Hier die (leicht ergänzte) Inhaltsübersicht zu meinem Vortrag auf der Veranstaltung im WZB:
Kategorie: Allgemein
Recht muss anthropozentrisch bleiben – was sonst? Ein Recht für Cyborgs?
Die natürlichen Artgrenzen zwischen Menschen und anderen Lebewesen und ebenso zwischen Lebewesen überhaupt und Maschinen sind erstaunlich fest. Durch Gentechnik und Neuromanipulationen, Robotik und künstliche Intelligenz könnten sie in Bewegung geraten. Sie sollten verteidigt werden, so jedenfalls mein anthropozentrischer Standpunkt.
Kentauren, Meerjungfrauen und andere Mischwesen sind uns aus der Mythologie vertraut. Wir lieben die Mythologie, aber eben doch nur als solche.
Die Beschäftigung mit künstlichen Menschen und Chimären, mit Homunculi, Androiden, Maschinenmenschen und belebten Puppen, hat eine lange literarische und künstlerische Tradition.[1] Sie beginnt mit der Pygmalion-Sage und Geschichten von Golems. Im 18. Jahrhundert deutete de La Mettrie den Menschen als Maschine, und geniale Handwerker bauten mechanische Puppen. E. T. A. Hoffmann setzte ihnen mit dem »Sandmann« ein literarisches Denkmal, und Mary Shelley schuf 1817 mit »Frankenstein« das Schreckgespenst des modernen Demiurgen. Wir schätzen Literatur und Kunst, auch wenn sie uns zeigen, dass wir als Menschen wohl gar nicht so gottesebenbildlich sind.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich der Film des Themas angenommen (Golem, Frankenstein, Metropolis). In der zweiten Hälfte rücken Robotertechnik und künstliche Intelligenz die Idee vom künstlichen Menschen ein Stück näher an die Realität. Erneut geht der Film mit seinen Phantasieprodukten voraus. Ridley Scotts Film »Blade Runner« (1982) bietet eine postmoderne Aneignung des Golem-Mythos. Auch John Camerons Terminator-Filme mit Arnold Schwarzenegger in der Hauptrolle greifen das im Mythos des Golems enthaltene Albtraumszenario auf. Nachdem das Internet zum Leitmedium geworden ist, konnte es nicht ausbleiben, dass auch dort künstliche Menschen wie Kyoko Date, Lara Croft und Virtual Valerie entstanden sind. Die Schar der Avatare – so werden die virtuellen Kunstwesen im Internet nach den Halbgöttern in Menschengestalt aus der indischen Mythologie genannt – wächst unaufhörlich.[2] Wir freuen uns an solcher Unterhaltung und hoffen inständig, dass Phantasie nicht zur Realität wird.
Mischwesen aus Mensch und Maschine, aus biologischen und künstlichen Teilen haben als Cyborgs einen Namen. Er sich leitet sich vom englischen cybernetic organism ab und wurde 1960 erfunden, als man überlegte, ob es für die Raumfahrt nicht sinnvoller sei, die Körper der Astronauten an die Umgebung im Weltraum anzupassen, als im Weltraum eine Erdatmosphäre herzustellen. Seither steht der Ausdruck für alle realen und virtuellen Versuche, vorhandene Menschen in irgendeiner Weise technisch umzukonstruieren, sozusagen für menschliche Hybriden.
Längst ist selbstverständlich, dass einem Menschen lebloses Material implantiert wird – Zähne, Linsen, künstliche Gelenke, Herzklappen. Kaum weniger selbstverständlich sind einwachsende Transplantate anthropogener Natur. Dem Herzschrittmacher werden auf Dauer weitere intrakorporale Maschinen (Kunstniere, Kunstherz) folgen. Auf das Tissue-Engineering folgt das Neuro-Engineering.[3] Bisher hat auch insoweit die empirische Grenze um den Menschen gehalten. In der Welt, in der ich lebe, hat es meines Wissens noch nie einen Zweifel gegeben, ob wir es mit einem Menschen, mit einer Maschine oder mit einem Cyborg zu tun haben. Wenn Stephen Hawkins sich an seinem 75. Geburtstag die Frage gefallen lassen musste, ob er ein Cyborg sei, weil er nicht nur auf den Rollstuhl, sondern auch auf einen hochentwickelten Computer zur Kommunikation angewiesen ist[4], war das geschmacklose intellektuelle Koketterie.
Die Rede von den Cyborgs ist durch Donna Haraways »Manifesto for Cyborgs« von 1985 prominent geworden.[5] Für Haraway, eine Biologin und feministische Sozialistin, die an der Universität Stanford tätig ist oder war, war der Cyborg eine Metapher, mit der sie dazu aufrief, die Geschlechtergrenzen zu negieren. Um den Cyborg baute sie einen als »blasphemisch« stilisierten Mythos, in dem nicht nur die Grenze zwischen Mann und Frau, sondern auch diejenige zwischen Tier und Mensch verschwinden sollte. Das heißt, sie opferte die Menschlichkeit für die Befreiung der Frau. Damit tat sie den Frauen keinen Gefallen.
Nunmehr könnte die Grenze zwischen Mensch und Tier wirklich durchlässig werden, nachdem die experimentelle Biologie Verfahren entwickelt hat, mit denen Zellen oder Zellbestandteile von zwei Arten gemischt werden können. Bisher handelt es sich dabei zwar nur um Grundlagenforschung, die nicht zu selbständig lebensfähigen Wesen führen soll. Aber nach aller Erfahrung wird eines Tages gemacht, was machbar ist. Noch gibt es einen Konsens, dass die Artgrenze zwischen Mensch und Tier jedenfalls soweit geschützt werden soll, dass keine lebensfähigen Mischwesen entstehen.[6] Der antihumanistische Grundton von Donna Haraway, der Tierrechtsbewegung und den Human Animal Studies stellt diesen Konsens in Frage. Daher wird es Zeit zu sagen: Es kommt nicht darauf an, ob es eine definitive Grenze zwischen Mensch und Tier gibt – es gibt sie nicht –, sondern darauf, ob wir diese Grenze wollen. Ich will sie.
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[1] Klaus Völker, Hrsg., Künstliche Menschen, 1971; Pia Müller-Tamm/Katharina Sykora, Hrsg., Puppen, Körper, Automaten, 1999.
[2] In ganz anderer Weise spielen auch Kunstwesen eine Rolle in § 131 StGB. Diese Vorschrift verbietet Gewaltdarstellungen nicht nur, wenn sie sich gegen Menschen richten, sondern seit einer Gesetzesänderung von 2003 auch dann, wenn »menschenähnliche Wesen« betroffen sind. Michael Köhne erörtert, ob diese Bestimmung mit dem Analogieverbot verträglich ist (Die Strafbarkeit gleichartiger Verhaltensweisen, ZRP 2009, 87 f.).
[3] Vgl. dazu die vermutlich schon wieder überholten Informationen auf der Seite »Hirnforschung des Deutschen Ethikrats.
[4] Alexander Armbruster/Roland Lindner, Was wird der Mensch?, FamS vom 7. 1. 2016.
[5] Socialist Review 80, 1985, 65-108; deutsch in: Donna Haraway, Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, 1995. 33- 72.
[6] Deutscher Ethikrat, Mensch-Tier-Mischwesen in der Forschung, Stellungnahme, 2011.
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Recht muss anthropozentrisch bleiben – was sonst? Zu den Konnationen des Begriffs
Für einen Entwurf zum Eintrag vom 10. Januar 2017 hatte ich mir den Satz notiert: »Anthropozentrismus wird meistens theozentrisch oder ratiozentrisch begründet.« Ich habe ihn schnell wieder gelöscht, weil durch die Ansammlung von Zentrismen die Macht der Konnotationen augenfällig wurde. Anthropozentrismus ist eine schlechte Vokabel, weil sie mit pejorativen Konnotationen einhergeht. Sie sind erst jüngeren Datums, lassen sich aber nicht überhören. Mehr oder weniger alle Ismen teilen dieses Schicksal. Den Anthropozentrismus trifft es besonders hart. Wenn er nicht mit dem Eurozentrismus in eine Ecke gestellt wird, so wird er über die Assoziation mit Speziezismus und schließlich Rassismus desavouiert. Das ist eine unterschwellige Wirkung des Tierrechtsdiskurses. Es hilft nicht, die Gegenbegriffe anzuführen (Biozentrismus, Physiozentrismus), denn die sind nicht geläufig. So haben alle, die sich gegen eine anthropozentrische Einstellung wenden, ein leichtes Spiel, weil sie von negativen Konnotationen unterstützt werden. Man müsste daher für die Sache einen neuen Begriff finden. Ein brauchbares Synonym fehlt. Humanismus ist schon besetzt und zudem selbst ein Ismus. Anthropophil wäre wohl besser als anthropozentrisch, ist aber auch nicht frei von negativen Konnotationen, denn die Liste der Philien hat eine deutliche Schlagseite zu sexuellen Vorlieben.
Anscheinend gibt es zum Anthropozentrismus keine sprachliche Alternative. So bleibt nur die Wahl, den Ausdruck offensiv zu verteidigen. Es geht, wie gesagt, schon längst nicht mehr (nur) um Argumente, sondern um einen Machtdiskurs, in dem die Pelz-Polizei zur Diskurspolizei zu werden droht. Zoophilie[1] ist keine Alternative zum Anthropozentrismus.
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[1] Und Kynophilie schon gar nicht. Schade eigentlich, dass die (satirische) Zeitschrift Kot und Köter nicht weiter macht.
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Rezension zu Peter Kostorz, Grundfragen der Rechtsdidaktik
Peter Kostorz, Grundfragen der Rechtsdidaktik, LIT Verlag Dr. W. Hopf, Berlin 2016, 96 Seiten, ISBN 978-3-643-13522-3, 24,90 EUR.
Anhand von neun W-Fragen unternimmt Peter Kostorz in seiner Monografie den Versuch, Antworten zu finden, mit welchen Methoden und in welcher Abfolge die Lernenden welche Lernziele, (über-)fachliche Kompetenzen und Unterrichtsinhalte mit wem und mit welchen Medien an welchen Lernorten von den Lehrenden vermittelt bekommen. Diese Elemente einer grundlegenden Didaktik an Universitäten und (Fach-)Hochschulen sowie eines rechtskundlichen Unterrichts an weiterführenden Schulen will Kostorz für „die weitere Entwicklung einer geschlossenen Fachdidaktik“ (S. 10) zur Diskussion stellen. 14 teils eigene grafische Abbildungen des Verfassers, ein gelungenes „Resümee“ (S. 85) und ein Literaturverzeichnis (S. 87-96) mit dem Forschungsstand von 1967 (Gustav Grüner, Die didaktische Reduktion als Kernstück der Didaktik, in: Die deutsche Schule 1967, S. 414-430) bis 2016 (Peter Dyrchs, Didaktikkunde für Juristen, München 2016 und Peter Kostorz, Bewertungsmaßstäbe und Bezugsnormen bei der Notenvergabe unter der Lupe des Schulrechts – Was ist pädagogisch sinnvoll, was juristische möglich?, in: Recht der Jugend und des Bildungswesens 2016, S. 270-289) runden die außergewöhnliche Arbeit ab.
Im ersten Kapitel thematisiert Kostorz die Lernenden. Zu ihnen gehören die Studierenden des generalistisch angelegten Studiums der Rechtswissenschaften, deren Ziel die Befähigung zum Richteramt mit der Qualifikation als Volljurist/in ist. Und er weist auf den tatsächlich weiter gefassten „Adressatenkreis rechtlicher Lehre“ hin, angefangen von den Studierenden anderer Studiengänge mit einem bestimmten curricularen Schwerpunkt (den FachjuristenInnen) bis zu den Studierenden an Universitäten und Fachhochschulen, in denen sie die rechtlichen Grundlagen als Bestandteile ihres Studiums zur Herausbildung ihrer beruflichen Handlungskompetenzen als künftige „akademisierte Nicht-Juristen“ erwerben (S. 13).
In Nordrhein-Westfalen wird bereits Schülerinnen und Schülern das Fach „Recht“ in Rechtskunde-AGs, Wahlpflichtveranstaltungen, in Grund- oder in Leistungskursen an weiterführenden allgemein- und berufsbildenden Schulen (S. 14, 15) beigebracht. Da die Lernenden ganz unterschiedliche Bildungs-, Lernvoraussetzungen mitbringen und Berufsziele haben, ist dies bei der „Planung und Ausgestaltung der juristischen Lehre“ und für die „zu fördernden Kompetenzen“ (S. 15) zu berücksichtigen, so Kostorz.
Die Frage nach den konkreten Lernzielen formuliert Kostorz im zweiten Kapitel differenziert anhand der unterschiedlichen beruflichen Handlungsziele der angehenden VolljuristInnen, FachjuristInnen, Teilnehmenden einer schulischen oder dualen Berufsausbildung und jenen SchülerInnen, die „Recht“ als Abiturfach oder in einer Rechtskunde-AG lernen. Die ausgebildeten VolljuristInnen sollen anhand von rechtswissenschaftlichem Grundlagenwissen und juristischem Methodenverständnis befähigt werden, Entscheidungen durch rechtliche Beurteilungen zu treffen (S. 22). Die juristische Arbeitsweise, die vor allem durch die Auslegung von Gesetzen und der schriftlichen Begutachtung von Sachverhalten geprägt ist, ist das Gerüst für den Erwerb einer „möglichst breit angelegten Rechtsmaterie“, die wiederum ein grundlegendes Verständnis über die „Ausgestaltung der Rechtsordnung“ enthält (S. 22).
Ausgebildete FachjuristInnen, die Lebenssachverhalte rechtlich beurteilen und einer Entscheidung zuführen, erwerben berufliche Handlungskompetenzen zur Lösung komplexer, problemorientierter Fragestellungen mit dem Unterschied, dass sie mit einem „größeren aktiven Fachwissen zu einschlägigen Gesetzesurteilen oder Meinungsstreitigkeiten in der Literatur“ (S. 23) qualifiziert werden.
Demgegenüber erlernen die Teilnehmenden einer schulischen oder dualen Berufsausbildung jene rechtlichen Grundlagen, die für die spätere Berufstätigkeit erforderlich sind. Die auf dieses Lernziel aufbauende „rechtskundliche Lehre“ will daher in erster Linie rechtliche Grundkenntnisse berufsspezifisch, zum Beispiel die Einordnung eines Sachmangels an einer Kaufsache, vermitteln (S. 23).
„Akademisierte Nicht-JuristInnen“ setzen sich im Studium mit dem „Recht nur praxisbezogen und anwendungsorientiert in einem Randbereich ihrer eigentlichen späteren Berufstätigkeit“ (S. 24) auseinander. SchülerInnen mit „Recht“ im Abiturfach werden juristische Fertigkeiten, wie die Anwendung der Subsumtionstechnik auf der Grundlage eines formallogischen Denkens, weitergegeben. Dagegen steht bei den Teilnehmenden einer Rechtskunde-AG die Vermittlung von Kenntnissen der Rechtsordnung im Vordergrund, die auch die individuellen Wünsche, Interessen und Erfahrungen der SchülerInnen berücksichtigt (S. 24, 25).
Das dritte Kapitel „Von wem soll gelernt werden?“ (S. 29-33) behandelt die Aufgaben der Lehrenden im Kontext der Rechtsdidaktik: Lehrende an Hochschulen (ProfessorInnen, wissenschaftliche MitarbeiterInnen des akademischen Mittelbaus, Lehrbeauftragte) sind selber JuristInnen mit der Qualifikation zur juristischer Lehre. Lehrkräfte an berufsbildenden Schulen arbeiten als Quer- und Seiteneinsteiger, die „sich nach einem rein juristischen Studienabschuss für eine Tätigkeit im Schuldienst didaktisch nachqualifizieren lassen müssen“ (S. 32). Qualifizierte RechtskundelehrerInnen werden nach Kostorz durch nebenamtliche Lehrkräfte überwiegend aus der Anwaltschaft gewonnen, die „oftmals keinerlei didaktische Erfahrungen haben“ (S. 32).
Die Frage im vierten Kapitel „Was soll gelernt werden?“ (S. 35-41) beantwortet Kostorz mit dem Erfordernis einer „didaktischen Reduktion“ des Fachs Recht. Weil das im Studium und/oder Beruf erworbene Rechtswissen „viel zu komplex und vielschichtig“ sei (S. 35), dient die didaktische Reduzierung des Wissens dem Ziel, die Theorie und den Gesamtzusammenhang des Rechts dem Verständnis des Lernenden und den angestrebten Kompetenzerweiterungen anzugleichen (S. 35/36). Hierbei unterscheidet er einerseits die „quantitative Reduktion“, die im Hochschulbereich von den Vorgaben der Juristenausbildungsgesetze der einzelnen Bundesländer, hochschulinternen Prüfungs- und Studienordnungen sowie Modulhandbücher und in der Schule durch die Richtlinien und Lehrpläne der Kulturministerien der Länder und den schulinternen Jahres- und Stoffverteilungsplänen vorgegeben wird (S. 36, 37). Die „qualitative Reduktion“ dagegen meint die „Begrenzung des Unterrichtsinhaltes zu einem bestimmten Thema und um die Elementarisierung der Darbietungen dieser Inhalte“ (S. 37).
In „Wann soll gelernt werden?“ (S. 43-46) geht es nicht nur um die Reihenfolge einer Lehrveranstaltung (Reihenplanung), sondern vor allem um „die zeitliche Abfolge des Lehr-Lern-Prozesses innerhalb der einzelnen Unterrichts- bzw. Lerneinheiten (so genannte Phasierung des Unterrichts)“ (S. 43), die von einer Einstiegsphase, der lösungsorientierten Erarbeitungsphase und einer ergebnissichernden Abschluss- und Auswertungsphase unter Einsatz von verschiedenen Sozialformen, Methoden und Medien begleitet wird.
Unter dem Kapitel „Mit wem soll gelernt werden?“ (S. 47-56) fasst der Autor die „vier Möglichkeiten des unterrichtlichen Miteinanders“ (S. 47), der Einzel-, Partner-, Gruppen- und Plenumsarbeit, zusammen. Bei der Plenumsarbeit thematisiert er die Möglichkeiten des Miteinander-Arbeitens anhand eines darbietenden, fragend-entwickelnden oder gesprächsbezogenen Unterrichts.
Bei der Gruppenarbeit, die zumeist in der Erarbeitungsphase eingesetzt wird, steht das selbständige und solidarische Arbeiten der Lernenden im Fokus. In der Einzelarbeit beschäftigen sich die Lernenden mit einem individuell erteilten Arbeitsauftrag, in der sie sich mit einem bestimmten rechtlichen Problem oder dem Erarbeiten von verschiedenen Lösungsansätzen beschäftigen (S. 53). Bei der Sozialform der Partnerarbeit steht das kooperative Miteinander im Mittelpunkt und ist etwa dann sinnvoll, wenn „der Arbeitsauftrag für einzelne Lernende zu komplex ist, für eine (organisatorisch vergleichsweise aufwändige) Gruppenarbeit aber zu wenig hergibt“ (S. 54).
Im siebten Abschnitt „Wie soll gelernt werden?“ (S: 57-63) geht es um die Methode, also die angestrebte Vermittlung des Unterrichtsinhalts (S. 57). Hier präsentiert der Wissenschaftler eine Fallstudie und ihrem Sechs-Phasen-Modell (Konfrontation, Information, Exploration, Resolution, Disputation und Kollation), in der die Lernenden eine Bewertung der rechtlichen Grundlagen eines juristischen Sachverhalts (S. 58) vornehmen. Abzugrenzen ist diese Form der induktiven Methode von der deduktiven Fallarbeit, bei der zunächst abstrakt die gesetzlichen Bestimmungen besprochen und anhand von Einzelfällen erläutert werden.
Das achte Kapitel „Womit soll gelernt werden?“ (S. 65-76) ist den Medien zur Vermittlung der Lerninhalte gewidmet, in dem Kostorz auf die Möglichkeiten der Wissensvermittlung durch personale (Sprache, Gestik, Mimik), textuelle (Gesetz, Fachbuch, Aufsatz, Kommentar, Urteil), visualisierende (Prüfungsschemata, Ablaufdiagramme, Symbole und Bilder, Infografiken, Mind-Maps etc.) und realitätsstiftende (Filme, Hörbeiträge, fallartige Geschichten) Medien eingeht und ihren Nutzen anhand von Beispielen beschreibt. Im neunten Teil „Wo soll gelernt werden?“ (S. 77-83) erwähnt der Schriftsteller neben den Klassen-, Seminarraum und Hörsaal als klassische Orte der Wissensproduktion insbesondere außer(hoch)schulische Lernorte, wie beispielsweise die Exkursion und Teilnahme an einer Gerichtsverhandlung, in der Rechtswissen praktisch umgesetzt wird.
In seinem Buch „Grundfragen der Rechtsdidaktik“ formuliert Kostorz allgemeingültige Grundlagen einer fundierten Rechtsdidaktik und stellt wichtige Bezüge zu den Personen der Lernenden und Lehrenden, den Zielen, Methoden, Inhalten, Formen und den Orten des Lernens und der Wissensvermittlung her. Insgesamt nicht nur für HochschuldidaktikerInnenn, sondern ein für alle in der Aus-, Fort- und Weiterbildung an Schulen und (außer)universitären Einrichtungen tätigen Lehrenden wichtiges und empfehlenswertes Buch.
Der Autor Dr. Andreas-Michael Blum, LL.M. (Lancaster University), Diploma German & International Arbitration (Goethe-Universität Frankfurt a.M.), Inhaber des Zertifikats für Hochschuldidaktik (Goethe-Universität Frankfurt a.M.), ist Rechtsanwalt, Mediator und Wirtschaftsmediator und Schlichter in Rodgau (Kreis Offenbach) mit dem Forschungsschwerpunkt Konflikt- und Streitbeilegung.
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Digitalisierung der Rechtskommunikation – der Fortschritt ist eine Schnecke
Schon für die kommende Woche ist in Ulm eine Konferenz zu dem Thema Urteilsfindung per Computer? Experten diskutieren Digitalisierung des Rechts aus europäischer Sicht angekündigt. Es ist zwanzig Jahre her, dass ich einmal einen Vortrag über Über den Einfluß der elektronischen Medien auf das Recht und das juristische Denken gehalten habe. Seither hat sich vieles geändert. Aber eine Revolution hat es nicht gegeben.
In den 1990er Jahren spielte die GMD – die Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung in St. Augustin – eine führende Rolle bei der vom BMJ veranstalteten Strukturanalyse der Rechtspflege. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie uns auf einer der zahlreichen Sitzungen versichert wurde, dass eine Datenverarbeitung nach dem Vorbild neuronaler Netzwerke vieles ändern werde. Bisher hat sich noch nicht einmal die elektronische Akte durchgesetzt. Nun sind die neuronalen Netzwerke wieder Hoffnungsträger. Thema ist auch die Visualisierung von Rechtsinhalten. Damit habe ich mich unter dem Motto Recht anschaulich lange genug beschäftigt und mich am Ende eher enttäuscht abgewendet. Ein neues Thema (das es aber auch schon zu Wikipedia-Ehren gebracht hat) sind smart contracts in Verbindung mit der Blockchain-Technologie, wie sie von Bitcoins und Ethereum bekannt ist. In Ulm ist als Referent auch Stefan Breidenbach dabei. Die ursprünglich von ihm entwickelten Knowledge Tools haben sich anscheinend von einem Werkzeug für die juristische Ausbildung zu einem Instrument insbesondere für das Vertragsmanagement gewandelt und das Stadium des Startups wohl hinter sich.
Die fühlbarste Änderung betrifft die Arbeitsweise der Juristen. Sie brauchen kaum noch Bücher und Papier zur Hand zu nehmen, sondern können sich im Internet und in vielen Datenbanken bedienen. Ob die leichtere Verfügbarkeit zur Folge hat, dass mehr gelesen und verarbeitet wird, wage ich zu bezweifeln. Ich vermute, dass eine Konzentration auf die leicht verfügbaren Quellen stattfindet und dass sich ein Selbstverstärkungseffekt einstellt derart, dass häufig angeführte Gerichtsurteile, Argumente und Meinungen sich durchsetzen.
Die folgenreichste Änderung betrifft die strukturelle Differenz zwischen Individuum und Organisation. Organisationen – Banken, Versicherungen, Anbieter von Waren und Dienstleistungen aller Art gestalten einseitig den Rechtsverkehr mit ihren Kunden und profitieren von dessen Passivität. Meine Kreditkartenabrechnungen kommen nicht mehr mit der Post, sondern ich muss sie mir holen und mich dazu einloggen, um sie zu prüfen – usw. usw.
Eine erwartete Änderung ging dahin, dass juristische Expertise durch intelligente Datenbanken ersetzt werden könnte. Meine damaligen Mitarbeiter Michael Hartmann und Martina Wegge hatten 1993 den Einfluss juristischer Datenbanken auf die Tätigkeit von Versicherungsangestellten mit und ohne juristische Ausbildung erkundet.[1] Sie wagten die Prognose, dass Juristen weithin durch Sachbearbeiter ersetzt werden könnten.
Die wirksamste Änderung betrifft das Alltags- und Jedermann-Recht. Ein gewisses Hemmnis für internetgestützte Laienjurisprudenz besteht darin, dass Open Access bei Juristen verpönt ist. Ihre Veröffentlichungen sind in der Regel nur über teure Datenbanken zugänglich. Etwas besser sieht es mit Gerichtsurteilen aus. Hier kommt hinzu, dass deren Inhalt urheberrechtlich nicht geschützt ist, so dass er beliebig gepatcht werden kann. Aber Formulare für Gebrauchtwagenkaufverträge, Testamente und Patientenverfügungen gibt es en masse. Auch Rechtsrat für Streitfälle kann sich jedermann im Internet holen. Für Routinestreitigkeiten um Fluggastrechte bei Verspätung oder Flugausfall und um die Abrechnung von Mietnebenkosten und andere mehr werden im Internet Rechtsdienstleistungen angeboten.
Die sichtbarste Änderung vollzieht sich in der Anwaltschaft. Sie sieht ihre Felle wegschwimmen. Die Anwälte haben die Kontrolle über den Markt der Rechtsdienstleistungen verloren. Das war die breit ausgeführte These von Richard Susskinds The End of Lawyers.[2] Die Legal Tribune Online hält natürlich dagegen und meint, ersetzt werde nur, wofür man sowieso keine Anwälte brauche. Tatsächlich wird aber wohl das Massengeschäft, von dem auch die Anwälte leben, nach und nach von der Digitalisierung erobert. Von Anbeginn waren Anwaltskanzleien bei der Selbstrepräsentation durch Webseiten und Blogs führend. Nun haben sie auf dem Feld von Legal Tech eine Führungsrolle übernommen, sichtbar etwa im Legal Tech Blog und in verschiedenen Legal-Tech-Startups.
»Die Geschäftsideen der deutschen Legaltech-Branche lassen sich in drei Kategorien einteilen: Die einen versuchen die Rechtsarbeit von Unternehmen zu vereinfachen, die anderen kämpfen um die Rechte von Verbrauchern, etwa bei Flugentschädigungen. Die dritte Gruppe entwickelt Marktplätze für Anwaltsleistungen.«[3]
Bisher verlief die Digitalisierung der Rechtskommunikation eher im Schneckentempo. Aber nicht wenige Innovationen verbreiten sich erst im zweiten oder dritten Anlauf, wenn sie marktgängig werden. Das Thema jedenfalls ist »in«.[4] Für theoretische Reflexion über die Digitalisierung des Rechts war bisher das regelmäßig in Salzburg stattfindende IRIS (Internationales Rechtsinformatik Symposion) führend.[5] Auf den ersten Blick gibt es da keine Verbindung nach Ulm. Umso mehr bin ich gespannt, ob es von der Ulmer Konferenz bald Näheres zu hören gibt. Die Konferenzhomepage ist sehr sparsam mit Informationen.
Nachtrag vom 10. 11. 2016: Weil die Legal-Tech-Diskussion ganz auf Startups ausgerichtet ist, habe ich versäumt, auf das in Deutschland vermutlich wirkmächtigste Legal Tech hinzuweisen, auf das Elster-Programm der Finanzverwaltung. Ich erinnere mich an ein lange zurckliegendes Pausengespräch mit dem Rechtshistoriker Hans Hattenhauer, der mir damals riet: Vor dem Steuerformular müssen Sie keine Angst haben. Wenn Sie das sorgfältig ausfüllen, werden Sie feststellen, das ist programmierter Unterricht im Steuerrecht. Ich bin seinem Rat gefolgt und habe damit nicht nur viel Steuern gespart, sondern auch zu bewundern gelernt, was gute Formulare leisten, dass sie nämlich nicht nur den Anwender führen, sondern als data preprocessing die automatische Verarbeitung erst ermöglichen. Kurzum: Alles was sich mit Formularen abfragen lässt, lässt sich auch automatisieren.
Vgl. auch Christian Veith u. a. , How Legal Technology Will Change the Business of Law, Boston Consulting Group und Bucerius Law School, Janaur 2016. Von dieser Studie heißt es:
Es wurden 50 Interviews mit Partnern von Großkanzleien geführt, darunter die neun größten Kanzleien Deutschlands nach Umsatz, die etwa 13 Prozent des gesamten Umsatzes von Rechtsanwaltskanzleien ausmachen. Zusätzlich wurden Besitzer und Vertreter von Legal-Tech-Unternehmen über die Auswirkungen von Legal Technology auf die Geschäftsmodelle von Kanzleien befragt.
Wie Legal Tech funktioniert und wie sich die Arbeit der Juristen konkret verändert, erfährt man aus dieser Marketing-Studie nicht.
Nachtrag vom 22. 4. 2017: Neuere Literaturhinweise bei Horst Eidenmüller, The Rise of Robots and the Law of Humans, 2017, ssrn.com/abstract=2941001. Ferner der Eintrag über six great books you should consult to decode what is coming on right now auf Legal-Tech-Blog.
Ferner: Remus, Dana and Levy, Frank S., Can Robots Be Lawyers? Computers, Lawyers, and the Practice of Law (November 27, 2016). Available at SSRN: https://ssrn.com/abstract=2701092 or http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.2701092.
Nachtrag vom 22. 4. 2017: Zum Thema jetzt Britta Rehder/Katharina van Elten, Legal Tech & Dieselgate. Digitale Rechtsdienstleister als Akteure der strategischen Prozessführung, Zeitschrift für Rechtssoziologie 39, 2019, 64-86. Das Thema ist am Lehrstuhl von Prof. Rehder in ein Projekt »Digitale Rechtsmobilisierung. Eine Provokation für die Selbstverwaltung?« eingebettet.
Nachtrag vom 17. 62022: Boston Consulting Group/Bucerius Law School/Legal Tech Association, The Future of Digital Justice, Sachstandsbericht Juni2022
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[1]Michael Hartmann/Martina Wegge, Rechtsprechungsdatenbank und professionelle Zuständigkeit, Der Einfluss juristischer Datenbanken auf die Tätigkeit von Versicherungsangestellten mit und ohne juristische Ausbildung, Bochum 1993.
[2] Richard E. Susskind, The End of Lawyers?, Rethinking the Nature of Legal Services, 2. Aufl., Oxford, New York, 2008, 2. Aufl 2010.
[3] 15 Legaltech-Startups, die den Markt aufmischen. Vgl. auch die Liste in dem Posting »LegalTech erobert die Startup-Welt« auf Companisto Blog vom 2. 6. 2016.
[4] Vgl. Katja Scherer, Automatisch recht bekommen, Zeit-online vom 9. 10. 2016; Ulla Fölsing, Mineko bringt Licht in die Mietnebenkosten, FAZ vom 1. 11. 2016.
[5] Den Schneckenpfad der Rechtsinformatik kann man an Hand folgender Literatur verfolgen: Wilhelm Steinmüller (Hg.), EDV und Recht. Einführung in die Rechtsinformatik und das Recht der Informationsverarbeitung,Juristische Arbeitsblätter Sonderheft 6, 2. Aufl., 1976 (1. Aufl. 1970); Gerhard Wolf, Lösung von Rechtsfälen mit Hilfe von Computern? Bisher ungenutzte Chancen der Rechtsinformatik, in: Eva Graul/Gerhard Wolf (Hg.), Gedächtnisschrift für Dieter Meurer, 2002, 665-684; Svenja Lena Gräwe, Die Entstehung der Rechtsinformatik. Wissenschaftsgeschichtliche und -theoretische Analyse einer Querschnittsdisziplin, 2011; Podiumsdiskussion zur Geschichte der Rechtsinformatik, in: Jörn von Lucke (Hg.), Impulse für den Weg zu einer offenen, smarten und vernetzten Verwaltungskultur, 2014, 55-81.
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Mehr Mut zur Gestattung der Namensänderung als Integrationshilfe
Für den Einheimischen ist es schwer, die Befindlichkeit von Menschen nachzufühlen, die durch ihren Namen sogleich als Zugewanderte identifiziert werden können. Vermutlich streiten unterschiedliche Gefühle, einerseits eine heimatliche und familiäre Identität, andererseits der Wunsch, sich einer neuen Umwelt anzupassen. Im Spiel ist auch ein gesunder Opportunismus, der allfälligen Diskriminierungen ausweichen will.
Jeder kennt Beispiele für die Anglisierung fremdländischer Namen. Die simpelsten wären Bill für Wilhelm und Miller für Müller. In vorbürokratischen Zeiten geschahen solche Einbürgerungen mehr oder weniger von allein. Meldewesen und Datenverarbeitung lassen jedoch keine informellen Namensänderungen mehr zu. Für formelle Namensänderungen sind in Deutschland Personenstands- und Namensänderungsgesetz maßgeblich. Danach unterscheidet man die personenstandsrechtliche und die öffentlich-rechtliche Namensänderung.[1]
Ausländer haben im Falle der Einbürgerung nach Art. 47 EGBGB[2] ein beschränktes Wahl- und Änderungsrecht hinsichtlich ihres Namens. Ferner bietet bei Eheschließungen die Wahl des Ehenamens Gelegenheit, einen ausländisch klingenden Namen abzulegen. Es wäre interessant zu wissen, in welchem Umfang von diesen Wahlrechten Gebrauch gemacht wird. Daraus könnte man einen Eindruck gewinnen, ob die Betroffenen überhaupt einen Bedarf sehen. Dazu gibt es aber anscheinend keine Zahlen.
Im Übrigen ist für die öffentlich-rechtliche Namensänderung das Namensänderungsgesetz einschlägig, wenn Menschen ihren fremdländisch klingenden Namen ablegen wollen. Es bestimmt in § 3 Abs. 1, dass ein Familienname nur geändert werden darf, wenn ein wichtiger Grund die Änderung rechtfertigt. Damit steht die Zulässigkeit der Namensänderung weitgehend im Ermessen der Behörde und letztlich in der Hand der Gerichte, die dieses Ermessen überprüfen. Da drängt sich die Frage auf, ob angesichts der aktuellen Integrationsprobleme der Integrationswunsch des Namensträgers stärker ins Gewicht fallen sollte.
Das Ermessen der Verwaltungsbehörden wird durch eine Allgemeine Verwaltungsvorschrift (NamÄndVW) gesteuert, deren Nr. 37 besagt:
(1) Aus der Tatsache allein, daß ein Familienname fremdsprachigen Ursprungs ist oder nicht deutsch klingt, kann ein wichtiger Grund für eine Namensänderung im allgemeinen nicht abgeleitet werden; jedoch werden bei fremdsprachigen Familiennamen die Voraussetzungen der Nummer 36 häufig vorliegen.
(2) Im Anschluß an die Einbürgerung eines Ausländers kann der Familienname geändert werden, wenn dieser die ausländische Herkunft des Namensträgers in besonderem Maße erkennen läßt und der Antragsteller im Interesse der weiteren Eingliederung Wert auf einen unauffälligeren Familiennamen legt.
(3) Außerdem können Besonderheiten ausländischen Namensrechts, die bei Gebrauch im Geltungsbereich des Gesetzes hinderlich sind, durch eine Namensänderung beseitigt werden.
Die Nr. 36, auf die hier verwiesen wird, lautet:
Führen Schwierigkeiten in der Schreibweise oder bei der Aussprache eines Familiennamens zu einer nicht nur unwesentlichen Behinderung des Antragstellers, so ist eine Namensänderung regelmäßig gerechtfertigt. Gleiches gilt für Doppelnamen und sehr lange oder besonders umständliche Familiennamen (z.B. »Grüner genannt Waldmüller«).
Was für die Änderung des Familiennamens gilt, hat entsprechend für die Änderung von Vornamen Bedeutung.
Wiewohl die Förderung der Integration bei Art. 47 EGBGB grundsätzlich als Gesetzeszweck anerkannt wird, verfahren die Gerichte bei der Auslegung von § 3 des Namensänderungsgesetzes eher zurückhaltend, indem sie sich eng an die Verwaltungsvorschrift halten und allein den Auslandsbezug des Namens nicht als Änderungsgrund gelten lassen. Zwar hatte das Bundesverwaltungsgericht 1958 eine großzügige Vorgabe gemacht:
»Es stellt einen wichtigen Grund für die Änderung eines ausländischen Familiennamens dar, wenn der Namensträger als Flüchtling bei seiner Eingliederung in das wirtschaftliche und soziale Leben der Bundesrepublik infolge der Führung seines ausländischen Namens objektive oder psychologisch bedingte Schwierigkeiten hat.«[3]
Aber die Verwaltungsgerichte schöpfen diess Angebot nicht aus. Das VG Augsburg vom 19. 10. 2010 meinte, es sei nicht Aufgabe des Namensrechts, vor einer Diskrminierung im Arbeitsleben zu schützen. Da habe der Bund mit seinem Gleichbehandlungsgesetz doch eigentlich genug unternommen.[4] Diese Linie setzt das VG Göttingen in einem U. vom 25. 4. 2012 fort. Ein neueres Urteil des VG Stade vom 30. 4. 2015[5] klingt etwas großzügiger. Allerdings lag der Fall, wie so oft, etwas komplizierter. Im Hintergrund stand die Geschichte einer aramäischen Familie, deren Name in der Türkei zwangsweise geändert worden war, und damit § 44a NamÄndVW, der aber nicht direkt anwendbar war. Die Verwaltungsbehörde hatte sich u. a. darauf gestützt, dass die Eltern des Antragstellers nicht gleich nach der Einbürgerung die Namensänderung beantragt hatten. Das Gericht meinte, das dürfe dem Antragsteller nach Erreichen der Volljährigkeit nicht entgegengehalten werden. Restriktiv dagegen OVG Brandenburg vom 18. 02. 2015[6], das bei der Abweisung eines Prozesskostenhilfeersuchens für die Frage einer »problemlosen und ungestörten Integration« auf eine konkrete Störung abstellt und sich nicht mit allgemeiner Erfahrung zufrieden gibt. Das Verwaltungsgericht Braunschweig soll in einem Urteil vom 17.06.2015 iner deutsch-türkischen Familie die Änderung ihres Nachnamens abgelehnt haben, denn allein ein ausländisch klingender Familienname rechtfertige keine Namensänderung.[7] Dieses Urteil hat wohl auch Kritik sowohl der niedersächsischen Migrationsbeauftragten Doris Schröder-Köpf als auch der früheren VGH-Präsidenten aus Münster, Bertram, hervorgerufen. Bemerkenswert ein Leserkommentar, der darauf hinweist, dass der Großvater der Bundeskanzlerin 1930 seinen Namen (Ludwig) Kazmierczak in Kasner habe ändern dürfen.[8]
Die meisten Antragsteller scheitern, weil sie nicht vortragen und nachweisen, dass ihnen wegen ihres ausländischen Namens bereits Schwierigkeiten entstanden seien. Dabei käme es doch darauf an, solchen Schwierigkeiten vorzubeugen. Die Gerichte müssten sich deshalb auf einen allgemeinen Erfahrungssatz berufen, wonach ein fremdländischer Name die Integration erschwert. Dazu sind sie bisher nicht bereit, vielleicht, weil dazu einschlägige Forschung fehlt. Immerhin gibt es klare Hinweise, dass der Migrationshintergrund die erste Zugangsschwelle erhöht. Die Betroffenen werden häufig gar nicht erst zum Vorstellungsgespräch eingeladen.[9]
Das öffentliche Interesse an einer zuverlässigen Identifizierung und Individualisierung des Namensträgers sollte im Zeitalter der EDV zurückstehen können, denn in den elektronischen Registern kann der geänderte Name leicht mitgeführt werden.
Nachtrag vom 11. Juli 2017: Durch die Nachfrage einer Journalistin, die den Eintrag gelesen hat, erfahre ich, dass der Koalitionsvertrag von CDU und FDP für Nordrhein-Westfalen 2017-2022 auf S. 5 den Passus enthält:
»Gleichzeitig wollen wir den Wünschen vieler zugewanderter Menschen nachkommen und ermöglichen, dass sie ihre Integration durch eine Namensänderung verfestigen können.«
Nachtrag vom 9. September 2017: Hemker, J./Rink, A. (2017), Multiple Dimensions of Bureaucratic Discrimination: Evidence from German Welfare Offices. American Journal of Political Science. doi:10.1111/ajps.12312
Zusammenfassung: Mitarbeiter von Behörden neigen zur Diskriminierung, wenn sie Anfragen von Menschen mit ausländischen Namen erhalten. Das haben Anselm Rink vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und Johannes Hemker (zum Zeitpunkt der Studie an der Columbia University) in einem Experiment herausgefunden. Sie verschickten E-Mails an alle deutschen Jobcenter und stellten Fragen zum Thema Hartz IV. Dabei erhielten Menschen mit türkischen oder rumänischen Namen qualitativ schlechtere Auskünfte als Menschen mit deutschen Namen.
Nachtrag vom 7. 2. 2021: »Mahmuds Schwester heißt Jasmin« – unter dieser Überschrift berichtet Gerald Wagner in der FamS vom 7. 2. 2021 über eine Untersuchung , nach der Migranten ihren Töchtern eher deutsche Namen geben als ihren Söhnen: Jürgen Gerhards/Julia Tuppat, Gendered Pathways to Integration: Why Immigrants‘ Naming Practices Differ by the Child’s Gender, KZfSS 72, 2020, 597-625.
___________________________________
[1] Über die unterschiedlichen Voraussetzungen informieren die Internetseiten der Kommunen. Hier die einschlägige Seite der Stadt Bochum zur Namensänderung.
[2] Art. 47 Abs. 1 EGBGB bestimmt:
Hat eine Person nach einem anwendbaren ausländischen Recht einen Namen erworben und richtet sich ihr Name fortan nach deutschem Recht, so kann sie durch Erklärung gegenüber dem Standesamt
- aus dem Namen Vor- und Familiennamen bestimmen,
- bei Fehlen von Vor- oder Familiennamen einen solchen Namen wählen,
- Bestandteile des Namens ablegen, die das deutsche Recht nicht vorsieht,
- die ursprüngliche Form eines nach dem Geschlecht oder dem Verwandtschaftsverhältnis abgewandelten Namens annehmen,
- eine deutschsprachige Form ihres Vor- oder ihres Familiennamens annehmen; gibt es eine solche Form des Vornamens nicht, so kann sie neue Vornamen annehmen.
[3] BVerwG, Urteil vom 16. Mai 1958 – VII C 142.57 (BVerwGE 15, 183 =DVBl. 1958, 831 = DÖV 1958, 706 =), mehrfach bestätigt, z. B. durch Beschluss vom 18. Mai 1989 – 7 B 69/89.
[4] VG Augsburg Urteil vom 19. Oktober 2010 Az. Au 1 K 10.1382.
[7] Nach Legal Tribune Online vom 22. 6. 2015.
[8] Ebd., Kommentar Richard Freitag vom 28. 7. 2015.
[9] Ursula Beicht, Junge Menschen mit Migrationshintergrund: Trotz intensiver Ausbildungsstellensuche geringere Erfolgsaussichten, BIBB-Report, 2011 Heft 16 S. 8. Davon geht auch das Projekt Anonymisierte Bewerbungsverfahren der Antidiskriminierungsstelle des Bundes aus.
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Wer bezahlt den Datenverkehr aus den heimlichen Abfragen von Google, Facebook & Co?
Anständige Leute haben eine Flatrate. Für mein Smartphone habe ich keine. Nun erfahre ich durch gleich zwei Artikel in der heimlichen Juristenzeitung[1], in welch erstaunlichem Umfang laufend Daten von Handy und PC abgefragt werden, ohne dass ich das selbst veranlasse oder auch nur bemerke. Da überlege ich mir, ob das alles auf das von mir gebuchte Datenvolumen von monatlich 500 MB – damit komme ich leicht aus, wenn ich nicht gerade auf Reisen bin – angerechnet wird.
Ich habe keine Vorstellung, wie sich die Menge des von mir veranlassten Datenverkehrs zu dem Untergrundtraffic verhält. Programme wie Trafficmonitor werden das wohl kaum auseinanderhalten.[2] Es genügt auch nicht, den Datenverkehr zu messen, wenn man selbst nicht im Netz ist, denn die installierten Programme starten Anfragen Updates durchaus mit Zustimmung des Users. Aber da gibt es sicher Experten, die helfen können.
Das sind natürlich die Gedanken eines Spießbürgers. Eigentlich müsste ich darüber entrüstet sein, dass überhaupt von meinem Desktop und von meinem Handy laufend Daten abgezapft werden. Bin ich auch. Aber manchmal sind es ganz triviale Überlegungen, mit denen man nicht trivialen Phänomenen beikommen kann. Wenn ich also dafür bezahlen muss, dass man mich heimlich ausspäht, dann müsste ich mich dagegen doch eigentlich einfacher wehren können als mit dem insoweit anscheinend hilflosen Datenschutzrecht. Selbst wenn sich der Hintergrundverkehr nicht direkt in Gebühren auswirkt, weil er durch eine Flatrate gedeckt ist, so verlangsamt der einschlägige traffic doch Download und den ohnehin langsameren Upload. Ist das der Grund, warum die Internetprovider zurzeit für schnellere und teurere Anschlüsse werben?
[1] Michael Spehr, Jeder Schritt zählt, FAZ Nr. 249 vom 25. 10. 2016 S. T1; Peter Welchering, Der Spion, der mich liebt, FAZ Nr. 249 vom 25. 10. 2016 S. T4, beide nicht frei im Netz.
[2] Computer Bild listet zehn ähnliche Analyse Tools auf. Heise-online hat 631 tools auf der Liste. Die habe ich nicht durchgesehen.
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Wirtschaftsnobelpreis – Ein Fall für Hart und Holmström: Ista und Techem
Bengt Holmström (der in dem ersten Eintrag zum Wirtschaftsnobelpreis vom 11. Oktober 2016 etwas zu kurz gekommen ist) arbeitet seit der Finanzkrise von 2008 wohl eher über Theorie der Finanzmärkte, die für Juristen weniger interessant erscheint.[1] Hier seien daher nur einige ältere Arbeiten zum Principal-Agent-Problem und zur Firma – und damit zur Ökonomischen Vertragstheorie –angeführt[2]:
Moral Hazard and Observability, The Bell Journal of Economics, 1979, 74-91
Aggregation and Linearity in the Provision of Intertemporal Incentives, Econometrica 55, 1987, 303-328 (mit Paul Milgrom)
The Theory of the Firm, in: Handbook of Industrial Organization, 1989, 63-133 (mit Jean Tirole)
Multitask Principal-Agent Analyses: Incentive Contracts, Asset Ownership, and Job Design, Journal of Law, Economics, and Organization 7, 1991, Sonderheft S. 24-52
The Firm as an Incentive System, The American Economic Review 84, 1994, 972-991 (mit Paul Milgrom)
The Boundaries of the Firm Revisited, Journal of Economic Perspectives 12, 1998, 73–94 (mit John Roberts)
Managerial Incentive Problems: A Dynamic Perspective, The Review of Economic Studies 66, 1999, 169-182.
In diesen Arbeiten geht es – ähnlich wie bei Hart – in erster Linie um Anreizverträge. Die sind für die Rechtswissenschaft reizvoller, mag sie auch für die modellhafte Formalisierung und Mathematisierung keine Verwendung haben. Thema sind insbesondere Kontrolle und Motivation von Managern, die mit fremdem Eigentum wirtschaften. Hintergrund ist die Annahme von prinzipiellen Zielkonflikten zwischen einem angestellten Manager (agent) und dem Eigentümer (principal). Manager wollen nicht nur verdienen, sondern ihre Machtfülle steigern. Deshalb sind sie geneigt, die Firma über eine für Produktion und Vertrieb optimale Größe hinaus zu expandieren und/oder ihre Macht durch Unternehmenskäufe oder Zusammenschlüsse zu stärken. Unter der weiteren Prämisse, dass es gilt, den shareholder value zu maximieren, wird nach optimalen Gestaltungen für die Motivierung und Kontrolle angestellter Manager gesucht. Wenn Hierarchie als Gestaltungsmittel ausscheidet, sind explizite und implizite Verträge das Mittel der Wahl.
In diesen Tagen nun wird in der Wirtschaftspresse eine Konstellation ausgebreitet, zu der man gerne eine Ausarbeitung der Laureaten hätte. Die Firmen Ista und Techem, die ihr Geschäft mit der Ablesung von Heizkostenverteilern machen, präsentieren sich als Übernahmekandidaten. Dabei zeigen sie Gewinnquoten von mehr oder weniger 40 % vor. So wird das Geschäftsmodell der beiden beschrieben[3]:
»Ablesedienste erfassen in Mehrparteienhäusern den Heizenergie-, oft zudem den Wasserverbrauch je einzelner Wohnung. Sie schicken den Vermietern oder Hausverwaltern die Rechnungen. Die aber holen sich die Ausgaben von den Bewohnern zurück, einschließlich der Ablesekosten. Diejenigen, die am Ende zahlen, verhandeln also nicht die Verträge – der Vermieter hat einen schwächeren Anreiz, hart zu verhandeln.«
Hier hanelt es sich um eine Vertragskette, bei der die Rechtsbeziehungen anders liegen, als im Verhältnis zwischen principal und agent. Aber der principal, hier der Bewohner, ganz gleich ob selbst (Wohnungs-)Eigentümer oder Mieter, ist dem Paktieren des Vermieters oder Verwalters mit dem Ableser ziemlich hilflos ausgeliefert. Da wäre es interessant, wenn die Laureaten Vorschläge für vertragliche Anreizsysteme machen könnten. Tatsächlich müssen die Beteiligten aber wohl auf das längst fällige Machtwort des Kartellamts warten.
[1] Bengt Holmström/Jean Tirole, Inside and Outside Liquidity, 2011
[2] Lebenslauf und Publikationsverzeichnis von Bengt Holmström findet man auf der Webseite des MIT. Viele Titel sind im Netz frei zugänglich.
[3] FAZ vom 20. 10. S. 18: »45,8 Prozent Rendite fürs Ablesen« [nur im zahlungspflichtigen Archiv].
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Was ist so schlimm an dem Selbstmord eines Selbstmordattentäters?
Die Aufregung nach dem Selbstmord Jaber Albakrs ist groß. Früher hätte man vielleicht gesagt, der Täter habe sich selbst gerichtet. Wenn der CDU-Politiker Bosbach im Interview erklärt, durch den Selbstmord sei die Möglichkeit zu weiterer Aufklärung entfallen[1], so ist diese Äußerung der wahre Grund zur Empörung. Da hätte er auch sagen können, durch den Selbstmord Albakrs blieben dem Staat Hunderttausende für Vollzugs- und Verfahrenskosten erspart.
Tatsächlich geht es hier um das gängige politische Spiel, in dem die Opposition jede Möglichkeit zur Kritik an der Regierung ausschöpft und die Medien die Partei der Opposition ergreifen. Das ist vollkommen in Ordnung so. Aber interessant ist es doch, wie sich ein Fall zum Skandal aufschaukelt.[2] Die Schaukel erhält den Schwung mit einiger Sicherheit daher, dass Sachsen wegen Pegida und wegen der Vorfälle am 3. Oktober in Medienverschiss geraten ist.[3]
Was das Recht betrifft, so ist klar: Aus Art. 2 GG folgt eine allgemeine Schutzpflicht des Staates für menschliches Leben. Die Schutzpflicht gilt grundsätzlich auch im Falle der Selbstgefährdung durch Suizidabsichten. Suizid ist zwar rechtlich nicht verboten, aber wird doch so sehr missbilligt, dass ein Suizidversuch als Unglück i. S. von § 323c StGB angesehen wird, mit der Folge, dass unterlassene Hilfeleistung strafbar ist. Besteht eine Garantenstellung, so kommt sogar ein Tötungsdelikt in Betracht.
Es ist auch nicht zweifelhaft, dass die Strafvollzugsbeamten aus ihrer amtlichen Stellung gegenüber den sonst praktisch hilflosen Gefangenen, die sich zudem noch in einer psychischen Ausnahmesituation befinden, eine Garantenpflicht haben, sie vor Schaden an Leib und Leben zu bewahren. Das gilt auch bei erkennbarer Suizidgefahr.
Für den Normalbürger und wohl auch für den Normal-Kriminellen bedeutet die Untersuchungshaft einen Schock. Deshalb ist Suizidgefahr ist in den ersten Tagen der Untersuchungshaft allgemein höher. Der Normalbürger kann sich allerdings schwer vorstellen, dass jemand, der ein Selbstmordattentat vorbereitet hat, sich von der Untersuchungshaft gleichermaßen erschrecken lässt. Ein medienbekannter Kriminologe begründet im akuten Fall eine hochgradige Selbstmordgefahr damit, dass Albakr einen Heldentod sterben wollte.[4] Da hat auch der Kriminologe nur als Normalbürger geurteilt. Die Anstaltspsychologin hatte da ein besseres Urteil, obwohl ihr insoweit Erfahrungen mit Terroristen fehlten. Wenn sie keine gesteigerte Suizidgefahr sah, spricht das dafür, dass Albakr nicht unter Schock stand.
Es ist nicht Sache der Strafvollzugsbehörde, den Suizid von Gefangenen absolut zu verhindern. Soweit geht die Garantenpflicht der Vollzugsbehörde nicht. Nach § 101 Abs. 1 Satz 2 des Strafvollzugsgesetzes ist sie zu Zwangsmaßnahmen zum Gesundheitsschutz nicht verpflichtet ist, solange von einer freien Willensbestimmung des Gefangenen ausgegangen werden kann. Bei Suizidgefahr darf die Vollzugsbehörde nicht wegsehen. Aber ausnahmsweise darf sie sogar zusehen, wenn ein Gefangener im Hungerstreik verfügt hat, dass ihm auch nach Eintritt der Bewusstlosigkeit nicht geholfen werden soll, denn sie ist bei einem Hungerstreik zur Zwangsernährung berechtigt[5], aber nicht verpflichtet[6]. Wer planmäßig über längere Zeit einen Selbstmordanschlag vorbereitet, dem kann die hinreichende Urteilsfähigkeit schwerlich abgesprochen werden, es sei denn, man wollte sich auf eine allgemeine Determinismusdiskussion einlassen.[7]
Unabhängig vom Einzelfall gilt, dass in den Anfangstagen der Untersuchungshaft erhöhte Suizidgefahr gilt. Bei Albakr hat man mehr getan als im Regelfall. Was hätte die Vollzugsbehörde noch mehr tun sollen? Dauerbeobachtung, Fesselung, Notgemeinschaft mit anderen Gefangenen oder Medikation? Nach allem, was inzwischen bekannt geworden ist, wurden angemessene Vorkehrungen getroffen.
Nun hat Albakr, der eigentlich einen Heldentod sterben wollte, mit seinem Selbstmord – mit oder ohne Absicht – nur noch die Justiz beschämt. Darüber sollte man sich nicht mehr beklagen, als über jeden anderen Gefangenenselbstmord. Von 2000 bis 2015 gab es in deutschen Gefängnissen 1189 Suizide.[8] Jeder einzelne dieser Menschen war und ist so viel wert wie Jaber Albakr.
[1] WDR 5 am 13. 10. Entsprechend heißt es heute in der Zeitung »Fragen zu seinen mutmaßlichen »Terrorplänen und möglichen Hintermännern bleiben damit vermutlich offen.« (WAZ S. 1)
[2] Zum Justizskandal immer noch interessant Oliver Castendyk, Rechtliche Begründungen in der Öffentlichkeit. Ein Beitrag zur Rechtskommunikation in Massenmedien, 1994.
[3] Typisch der Kommentar von Florian Gathmann auf Spiegel-online: Failed Freistaat.
[4] Focus-online vom 14. 10. 2016.
[5] Vgl. das Informationsblatt zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) von Juni 2014.
[6] Zur Diskussion in der Schweiz vgl. Informationsplattform Humanrights.ch
[7] In einem Bericht über Suizidprävention im Gefängnis auf Deutschlandradio Kultur wird ein Staltspsychologe zitiert mit der ußerung,
[8] der WAZ vom 14. 10. 2016 S. 4; vgl. auch die Zahlen von Statista für 2000 bis 2004 und von Focus-online vom 8. 11. 2009..
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Wirtschaftsnobelpreis für zwei Vertragstheoretiker – muss die Rechtstheorie interessieren
Der Wirtschaftsnobelpreis für die Ökonomen Oliver Hart und Bengt Holmström macht darauf aufmerksam, dass es etwas zu lernen gibt. Soweit ich sehe, hat die Rechtstheorie das opus der beiden noch nicht rezipiert. In den einschlägigen Paragraphen von Rechtssoziologie-online[1] habe ich sie nicht einmal zitiert. Da ist also ein Nachtrag fällig, den ich so schnell nicht beibringen kann. Aber umgekehrt liegt es mit der Interdisziplinarität nicht besser. Beide Laureaten meiden es peinlichst, juristische Literatur zum Vertrag heranzuziehen, obwohl Juristen fraglos über die längere und detailliertere Erfahrung mit der Gestaltung von Verträgen verfügen.
In der Tagespresse kann man über die Theorien von Hart und Holmström lesen:
»Verträge …regeln das gesellschaftliche Arbeiten. Sind sie gut gemacht, wird alles leichter. Schlechte Verträge aber verkomplizieren alles. …[Hart und Holmstrom haben den Preis erhalten], weil sie gezeigt haben, wie wichtig ein klares Design von Verträgen in unserer globalen Gesellschaft und Wirtschaft für jeden einzelnen ist. Moderne Volkswirtschaften würden durch unzählige Verträge zusammengehalten … [Sie] werden für ihre Arbeit zur Frage ausgezeichnet, wie man zum Beispiel Verträge zwischen Arbeitnehmern und ihren Arbeitgebern am besten gestaltet, zwischen Autofahrern und Versicherungen oder zwischen Firmen und Konsumenten. In den Beziehungen zwischen solchen Parteien sind Interessenkonflikte häufig programmiert. Mit dem richtigen Vertragsdesign kann man sie verhindern.«[2]
Das klingt für Juristen so trivial, dass sie sich gleich abwenden dürften. Man muss näher hinsehen, ob mehr dahinter steckt.
Gemeinsam haben Hart und Holmström 1984 das Forschungsfeld abgesteckt:
Theory of Contracts, in: Advances in Economic Theory, Cambridge: Cambridge University Press, 1984, 71-155.
Gemeinsam haben sie es 2010 noch einmal zusammengefasst:
Theory of Firm Scope, Quarterly Journal of Economics, 125, 2010, 483-513.
Das Hauptwerk von Oliver D. Hart ist wohl
Firms, Contracts, and Financial Structure, Oxford, New York 1995.[3]
Darin nutzt er zwei Bausteine der Ökonomischen Analyse des Rechts, die Theorie der Firma und die Theorie der Verfügungsrechte (property rights). Sobald mehr als eine Person beteiligt ist, findet die Produktion findet in einer »Firma« statt. Eine Firma besteht aus Verfügungsrechten und Verträgen, Verträgen natürlich mit Lieferanten und Abnehmern – die sind hier nicht interessant – sowie mit Arbeitnehmern, Managern und – für die interessiert sich Hart besonders – mit denjenigen, die Verfügungsrechte und Geldmittel zur Finanzierung der Produktion beitragen. Harts spezieller Ansatzpunkt ist die prinzipielle Unvollständigkeit der Verträge, die die Firma zusammenhalten.
Nun kommt erst einmal wieder eine Trivialität: Die Verträge die hier interessieren, sind notwendig unvollständig. Sie können nicht alle Eventualitäten vorwegnehmen[4]. Das gilt freilich nicht absolut. Es ist vielmehr eine Kostenfrage, wie vollständig man den Vertrag ausformuliert. Damit befasst sich ein Aufsatz von 1988: Sind die Kosten für die Perfektionierung des Vertrages angesichts der Komplexität der Welt zu hoch, dann bleibt als Alternative jederzeit die Möglichkeit, den Vertrag neu zu verhandeln. Das geschieht unter der Voraussetzung, dass Gewinn und Verlust in gleicher Weise verteilt werden, wie im Ausgangsvertrag. Das Ergebnis der Neuverhandlung ist dann davon abhängig, wie weit die Angaben der Parteien über die unverhergesehene Investitionen und Kosten, die die Neuverhandlung veranlasst haben, verifiziert werden können.
Soweit der Aufsatz von 1988. Hier und in dem folgenden Buch geht es also um Langzeitverträge oder relational contracts, ein Problemkreis, der Juristen und Rechtssoziologen wohl vertraut ist.
Langzeitverträge Verträge sind für die Beteiligten regelmäßig mit Investitionen verbunden, die an Marktwert verlieren, so dass der Investor auf die Honorierung durch den Vertragspartner angewiesen ist. Der Arbeitnehmer, der für einen neuen Job Umzugskosten aufgewendet hat, kann sich die Gegenleistung nur von dem neuen Arbeitgeber erhoffen. Der Zulieferer, der eine Maschine für eine Sonderanfertigung angeschafft hat, ist auf die weitere Abnahme durch den Kunden angewiesen. Das ist der so genannte Lock-In-Effekt. Die ökonomische Vertragstheorie will diese Situation ex ante und ex post – für den Fall der Nachverhandlung – mit Hilfe mathematischer Modelle darstellen. Dabei stoßen sie dann schnell auch auf die Frage, wann es günstiger ist, Leistungen, die ein Unternehmen benötigt, über (Langzeit-)Verträge mit Externen zu beschaffen oder sie intern selbst herzustellen. Das ist die Frage nach dem (optimalen) Umfang (scope) eines Unternehmens (der »Firma«).
Besondere Fragen stellen sich bei Verträgen, die das Unternehmen (principal) mit seinen Angestellten (agents), besonders mit seinen Managern, schließt, denn hier fallen die Interessen der Vertragsparteien vielfach auseinander. Die Manager haben auf Grund ihrer Informationen und Handlungsoptionen die Möglichkeit der Selbstbedienung (moral hazard). Es gilt, dieses Problem durAnreize und Kontrollen zu beherschen. Dazu dienen wiederum explizite oder implizite Verträge.
Das Buch von 1995 kann ich nicht referieren. Ich habe nur hineingesehen, soweit es von Google Books gezeigt wird. Das erste Kapitel scheint im Wesentlichen einen Aufsatz von 1989 wiederzugeben, in dem die Literatur zur ökonomischen Theorie der Firma zusammenfassend dargestellt wird.[5] Er war in der Columbia Law Review abgedruckt, und gleich zu Anfang heißt es:
»This Article attempts to give lawyers a sense of how economists think about firms.«
In den folgenden Kapiteln wird erörtert, wie bei unvollständigen Verträgen verschiedene Kontrollbefugnisse und Verfügungsrechte relevant werden. Für mich wäre das klassische Beispiel eines unvollständigen Vertrages der Arbeitsvertrag, bei dem der Arbeitgeber kraft seines Direktionsrechts die konkret zu leistende Arbeit spezifiziert. Bei Hart geht es allgemeiner darum, wie sich im Vertragsgeflecht der Firma verschiedene Variablen auswirken wie Verfügungsrechte, Kontrollbefugnisse, Verfahrensregeln, Ermessenermächtigungen, Aufgabenverteilungen oder Kompetenzen. Dann wendet sich das Buch der Frage zu, wie man mit Hilfe der Theorie des unvollständigen Vertrages die Konsequenzen unterschiedlicher Finanzierungsmodelle bei inhabergeführten Firmen und bei Kapitalgesellschaften darstellen kann. Er zeigt, wie Schulden in beiden Fällen den Handlungsspielraum des Inhabers bzw. Managers einengen. Der Inhaber ist gezwungen, freie Mittel eher an die Gläubiger auszukehren als sich selbst zu bedienen. In Publikumsgsellschaften beschränken unterschiedliche Formen der Finanzierung und Kontrollrechte (corporate governance) die Macht der Manager, zu Entscheidungen, die unprofitabel sind, mit denen sie aber ihre eigene Position stärken möchten. Es geht also darum, wie das Management durch die Gestaltung der Vertragssituation, insbesondere auch der Schulden, im Zaum gehalten werden kann.
Mit der Optimierung von Finanzierungsverträgen befasst sich das Manuskript Financial Contracting, 2000. Interessanter ist wohl eine Arbeit, die der Frage nachgeht, unter welchen Umständen eine Privatisierung von Daseinsvorsorgeleistungen vorteilhaft ist und wann diese besser in öffentlicher Hand bleiben: Oliver Hart/Andrej Shleifer/Robert W. Vishny, The Proper Scope of Government, Theory and an Application to Prisons, The Quarterly Journal of Economics 112, 1997, 1127-1161.
Abstract: When should a government provide a service in-house, and when should it contract out provision? We develop a model in which the provider can invest in improving the quality of service or reducing cost. If contracts are incomplete, the private provider has a stronger incentive to engage in both quality improvement and cost reduction than a government employee has. However, the private contractor’s incentive to engage in cost reduction is typically too strong because he ignores the adverse effect on noncontractible quality. The model is applied to understanding the costs and benefits of prison privatization.
Mit einem ähnlichen Thema befasst sich ein letzter Aufsatz von 2003: Oliver Hart, Incomplete Contracts and Public Ownership: Remarks, and an Application to Public-PrivatePartnerships, The Economic Journal, 113, 2003, C69-C76.
Abstract: The question of what should determine the boundaries between public and private firms in an advanced capitalist economy is a highly topical one. In this paper I will discuss some recent theoretical thinking on this issue. I will divide the paper into two parts. First, I will make some general remarks about the relationship between the theoretical literature on privatisation and incomplete contracting theories of the firm. Second, I will use some of the ideas from this literature to develop a very preliminary model of public-private partner.
Soweit für heute. Einige Notizen zu Bengt Holmström, der mit der Figur des incomplete contract die Grenzen der Firma auslotet und mit Hilfe der principal-agent-theory die Vertragsbeziehungen der »Firma« mit ihren Managern analysiert, (vielleicht) in den nächsten Tagen.
Nachtrag vom 12. 10. 2016: Zwei Absätze wurden eingefügt, der letzte Absatz geändert.
Nachtrag vom 15. 10. 2020: Hier ein Titel aus der Sekundärliteratur: Klaus M. Schmidt, Contributions of Oliver Hart and Bengt Holmström to Contract Theory, Scand. J. of Economics 119, 2017, 489-511.
1] § 26 Von der Ökonomischen Analyse des Rechts zur Verhaltensökonomik und § 64 Der Vertrag als Institution.
[2] Zeit-online vom 10. Oktober 2016.
[3] Die eher kritische Besprechung von G. Nöldeke, Journal of Economics (64, 1996, 328-331) weist auch darauf hin, das »law and custom« ignoriert werden.
[4] Oliver Hart/John Moore, Incomplete Contracts and Renegotiation, Econometrica 56, 1988, 755-785; Hart 1995 S. 1ff.
[5] Oliver Hart, An Economist’s Perspective on the Theory of the Firm, Columbia Law Review89, 1989, 1757-1774. Als Vorläufer kursiert im Netz noch ein Manuskript von 1987: Incomplete Contracts and the Theory of the Firm.