Namensänderung beseitigt werden.

Die Nr. 36, auf die hier verwiesen wird, lautet:

Führen Schwierigkeiten in der Schreibweise oder bei der Aussprache eines Familiennamens zu einer nicht nur unwesentlichen Behinderung des Antragstellers, so ist eine Namensänderung regelmäßig gerechtfertigt. Gleiches gilt für Doppelnamen und sehr lange oder besonders umständliche Familiennamen (z.B. »Grüner genannt Waldmüller«).

Was für die Änderung des Familiennamens gilt, hat entsprechend für die Änderung von Vornamen Bedeutung.

Wiewohl die Förderung der Integration bei Art. 47 EGBGB grundsätzlich als Gesetzeszweck anerkannt wird, verfahren die Gerichte bei der Auslegung von § 3 des Namensänderungsgesetzes eher zurückhaltend, indem sie sich eng an die Verwaltungsvorschrift halten und allein den Auslandsbezug des Namens nicht als Änderungsgrund gelten lassen. Zwar hatte das Bundesverwaltungsgericht 1958 eine großzügige Vorgabe gemacht:

»Es stellt einen wichtigen Grund für die Änderung eines ausländischen Familiennamens dar, wenn der Namensträger als Flüchtling bei seiner Eingliederung in das wirtschaftliche und soziale Leben der Bundesrepublik infolge der Führung seines ausländischen Namens objektive oder psychologisch bedingte Schwierigkeiten hat.«[3]

Aber die Verwaltungsgerichte schöpfen diess Angebot nicht aus. Das VG Augsburg vom 19. 10. 2010 meinte, es sei nicht Aufgabe des Namensrechts, vor einer Diskrminierung im Arbeitsleben zu schützen. Da habe der Bund mit seinem Gleichbehandlungsgesetz doch eigentlich genug unternommen.[4] Diese Linie setzt das VG Göttingen in einem U. vom 25. 4. 2012 fort. Ein neueres Urteil des VG Stade vom 30. 4. 2015[5] klingt etwas großzügiger. Allerdings lag der Fall, wie so oft, etwas komplizierter. Im Hintergrund stand die Geschichte einer aramäischen Familie, deren Name in der Türkei zwangsweise geändert worden war, und damit § 44a NamÄndVW, der aber nicht direkt anwendbar war. Die Verwaltungsbehörde hatte sich u. a. darauf gestützt, dass die Eltern des Antragstellers nicht gleich nach der Einbürgerung die Namensänderung beantragt hatten. Das Gericht meinte, das dürfe dem Antragsteller nach Erreichen der Volljährigkeit nicht entgegengehalten werden. Restriktiv dagegen OVG Brandenburg vom 18. 02. 2015[6], das bei der Abweisung eines Prozesskostenhilfeersuchens für die Frage einer »problemlosen und ungestörten Integration« auf eine konkrete Störung abstellt und sich nicht mit allgemeiner Erfahrung zufrieden gibt. Das Verwaltungsgericht Braunschweig soll in einem Urteil vom 17.06.2015 iner deutsch-türkischen Familie die Änderung ihres Nachnamens abgelehnt haben, denn allein ein ausländisch klingender Familienname rechtfertige keine Namensänderung.[7] Dieses Urteil hat wohl auch Kritik sowohl der niedersächsischen Migrationsbeauftragten Doris Schröder-Köpf als auch der früheren VGH-Präsidenten aus Münster, Bertram, hervorgerufen. Bemerkenswert ein Leserkommentar, der darauf hinweist, dass der Großvater der Bundeskanzlerin 1930 seinen Namen (Ludwig) Kazmierczak in Kasner habe ändern dürfen.[8]

Die meisten Antragsteller scheitern, weil sie nicht vortragen und nachweisen, dass ihnen wegen ihres ausländischen Namens bereits Schwierigkeiten entstanden seien. Dabei käme es doch darauf an, solchen Schwierigkeiten vorzubeugen. Die Gerichte müssten sich deshalb auf einen allgemeinen Erfahrungssatz berufen, wonach ein fremdländischer Name die Integration erschwert. Dazu sind sie bisher nicht bereit, vielleicht, weil dazu einschlägige Forschung fehlt. Immerhin gibt es klare Hinweise, dass der Migrationshintergrund die erste Zugangsschwelle erhöht. Die Betroffenen werden häufig gar nicht erst zum Vorstellungsgespräch eingeladen.[9]

Das öffentliche Interesse an einer zuverlässigen Identifizierung und Individualisierung des Namensträgers sollte im Zeitalter der EDV zurückstehen können, denn in den elektronischen Registern kann der geänderte Name leicht mitgeführt werden.

Nachtrag vom 11. Juli 2017: Durch die Nachfrage einer Journalistin, die den Eintrag gelesen hat, erfahre ich, dass der Koalitionsvertrag von CDU und FDP für Nordrhein-Westfalen 2017-2022 auf S. 5 den Passus enthält:

»Gleichzeitig wollen wir den Wünschen vieler zugewanderter Menschen nachkommen und ermöglichen, dass sie ihre Integration durch eine Namensänderung verfestigen können.«

Nachtrag vom 9. September 2017: Hemker, J./Rink, A. (2017), Multiple Dimensions of Bureaucratic Discrimination: Evidence from German Welfare Offices. American Journal of Political Science. doi:10.1111/ajps.12312

Zusammenfassung: Mitarbeiter von Behörden neigen zur Diskriminierung, wenn sie Anfragen von Menschen mit ausländischen Namen erhalten. Das haben Anselm Rink vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und Johannes Hemker (zum Zeitpunkt der Studie an der Columbia University) in einem Experiment herausgefunden. Sie verschickten E-Mails an alle deutschen Jobcenter und stellten Fragen zum Thema Hartz IV. Dabei erhielten Menschen mit türkischen oder rumänischen Namen qualitativ schlechtere Auskünfte als Menschen mit deutschen Namen.

Nachtrag vom 7. 2. 2021: »Mahmuds Schwester heißt Jasmin« – unter dieser Überschrift berichtet Gerald Wagner in der FamS vom 7. 2. 2021 über eine Untersuchung , nach der Migranten ihren Töchtern eher deutsche Namen geben als ihren Söhnen: Jürgen Gerhards/Julia Tuppat, Gendered Pathways to Integration: Why Immigrants‘ Naming Practices Differ by the Child’s Gender, KZfSS 72, 2020, 597-625.

___________________________________

[1] Über die unterschiedlichen Voraussetzungen informieren die Internetseiten der Kommunen.  Hier die einschlägige Seite der Stadt Bochum zur Namensänderung.

[2] Art. 47 Abs. 1 EGBGB bestimmt:
Hat eine Person nach einem anwendbaren ausländischen Recht einen Namen erworben und richtet sich ihr Name fortan nach deutschem Recht, so kann sie durch Erklärung gegenüber dem Standesamt

  1. aus dem Namen Vor- und Familiennamen bestimmen,
  2. bei Fehlen von Vor- oder Familiennamen einen solchen Namen wählen,
  3. Bestandteile des Namens ablegen, die das deutsche Recht nicht vorsieht,
  4. die ursprüngliche Form eines nach dem Geschlecht oder dem Verwandtschaftsverhältnis abgewandelten Namens annehmen,
  5. eine deutschsprachige Form ihres Vor- oder ihres Familiennamens annehmen; gibt es eine solche Form des Vornamens nicht, so kann sie neue Vornamen annehmen.

[3] BVerwG, Urteil vom 16. Mai 1958 – VII C 142.57 (BVerwGE 15, 183 =DVBl. 1958, 831 = DÖV 1958, 706 =), mehrfach bestätigt, z. B. durch Beschluss vom 18. Mai 1989 – 7 B 69/89.

[4] VG Augsburg Urteil vom 19. Oktober 2010 Az. Au 1 K 10.1382.

[5] JURIS-Link.

[6] JURIS-Link

[7] Nach Legal Tribune Online vom 22. 6. 2015.

[8] Ebd., Kommentar Richard Freitag vom 28. 7. 2015.

[9] Ursula Beicht, Junge Menschen mit Migrationshintergrund: Trotz intensiver Ausbildungsstellensuche geringere Erfolgsaussichten, BIBB-Report, 2011 Heft 16 S. 8. Davon geht auch das Projekt Anonymisierte Bewerbungsverfahren der Antidiskriminierungsstelle des Bundes aus.

 

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Wer bezahlt den Datenverkehr aus den heimlichen Abfragen von Google, Facebook & Co?

Anständige Leute haben eine Flatrate. Für mein Smartphone habe ich keine. Nun erfahre ich durch gleich zwei Artikel in der heimlichen Juristenzeitung[1], in welch erstaunlichem Umfang laufend Daten von Handy und PC abgefragt werden, ohne dass ich das selbst veranlasse oder auch nur bemerke. Da überlege ich mir, ob das alles auf das von mir gebuchte Datenvolumen von monatlich 500 MB – damit komme ich leicht aus, wenn ich nicht gerade auf Reisen bin – angerechnet wird.

Ich habe keine Vorstellung, wie sich die Menge des von mir veranlassten Datenverkehrs zu dem Untergrundtraffic verhält. Programme wie Trafficmonitor werden das wohl kaum auseinanderhalten.[2] Es genügt auch nicht, den Datenverkehr zu messen, wenn man selbst nicht im Netz ist, denn die installierten Programme starten Anfragen Updates durchaus mit Zustimmung des Users. Aber da gibt es sicher Experten, die helfen können.

Das sind natürlich die Gedanken eines Spießbürgers. Eigentlich müsste ich darüber entrüstet sein, dass überhaupt von meinem Desktop und von meinem Handy laufend Daten abgezapft werden. Bin ich auch. Aber manchmal sind es ganz triviale Überlegungen, mit denen man nicht trivialen Phänomenen beikommen kann. Wenn ich also dafür bezahlen muss, dass man mich heimlich ausspäht, dann müsste ich mich dagegen doch eigentlich einfacher wehren können als mit dem insoweit anscheinend hilflosen Datenschutzrecht. Selbst wenn sich der Hintergrundverkehr nicht direkt in Gebühren auswirkt, weil er durch eine Flatrate gedeckt ist, so verlangsamt der einschlägige traffic doch Download und den ohnehin langsameren Upload. Ist das der Grund, warum die Internetprovider zurzeit für schnellere und teurere Anschlüsse werben?

[1] Michael Spehr, Jeder Schritt zählt, FAZ Nr. 249 vom 25. 10. 2016 S. T1; Peter Welchering, Der Spion, der mich liebt, FAZ Nr. 249 vom 25. 10. 2016 S. T4, beide nicht frei im Netz.

[2] Computer Bild listet zehn ähnliche Analyse Tools auf. Heise-online hat 631 tools auf der Liste. Die habe ich nicht durchgesehen.

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Wirtschaftsnobelpreis – Ein Fall für Hart und Holmström: Ista und Techem

Bengt Holmström (der in dem ersten Eintrag zum Wirtschaftsnobelpreis vom 11. Oktober 2016 etwas zu kurz gekommen ist) arbeitet seit der Finanzkrise von 2008 wohl eher über Theorie der Finanzmärkte, die für Juristen weniger interessant erscheint.[1] Hier seien daher nur einige ältere Arbeiten zum Principal-Agent-Problem und zur Firma – und damit zur Ökonomischen Vertragstheorie –angeführt[2]:

Moral Hazard and Observability, The Bell Journal of Economics, 1979, 74-91

Aggregation and Linearity in the Provision of Intertemporal Incentives, Econometrica 55, 1987, 303-328 (mit Paul Milgrom)

The Theory of the Firm, in: Handbook of Industrial Organization, 1989, 63-133 (mit Jean Tirole)

Multitask Principal-Agent Analyses: Incentive Contracts, Asset Ownership, and Job Design, Journal of Law, Economics, and Organization 7, 1991, Sonderheft S. 24-52

The Firm as an Incentive System, The American Economic Review 84, 1994, 972-991 (mit Paul Milgrom)

The Boundaries of the Firm Revisited, Journal of Economic Perspectives 12, 1998, 73–94 (mit John Roberts)

Managerial Incentive Problems: A Dynamic Perspective, The Review of Economic Studies 66, 1999, 169-182.

In diesen Arbeiten geht es – ähnlich wie bei Hart – in erster Linie um Anreizverträge. Die sind für die Rechtswissenschaft reizvoller, mag sie auch für die modellhafte Formalisierung und Mathematisierung keine Verwendung haben. Thema sind insbesondere Kontrolle und Motivation von Managern, die mit fremdem Eigentum wirtschaften. Hintergrund ist die Annahme von prinzipiellen Zielkonflikten zwischen einem angestellten Manager (agent) und dem Eigentümer (principal). Manager wollen nicht nur verdienen, sondern ihre Machtfülle steigern. Deshalb sind sie geneigt, die Firma über eine für Produktion und Vertrieb optimale Größe hinaus zu expandieren und/oder ihre Macht durch Unternehmenskäufe oder Zusammenschlüsse zu stärken. Unter der weiteren Prämisse, dass es gilt, den shareholder value zu maximieren, wird nach optimalen Gestaltungen für die Motivierung und Kontrolle angestellter Manager gesucht. Wenn Hierarchie als Gestaltungsmittel ausscheidet, sind explizite und implizite Verträge das Mittel der Wahl.

In diesen Tagen nun wird in der Wirtschaftspresse eine Konstellation ausgebreitet, zu der man gerne eine Ausarbeitung der Laureaten hätte. Die Firmen Ista und Techem, die ihr Geschäft mit der Ablesung von Heizkostenverteilern machen, präsentieren sich als Übernahmekandidaten. Dabei zeigen sie Gewinnquoten von mehr oder weniger 40 % vor. So wird das Geschäftsmodell der beiden beschrieben[3]:

»Ablesedienste erfassen in Mehrparteienhäusern den Heizenergie-, oft zudem den Wasserverbrauch je einzelner Wohnung. Sie schicken den Vermietern oder Hausverwaltern die Rechnungen. Die aber holen sich die Ausgaben von den Bewohnern zurück, einschließlich der Ablesekosten. Diejenigen, die am Ende zahlen, verhandeln also nicht die Verträge – der Vermieter hat einen schwächeren Anreiz, hart zu verhandeln.«

Hier hanelt es sich um eine Vertragskette, bei der die Rechtsbeziehungen anders liegen, als im Verhältnis zwischen principal und agent. Aber der principal, hier der Bewohner, ganz gleich ob selbst (Wohnungs-)Eigentümer oder Mieter, ist dem Paktieren des Vermieters oder Verwalters mit dem Ableser ziemlich hilflos ausgeliefert. Da wäre es interessant, wenn die Laureaten Vorschläge für vertragliche Anreizsysteme machen könnten. Tatsächlich müssen die Beteiligten aber wohl auf das längst fällige Machtwort des Kartellamts warten.

[1] Bengt Holmström/Jean Tirole, Inside and Outside Liquidity, 2011

[2] Lebenslauf und Publikationsverzeichnis von Bengt Holmström findet man auf der Webseite des MIT. Viele Titel sind im Netz frei zugänglich.

[3] FAZ vom 20. 10. S. 18: »45,8 Prozent Rendite fürs Ablesen« [nur im zahlungspflichtigen Archiv].

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Was ist so schlimm an dem Selbstmord eines Selbstmordattentäters?

Die Aufregung nach dem Selbstmord Jaber Albakrs ist groß. Früher hätte man vielleicht gesagt, der Täter habe sich selbst gerichtet. Wenn der CDU-Politiker Bosbach im Interview erklärt, durch den Selbstmord sei die Möglichkeit zu weiterer Aufklärung entfallen[1], so ist diese Äußerung der wahre Grund zur Empörung. Da hätte er auch sagen können, durch den Selbstmord Albakrs blieben dem Staat Hunderttausende für Vollzugs- und Verfahrenskosten erspart.

Tatsächlich geht es hier um das gängige politische Spiel, in dem die Opposition jede Möglichkeit zur Kritik an der Regierung ausschöpft und die Medien die Partei der Opposition ergreifen. Das ist vollkommen in Ordnung so. Aber interessant ist es doch, wie sich ein Fall zum Skandal aufschaukelt.[2] Die Schaukel erhält den Schwung mit einiger Sicherheit daher, dass Sachsen wegen Pegida und wegen der Vorfälle am 3. Oktober in Medienverschiss geraten ist.[3]

Was das Recht betrifft, so ist klar: Aus Art. 2 GG folgt eine allgemeine Schutzpflicht des Staates für menschliches Leben. Die Schutzpflicht gilt grundsätzlich auch im Falle der Selbstgefährdung durch Suizidabsichten. Suizid ist zwar rechtlich nicht verboten, aber wird doch so sehr missbilligt, dass ein Suizidversuch als Unglück i. S. von § 323c StGB angesehen wird, mit der Folge, dass unterlassene Hilfeleistung strafbar ist. Besteht eine Garantenstellung, so kommt sogar ein Tötungsdelikt in Betracht.

Es ist auch nicht zweifelhaft, dass die Strafvollzugsbeamten aus ihrer amtlichen Stellung gegenüber den sonst praktisch hilflosen Gefangenen, die sich zudem noch in einer psychischen Ausnahmesituation befinden, eine Garantenpflicht haben, sie vor Schaden an Leib und Leben zu bewahren. Das gilt auch bei erkennbarer Suizidgefahr.

Für den Normalbürger und wohl auch für den Normal-Kriminellen bedeutet die Untersuchungshaft einen Schock. Deshalb ist Suizidgefahr ist in den ersten Tagen der Untersuchungshaft allgemein höher. Der Normalbürger kann sich allerdings schwer vorstellen, dass jemand, der ein Selbstmordattentat vorbereitet hat, sich von der Untersuchungshaft gleichermaßen erschrecken lässt. Ein medienbekannter Kriminologe begründet im akuten Fall eine hochgradige Selbstmordgefahr damit, dass Albakr einen Heldentod sterben wollte.[4] Da hat auch der Kriminologe nur als Normalbürger geurteilt. Die Anstaltspsychologin hatte da ein besseres Urteil, obwohl ihr insoweit Erfahrungen mit Terroristen fehlten. Wenn sie keine gesteigerte Suizidgefahr sah, spricht das dafür, dass Albakr nicht unter Schock stand.

Es ist nicht Sache der Strafvollzugsbehörde, den Suizid von Gefangenen absolut zu verhindern. Soweit geht die Garantenpflicht der Vollzugsbehörde nicht. Nach § 101 Abs. 1 Satz 2 des Strafvollzugsgesetzes ist sie zu Zwangsmaßnahmen zum Gesundheitsschutz nicht verpflichtet ist, solange von einer freien Willensbestimmung des Gefangenen ausgegangen werden kann. Bei Suizidgefahr darf die Vollzugsbehörde nicht wegsehen. Aber ausnahmsweise darf sie sogar zusehen, wenn ein Gefangener im Hungerstreik verfügt hat, dass ihm auch nach Eintritt der Bewusstlosigkeit nicht geholfen werden soll, denn sie ist bei einem Hungerstreik zur Zwangsernährung berechtigt[5], aber nicht verpflichtet[6]. Wer planmäßig über längere Zeit einen Selbstmordanschlag vorbereitet, dem kann die hinreichende Urteilsfähigkeit schwerlich abgesprochen werden, es sei denn, man wollte sich auf eine allgemeine Determinismusdiskussion einlassen.[7]

Unabhängig vom Einzelfall gilt, dass in den Anfangstagen der Untersuchungshaft erhöhte Suizidgefahr gilt. Bei Albakr hat man mehr getan als im Regelfall. Was hätte die Vollzugsbehörde noch mehr tun sollen? Dauerbeobachtung, Fesselung, Notgemeinschaft mit anderen Gefangenen oder Medikation? Nach allem, was inzwischen bekannt geworden ist, wurden angemessene Vorkehrungen getroffen.

Nun hat Albakr, der eigentlich einen Heldentod sterben wollte, mit seinem Selbstmord – mit oder ohne Absicht – nur noch die Justiz beschämt. Darüber sollte man sich nicht mehr beklagen, als über jeden anderen Gefangenenselbstmord. Von 2000 bis 2015 gab es in deutschen Gefängnissen 1189 Suizide.[8] Jeder einzelne dieser Menschen war und ist so viel wert wie Jaber Albakr.

[1] WDR 5 am 13. 10. Entsprechend heißt es heute in der Zeitung »Fragen zu seinen mutmaßlichen »Terrorplänen und möglichen Hintermännern bleiben damit vermutlich offen.« (WAZ S. 1)

[2] Zum Justizskandal immer noch interessant Oliver Castendyk, Rechtliche Begründungen in der Öffentlichkeit. Ein Beitrag zur Rechtskommunikation in Massenmedien, 1994.

[3] Typisch der Kommentar von Florian Gathmann auf Spiegel-online: Failed Freistaat.

[4] Focus-online vom 14. 10. 2016.

[5] Vgl. das Informationsblatt zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) von Juni 2014.

[6] Zur Diskussion in der Schweiz  vgl. Informationsplattform Humanrights.ch

[7] In einem Bericht über Suizidprävention im Gefängnis auf Deutschlandradio Kultur wird ein Staltspsychologe zitiert mit der ußerung,

[8] der WAZ vom 14. 10. 2016 S. 4; vgl. auch die Zahlen von Statista für 2000 bis 2004 und von Focus-online vom 8. 11. 2009..

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Die Präventivwirkung des Wissens oder My Home is my Castle

In Essen fand im September die Messe »Security« für Sicherheit und Brandschutz statt. In der FAZ vom 1. 10. 2016 S. 23 war unter der Überschrift »Unsicherheit« ein großer Artikel[1] zu lesen, der mit folgenden Sätzen aufgemacht wurde:

»Die Zahl der Wohnungseinbrüche steigt seit einem Jahrzehnt. Viele Opfer fühlen sich danach nicht mehr in ihrer Umgebung wohl. Die Polizei kommt mit Ermittlungen nicht hinterher. Deshalb rüsten Eigentümer ihre Häuser und Wohnungen auf.«

Und nebenan gab es einen Einbruchsversuch. Die herbeigerufene Polizei gab den Rat, das Haus besser gegen Einbruch zu schützen als der Nachbar. Da stellt sich schon die Frage, ob es eine Obliegenheit der Bürger ist, sich präventiv auf Straftaten anderer einzustellen, auch wenn er sich dazu nicht durch (Versicherungs-) Vertrag verpflichtet hat. Ist man rechtlich, sozial oder moralisch verpflichtet, Haus und Wohnung zu verbarrikadieren, kugelsichere Westen zu tragen, die Ohren gegen Beleidigungen zu verstöpseln und Ausschnitt und Haarpracht gegen anzügliche Blicke zu verschleiern? So könnte es nach den ubiquitären Ratschlägen zu Sicherungsmaßnahmen erscheinen, zumal der Staat via KfW solche Maßnahmen bezuschusst und sich selbst mit Nizza-Blöcken einigelt.

Prävention wird von den Füßen auf den Kopf gestellt, wenn Vorkehrungen zum Schutz vor Normverletzungen sich nicht mehr gegen potentielle Täter richten, sondern möglichen Opfern aufgegeben wird, sich selbst zu schützen. Dieser Schutz soll auch noch ganz passiv sein. Aktive Gegenwehr im Einzelfall ist verpönt.

Diese Situationsbescheibung ist wohl ein wenig übertrieben oder gar polemisch. Sie soll nur anzeigen, dass ich den Verbarrikadierungs-Imperativ nicht mag. Ich weiß aber auch keinen besseren Rat. Den Rat der German Rifle Association finde ich schon gar nicht gut. So versuche ich, mich mit einer Erklärung zu trösten. Sie lautet: In der Mahnung zu Sicherungsvorkehrungen äußert sich die Präventivwirkung des Wissens, und Wissen kann doch eigentlich keine schlechten Folgen haben.

Es gilt als ausgemacht, dass die Bevölkerung die Zahl der Straftaten in ihrer Mitte eher unterschätzt[2]. Die Latenz der Straftaten verhindert natürlich eine Verfolgung. Aber das ist, wie Heinrich Popitz 1968 in einem meisterlichen Essay »Über die Präventivwirkung des Nichtwissens« dargestellt hat, kein Nachteil. Normen hätten etwas Starres und damit auch stets etwas Überforderndes, Illusionäres. Diese Starrheit entspreche dem Zweck jeder Normierung, Regelmäßigkeiten durchzusetzen, Verhalten zu binden und voraussehbar zu machen. Das Sanktionssystem müsse die Starrheit zumindest weitgehend übernehmen, könne und müsse sich aber auch gleichzeitig entlasten. Das geschehe zu einem höchst wesentlichen Teil durch eine Begrenzung der Verhaltensinformation. Sie öffne eine Sphäre, in der sich das Normen- und Sanktionssystem nicht beim Wort nehmen müsse, ohne doch seinen Geltungsanspruch offenkundig aufzugeben. »Kein System sozialer Normen könnte einer perfekten Verhaltenstransparenz ausgesetzt werden, ohne sich zu Tode zu blamieren.« Die Blamage nähme ihren Anfang auf der Verhaltensebene, denn wüsste jeder um alle Normverstöße, litte die eigene Normtreue.[3] Und wenn gar jeder Täter bestraft würde, verlöre die Strafe ihre Bedeutung.

»Wenn auch der Nachbar zur Rechten und zur Linken bestraft wird, verliert die Strafe ihr moralisches Gewicht…Auch die Strafe kann sich verbrauchen. Wenn die Norm nicht mehr oder zu selten sanktioniert wird, verliert sie ihre Zähne, muß sie dauernd zubeißen, werden die Zähne stumpf.« (Popitz, S. 17 f.)

Normen so Popitz, könnten keine Tiefstrahler vertragen, sie brauchten etwas Dämmerung.

Seither sind bald 50 Jahre vergangen und während dieser Zeit richten sich immer mehr Tiefstrahler auf die Normen der Gesellschaft. Transparenz ist angesagt und die Verwissenschaftlichung des öffentlichen Diskurses schreitet voran. Bad news are good news. Und so leuchten die Medien die Wirklichkeit der Normen aus und informieren uns darüber, dass Wohnungeinbrüche zunehmen, Taschendiebstähle in Bahnhöfen an der Tagesordnung sind[4], Korruption verbreitet ist, die Zahl der Schwarzarbeiter gegen unendlich geht usw. Zugleich hämmern sie dem Publikum immer wieder ein, dass neben dem Hellfeld der Abgrund eines großen Dunkelfeldes gähnt.

In den 1990er Jahren war die steigende Kriminalitätsfurcht ein wissenschaftliches Thema.[5] Reuband etwa legte dar, dass Nachrichten über steigende Kriminalität zwar nicht das eigene Bedrohungsgefühl hätten wachsen lassen, aber doch zu einer negativeren Vorstellung von der allgemeinen Sicherheitslage führten. Er konnte nicht bestätigen, dass deshalb in der öffentlichen Diskussion mehr Prävention und Repression gefordert worden seien. Nach der Jahrtausendwende redete man über einen weltweiten punitive turn.[6] Jetzt also der security turn.

Soziologen waren schon immer von der Normalität von Devianz überzeugt. Das Publikum hat von ihnen gelernt. Eigentlich könnte man froh sein, wenn seine Bestrafungswünsche in Sicherheitsvorkehrungen umgelenkt werden. Aber wenn sich alle verbarrikadieren und nicht wenige den öffentlichen Raum möglichst meiden, will keine Freude aufkommen.

Victim blaming ist nicht neu. Als Schuldzuweisung an sozial Schwache[7] und als Verteidigungsstrategie von Sexualstraftätern gilt es bisher zum Glück noch als unanständig. In der Gesundheitspolitik ist das nicht ganz so eindeutig. Freilich gibt es da keine Täter. Unter dem Druck der Aufklärung über die bloße Papierform vieler Normen gibt es nun Zeichen einer allgemeinen Täter-Opfer-Umkehr, die es Bürgern zur Obliegenheit macht, sich präventiv auf Straftaten anderer einzustellen. Dagegen melde ich Widerspruch an.

Nachtrag vom 24. 10. 2016: Für meinen Widerspruch hätte ich mich auf einen Aufsatz von Tatjana Hörnle[8] berufen können, den ich vor Jahr und Tag einmal hatte, der mir aber wieder entfallen war. Hörnle bedient sich der Figur der Selbstschutzobliegenheit. Sie meint, Selbstschutzobliegenheiten sollten nicht angenommen werden, soweit das auf eine allgemeine Freiheitseinschränkung ohne konkreten Verdacht hinauslaufen würde. Man darf also auch nachts im dunklen Park spazieren gehen. Erst wenn sich ein Risiko konkretisiert hae und vom Opfer erkannt werde, seien Vorsichtsmaßnahmen zu erwarten. Heikel bleibe die Berücksichtigung des Opferverhaltens bei Sexualdelikten. Hier begründe das Erkennen sexueller Absichten des späteren Täters noch keine Selbstschutzpflicht. Die soll erst entstehen, wenn das Risiko erkennbar wird, dass der Täter das Fehlen eines Einverständnisses nicht respektieren werde. Als Folgen einer festgestellten Obliegenheitsverletzung kommt in erster Linie eine Strafmilderung und nur ausnahmsweise Straffreiheit in Betracht.

[1] Autor Philipp Krohn; im Internet nur im kostenpflichtigen FAZ-Archiv.

[2] AnneEva Brauneck, Zur sozialpsychologischen Bedeutung des Kriminalitätsumfangs, in: Hilde Kaufmann u. a., Erinnerungsgabe für Max Grünhut, 1965, 23ff.

[3] Dafür gib t es im Experiment eine, wenn auch schwache, Bestätigung: Andreas Diekmann/Wojtek Przepiorka/Heiko Rauhut, Die Präventivwirkung des Nichtwissens im Experiment, Zeitschrift für Soziologie 40, 2011, 74-84.

[4] Deutsche Wirtschafts Nachrichten vom 26. 9. 2016.

[5] Klaus Boers, Kriminalitätsfurcht, 1991; Karl-Heinz Reuband, Steigende Kriminalitätsfurcht – Mythos oder Wirklichkeit?, Gewerkschaftliche Monatshefte.45, 1994, S. 214 – 220. Karl-Heinz Reuband, Paradoxien der Kriminalitätsfurcht in: NK Neue Kriminalpolitik, Seite 133 – 140.

[6] Fritz Sack, Der weltweite ‚punitive turn‘: Ist die Bundesrepublik dagegen gefeit?, in: Hans-Georg Soeffner (Hg.), Unsichere Zeiten, 2010,  229-244; Rüdiger Lautmann, Wenn die Gesellschaft punitiv wird, kann juristische Professionalität davor schützen?, in: Matthias Mahlmann (Hg.), Gesellschaft und Gerechtigkeit (FS Rottleuthner), 2011, 316-330.

[7] William Ryan, Blaming the Victim, York 1976.

[8] Die Obliegenheit sich selbst zu schützen, und ihre Bedeutung für das Strafrecht, Goltdammer’s Archiv für Strafrecht 156, 2009, 626-635.

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Apple provoziert mehr Schwarzarbeit, die AfD verhindert eine Zusammenlegung von ARD und ZDF und die Niedrigzinspolitik der EZB führt zur Scharia-konformen Wirtschaft

Heute war die Zeitung wieder voll von makrosoziologischen Überlegungen. Der als Schwarzgeld-Ökonom vorgestellte Professor Friedrich Schreiber aus Linz vertrat die These, die Steuervermeidung von Apple in Irland fördere die Schwarzarbeit. Der Journalist Claudius Seidl vertrat die These, angesichts der Forderung Seehofers nach Zusammenlegung der öffentlich rechtlichen Rundfunkanstalten gehöre die AfD zum Besten, was dem öffentlich-rechtlichen System seit langem widerfahren sei. Und unter der Überschrift »Zins, lass nach« analysierten Hanno Beck und Aloys Prinz »die Niedrigzinsen aus der Froschperspektive«. Die Makroökonomen hätten ja schon lange Zweifel an der Wirksamkeit der Niedrigzinspolitik. Nun müsse man die mikroökonomischen Folgen noch stärker in den Blick nehmen, etwa eine Überhitzung der Vermögenspreise. Da bekommt man selbst Lust, zu analysieren und spekulieren.

In Europa gibt es praktisch keine Zinsen mehr. Wirtschaftssachverständige halten diese Zinspolitik, die praktisch auf eine Abschaffung der Zinsen hinausläuft, für wirtschaftlich sinnlos. Welchen Sinn kann sie dann haben? Bekanntlich heißt es in der Sure 2 Vers 275, Allah habe den Handel erlaubt und das Zinsnehmen verboten.  Liegt da nicht der Gedanke nahe, dass Mario Draghi (radiallahu anhu) und seine Kollegen im Direktorium der EZB mit ihrer Niedrigzinspolitik ein Tor in Richtung auf eine islamverträgliche Wirtschaft aufstoßen, weil diese Politik die westliche Wirtschaft und ihr Publikum daran gewöhnt, dass es auch ohne Zinsen geht?

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Kara Ben Nemsi und der vertikale Pluralismus

Kultureller Pluralismus ist angesagt. Er verlangt den Verzicht auf alles hegemoniale Gehabe oder, positiv formuliert, die Gleichschätzung aller Kulturen. Dabei kommt uns immer wieder die Vergangenheit in die Quere, in der kulturelle Überlegenheitsmuster eher die Regel als die Ausnahme waren. So stellt sich dann die Frage, ob man die Vergangenheit nach ihren eigenen Maßstäben oder nach heutigem Verständnis beurteilen soll. Natürlich, es kommt auf den Zeitabstand und den Verwendungszusammenhang des Urteils an. Der Historiker sollte die Athener nicht schelten, weil sie Sklavenhalter und wohl auch Päderasten waren. Der moralisierende Zeitgenosse dagegen darf der alten Bundesrepublik durchaus ihren freundlichen Umgang mit alten Nazis oder ihr feindlichen Umgang mit Homosexuellen vorwerfen. Aktuell stehen Kirche, Wissenschaft und Öffentlichkeit vor der Frage, wie sie mit dem Antisemitismus Luthers umgehen solllen.[1]

Auf der Suche nach Lektüre für einen Enkel bin ich auf ein Regal mit Bänden von Karl May gestoßen. Herausgegriffen habe ich den Band »Von Bagdad nach Stambul« – und ihn dann selbst (wieder-)gelesen. Karl May war ein Hochstapler, aber er hat niemanden geschädigt, sondern ein Millionenpublikum erfreut. Man mag seine Abenteuerromane für Trivialliteratur oder gar für Schund halten. Aber als solche waren sie großartig. Sie stillten das unendliche Unterhaltungsbedürfnis der Menschen, bevor es Kino und Fernsehen, Computerspiele und Youtube gab.

Die Abenteuer Kara Ben Nemsis auf dem Weg von »Bagdad nach Stambul« spielen in einer islamischen Umgebung, die in Hadschi Halef Omar ihren wichtigsten Repräsentanten findet. Natürlich stellt sich da die Frage nach dem Islambild, das Karl May mit seinen Orient-Romanen vermittelt. Die Recherche führt schnell zu einem Band von Inge Hofmann und Anton Vorbichler, Das Islam-Bild bei Karl May und der islamo-christliche Dialog, der 1979 in Wien erschienen ist.[2] Darin wird Karl May »die Verketzerung des Islam« vorgeworfen (S. 2). Die Karl-May-Lektüre, so erfährt man, vermittelt »ein Bild vom Islam und von den Muslimen, das geeignet ist, die Atmosphäre des Dialogs hoffnungslos zu vergiften.« (S. 3) So gehe etwa die Irrmeinung, der Islam habe der Frau abgesprochen, eine Seele zu haben, auf die Karl-May-Lektüre zurück. Hofmann/Vorbichler (S. 17) zitieren aus Bd. 34 der Gesammelten Werke Karl Mays mit autobiographischen Texten (»Ich«):

»Und über die Undankbarkeit des Abendlandes gegenüber dem Morgenland, dem es doch seine ganze materielle und geistige Kultur verdankt, machte mir allerlei schwere Gedanken. … Ich nahm mir vor,  … dies in meinen Büchern immerfort zu betonen und in meinen Lesern jene Liebe zur roten Rasse und für die Bewohner des Orients zu wecken, die wir als Mitmenschen ihnen schuldig sind. Man versichert mir heute, dies nicht etwa bei nur wenigen, sondern bei Hunderttausenden erreicht zu haben, und ich bin nicht abgeneigt, es zu glauben.«

Hofmann/Vorbichler kommentieren:

»Es wäre sehr schön gewesen, wenn das den Tatsachen entsprochen hätte!«

Deshalb prüfen sie nun die Islam-Darstellung Karl Mays auf ihre Korrektheit mit dem Ergebnis, dass sie durchgehend unhaltbar sei. Eigentlich hat Wolf-Dieter Bach längst das Notwendige zu der Kritik von Hofmann/Vorbichler gesagt[3]:

»Die gestrenge Frage, ob der Herr Puntila samt seinem Knecht typisch finnische Menschen seien, wäre so sinnvoll wie der Versuch, die Stellung des Glücksschweins im zoologischen System zu bestimmen. Und Brecht war Realist!

Auch Karl May sollte nicht an der ethnologischen und kultursoziologischen Stimmigkeit seiner Romane gemessen werden, wie dies die Autoren Hofmann und Vorbichler in ihrer Arbeit tun. Defoes Freitag, Coopers Chingachgook, Melvilles Queequeg sind allesamt keine getreuen Abschilderungen völkerkundlicher Realität. Der Orient, den Voltaire in »Zadig« beschrieb, hat nie existiert er ist genau so wenig authentisch nach wissenschaftlichem Maßstab wie jenes Morgenland, das Orientalen selbst uns schildern: Firdusi etwa, oder die Erzähler von Tausend-und-einer-Nacht. Und selbst ein als Tatsachenbericht sich ausweisendes Orientbuch eines historisch geschulten modernen Europäers wie »Die sieben Säulen der Weisheit« von T. E. Lawrence besteht eine genaue Realitätsprüfung nicht. Orient verführt zur Phantasie.

Kurzum: es ist eine Kinderei, May den Vorwurf zu machen, sein Bild vom Islam sei falsch und verzerrt. Gar keine Frage, daß es dies ist! Aber derlei selbst ohne Vorwurf festzustellen hieße nicht mehr, als der Literatur zu bescheinigen, daß sie sich nur selten peinlich genau an die Vorlagen dieser Welt hält – eine Binsenweisheit, kein Blatt Papier wert. «

Für Einzelheiten kann ich auf die Darstellung von Svenja Bach, Karl Mays Islambild und der Einfluss auf seine Leser (2010) verweisen, auch wenn die apologetische Tendenz der Arbeit nicht zu verkennen ist.[4]

Karl Mays Roman »Von Bagdad nach Stambul«, der in einer Gesamtauflage von 1,5 Millionen verbreitet wurde, ist 1892 erstmals als Buchausgabe erschienen, heute also über 125 Jahre alt. Nach dem Maßstab seiner Zeit war Karl May kein Scharfmacher, sondern eher Versöhner und Pazifist. Auf mich wirkt der Text auch heute noch eher islamophil als islamophob, so wenn er seinen Helden Kara Ben Nemsi bei der Bestattung eines Mohammed Emin mit erhobenen Händen die 75. Sure (Die Auferstehung) beten lässt oder wenn er ihm an anderer Stelle in den Mund legt:

»Allah ist überall, wo der Mensch den Glauben an ihn im Herzen trägt. Er wohnt in den Städten, und er blickt auf die Hammada; er wacht über den Wassern, und er rauscht durch das Dunkel des Urwaldes; er schafft im Innern der Erden und in den hohen Lüften; er regiert den leuchtenden Käfer und die blitzenden Sonnen; du hörst ihn im Jubel der Luft und in dem Rufe des Schmerzes; sein Auge glänzt aus der Thräne der Freude und schimmert aus dem Tropfen, mit welchem das Leid die Wange befeuchtet. Ich war in Städten, wo Millionen wohnen, und ich war in der Wüste, von jeder Wohnung weit entfernt, aber niemals habe ich gefürchtet, allein zu sein, denn ich wußte, daß Gottes Hand mich hielt.«

Auch über die Charakterisierung der Türken kann man sich in Zeiten Erdogans kaum noch aufregen, wenn es (S. 392) über den »kranken Mann am Bosporus« heißt:

» Der Türke ist ein Mensch, und einen Menschen macht man nicht damit gesund, daß die Nachbarn sich um sein Lager stellen und mit Säbeln ein Stück nach dem andern von seinem Leibe hacken, sie, die sie Christen sind. Einen kranken Mann macht man nicht tot, sondern man macht ihn gesund, denn er hat ein ebenso heiliges Recht, zu leben, wie jeder andere. Man entzieht seinem Körper die Krankheitsstoffe, welche ihm schädlich sind, und reicht ihm dagegen das Mittel, welches ihn heilt und wieder zu einem leistungsfähigen Menschen macht. Der Türke war einst ein zwar rauher, aber wackerer Nomade, ein ehrlicher, gutmütiger Geselle, der gern einem jeden gönnte, was ihm gehörte, sich aber auch etwas. Da wurde seine einfache Seele umsponnen von dem gefährlichen Gewebe islamitischer Schwärmereien und Eroberungsgelüste[5]; er verlor die Klarheit seines ja sonst schon ungeübten Urteils, wollte sich gern zurecht finden und wickelte sich nur umso tiefer in Wirrungen hinein. Da wurde der bärbeißige Geselle zornig, zornig gegen sich und andere; er wollte sich einmal Gewißheit schaffen, wollte sehen, ob es wahr sei, daß das Wort des Propheten auf der Spitze der Schwerter über den Erdkreis schreiten werde.«

Entscheidend ist, dass Karl May in seinem Orientzyklus nur den Informationsstand wiedergab, den er aus seinen unbenannten, aber zum großen Teil akademischen Quellen übernahm. Durch Karl May ist der Orientalismus breitenwirksam geworden, den Edward W. Said[6] in kritischer Absicht in erster Linie der akademischen Orientalistik vorgehalten hat. Das rechtfertigt aber keine Kritik an Karl May. Hier ist vertikaler Pluralismus angesagt. Der Pluralismus-Imperativ geriete mit sich selbst in Widerspruch, wenn er Karl May nicht nach den Maßstäben seiner Zeit beurteilte.

Davon abgesehen: Die Suche nach einem richtigen Islambild erweist sich auch für die Gegenwart als schwierig. Es gibt auch heute nicht das eine korrekte Islambild, und schon gar kein verbindliches. Den Maßstab, den Hofmann/Vorbichler anlegen, entnehmen sie einer Lehrbuch-Darstellung[7]. Die üblichen Lehrbuchdarstellungen zeigen einen idealisierten und abstrahierten Islam. Einen etwas realistischeren Eindruck bekommt man vielleicht aus der Lektüre des »Handbuchs Islam« von Ahmad A. Reidegeld oder aus Büchern des Juristen Jasmin Pacic.[8] Mein Eindruck war der einer totalitären Gesetzesreligion. Totalitär heißt hier, dass die Religion die Lebensführung ihrer Gläubigen vom Aufwachen bis zum Einschlafen in den Griff nimmt. Der Lehrbuch-Islam und erst recht der von Bassam Tibi und Mouhanad Khorchide geben kaum ein Bild von dem real existierenden Islam.

Der zentrale Vorwurf von Hofmann/Vorbichler lautet, Karl May habe durchgehend die Überlegenheit des christlichen Glaubens über den Islam zum Ausdruck gebracht, und sie versteigen sich zu der Behauptung:

»Ja – eben darum ging es Karl May: der Islam sollte vernichtet werden, sollte ausgelöscht werden, und dazu war jedes Mittel recht.« (S. 242)

Das Christentum, das Karl May in der Gestalt seiner Helden Kara Ben Nemsi und Old Shatterhand vor sich her trägt, ist eher penetrant. Doch kann man es einem Gläubigen vorhalten, dass er seine eigene Religion für die überlegene oder gar für die einzig richtige hält? Die Theologen aller Religionen haben lange damit gerungen, ihren Absolutheitsanspruch soweit zu reduzieren, dass ein interreligiöser Dialog möglich ist und jedenfalls im politischen Raum der Grundsatz der Gleichberechtigung gelten kann.[9] Aber einen Romanhelden kann man nicht auf politische Korrektheit verpflichten. Und das Lesepublikum, auch das jugendliche, darf man nicht für so töricht halten, dass es einen Roman für bare Münze nimmt.

Die Ironie der Geschichte: Hofmann/Vorbichler zitieren den Bericht über einem zum Islam konvertierten Christen, der angibt, seine ersten Kenntnisse über den Islam Karl May (radiallahu anhu) zu verdanken.

[1] Die weitere Aktualität des Themas zeigt der Artikel von Arnold Bartetzky Die Tyrannei der Beleidigten in der FAZ vom 24. 8. 2016.

[2] Als Band 4 einer Reihe »Beiträge zur Afrikanistik« im Verlag Afro-Pub, als verfielfältigtes Manuskript ohne ISBN.

[3] Mit Mohammed an May vorbei. Zur Kritik I. Hofmanns und A. Vorbichlers an Karl Mays Islam-Phantasien,

[4] Sie ist als Sonderheft 142 der Karl-May-Gesellschaft erschienen.

[5] In dem im Internet verfügbaren Text heißt es »islamitischer Phantastereien, Lügen und Widersprüche«.

[6] Orientalism: Western Conceptions of the Orient, London 1978.

[7] Smail Balić, Ruf vom Minarett, Weltislam heute – Renaissance oder Rückfall? ; eine Selbstdarstellung, ein 1963. Ich habe nur die 3., überarb. Auflage von 1984 zur Hand.

[8] Fiqh ul-`Ibadat. Rechtsbestimmungen über die gottesdienstlichen Handlungen im Islam, Bd. I Reinheit, Gebet, Fasten, 2009; Islamisches Ehe- und Familienrecht, 2010.

[9] Als wissenschaftliches Standardwerk einer pluralistischen Religionstheologie gilt anscheinend Perry Schmidt-Leukel, Gott ohne Grenzen. Eine christliche und pluralistische Theologie der Religionen, Gütersloh 2005. Ich habe nur die ausführliche Rezensionsabhandlung von Ulrich Winkler in der Salzburger Theologischen Zeitschrift 10, 2006, 290-318, gelesen. Was den muslimischen Standpunkt betrifft, habe ich keine zitierwürdige Stellungnahme gefunden. Als Basis dienen wohl Sure 2 »Al-Baqara« (190-194, 256), Sure 3 »Al-‘Imran« (62ff), Sure 9 (85), »At-Tauba«, Sure 16 »An-Nahl« (103-106) und die kurze Sure 109, insbsondere mit ihrem letzten Vers: »Ihr habt eure Religion, und ich habe meine Religion.« Daraus lässt sich wohl allenfalls ein diskriminierender Inklusivismus entnehmen. Die eigene Lektüre des Koran führt aber nicht sehr weit, denn es wird dem Leser mit Sicherheit entgegengehalten, um den Koran zu verstehen, müsse er die arabische Sprache kennen (vgl. Sure 16, 103) und mit den Meinungen der Korangelehrten vertraut sein.

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Folgen des Brexit für Arbeits- und Wissenschaftssprachen in der EU

Natürlich bleibt Englisch auch nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU weiterhin Amtssprache und offizielle Arbeitsssprache, denn mit Irland und Malta gibt es weiterhin zwei englischsprachige Mitgliedsländer. Anders könnte es mit den inoffiziellen (organinternen) Arbeitssprachen aussehen. Als solche hat sich das Englische weitgehend durchgesetzt und besonders das bis zum Beitritt 1972 dominierende Französisch zurückgedrängt.[1] Das wird sich kaum rückläufig entwickeln, denn die englische Sprache wird ihre Bedeutung als Lingua Franca behalten. Aber Italiener, Spanier und Deutsche werden auf stärkere Berücksichtigung ihrer Sprachen drängen. Aus Deutschland wird es allerdings wie bisher bei Lippenbekenntnissen bleiben. Die Sprachloyalität der deutschen Eliten ist so schwach, dass sie lieber weiterhin ihre Englischkenntnisse vorzeigen.

Als interne Arbeitssprache der Kommission müsste das Englische wohl zurücktreten.[2] Auch als Gerichtssprache sollte es weniger selbstverständlich werden. Auf die Wissenschaftssprache dürfte der Brexit weniger Einfluss nehmen. Hier ist die Hegemonie der englischen Sprache zu fest verankert. Immerhin könne sich bei der Antragspraxis etwas ändern. Wer sich bisher an EU-Ausschreibungen beteiligen wollte, hat sich gehütet, in seiner Muttersprache zu schreiben, um sich nicht von vornherein als provinziell zu disqualifizieren (und nicht selten wegen der Sprachbarriere auf eine Beteiligung verzichtet). Nach Zeitungsberichten waren die Briten bei der Einwerbung von EU-Fördermitteln für die Wissenschaft besonders erfolgreich. Die bevorstehende Umverteilung wird interessant.

[1] Johannes Scherb, Amts- und Arbeitssprachen der EU. In: Bergmann (Hg.), Handlexikon der Europäischen Union. Baden-Baden 2012

[2] Ähnliches gilt wohl für den Ausschuss der Botschafter/innen der EU-Mitgliedstaaten der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wird Englisch und Französisch und die Gremien der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Zu deren Sprachpraxis die Äußerung des Auswärtigen Amtes vom 5. 5. 2015.

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Berliner Rechtssoziologie-Kongress: Versprechungen gehalten

Vom 9. bis 11. September fand in Berlin der dritte Kongress der deutschsprachigen Rechtssoziologie-Vereinigungen »Die Versprechungen des Rechts« statt. Die erste Veranstaltung dieser Art gab es 2011 in Luzern, die zweite 2013 in Wien. Die Berliner Tagung hat, soweit ich beobachten konnte, alle Erwartungen erfüllt, die man an eine solche Veranstaltung haben kann. Das Programm verzeichnet 220 aktive Teilnehmer. Den Veranstaltern war es gelungen, nicht wenige Teilnehmer aus Fächern wie Rechtsethnologie, Politikwissenschaft und Governance-Forschung zu mobilisieren, die (wie ich zu sagen pflege) Rechtssoziologie unter fremdem Namen betreiben. Die Tagung war makellos organisiert. Das war wohl nicht zuletzt das Verdienst von Christian Boulanger. Der Tagungsort in der Humboldt-Universität in Berlin-Mitte hatte durch seine Nähe zu Macht und Museen ein gewisses Flair. Susanne Baer hielt am Abend des ersten Tages einen glanzvollen Festvortrag, der den Teilnehmern im Audi-Max den Eindruck vermittelte, dass Rechtssoziologie eigentlich die wichtigste Disziplin sei, wenn es darum geht, die Probleme der Welt mit Hilfe des Rechts zu bewältigen. Das Tagungsformat kopierte das bewährte Muster der Law & Society Association: Bis zu vier Vorträge und möglichst auch noch zwei vorbereitete Kommentare in 90 Minuten. Echte Diskussionen kamen da nicht auf. Aber das ist auch nicht die Funktion solcher Veranstaltungen. Es geht viel mehr um einen Marktplatz der Themen und Ideen und nicht zuletzt um ein Forum, auf dem sich die Anfänger des Fachs das erste oder zweite Mal erproben können. Vermisst habe ich nur, dass praktisch keiner der Referenten seinen Langtext als Paper anbot. Dafür bot das Veranstaltungsprogramm [1]In Buchform mit ISBN-Nr. (978-907230-25-1) herausgegeben von Josef Estermann und Christian Boulanger. relativ ausführliche Zusammenfassungen, und ehrlich, viel mehr hätte man auch kaum lesen können.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 In Buchform mit ISBN-Nr. (978-907230-25-1) herausgegeben von Josef Estermann und Christian Boulanger.

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Der Master of Sexeconomics besucht Deutschland

Vor Jahr und Tag hatte ich eine kleine Serie über Prostitution; erotisches Kapital und Frauenpower begonnen. Anlass war die damals aktuelle Diskussion über eine rechtliche Regelung der Prostitution. Ich hatte auf die schmale und zum Teil schiefe Grundlage der rechtspolitischen Diskussion hingewiesen und anschließend die Frage gestellt, ob das Phänomen der Prostitution nicht bloß Ausfluss der allgemeinen Marktlage im Geschlechterverhältnis sei, die durch einen männlichen Nachfrageüberhang gekennzeichnet werde. Im Folgebeitrag hatte ich aus dem damals noch aktuellen Buch von Catherine Hakim, Erotisches Kapital (2011), die These vom männlichen Sexdefizit übernommen, um weiter zu fragen, warum es Frauen im Laufe der Geschichte nicht gelungen sei, ihre überlegene Position auf dem Markt der sexuellen Beziehungen in Status und Macht umzusetzen.

Ich hatte zwar schon eine Fortsetzung präpariert, habe die Serie dann aber abgebrochen, weil ich mich dem Thema nicht gewachsen fühlte. Ein Grund dafür war die Arbeit von Roy F. Baumeister und Kathleen D. Vohs, Sexual Economics, Culture, Men, and Modern Sexual Trends, Society 49, 2012, 520-524. Nach der Lektüre war ich ratlos. Ich zögere nicht, zentrale Thesen von Baumeister und Vohs (BuV) skandalös zu nennen. Eine kritische Stellungnahme zu den Thesen von BuV konnte ich nicht finden. Zu einer fundierten eigenen Kritik sah ich mich nicht im Stande, zumal ich grundsätzlich die Ausgangsposition von BuV teile, nämlich die Annahme, dass die Geschlechterbeziehungen sich als Austauschverhältnis modellieren lassen und dass es daher auch möglich sein müsste, sie einer quasi-ökonomischen Analyse zu unterziehen. Nun lese ich, dass Roy F. Baumeister mit Hilfe eines großzügig dotierten Humboldt-Forschungspreises für einen längeren Forschungsaufenthalt nach Bamberg kommt. In der Ankündigung heißt es, er zähle zu den 30 einflussreichsten Psychologen aller Zeiten. Außerdem finde ich einen brandneuen Artikel von Catherine Hakim, The Male Sexual Deficit: A Social Fact of the 21st Century [1]International Sociology 30, 2015, 314–335. Da ist wohl doch noch eine Fortsetzung fällig.

Was zunächst den Artikel von Hakim betrifft, so verteidigt sie die These vom männlichen Sexdefizit gegen die feministische Kritik, es handle sich dabei um einen entlarvten Mythos. Viel Neues bietet Hakim nicht. Sie kann immerhin eine eindrucksvolle Menge sozialempirischer Untersuchungen heranziehen. Sie betont zwar, dass das Design der Untersuchungen für eine adäquate Metastudie zu unterschiedlich sei, meint aber doch, aus den vielen Primärstudien und manchen Zusammenfassungen entnehmen zu müssen, das männliche Sexdefizit sei eine kulturell universell anzutreffendes Phänomen. Mir erscheint Hakims Ergebnis auf Grund der mitgeteilten Daten einleuchtend. Ich kann aber nicht wirklich beurteilen, ob sie das Feld richtig bestellt hat.

Auch Roy F. Baumeister und Kathleen D. Vohs (BuV), die sich selbst als Erfinder der Sexualökonomik vorstellen, gehen, wie früher schon, von der Sexdefizit-These aus.

»In simple terms, we proposed that in sex, women are the suppliers and men constitute the demand (Baumeister and Vohs 2004) [2]Roy F. Baumeister/Kathleen D. Vohs, Sexual Economics: Sex as Female Resource for Social Exchange in Heterosexual Interactions. Personality and Social Psychology Review 8, 2004, 339–63.. Sexual marketplaces take the shape they do because nature has biologically built a disadvantage into men: a huge desire for sex that makes men dependent on women.«

Im Grunde haben sie auch Hakims These vom »erotischen Kapital« vorweggenommen:

»Women certainly desire sex too—but as long as most women desire it less than most men, women have a collective advantage, and social roles and interactions will follow scripts that give women greater power than men (Baumeister et al. 2001) [3]Baumeister, Roy F./ Kathleen R. Catanese/ Kathleen D. Vohs, Is There a Gender Difference in Strength of Sex Drive? Views, Conceptual Distinctions, and a Review of Relevant Evidence. Personality and … Continue reading

In dem Aufsatz von 2012 geht es auf den ersten Blick um die Interpretation einer Untersuchung von Regnerus und Uecker aus dem Vorjahr über vorehelichen Sex und die Einstellung zur Ehe in den USA. [4]Mark Regnerus/Jeremy Uecker, Premarital Sex in Amercia: How Young Americans Meet, Mate and Think about Marrying. New York: Oxford University Press, 2011. Ich habe das Buch nicht in der Hand gehabt. Unter der Hand wird daraus jedoch eine sexualökonomische Erklärung mehr oder weniger aller sozialen Beziehungen, die im Geschlechterverhältnis relevant sind, aus dem Marktungleichgewicht von Angebot und Nachfrage nach sexuellen Kontakten. Das meiste war schon in früheren Arbeiten zu lesen, doch nicht so bündig und plakativ. Ich kann mir schwer vorstellen, dass die Sache so einfach ist.

Wenn ich im Folgenden Thesen und Zitate von BuV anführe, so geschieht das nicht affirmativ, sondern in der Überzeugung, dass andere, die in diesem Diskursfeld besser zu Hause sind, sich damit ernsthaft auseinandersetzen sollten.

Im Mittelpunkt der Arbeit von BuV steht die These, die historisch über lange Zeit und in vielen Gesellschaften zu beobachtende kulturelle Unterdrückung weiblicher Sexualität sei mit Hilfe der Sexualökonomie besser zu erklären als mit den geläufigen evolutionspsychologischen oder feministisch-konstruktivistischen Theorien, denn Frauen hätten sich selbst Zurückhaltung im Umgang mit ihrer Sexualität auferlegt, um, ähnlich wie die OPEC beim Öl, durch Verknappung des Angebots den Marktwert zu steigern.

»Similar to how OPEC seeks to maintain a high price for oil on the world market by restricting the supply, women have often sought to maintain a high price for sex by restricting each other’s willingness to supply men with what men want.«

Die sexuelle Revolution der 1970er Jahre lasse sich als Marktkorrektur erklären. Mit wachsender Gleichberechtigung seien die Frauen nicht länger darauf angewiesen, den Preis für Sex in die Höhe zu treiben.

»Recent work has found that across a large sample of countries today, the economic and political liberation of women is positively correlated with greater availability of sex (Baumeister and Mendoza 2011 [5]Roy F. Baumeister/ Juan Pablo Mendoza, Cultural Variations in the Sexual Marketplace: Gender Equality Correlates with More Sexual Activity. The Journal of Social Psychology, 151, 2011, 350 – … Continue reading). Thus, men’s access to sex has turned out to be maximized not by keeping women in an economically disadvantaged and dependent condition, but instead by letting them have abundant access and opportunity.«

Für die Männer sei das schlimm, denn solange Sex knapp war, mussten sie Leistungen vorweisen, um eine Frau zu erringen, und wurden auf diese Weise zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft.

»The man’s overarching goal of getting sex thus motivated him to become a respectable stakeholder contributing to society.«

Die Leistungen der Männer erschöpften sich aber nicht in individuellen Karrieren, sondern sie seien schlechthin die Basis für Fortschritt aller Art:

»That fact can explain most of the history of gender relations, in which the gender near equality of prehistorical societies was gradually replaced by progressive inequality – not because men banded together to oppress women, but because cultural progress arose from the men’s sphere with its large networks of shallow relationships, while the women’s sphere remained stagnant because its social structure emphasized intense one-to-one relationships to the near exclusion of all else (see Baumeister 2010). All over the world and throughout history (and prehistory), the contribution of large groups of women to cultural progress has been vanishingly small.«

Was nunmehr seit einem halben Jahrhundert als Erfolg der Frauenpolitik erscheint, sei nichts weiter als sein großer Handel, in dem die Geschlechter hergäben, was ihnen weniger teuer sei, um Wichtigeres einzutauschen.

»Women, meanwhile, want not only marriage but also access to careers and preferential treatment in the workplace.«

Warum Frauen mehr wollen als Heirat und Kinder, dafür bleiben BuV freilich eine Erklärung schuldig. Die Männer aber, so meinen sie, machent sich für Sex zum Narren, indem sie den Frauen Zugang und sogar Vorzugsbehandlung in Schulen und Universitäten, Wirtschaft und Politik konzedierten, wiewohl doch der Aufbau all dieser Organisationen eine Männerleistung gewesen sei.

»All of this is a bit ironic, in historical context. The large institutions have almost all been created by men. The notion that women were deliberately oppressed by being excluded from these institutions requires an artful, selective, and motivated way of looking at them. Even today, the women’s movement has been a story of women demanding places and preferential treatment in the organizational and institutional structures that men create, rather than women creating organizations and institutions themselves. Almost certainly, this reflects one of the basic motivational differences between men and women, which is that female sociality is focused heavily on one-to-one relationships, whereas male sociality extends to larger groups networks of shallower relationships (e.g., Baumeister and Sommer 1997; Baumeister 2010). Crudely put, women hardly ever create large organizations or social systems.«

Zum Beschluss ein Zitat, das mich vollends vom Hocker gestoßen hat:

»Because of women’s lesser motivation and ambition, they will likely never equal men in achievement, and their lesser attainment is politically taken as evidence of the need to continue and possibly increase preferential treatment for them.«

Viel Spaß in Bamberg!

Anmerkungen

Anmerkungen
1 International Sociology 30, 2015, 314–335
2 Roy F. Baumeister/Kathleen D. Vohs, Sexual Economics: Sex as Female Resource for Social Exchange in Heterosexual Interactions. Personality and Social Psychology Review 8, 2004, 339–63.
3 Baumeister, Roy F./ Kathleen R. Catanese/ Kathleen D. Vohs, Is There a Gender Difference in Strength of Sex Drive? Views, Conceptual Distinctions, and a Review of Relevant Evidence. Personality and Social Psychology Review 5, 2011, 242–73.
4 Mark Regnerus/Jeremy Uecker, Premarital Sex in Amercia: How Young Americans Meet, Mate and Think about Marrying. New York: Oxford University Press, 2011. Ich habe das Buch nicht in der Hand gehabt.
5 Roy F. Baumeister/ Juan Pablo Mendoza, Cultural Variations in the Sexual Marketplace: Gender Equality Correlates with More Sexual Activity. The Journal of Social Psychology, 151, 2011, 350 – 360.

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