Ökofeminismus kennt man. Aber Biofeminismus kennt selbst Google nicht. Bisher gibt es ihn nur als Schreckgespenst der Geschlechterforschung.
»Vor allem in medialen und politischen Diskursen zum nachhaltig niedrigen Geburtenniveau in Deutschland, insbesondere der sogenannt deutschstämmigen Bevölkerung, greift trotz einer inzwischen weit ausgereiften Theoriebildung zu Geschlecht als sozialer Konstruktion die Betonung der ›Natürlichkeit‹ der Geschlechterdifferenz um sich.«[1]
Biofeminismus geht von der Natürlichkeit der Geschlechterdifferenz aus. Er wendet sich damit gegen das Dogma vom Geschlecht als sozialer Konstruktion. Biofeminismus wendet sich nicht gegen die grundlegende Einsicht vom Geschlecht als einer sozialen Rolle. Aber Gender gehört eben doch nur zur zweiten Natur des Menschen, die auf dem biologischen Geschlecht als der ersten Natur aufbaut. Zum biologischen Geschlecht gehört »natürlich« auch, dass es nicht immer eindeutig ist.
Gegen die Übertreibungen des Konstruktivismus formiert sich Widerstand. Drei Koryphäen der deutschen Soziologie, Thomas Luckmann, Hans-Georg-Soeffner und Georg Vobruba, kleiden ihn in eine Anekdote[2]:
»Brecht beschreibt … einen großen Philosophenkongress in China, auf dem es darum ging, ob der Gelbe Fluss wirklich oder nur in den Köpfen existiert. Man hat drei Tage diskutiert und dann ist leider eine große Überschwemmung gekommen und hat alle Philosophen ersäuft. Darum konnte die Frage nie endgültig geklärt werden.«
In der Wissenschaftstheorie ist von einem neuen philosophischen Realismus = Neorealismus die Rede, in den Kulturwissenschaften von einem material turn. Eine neophänomenologische Soziologie, die sich u. a. auf Alfred Schütz beruft, sucht nach dem sozialontologischen Fundament von Sozialität.[3] Für die Soziologie spricht Kneer, allerdings in kritischer Absicht, von Postkonstruktivismus.[4] Ich zögere nicht, den Biofeminismus als postkonstruktivistisch zu charakterisieren, auch wenn es hinter den Sozialkonstruktivismus von Berger und Luckmann kein Zurück gibt. Für eine begriffliche Befreiung aus der konstruktivistischen Umklammerung könnte der Begriff der zweiten Natur hilfreich sein, um den Menschen als soziales Wesen zu begreifen, aber dennoch nicht vollkommen zu entnaturalisieren.[5]
Biofeminismus in diesem Sinne gibt es bisher nicht. Aber viele rufen danach. Biofeminismus muss allerdings von vornherein in einer Weise begründet werden, die einer Okkupation durch falsche Freunde vorbeugt. Die wirksamste Verteidigung ist nach wie vor die Differenz von Sein und Sollen. Die Berufung auf die Natur kann Manches erklären, aber Weniges rechtfertigen. Juristen wissen um die Problematik des Arguments aus der Natur der Sache.
Ich will gerne gestehen, dass dieser Eintrag meinen Unmut über die Publikumsbeschimpfung in dem eingangs angeführten Text zum Ausdruck bringt. Dennoch handelt es sich nicht um einen verspäteten Aprilscherz. Die Zeit des Biofeminismus ist gekommen. Aber es grenzt schon an einen Witz, dass ein Jurist, zudem ein Mann, den Biofeminismus ausruft.
Nachtrag vom 29. 4. 2019: Google ist nicht so klug wie (oder klüger als?) gedacht. Erst im Kontext von »Biofeminismus« auf Rsozblog findet Google den »Bio-Feminismus« mit Bindestrich im Titel einer Rezension von Heike Kahlert von 2013: Bio-Feminismus – die (Re-)Produktion populärwissenschaftlichen Geschlechterwissens in und durch Medien. Rezension zu Lou-Salomé Heer, »Das wahre Geschlecht«. Der populärwissenschaftliche Geschlechterdiskurs im Spiegel (1947 – 2010), Zürich 2012. Frau Kahlert ist Inhaberin des Lehrstuhls für Soziologie/Soziale Ungleichheit und Geschlecht and der Ruhr-Universität und hat vermutlich den Call for Papers formuliert, aus dem ich eingangs zitiert habe.
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[1] So beginnt der Call for Papers für den Workshop »Die Organisation von Familie, Generativität und Geschlecht zwischen Re-Naturalisierung und Vergesellschaftung«, der vom 6.- 8. November 2019 an der Ruhr-Universität stattfinden soll.
[2] »Nichts ist die Wirklichkeit selbst.«, Soziologie 44, 2015, 211-234, S. 234.
[3] Robert Gugutzer, Leib und Situation. Zum Theorie- und Forschungsprogramm der Neophänomenologischen Soziologie, Zeitschrift für Soziologie 46, 2017, 147-166.
[4] Georg Kneer, Jenseits von Realismus und Antirealismus. Eine Verteidigung des Sozialkonstruktivismus gegenüber seinen postkonstruktivistischen Kritikern, Zeitschrift für Soziologie 38, 2009, 5-25.
[5] Gedanke und Formulierung nach Philip Hogh/Julia König, Bestimmte Unbestimmbarkeit. Über die zweite Natur in der ersten und die erste Natur in der zweiten, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 59, 2011, 419–438, S. 421.