Travelling Models IX: Codes und Cödchen und ein Vorreiter des Neuen Realismus

Rottenburgs eigene Zutat zu dem mit der Wanderschaft von Token oder Modellen verbundenen Übersetzungs- bzw. Transformationsprozess ist der »Metacode als Sprache der Übersetzungsketten und Aushandlungszonen« (2002 S. 227, 232). Er soll die Differenz zwischen verschiedenen kulturellen Bezugsrahmen überbrücken, die eine direkte Verständigung oder Übersetzung erschwert, wenn nicht gar verhindert. [1]Diese Lehre hat Rottenburg zuerst im 6. Kapitel der Monographie von 2002, Weit hergeholte Fakten, S. 213 ff) entwickelt und danach mehrfach mit kleinen Variationen wiederholt: Code-Wechsel. Ein … Continue reading

Ein universeller Kontingenzperspektivismus bildet das Fundament der Kulturwissenschaften. Danach ist alles Wissen und damit alles Verstehen perspektivisch. Die Perspektive ist das Produkt der Kultur und deshalb so verschieden wie diese. Eine objektive Perspektive gibt es ebenso wenig wie die eine Wahrheit. Wir müssen mit multiplen Wirklichkeiten leben.

Zu jeder Kultur gehört ein eigener Code (cultural code), der als eine Art Grammatik die Dinge zusammenhält und eine Weltsicht vermittelt. So lautet das Glaubensbekenntnis der Kulturwissenschaften und damit wohl auch der meisten Ethnologen. Zum Code wird alles, was als selbstverständlich, natürlich und unvermeidlich erscheint, wiewohl es doch kontingent ist. Logozentrismus, Objektivismus, Phallogozentrimus, heterosexuelle Matrix, Ethnozentrismus, Eurozentrismus, (methodologischer) Etatismus und Nationalismus und die diversen binären Codes der sozialen Systeme – wir sind von Codes umzingelt.

An der Vorstellung eines kulturellen Codes festzuhalten wird schwierig, wenn man, wie die Kulturwissenschaften im Allgemeinen und wohl auch die Ethnologie, auf die Beschreibung oder auch nur Benennung ganzheitlicher Kulturen verzichtet. Heute sind alle Kulturen Hybride, die sich durch Anwachsung (accretion) laufend verändern (Rottenburg 1996 S. 213). Was anwächst, sind fremde Ideen und Artefakte. Sie diffundieren nicht einfach und werden auch nicht bloß als ein neuer Flicken eingesetzt, sondern sie durchlaufen einen Transformationsprozess. Für das, was dabei herauskommt, sind in der Literatur Kennzeichnung wie Hybridisierung, Kreolisierung, McDonaldisierung oder Glokalisierung geläufig. Solche Begriffe suggerieren eine falsche Einheitlichkeit der Kultur. Das Ergebnis bildet viel eher ein Flickwerk aus oft nur lose zusammenhängenden und manchmal gar widersprüchlich erscheinenden Teilen. Die Folge ist, dass es Kollektiven wie Individuen an einer konsolidierten Weltsicht fehlt. Es gibt nicht den einen kulturellen Code, sondern viele Codes und Cödchen.

»In order to bring an idea into a local cosmos from any part of the outside world, one has to use a cultural code. This presumes the existence of a deep structure which seems to be concealed within the motley and inconsistent patchwork of culture, like grammar in language. … However, and this is the decisive point here, it is not necessary to iinagine this cultural grammar as a uniform and genotypical code that determines the phenotypical surface. There is much to support the assumption that each culture has several mutually contradicting codes which are made available to individual people like alternative repertoires for thought. Each code has a different explanation of how the world is ordered, how you can recognize it, what you can do in it and what meaning results from it all, if any. Because of the contradictory nature of tbe various codes, it is not possible to completely deduce the patchwork of the cultural phenomena from them. The codes themselves are not unalterable either. As a result of these observations, we can only speak of a code – or rather the metacode – of a culture at all because the available choice of repertoires and their tangle of relations somehow differ from one culture to another.« [2]Richard Rottenburg, When Organization Travels: On Intercultural Translation, in: Barbara Czarniawska/Guje Sevón (Hg.), Translating Organizational Change, 1996, 191-2401996 S. 214.

Hier taucht zum ersten Mal der Begriff des Metacodes auf, wird aber noch nicht weiter expliziert.

Das Fehlen einer ganzheitlichen Weltsicht ändert nichts daran, dass bei der Entwicklungszusammenarbeit eben doch unterschiedliche Kulturen aufeinander stoßen oder jedenfalls »unter Bedingungen der Heterogenität« kooperiert werden muss, die »nicht nur im Bereich der Interessen [vorliegt], … sondern auch im Bereich des grundlegenden Orientierungswissens, das auf einer vorbewussten Ebene bereits Festlegungen über Semantik, Plausibilität, Evidenz, Kausalität, Relevanz, Legitimität und Ethos enthält« (2002 S. 232). Die konkreten Probleme, die daraus entstehen, hat Rottenburg in den »Weit hergeholten Fakten« von 2002 ausführlich beschrieben und analysiert. Dabei ging es um ein Projekt zur Reorganisation der Wasserversorgung in drei tansanischen Städten. Man kann diese Analyse als einen Betrag zur (rechtssoziologischen) Steuerungsdiskussion lesen, denn die Entwicklungszusammenarbeit liefere »ohne Zweifel den stärksten Beweis dafür …, dass gesellschaftliche Entwicklung nicht nach Plan gesteuert werden kann.« (2002 S. 218). Das Steuerungszentrum – bei Rottenburg die Entwicklungsbank als »Rechen(schafts)zentrum« — ist auf »Information ohne Deformation zwecks Kontrolle auf Distanz« (S. 224) angewiesen, erhält seine Informationen aber erst aus zweiter, dritter oder gar vierter Hand, und jede »Übergabe« ist mit einer »Transformation bzw. Übersetzung« verbunden. Bei dem Entwicklungsprojekt, dass Rottenburg 2002 thematisiert, war ein zentrales Problem die »Listenautophagie«, das Phänomen nämlich, dass es nicht gelingen wollte, verlässliche Daten über die an die Wasserleitungen angeschlossenen Nutzer und ihren Verbrauch zu gewinnen. Hier macht anscheinend die fehlende Institutionalisierung bürokratischer Routinen, wie sie in Mitteleuropa anzutreffen ist, den Unterschied.

Anke Draude [3]Anke Draude, Der blinde Fleck der Entwicklungstheorie, 2007, S. 71-89. lobt Rottenburgs Buch wegen seiner Analyse der verschiedenen »Codes«, die in der Entwicklungszusammenarbeit verwendet werden, als ein gelungenes Beispiel kulturwissenschaftlich informierten Umgangs mit der »Kontingenzperspektive«. Das ist eine durchaus adäquate Würdigung. Ich habe jedoch – dieses Wortspiel sei erlaubt – eine andere Perspektive auf das Buch. Ich sehe darin und in den nachfolgenden Erläuterungen Rottenburgs zum »Metacode« Vorläufer [4]Maurizio Ferraris und Markus Gabriel, haben es geschafft, den Neuen Realismus zu einem Medienhit zu machen. Sie haben sich vor die Presse gestellt und erklärt, im Jahr 2011, an einem Sommertag, um … Continue reading des Neuen Realismus. [5]Der »neue Realismus« verkündet den Ausstieg aus der Postmoderne. Das Medienereignis zeigt sich im Feuilleton (alles im Internet zugänglich): Die ZEIT hat 2014 eine Serie von sieben Artikeln zum … Continue reading

In den »Weit hergeholten Fakten« spielen die kulturellen Codes nur eine Nebenrolle. Vielmehr wird

»das Stück der Entwicklungszusammenarbeit mit zwei Skripten aufgeführt. Nach den Vorgaben des offiziellen Skriptes (unserem O-Skript) geht es darum, (neben Kapital und Technik) technisches Wissen zu übertragen, das soziokulturell neutral ist und per Training erworben werden kann (›Wie erneuere ich die Wicklung eines Elektromotors? ‹, ›Wie bediene ich die Tabellenkalkulation Excel?‹). Nach den Vorgaben des inoffiziellen Skriptes (unserem I-Skript) geht es hingegen darum, gerade solches Wissen zu übertragen, das die grundlegenden Formen menschlichen Zusammenlebens verändern soll (›Was darf marktwirtschaftlich geregelt werden?‹, ›Wie konstituiert sich politische Legitimität?‹, ›Wie ist der Loyalitätskonflikt zwischen Verwandtschaft und Gemeinwohl zu lösen?‹, ›Was heißt Verfahrensobjektivität?‹)). Bei der Aufführung des Stuckes kann man nun, je nach Situation, mal nach dem einen und mal nach dem anderen Skript spielen.« (2002 S. 2014 f.)

Nach dem O-Skript sind dem Empfänger Kredit, Technik und Know-how für eine »nachholende Modernisierung« zur Verfügung zu stellen. Das I-Skript, nach dem auch Lebensart herübergebracht werden soll, ist »inoffiziell«, weil es nicht dem »postkolonialen Emanzipationsnarrativ« (S. 215) entspricht, das einen souveränen Empfänger mit legitimem und relevantem lokalem Wissen postuliert, der nicht bevormundet werden darf. Alle Beteiligten verstehen und durchschauen das Rollenspiel mehr oder weniger gut mit der Folge, dass sie zur Wahrung ihrer Interessen strategisch zwischen den Skripten wechseln können. Auch die strategischen Absichten werden wechselseitig durchschaut mit der weiteren Folge, dass Misstrauen entsteht (S. 216). Es gibt allerdings noch ein drittes Spiel, in dem Vertrauen aufgebaut werden kann, nämlich das technische Spiel mit der »Leitdifferenz effektiv/ineffektiv« (S. 217). Es beruht

»auf dem naiven Realismus des Alltagsdenkens. Demnach können objektiv richtige Aussagen problemlos zwischen allen möglichen Bezugsrahmen zirkulieren, weil ihre Gültigkeit in der äußeren Realität gründet und folglich von allen Bezugsrahmen unabhängig ist. Das aber heißt, dass universell gültige Aussagen in einer universell gültigen Sprache formuliert sein müssen: in einem Metacode …« (S. 219f.)

Der »Alltagsrealismus« des Technischen Spiels liefert also den Metacode, der partiell eine Verständigung möglich macht.

»In den Aushandlungszonen der Entwicklungskooperation hat sich das Technische Spiel mit seinem Metacode als Handelssprache durchgesetzt.« (S. 234f; ähnlich 2003 167f)

Zur theoretischen Verankerung hebt Rottenburg das Verständigungsproblem auf eine epistemische Metaebene, ein geschickter Schachzug, um nach dem Verlust des Begriffs einheitlicher Kulturen dennoch mit großen Codes arbeiten zu können.

»Zum einen erweist sich das Dilemma der Differenz nur als weiterer Fall eines elementaren Paradoxes: Keine Weltbeschreibung – eben auch keine wissenschaftliche – kann außerhalb ihres Bezugsrahmens Gültigkeit beanspruchen, sofern der Beweis der Gültigkeit den Bezugsrahmen immer schon voraussetzt. Dessen ungeachtet operiert jede Weltbeschreibung mit Differenzen zu anderen Weltbeschreibungen, die sich gar nicht feststellen ließen, würde man nicht einen gemeinsamen, übergeordneten Bezugsrahmen unterstellen. Zum anderen fällt an dem Umgang mit dieser Paradoxie in der Entwicklungskooperation eine aufgeladene Sensitivität gegenüber den Differenzen der Bezugsrahmen auf.« (S. 236)

Dieser Ansatz wird 2003 näher ausgeführt. Rottenburg verzichtet auf den bei postmodernen Autoren verbreiteten (von mir so genannten) fundamentalistischen Antifundamentalismus. [6]Dessen Fehler besteht darin, epistemologische Positionen, die als solche ihre Berechtigung haben mögen, auf die operative Ebene des Umgangs mit der sozialen Wirklichkeit übertragen. Im Übrigen ist … Continue reading Seine

»These besteht nun darin, dass hier insbesondere Letztbegründungen für die Wahrheit von Aussagen bzw. für die Unterscheidung von Fiktion und Wirklichkeit eingeklammert und durch formale Evidenzverfahren ersetzt werden. … Zu diesem Zweck braucht man in erster Linie einen Metacode, der für sich in Anspruch nimmt, jenseits der diversen partikularen Kulturcodes zu stehen und unmittelbar mit der äußeren Wirklichkeit verbunden zu sein. Analog der Handelssprache der Märkte muss dieser Metacode alle unbedingt notwendigen Informationen übermitteln und alle überflüssigen und störenden Wissensbestände zum Verschwinden bringen.
Die pragmatische und provisorische Einigung auf den einen Metacode verschiebt die Aufmerksamkeit von der Frage der korrespondenztheoretischen Gültigkeit einzelner Aussagen, die sich gegenüber einer externen Realität zu bewähren hätten, auf die Frage der Anschlussfähigkeit der Aussagen untereinander. Das Problem externer Referenz wird somit zugunsten des Problems transversaler Referenz in den Hintergrund verschoben. In einer anderen Sprache formuliert: Das Verfahren bekommt Priorität gegenüber der Sache, um die es geht.« (S. 167f)

Ausgangspunkt ist die »Paradoxie« des Letzbegründungsproblems:

»Die Annahme der einen und erreichbaren Wirklichkeit geht mit der Annahme einher, dass es den einen Metacode geben muss, in dem sich die eine Wirklichkeit unverzerrt abbilden lässt. Die Annahme des Metacodes bedeutet wiederum, dass alle übrigen vorfindbaren Codes Kulturcodes sein müssen. Ohne die Unterscheidung zwischen dem einen universellen Metacode und den vielen partikularen Kulturcodes wäre die Annahme der einen Realität nicht aufrecht zu erhalten, denn unterschiedliche Kulturcodes entwerfen unterschiedliche Realitäten. Wer nun aber umgekehrt an der Behauptung multipler Realitäten festhält, ist selbst wieder darauf angewiesen, auf den einen Metacode zu rekurrieren, der die Behauptung der vielen Realitäten überhaupt erst ermöglicht. Damit ist die Aussage also wieder unterlaufen.« (2003 S. 154)

Der Metacode ist »eine Antwort auf die Frage, weshalb man die Annahme der einen Wirklichkeit nicht bestreiten kann, ohne selbst auf diese zurückzugreifen.« Der Ausweg ist ein Als-Ob-Realismus, wie ihn Hans Vaihinger vorgezeichnet hat. Wenn freilich jemand ohne viel Federlesens diese Position einnimmt [7]Wie wir in der Allgemeinen Rechtslehre, 3. Aufl. 2007, S. 139., bleibt das irrelevant. Um Beachtung zu finden, muss man die Lösung elaborieren und ihr durch Einbettung in einen Forschungszusammenhang Autorität verschaffen. Genau das ist Rottenburg gelungen. Seine Elaboration des wissenschaftstheoretischen Problems wird dadurch akzeptabel, dass sie sich gekonnt des kulturwissenschaftlichen Vokabulars bedient. Sie gewinnt an Überzeugungskraft, weil sie nicht auf der grünen Wiese der Theorie gepflückt, sondern in Auseinandersetzung mit einem praktischen Problem gewachsen ist.

In der Wissenschaft stehen sich prinzipiell der »Code der Repräsentation von Wirklichkeit« und der »Code der performativen Hervorbringung« (2003 S. 155.), also Realismus und Konstruktivismus gegenüber.

»Wenn zwei oder mehr Parteien um Problem- und Lösungsdefinitionen streiten, müssen sie sich auf Aussagen verständigen und beschränken, die sie gemeinsam überprüfen können.« [8]S. 155f.

Da es hoffnungslos wäre, zwischen Realismus und Konstruktivismus zu entscheiden, muss eine provisorische Lösung her, die das ausweglose Basisproblem umgeht.

»Das bedeutet, dass sie sich unter Vorbehalt auf Wahrheitskriterien und Realitätsdefinitionen einigen müssen, die sie für den Zweck und die Dauer ihrer Kooperation im Prinzip gelten lassen.« (2003 S. 156.)

Das ist dann der Metacode, der »der Kontroverse über die eine oder die vielen Wirklichkeiten aus dem Weg … gehen« soll (S. 165.). Dieser Metacode verwende einen Als-Ob-Realismus, der sich von dem »echten« Realismus dadurch unterscheidet, dass man immer wieder Anlass nehmen kann, davon abzurücken.

Auch ein bloß provisorischer Realismus kann der Differenz von Sein und Sollen nicht ganz ausweichen. Doch auch dafür gibt es eine undogmatische Lösung, indem die deskriptive und die normative Rede jeweils zum Sprachspiel erklärt werden. (2003 S. 171)

Rottenburg vergleicht den Metacode mit dem, was bei Gericht geschieht.

»Gerichtliche Aushandlungsprozesse lassen diesen allgemeinen Tatbestand besonders deutlich hervortreten: Man streitet vor Gericht zwar um die Wahrheit, doch bei der Austragung des Streits müssen vorher festgelegte Argumentationsmuster befolgt werden, um überhaupt geordnet streiten zu können. … Nicht der unmittelbare Wahrheitsgehalt steht im Vordergrund, sondern formale Kriterien der Gültigkeitsbestimmung von Beweismitteln.« (2003 S. 168; vgl. auch 2012 S. 497).

Wieweit der Vergleich von Metacode und prozessualer Wahrheit [9]Vgl. zu diesem Begriff die schon nicht mehr ganz neue Arbeit von Frauke Stamp, Die Wahrheit im Strafverfahren, Eine Untersuchung zur prozessualen Wahrheit unter besonderer Berücksichtigung der … Continue reading trägt, müsste allerdings noch näher untersucht werden. Zwei Unterschiede fallen sogleich auf. Erstens ist die prozessuale Wahrheit kraft Gesetzes institutionalisiert. Und zweitens teilen nicht nur die meisten Juristen, sondern auch andere Prozessbeteiligte als »perspektivische Objektivisten« die Vorstellung einer materiellen Wahrheit.

Analoges gilt auf der operativen Ebene der Entwicklungszusammenarbeit. Man braucht »einen Metacode, der für sich in Anspruch nimmt, jenseits der diversen partikularen Kulturcodes zu stehen« (S. 167). Der Metacode soll vorläufig und provisorisch die unterschiedlichen kulturellen Codes überbrücken, damit die Wanderschaft von Modellen überhaupt in Gang kommt (S. 214f).

Die Praktiker der Entwicklungshilfe entwickeln eine spezifische Form von Metacode, die sie befähigt, zwischen globalisiertem Wissen, das nach dem Code der Objektivität organisiert ist, und kulturell spezifischem Wissen hin und her zu springen (2012 S. 483). Sie können sich im Hinblick auf ein konkretes Projekt über Kriterien der Objektivität einigen, reflektieren aber gleichzeitig über ihr Tun und können in einem anderen Kontext ganz anders reden (2012 S. 490). Je nach der Aushandlungssituation denken und reden sie so oder so (2012 S. 401). Ähnlich trägt der Metacode im Entwicklungshilfediskurs der Rationalitätsforderung der Geberseite Rechnung, behält sich aber vor, über deren Relativität zu reflektieren.

Dieser Metacode ist also eine Art skeptischer oder vorläufiger Realismus.

Was bleibt an substantiellen kulturellen Codes, die man doch eigentlich in Entwicklungsländern erwartet? Über die » Bedingungen der Heterogenität«, über die vorbewussten »Festlegungen über Semantik, Plausibilität, Evidenz, Kausalität, Relevanz, Legitimität und Ethos« erfahren wir wenig. Rottenburg stimmt nicht in die postkoloniale Kritik »epistemischer Gewalt« [10]Vgl. Sebastian Garbe, Deskolonisierung des Wissens: Zur Kritik der epistemischen Gewalt in der Kultur- und Sozialanthropologie, Austrian Studies in Social Anthropology 1, 2013. ein, durch die nicht-westliche Wissensformen trivialisiert und für ungültig erklärt würden. Er widerspricht vielmehr der Auffassung, in der Entwicklungszusammenarbeit sei »der Code der Objektivität die Tarnmaske für die Hegemonie der ›Geber‹ … [die am Ende] dafür verantwortlich ist, dass lokale Gesichtspunkte nicht zum Zug kommen und die Sache deshalb scheitern muss« [11]2002 S. 213. Lokales Wissen und kultureller Code hindern die Empfänger anscheinend nicht, die westliche Weltsicht kognitiv zu rezipieren, damit strategisch umzugehen und so partikulare Interessen zu verfolgen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Diese Lehre hat Rottenburg zuerst im 6. Kapitel der Monographie von 2002, Weit hergeholte Fakten, S. 213 ff) entwickelt und danach mehrfach mit kleinen Variationen wiederholt: Code-Wechsel. Ein Versuch zur Umgehung der Frage: Gibt es eine oder viele Wirklichkeiten?, in: Matthias Kaufmann (Hg.), Wahn und Wirklichkeit – multiple Realitäten, 2003, 153-174; Code-Switching, or Why a Metacode Is Good to Have, in: Barbara Czarniawska/Guje Sevón (Hg.), Global Ideas, How Ideas, Objects and Practices Travel in the Global Economy, 2005, 259-274; On Juridico-Political Foundations of Meta-Codes, in: Jürgen Renn (Hg.), The Globalization of Knowledge in History, 2012, 483-500. Das ganze Buch unter http://www.edition-open-access.de/studies/1/25/index.html. Die angeführten Arbeiten Rottenburgs werden im Text nur mit Jahr und Seite zitiert.
2 Richard Rottenburg, When Organization Travels: On Intercultural Translation, in: Barbara Czarniawska/Guje Sevón (Hg.), Translating Organizational Change, 1996, 191-2401996 S. 214.
3 Anke Draude, Der blinde Fleck der Entwicklungstheorie, 2007, S. 71-89.
4 Maurizio Ferraris und Markus Gabriel, haben es geschafft, den Neuen Realismus zu einem Medienhit zu machen. Sie haben sich vor die Presse gestellt und erklärt, im Jahr 2011, an einem Sommertag, um 13.30 Uhr in Turin sei es geschehen. Beim gemeinsamen Mahl sei ihnen die Eingebung gekommen, dass das Zeitalter eines neuen Realismus angebrochen sei. Ferraris veröffentlichte 2012 ein »Manifesto del nuovo realismo« und Gabriel landete 2013 den Bestseller »Warum es die Welt nicht gibt«. Beide zusammen veranstalteten 2013 in Bonn eine Tagung zum Thema, bei der es ihnen gelang, einige große Namen der zeitgenössischen Philosophie zu versammeln, allen voran Umberto Eco, Hilary Putnam und John Searle. Die drei genannten und die meisten anderen Teilnehmer hatten sich allerdings schon vor 2011 deutlich von der Postmoderne abgesetzt. Der Frankfurter Philosoph Martin Seel meinte deshalb in der »ZEIT« (vom 3. Juli 2014), es sei schon öfter vorgekommen, dass eine Nachhut sich für die Vorhut hielt.
5 Der »neue Realismus« verkündet den Ausstieg aus der Postmoderne. Das Medienereignis zeigt sich im Feuilleton (alles im Internet zugänglich): Die ZEIT hat 2014 eine Serie von sieben Artikeln zum Thema veröffentlicht, den letzten von dem Philosophen Martin Seel unter dem Titel »Eine Nachhut möchte Vorhut sein«. Der Artikel enthält Links zu den sechs vorausgegangenen. Ferner: Cord Riechelmann, Und sie existiert doch!, FamS vom 26. 10. 2014 [nur im FAZ-Archiv]; Uwe Justus Wenzel, Maurizio Ferraris’ ›Manifest des neuen Realismus‹. Die Postmoderne und die Populisten, NZZ vom 14. 5. 2014; Daniel Boese, Hallo Welt, art. Das Kunstmagazin vom 8. 1. 2014.
Bücher zum »neuen Realismus«: Maurizio Ferraris, Manifesto del nuovo realismo, Rom 2012, deutsch als: Manifest des neuen Realismus, 2014; Markus Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt, 2013; ders. (Hg.). Der neue Realismus, 2014. Ferner: Armen Avanessian, Realismus jetzt. Spekulative Philosophie und Metaphysik für das 21. Jahrhundert, 2013; Christoph Riedweg, Nach der Postmoderne, Aktuelle Debatten zu Kunst, Philosophie und Gesellschaft, Basel 2014.
6 Dessen Fehler besteht darin, epistemologische Positionen, die als solche ihre Berechtigung haben mögen, auf die operative Ebene des Umgangs mit der sozialen Wirklichkeit übertragen. Im Übrigen ist an Karl R. Poppers »Myth of the Framework« zu erinnern. Der fundamentalistische Antifundamentalismus führt in ein epistemisches Gefängnis. Dessen Mauern sind – nach Ansicht Poppers – (Karl R. Popper, The Myth of the Framework, in: Eugene Freeman (Hg.), The Abdication of Philosophy: Philosophy and the Public Good; Essays in Honor of Paul Arthur Schilpp, La Salle, Ill. 1976, S. 23-48.) eher aus Papier.
7 Wie wir in der Allgemeinen Rechtslehre, 3. Aufl. 2007, S. 139.
8 S. 155f.
9 Vgl. zu diesem Begriff die schon nicht mehr ganz neue Arbeit von Frauke Stamp, Die Wahrheit im Strafverfahren, Eine Untersuchung zur prozessualen Wahrheit unter besonderer Berücksichtigung der Perspektive des erkennenden Gerichts in der Hauptverhandlung, 1998.
10 Vgl. Sebastian Garbe, Deskolonisierung des Wissens: Zur Kritik der epistemischen Gewalt in der Kultur- und Sozialanthropologie, Austrian Studies in Social Anthropology 1, 2013.
11 2002 S. 213.

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Die Einfalt der Nonkonformisten

Die Einfalt der Vielfalt war schon wiederholt Thema in diesem Blog. [1]Vgl. insbesondere den Eintrag vom 1. 10. 2012 »Die Einfalt der Vielfalt« sowie den Eintrag vom 2. 10. 2012 »Die Einfalt der Vielfalt: Von der organischen zur normativen Solidarität«, die beide … Continue reading Über die Einfalt der Hipster als Spezies der Nonkonformisten schreibt Jonathan Touboul, The Hipster Effect: When Anticonformists All Look the Same. Er zeigt, wie schwer es ist, sich von einem Mainstream abzusetzen, ohne wiederum einem Trend aufzusitzen. Dabei soll es sich um ein Zeitproblem bei der Informationsverarbeitung, das heißt bei der Beobachtung von Trends, handeln, das zu Synchroniserungseffekten und unerwarteten Phasenübergängen führt. Ich will gerne gestehen, dass ich die mathematische Begründung nicht wirklich verstanden habe. Aber die Arbeit steht frei im Internet, so dass jeder nachlesen kann. Hier die Zusammenfassung:

In such different domains as statistical physics and spin glasses, neurosciences, social science, economics and finance, large ensemble of interacting individuals taking their decisions either in accordance (mainstream) or against (hipsters) the majority are ubiquitous. Yet, trying hard to be different often ends up in hipsters consistently taking the same decisions, in other words all looking alike. We resolve this apparent paradox studying a canonical model of statistical physics, enriched by incorporating the delays necessary for information to be communicated. We show a generic phase transition in the system: when hipsters are too slow in detecting the trends, they will keep making the same choices and therefore remain correlated as time goes by, while their trend evolves in time as a periodic function. This is true as long as the majority of the population is made of hipsters. Otherwise, hipsters will be, again, largely aligned, towards a constant direction which is imposed by the mainstream choices. Beyond the choice of the best suit to wear this winter, this study may have important implications in understanding dynamics of inhibitory networks of the brain or investment strategies finance, or the understanding of emergent dynamics in social science, domains in which delays of communication and the geometry of the systems are prominent.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Vgl. insbesondere den Eintrag vom 1. 10. 2012 »Die Einfalt der Vielfalt« sowie den Eintrag vom 2. 10. 2012 »Die Einfalt der Vielfalt: Von der organischen zur normativen Solidarität«, die beide auf den Titel des Soziologentags 2012 in Bochum anspielen.

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Travelling Models VII: »No transportation without transformation«

Der kulturelle Code der Ethnologie ist ein ausgeprägter Konstruktivismus, und den verfolgt auch Richard Rottenburg. [1]Hier vorab die Titel, auf die ich im Text nur dem Erscheinungsjahr Bezug nehme: Richard Rottenburg, When Organization Travels: On Intercultural Translation, in: Barbara Czarniawska/Guje Sevón (Hg.), … Continue reading Er wendet sich gegen die klassische anthropologische Diffusionstheorie, die annimmt, dass Ideen und Artefakte sich aus eigener Kraft ausbreiten, bezieht sich dazu allerdings nur auf Friedrich Ratzel (1844-1904), der bei der Ethnologie in Ungnade gefallen ist, weil seine Vorstellungen über die Innovationsfähigkeit von Gesellschaften deutlich eurozentrisch, wenn nicht gar rassistisch waren. Die neuere Diffusionstheorie a là Rogers wird dagegen ignoriert. Aus ethnologischer Sicht gäbe es wohl Gründe, auch diese Version zurückzuweisen. Doch sie ändern nichts daran, dass sich die »Travelling Models« als ein Exemplar qualitativer Diffusionsforschung vereinnahmen lassen. Umso wichtiger wäre es, die soziologische Diffusionsforschung als Kontrastfolie zu nutzen.

Das gilt um so mehr, als Rottenburg der Liste diffusionsförderlicher Attribute von Rogers ein neues hinzufügt, nämlich die Annahme, dass von den unzählig vorhandenen Ideen oder Modellen nur solche zur Übernahme ausgewählt werden, die über eine gewisse »Aura« verfügen. Was die Aura betrifft, so habe ich die nähere Begründung an den in »Travelling Models« [2]»Travelling Models in African Conflict Management, 2014. S. 17 angegebenen Stellen nicht gefunden. Nach Fn. 4 auf S. 18 handelt es sich um eine Anlehnung an Walter Benjamin:

»Following Walter Benjamin, Richard Rottenburg defines aura as the persuasive character, the vibe of a token (with Benjamin it was the vibe of a piece of art) that demonstrates originality, authenticity, uniqueness, inimitability – in short, it arrives as ‘the real thing’ and thus as distinct from a ‘poor imitation’. He maintains that aura often becomes an invisible aspect of power when it persuades or misguides others to do what they would not have done otherwise.«

Die Originalfundstelle ist nicht benannt, ohne nähere Erläuterung lässt sich damit aber wenig anfangen, und in den nachfolgenden Kapiteln von »Travelling Models« spielt der Gesichtspunkt auch keine Rolle.

Benjamins »Aura« hat längst selbst eine Aura, von der vermutlich jeder, der sie anführt, profitiert. Und der Begriff bleibt, auch wenn man noch einmal Benjamins Text nachliest, so offen, dass sich jeder seinen eigenen Reim darauf machen kann. Trotzdem scheint der Gesichtspunkt triftig zu sein. Das kann ich aber nur anekdotenhaft versichern. Ein Beispiel ist die verrückte Ice-Bucket-Challenge, die gerade über die Kontinente wanderte. Ein anderes eine Äußerung des Stuttgarter Oberbürgermeisters Kuhn im Hinblick auf das dortige Energiesparhaus B10: Fakten allein reichen nicht. »Wir brauchen ein Faszinosum«. [3]Nach FAZ Nr. 164 vom 16. 7. 2014 S. 11. Das Problem dabei ist, dass die Aura letztlich doch kein objektives Attribut der Sache ist, sondern ihr von der Umgebung beigelegt wird. Diese Attribuierung ist anscheinend schon da, bevor Übernehmer ins Spiel kommen, und die Übernehmer besitzen ihrerseits dafür ein Gespür.

Wichtiger ist aber, wie der Ethnologe den Gesichtspunkt anspricht, den Rogers und Greenhalgh als re-invention behandeln [4]Dazu im Eintrag vom 25. 9. 2014: Travelling Models IV: Noch einmal: Diffusion von Recht. , nämlich als Übersetzung (translation). An einer Stelle [5]Code-Switching, or Why a Metacode Is Good to Have, in: Barbara Czarniawska/Guje Sevón (Hg.), Global Ideas, How Ideas, Objects and Practices Travel in the Global Economy, Malmö 2005, 259-274, S. 267. zitiert Rottenburg kurz Benjamins Theorie der Übersetzung [6]Walter Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers, in: ders., Illuminationen, 1977, 50–62. Bei Benjamin geht es allerdings um Textübersetzung und hier wiederum um die Übersetzung von Dichtung. Dass dabei »keine Übersetzung möglich wäre, wenn sie Ähnlichkeit mit dem Original ihrem letzten Wesen nach anstreben würde«, wer wollte das bezweifeln. Auch Juristen erleben in Zeiten der Internationalisierung immer wieder die Schwierigkeiten der Übersetzung. Dabei wird freilich auch oft übertrieben. [7]Jürgen Gerhards, Der Kult der Minderheitensprachen, Leviathan 2011, 165-186, S. 178.

Die Probleme der Textübersetzung legen es nahe, den Übersetzungsbegriff als Metapher für die Übertragung von Objekten aus einer Sinnsphäre in eine andere zu verwenden, um auszudrücken, dass solche Übertragung das Objekt der Übersetzung nicht unverändert lässt. Den metaphorischen Gehalt schöpft der Begriff der kulturellen Übersetzung aus, der wohl 1994 von Homi K. Bhabha in die Welt gesetzt wurde. Rottenburgs Texte, die ich hier anführe, wurden noch vor der Ausrufung des translational turn durch Doris Bachmann-Medick (1. Aufl. 2006) geschrieben. Seither ist die »Kulturelle Übersetzung« ihrerseits zu einem travelling model geworden. [8]Birgit Wagner, Kulturelle Übersetzung. Erkundungen über ein wanderndes Konzept, in: Anna Babka/ Julia Malle/ Matthias Schmidt (Hg.), Dritte Räume. Homi K. Bhabhas Kulturtheorie, Wien, 2012, 29-42. … Continue reading Die damit verbundene Grundeinstellung, dass jede Kommunikation interpretierbar sei, war jedoch schon zuvor über alle Geistes- und Sozialwissenschaften verbreitet. [9]Vgl. den Eintrag vom 29. 7. 2011 »Zur Kritik am Container- oder Transportmodell der Kommunikation«.

Die Übersetzungsmetapher macht Sinn, wenn man unterschiedliche kulturelle Kontexte mit Sprachen vergleicht. Sehr weit trägt sie nicht. Man kann davon ausgehen, dass adäquate Übersetzungen von einer Sprache in die andere zwar oft mühsam, aber grundsätzlich möglich sind. Aber Ethnologen interessiert weniger die adäquate Übersetzung, als vielmehr der kreative Umgang mit dem fremden Material. Deshalb wäre es sinnvoll, zwischen Übersetzung und Transformation zu unterscheiden. Das in der Diffusionsforschung verwendete Konzept der re-invention ist davon gar nicht so weit entfernt.

Wenn man bei Rottenburg liest:»

»Translation aims at the appropriation of an external thing, which is then given another function, an altered meaning and often a new shape in the new context.« (1996 S. 214)

ist der erste Eindruck, dass damit das (heute) als kulturelle Übersetzung geläufige Phänomen gemeint sei. Dazu passt, wenn es drei Sätze weiter heißt (und dort auch transmission und transformation einander gegenüber gestellt werden):

»In the case of the movement of ideas and artefacts through time and space, each actor therefore takes the ›thing‹ into his or her own hands and gives it the shape and direction that best corresponds to his/her context and intentions. In this way, we move from the trans-mission of a thing that remains the same to the trans-formation of the thing.«

Doch der Eindruck täuscht, denn ich habe drei Sätze übersprungen, die in eine andere Richtung führen, nämlich zu der »Soziologie der Übersetzung« von Michel Callon und Bruno Latour:

»The constructivistic ›sociology of translation‹ as advocated by Michel Callon and Bruno Latour (1981; Latour, 1986) offers an image which can help us to understand appropriation and contextualization processes. While the classical anthropological diffusion model (Ratzel, 1896) assumes that ideas and artefacts move through social space and across borders under their own steam, it is more accurate to imagine this process as a kind of ball game. Only if the actors catch the ball and pass it on, i. e. if they collaborate, can the game continue.« (Rottenburg 1996 S. 214f)

In der »Soziologie der Übersetzung« steckt die ganze Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT). Die hat zwar kaum in der Soziologie selbst, umso mehr aber in den sozialwissenschaftlichen Kranzfächern (Kunstwissenschaft, Medienwissenschaft, Pädagogik und nicht zuletzt Ethnologie) Anhänger gefunden. Mich interessiert sie gerade nur soweit, wie erforderlich, um die Texte der Hallenser Ethnologen zu entziffern. Auf dem Wege dahin gilt es, einige eher schräge Begriffe zu lernen wie token, Mikro- und Makroakteure, black-boxes und obligatorische Passagepunkte. Die maßgeblichen Texte von Callon und Latour, auf die ich mich dazu beziehe, sind in deutscher Übersetzung versammelt in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hg.), ANThology, 2006. [10]Vgl. auch die Webseite von Bruno Latour mit Texten zum Download.

Latour führt die Übersetzungstheorie als Kontrast zu einem Diffusionsmodell ein. [11]Bruno Latour, Die Macht der Assoziation, Original: The Powers of Association, 1986, in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hg.), ANThology, 2006, 175-212, S. 197f. Dazu bekommt das Objekt der Diffusion einen neuen Namen, es wird zum token. Im Einleitungskapitel zum Buch »Travelling Models« (S. 3) heißt es vom Token:

»In this view, before something becomes a model worth imitating, it is an element of an ontological, epistemic, normative or material order. Only by being distinguished and disconnected from its setting this element becomes a token of this setting. A token is a thing that works like an established symbol of something, but also as replacement and evidence of thc order for which it stands.«

Und in der Fußnote dazu wird erläutert:

»A token can, for instance, be a device such as a coin bought for use with machines or for other payments where money is not handled. See also Latour (1986) for a similar use of ›token‹.«

Ungeachtet solchen Definitionsaufwands steht der Token im nachfolgenden Text aber doch nur für das travelling model, also – wie bei Latour – für den Gegenstand der Diffusion.

Latours Diffusionsmodell erklärt die Verbreitung eines Tokens aus einer ihm anfänglich innewohnenden Kraft, »die der Trägheit in der Physik ähnelt« (Die Macht der Assoziation, S. 196). »Dampfmaschinen, Elektrizität oder Computer sind solchermaßen mit Trägheit ausgestattet, dass sie außer durch die reaktionärsten Interessengruppen und Nationen kaum noch gestoppt werden können« (S. 197f). Schwierig wird das Verständnis dieses Diffusionsmodells – und anschließend der Theorie der Übersetzung – daraus, dass die klassischen Objekte der Diffusion wie Dampfmaschine usw. nur am Rande interessieren, denn im Zentrum stehen nicht »Artefakte«, sondern »Anordnungen« und »Ansprüche«, die mit Macht verbreitet werden. Das liegt daran, dass die ANT auch nicht menschliche Objekte als Akteure behandelt.

Latour erklärt den Unterschied zwischen der Sichtweise der herkömmlichen Soziologie (»soziologische Version«) und seiner eigenen Theorie (»materialistische Version«) am Beispiel einer Schusswaffe. Nach der soziologischen Version gilt: »Menschen töten Menschen, nicht Schusswaffen«, und Latour erläutert:

»Die Schusswaffe ist ein Werkzeug, ein Medium, ein neutraler Träger eines Willens. Wenn der Waffenbesitzer ein guter Mann ist, wird die Schusswaffe weise eingesetzt und nur gerecht töten. Wenn er jedoch ein Verbrecher oder Verrückter ist, dann wird ohne eine Veränderung in der Waffe selbst ein ohnehin ausgeführter Mord (einfach) effizienter ausgeführt. … die soziologische Version [macht] die Waffe zu einem neutralen Willensträger, der der Handlung nichts hinzufügt, der die Rolle eines elektrischen Leiters spielt, durch den Gutes und Böses mühelos Fließen.« [12]Über technische Vermittlung in: Belliger/ J. Krieger (Hg.), ANThology, 2006, 483-528, S. 485.

Die »materialistische Version« sagt dagegen: »Schusswaffen töten Leute«, und wiederum erläutert Latour:

»Ein unschuldiger Bürger wird ein Krimineller kraft der Waffe in seiner Hand. Die Waffe befähigt natürlich, aber sie instruiert auch, lenkt, zieht sogar am Abzug – und wer hätte nicht, mit einem Messer in der Hand, zu einer gewissen Zeit jemanden oder etwas erstechen wollen? Jedes Artefakt hat sein Skript, seinen Aufforderungscharakter. sein Potenzial, Vorbeikommende zu packen und sie dazu zu zwingen, Rollen in seiner Erzählung zu spielen.« [13]Ebd.

Was die Waffe dem Schuss hinzufügt, ist »Übersetzung« in der Form der »Vermittlung«.

»Der Mythos des neutralen Werkzeugs unter vollständiger menschlicher Kontrolle und der Mythos der autonomen Bestimmung, die kein Mensch beherrschen kann, sind symmetrisch. Aber eine dritte Möglichkeit liegt meistens näher: die Schaffung eines neuen Ziels, das keinem der Handlungsprogramme der Agenten entspricht. (Man hatte nur verletzen wollen, jedoch jetzt – mit einer Schusswaffe in der Hand – will man töten.) Ich nenne diese Unsicherheit über Ziele Übersetzung. … ›Übersetzung‹ bedeutet nicht eine Verschiebung von einem Vokabular in ein anderes. z.B. von einem französischen in ein englisches Wort, als ob die beiden Sprachen unabhängig existierten. Wie Michel Serres verwende ich ›Ubersetzung‹, um Verschiebung, Driften, Erfindung. Vermittlung, die Erschaffung eines Bindeglieds, das zuvor nicht existiert hatte und das zu einem gewissen Grad zwei Elemente oder Agenten modifiziert, auszudrücken.« ( Ebd. S. 487.)

Damit ist auch schon der Übersetzungsbegriff eingeführt, der bei Callon und Latour nicht (nur) für Sinnübertragung, sondern für die Übertragung und Konversion von Kräften steht. Als lexikalisierte Metapher bedeutet »Übersetzung« auch »Getriebe«.  Im Französischen steht traduction für die sprachliche Übersetzung; translation bedeutet eher körperliche Überführung (Fahrbetrieb) und transmission vor allem Nachrichten- und Kraftübertragung. Callon und Latour haben ihren Aufsatz auf Englisch geschrieben. Im Englischen liegen translation und transmissison = Getriebe weiter auseinander. Das Nebeneinander dieser Wörter in den verschiedenen Sprachen verweist nicht nur auf Probleme der Sprachübersetzung, sondern deutet darauf hin, dass der metaphorische Gebrauch der Wörter problematisch ist. Indem Callon und Latour die Übersetzungsmetapher nicht für eine produktive Sinnübernahme (= kulturelle Übersetzung) nutzen, sondern für die Übertragung und Bündelung von Kräften, wird sie verwirrend statt hilfreich. Auch mit Hilfe der Erläuterungen von Belliger/Krieger [14]Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, in: dies. (Hg.), ANThology, S. 13-50, S. 37ff. habe ich nur verstanden, das »Übersetzung« etwas Diffuses ist. Die gezielte Verwendung nicht anschlussfähiger Begriffe durch Callon und Latour und ihre Mitstreiter ist eine wohl beabsichtigte, aber deshalb noch lange nicht akzeptable Irreführung.

Auch Rottenburg macht von der Zweitbedeutung von Übersetzung als Getriebe Gebrauch, wenn er (2002 S. 15) Flaschenzug und Fahrradkette bemüht. Aus der Fahrradkette wird später eine Übersetzungkette (2002, 224ff). Sie steht für die Aufbereitung und Weitergabe von Primärdaten des Projektträgers (Wasserwerke). Bis die Daten am Ende das »Rechenschaftszentrum« (die Entwicklungsbank) erreichen, gehen sie durch mehrere Hände mit der Folge, dass sie nicht ohne Deformation ankommmen.

Callon spricht von einem »neuen Ansatz zur Untersuchung von Machtverhältnissen: d[er] Soziologie der Übersetzung«. [15]Einige Elemente einer Soziologie der Übersetzung: Die Domestikation der Kammmuscheln und der Fischer der St. Brieuc-Bucht, Original: L’Année sociologique 1986, in: Andréa Belliger/David J. … Continue reading Dabei tritt an Stelle des (rätselhaften) anfänglichen Impulses, der kraft Trägheit fortwirkt, »die Initialkraft jener, die Macht haben« (Latour S. 198).

»Übersetzung umfasst alle Verhandlungen, Intrigen, Kalkulationen. Überredungs- und Gewaltakte, dank derer ein Akteur oder eine Macht die Autorität, für einen anderen Akteur oder eine andere Macht zu sprechen oder zu handeln, an sich nimmt oder deren Übertragung auf sich veranlasst ›Unsere Interessen sind dieselben‹, ›Tu, was ich will‹, ›Du kannst ohne mich keinen Erfolg haben‹ – immer wenn ein Akteur von ›uns‹ spricht, übersetzt er oder sie andere Akteure in einen einzigen Willen, dessen Geist und Sprecher/-in er oder sie wird. Er oder sie beginnt, für mehrere zu handeln – nicht nur für eine/-n -, wird damit stärker, wächst.« (Callon/Latour S. 76f)

Wer da wächst und stärker wird, ist ein »Makroakteur«, der sich allerdings nicht durch irgendwelche äußeren, physischen Eigenschaften von normalen »Mikroakteuren« unterscheidet, sondern nur dadurch, dass er etwas auf sich »übersetzen« kann. Der Witz dieser Machttheorie liegt wohl darin, dass wir uns Macht nicht als Vorrat vorstellen sollen, sondern als Phänomen, das erst durch eine Kette von Übersetzungshandlungen an einem Token zustande kommt. Macht hat man nicht, sondern sie wird gemacht. Sie zeigt sich unter anderem in »obligatorischen Passagepunkten« (OPP).

Die »obligatorischen Passagepunkte« sind wohl eine Erfindung von Michel Callon. Ich zitiere aus der Zusammenfassung seines Artikels »Einige Elemente einer Soziologie der Übersetzung« (dort S. 135; vgl. auch S. 147, 149f):

»Der Artikel umreißt einen neuen Ansatz zur Untersuchung von Machtverhältnissen: die Soziologie der Übersetzung. Ausgehend [u. a. ] von der Vermeidung aller a-priori-Unterscheidungen zwischen dem Natürlichen und dem Sozialen wird eine wissenschaftliche und ökonomische Kontroverse über die Gründe für den Rückgang der Population von Kammmuscheln in der St. Brieuc-Bucht und die Versuche dreier Meeresbiologen, für diese Population eine Regenerationsstrategie zu entwickeln, beschrieben. In den Versuchen dieser Forscher werden im Übersetzungsprozess vier ›Momente‹ unterschieden, die dazu dienen, sich selbst und ihre Definition der Situation auf andere zu übertragen: … Problematisierung: die Forscher versuchten in diesem Drama für andere Akteure unentbehrlich zu werden, indem sie die Natur und deren Probleme definierten und davon ausgingen, dass diese gelöst würden, wenn die Akteure durch den obligatorischen Passagepunkt (OPP) des Forschungsprogramms der Wissenschaftler hindurchgingen ….«

Ein »OPP« liegt also vor, wenn es Beteiligten gelingt, eine soziale Situation so zu definieren, dass bestimmte Eckpunkte, auf die sie Einfluss haben, von anderen als Voraussetzung weiteren gemeinsamen Handelns anerkannt werden. Im Beispiel Callons war es die Anerkennung eines Forschungsbedarfs. Aber auch der automatische Türschließer, der von jedem, der hindurch will, eine Kraftanstrenung verlangt, wird zum OPP stilisiert [16]Jim Johnson, Die Vermischung von Menschen und Nicht-Menschen: Die Soziologie eines Türschließers, in: Belliger/Krieger, ANThologie, 237-258, S. 244. An anderer Stelle erfahren wir, dass ein OPP zwei Netzwerke verbindet. [17]John Law/Michel Callon. Leben und Sterben eines Flugzeugs, in: Belliger/Krieger, ANThologie, S. 475447-482, S. 473. Man denkt sogleich an zwei Begriffe aus der Netzwerktheorie, nämlich an den Hub, einen zentralen Knoten, der für viele Knoten die einzige oder jedenfalls die wichtigste Verbindung zu anderen bildet. Die Knoten, die für ihre Verbindungen auf den Hub angewiesen sind, bilden dann ein Cluster, und sodann an die Brücke, welche die von Roland S. Burt [18]Von den vielen einschlägigen Publikationen Burts sei hier nur ein im Internet zugänglicher Artikel aus dem American Journal of Sociology, 2004, angeführt: Structural Holes and Good Ideas. so genannten strukturellen Löcher schließt, indem sie den Sprung von Netzwerk zu Netzwerk, der anscheinend weit entfernte Knoten leicht erreichbar macht. Aber der Netzwerkbegriff ist in diesem Zusammenhang eher irreführend. Es geht um Situationsbeschreibungen, in denen Menschen und Objekte interagieren, indem sie sich wechselseitig Eigenschaften und Handlungsmöglichkeiten zuschreiben. Auch Latour selbst hat Probleme mit dem Netzwerkbegriff:

»Nun, da das World Wide Web existiert, glaubt jeder zu verstehen, was ein Netzwerk ist. Wahrend es vor 20 Jahren noch etwas Frische in dem Begriff als kritischem Werkzeug gegenüber so unterschiedlichen Ideen wie Institution, Gesellschaft. Nationalstaat und – allgemeiner – jeder flachen Oberfläche gab, hat er jegliche Schärfe verloren und ist nun der Lieblingsbegriff all jener, die die Modernisierung modernisieren wollen. ›Nieder mit rigiden Institutionen,‹ sagen sie alle, ›lang leben flexible Netzwerke‹.« (Latour, Über den Rückruf der ANT, in Belliger/Krieger, 561-572, S. 561)

Dem wird man gerne zustimmen. Die Fortsetzung des Zitats zeigt indessen, dass Latour nicht zwischen technischen Netzen, semantischen Nezten und sozialen Netzwerken unterscheidet. Das ist zwar in der ANT angelegt, wird dadurch aber nicht besser:

»Welcher Unterschied besteht zwischen dem älteren und den» neuen Gebrauch? Früher bedeutete das Wort |Netzwerk noch eindeutig, wie Deleuzes und Guartaris Begriff ›Rhizom‹, eine Reihe von Transformationen – Über Setzungen, Umformungen –. die nicht von irgendeinem traditionellen Begriff der Sozialtheorie erfasst werden konnten. Mit der neuen Popularisierung des Wortes Netzwerk bedeutet es nun Transport ohne Deformation, einen unmittelbaren und unvermittelten Zugang zu jeder Einzelinformation. Das ist genau das Gegenteil von dem, was wir meinten. Was ich ›Doppelklick-Information‹ nennen möchte, hat das letzte bisschen der kritischen Schärfe aus dem Begriff ›Netzwerk‹ genommen. Ich glaube nicht, dass wir ihn noch verwenden sollten, zumindest nicht, um die Art von Transformationen und Ubersetzungen zu bezeichnen, die wir erforschen wollen.« (Latour, ebd. S. 561f)

In der Tat, auch mit ihrem Netzwerkbegriff führt die ANTin die Irre. Für mich jedenfalls ist die ANT kein OPP, sondern ein ASOG (Ansammlung soziologischer Gartenzwerge). Diese natürlich zu grobe Zurückweisung richtet sich nicht nur gegen die provozierenden Irreführungen, sondern stützt sich auch auf eine weithin geteilte Kritik. Zwar lenkt die ANT die Aufmerksamkeit auf ein Defizit der Soziologie im Umgang mit der Technik. Aber die ANT selbst befasst sich mit Gartenzwergen in der Gestalt von Türschließern, Bodenschwellen oder Schusswaffen. Rottenburgs Aufsatz, der OPP im Titel trägt, ist trotzdem gelungen.

»Die Krönung des Übersetzungsprozesses besteht in der Regel darin, den Makroakteur formal als OPP zu installieren. Es kommt etwa zur Übernahme eines einflußreichen Postens wie desjenigen eines Institutsdirektors sowie zur Besetzung von Gutachterpositionen und zur Mitarbeit in Berufungskommissionen.« [19]Rottenburg, OPP. Geschichten zwischen Europa und Afrika, 1995 S. 93f.

Diese und andere Sachaussagen [20]Z. B. Rottenburg 2002 S. 41 u. 223. wären auch ohne die von der ANT übernommene Dekoration triftig. In den »Travelling Models« von 2014 begegnet (auf S. 14) nur noch eine verstümmelte Version der OPP in der Gestalt von Mediatoren.

Zurück zu Callon und Latour, um noch einen anderen ihrer Gartenzwerge zu begrüßen. Es sind die »Black Boxes«, auf die sich die »Makroakteure« stützen. Rottenburg hat sie in seinem großen Park von 2002 – wenn ich richtig gezählt habe [21]Wie wunderbar, dass das Zählen leicht fällt, da Google Books, auch wenn man dort nicht das ganze Buch lesen kann, zuverlässig alle Fundstellen auflistet, die man dann nur noch nachzuschlagen … Continue reading – immerhin fünf Mal aufgestellt (S. 47, 48, 88, 89, 93).

»Ein Akteur wächst mit der Anzahl von Beziehungen, die er oder sie in so genannten ›Black Boxes‹ ablegen kann. Eine Black Box enthält, was nicht länger beachtet werden muss – jene Dinge, deren Inhalte zum Gegenstand der Indifferenz geworden sind. Je mehr Elemente man in Black Boxes platzieren kann – Denkweisen, Angewohnheiten, Kräfte und Objekte –, desto größer sind die Konstruktionen, die man aufstellen kann. … Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es sich bei Makro-Akteuren um Mikro-Akteure handelt, die über vielen (undichten) Black Boxes platziert sind. Sie sind weder größer noch komplexer als Mikro-Akteure; im Gegenteil verfügen sie über dieselbe Größe und sind tatsächlich einfacher als Mikro-Akteure …« (Callon/Latour S. 83f)

Eine Black Box ist ein Komplex, der mindestens vorläufig nicht mehr in Frage gestellt und aufgedröselt wird. Latour demonstriert das an einem technischen Beispiel:

»Man nehme z.B. einen Tageslichtprojektor. Er ist ein Punkt in einer Handlungsfolge (sagen wir einmal in einer Vorlesung), eine ruhige und stumme Vermittlungsinstanz, die für selbstverständlich gehalten und vollkommen von ihrer Funktion bestimmt wird. Nun nehmen wir an, dass der Projektor nicht mehr funktioniert. Die Krise erinnert uns an die Existenz des Projektors. Wenn die Monteure ihn umringen, diese Linse justieren, jene Birne befestigen, werden wir uns bewusst, dass der Projektor aus mehreren Teilen gemacht ist, jedes mit seiner Rolle, semer Funktion und seinen rrlativ unabhängigen Zielen. Während der Projektor vor einem Augenblick kaum existiert hatte, besitzen nun sogar seine Teile individuelle Existenz, jedes seine eigene ›Black Box‹. In einem Moment wuchs unser ›Projektor‹ von einer Komposition aus null Teilen zu einer aus einem bis zu vielen Einzelteilen.« [22]Bruno Latour, Über technische Vermittlung, in: Belliger/(Hg.), ANThology, 2006, 483-528, S. 491.

Die »Travelling Models« von 2014 zollen den Black Boxes nur in der Einleitung (S. 4 u. 13) Reverenz und verwenden den Ausdruck dort anders als Callon und Latour. Sie wollen keine Black Boxes identifizieren, in den Akteure mögliche Problempunkte verstecken, sondern die den Forschern unbekannte »Black Box« des Wanderungsprozesses öffnen.

Man findet bei Latour auch Formulierungen, die zu dem Konzept der kulturellen Übersetzung passen. Nach dem

»Modell der Übersetzung … liegt die Verbreitung aller Elemente in Zeit und Raum (Ansprüche, Anordnungen. Artefakte, Güter) in den Händen von Personen; jede dieser Personen kann auf viele verschiedene Arten handeln, den Token fallenlassen, ihn modifizieren, ablenken oder betrügen, ihm etwas hinzufügen oder ihn sich aneignen. Die getreue Übermittlung einer Anordnung z.B. durch eine große Anzahl an Personen ist in solch einem Modell rar – und falls sie auftritt, erfordert sie eine Erklärung.« (Latour S. 198)

Das ist trivial, es sei denn, man problematisiert das »kann«. Es folgt die Ball-Metapher [23]Von der Ball-Metapher macht schon Michel Serres (Der Parasit, 1987, 344-360) Gebrauch, freilich mit der Absicht, den Ball zum Quasi-Objekt oder vielmehr zum Quasi-Subjekt zu deklarieren., auf die Rottenburg anspielt:

»Noch wichtiger ist, dass die Verlagerung nicht von einem initialen Impetus verursacht wird, da der Token keinen wie auch immer gearteten Impetus hat; vielmehr ist sie die Konsequenz einer Energie, die dem Token von jedem Element der Kette verliehen worden ist, das etwas mit ihm macht, wie etwa im Fall von Rugbyspielern und einem Ball. Die Initialkraft des Ersten in der Kette ist nicht wichtiger als die der zweiten, der 40. oder der 400. Person; folglich ist klar, dass die Energie weder angehäuft, noch kapitalisiert werden kann.« (Latour S. 199)

Das ist alles andere als klar. Warum keine Initialkraft? Wäre nicht Rottenburgs »Aura« eine solche? Und warum soll der Schwung (die »Trägheit«) des Tokens sich nicht verstärken, wenn doch jeder Spieler etwas hinzufügen kann? Zehn Jahre später schreibt Latour immerhin:

»A ball going from hand to hand is a poor example of a quasi-object, since, although it does trace the collective and although the playing team would not exist without the moving token, the latter is not modified by the passings.« [24]Bruno Latour, On Actor-Network Theory: A Few Clarifications, Soziale Welt 47, 1996, 369-381, S. 379.

Dass die Rugby-Metapher in die Irre führt, wird vollends klar, wenn Latour sich mit dem »dritten und wichtigsten Aspekt des Übersetzungsmodells« wieder von ihr verabschiedet.

»Jede der Personen in der Kette setzt nicht einfach einer Kraft Widerstand entgegen oder übermittelt sie auf die Art, wie es im Diffusionsmodell geschehen würde; stattdessen tut sie etwas Wichtiges für die Existenz und Aufrechterhaltung des Tokens. In anderen Worten besteht die Kette aus Akteuren (nicht passiven Vermittlern), und da der Token sich der Reihe nach in der Hand jedes Einzelnen befindet, formt ihn jeder entsprechend der verschiedenen Projekte. Aus diesem Grund heißt es Übersetzungsmodell: Der Token verändert sich, während er von Hand zu Hand geht, und die getreue Übertragung einer Aussage wird zu einem ungewöhnlichen Einzelfall unter viel wahrscheinlicheren anderen.« (Latour S. 199)

Das hätte man einfacher haben können. Mit Latours eigener Formulierung:

»No transportation without transformation.« [25]Aramis or the Love of Technology, Harvard UP, 1996, S. 119.

Oder auf deutsch: Stille Post. Mein Eindruck ist, dass man in Halle die Arbeiten von Callon und Latour doch nur als eine Theorie der kulturellen Übersetzung rezipiert hat wie in dieser Formulierung von Rottenburg:

»Diese Leistung des Anbietens einer neuen Interpretation nenne ich im Anschluß an Michel Callon und Bruno Latour (die auf Michel Serres zurückgreifen) Übersetzung. Alte und vertraute Elemente werden mit frischen, unbekannten Elementen zu einer neuartigen Geschichte zusammengefügt und bekommen dadurch einen anderen Sinn.« (OPP. Geschichten zwischen Europa und Afrika, 1995 S. 93)

Die »Travelling Models« von 2014 bekennen sich zur ANT. Nicht nur in der theoretischen Einleitung, sondern auch in mehrern Einzeluntersuchungen fällt der Begriff »translation« [26]Das Sachverzeichnis nennt nur »translation, concept of« auf S. 3f, translation chains auf S. 24, channels of translation S. 125-131 sowie translation of ideas S. 149 . Doch Google Books zeigt … Continue reading. Ich muss noch einmal gründlicher lesen, um ob hier die Machttheorie von Callon und Latour rezipiert ist oder ob es bei der Theorie der kulturellen Übersetzung bleibt.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Hier vorab die Titel, auf die ich im Text nur dem Erscheinungsjahr Bezug nehme: Richard Rottenburg, When Organization Travels: On Intercultural Translation, in: Barbara Czarniawska/Guje Sevón (Hg.), Translating Organizational Change, 1996, 191-240; Weit hergeholte Fakten, Eine Parabel der Entwicklungshilfe, 2002; englisch als: Far-fetched facts, A Parable of Development Aid, Cambridge, Mass. 2009; ders., Code-Wechsel. Ein Versuch zur Umgehung der Frage: Gibt es eine oder viele Wirklichkeiten?, in: Matthias Kaufmann (Hg.), Wahn und Wirklichkeit – multiple Realitäten, 2003, 153-174, ders., Code-Switching, or Why a Metacode Is Good to Have, in: Barbara Czarniawska/Guje Sevón (Hg.), Global Ideas, How Ideas, Objects and Practices Travel in the Global Economy, 2005, 259-274; ders., On Juridico-Political Foundations of Meta-Codes, in: Jürgen Renn (Hg.), The Globalization of Knowledge in History, 2012, 483-500.
2 »Travelling Models in African Conflict Management, 2014.
3 Nach FAZ Nr. 164 vom 16. 7. 2014 S. 11.
4 Dazu im Eintrag vom 25. 9. 2014: Travelling Models IV: Noch einmal: Diffusion von Recht.
5 Code-Switching, or Why a Metacode Is Good to Have, in: Barbara Czarniawska/Guje Sevón (Hg.), Global Ideas, How Ideas, Objects and Practices Travel in the Global Economy, Malmö 2005, 259-274, S. 267.
6 Walter Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers, in: ders., Illuminationen, 1977, 50–62.
7 Jürgen Gerhards, Der Kult der Minderheitensprachen, Leviathan 2011, 165-186, S. 178.
8 Birgit Wagner, Kulturelle Übersetzung. Erkundungen über ein wanderndes Konzept, in: Anna Babka/ Julia Malle/ Matthias Schmidt (Hg.), Dritte Räume. Homi K. Bhabhas Kulturtheorie, Wien, 2012, 29-42. Vgl. auch Mieke Bal, Travelling Concepts in the Humanities, Toronto, 2002.
9 Vgl. den Eintrag vom 29. 7. 2011 »Zur Kritik am Container- oder Transportmodell der Kommunikation«.
10 Vgl. auch die Webseite von Bruno Latour mit Texten zum Download.
11 Bruno Latour, Die Macht der Assoziation, Original: The Powers of Association, 1986, in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hg.), ANThology, 2006, 175-212, S. 197f.
12 Über technische Vermittlung in: Belliger/ J. Krieger (Hg.), ANThology, 2006, 483-528, S. 485.
13 Ebd.
14 Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, in: dies. (Hg.), ANThology, S. 13-50, S. 37ff.
15 Einige Elemente einer Soziologie der Übersetzung: Die Domestikation der Kammmuscheln und der Fischer der St. Brieuc-Bucht, Original: L’Année sociologique 1986, in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hg.), ANThology, 2006, 135-174, S. 135.
16 Jim Johnson, Die Vermischung von Menschen und Nicht-Menschen: Die Soziologie eines Türschließers, in: Belliger/Krieger, ANThologie, 237-258, S. 244.
17 John Law/Michel Callon. Leben und Sterben eines Flugzeugs, in: Belliger/Krieger, ANThologie, S. 475447-482, S. 473.
18 Von den vielen einschlägigen Publikationen Burts sei hier nur ein im Internet zugänglicher Artikel aus dem American Journal of Sociology, 2004, angeführt: Structural Holes and Good Ideas.
19 Rottenburg, OPP. Geschichten zwischen Europa und Afrika, 1995 S. 93f.
20 Z. B. Rottenburg 2002 S. 41 u. 223.
21 Wie wunderbar, dass das Zählen leicht fällt, da Google Books, auch wenn man dort nicht das ganze Buch lesen kann, zuverlässig alle Fundstellen auflistet, die man dann nur noch nachzuschlagen braucht.
22 Bruno Latour, Über technische Vermittlung, in: Belliger/(Hg.), ANThology, 2006, 483-528, S. 491.
23 Von der Ball-Metapher macht schon Michel Serres (Der Parasit, 1987, 344-360) Gebrauch, freilich mit der Absicht, den Ball zum Quasi-Objekt oder vielmehr zum Quasi-Subjekt zu deklarieren.
24 Bruno Latour, On Actor-Network Theory: A Few Clarifications, Soziale Welt 47, 1996, 369-381, S. 379.
25 Aramis or the Love of Technology, Harvard UP, 1996, S. 119.
26 Das Sachverzeichnis nennt nur »translation, concept of« auf S. 3f, translation chains auf S. 24, channels of translation S. 125-131 sowie translation of ideas S. 149 . Doch Google Books zeigt weiter folgende Vorkommnisse an: S. 12, 13, 14, 15, 16, 19, 20, 21, 22, 23, 25, 27, 29. 32, 37, 39, 60, 78, 81, 85, 88, 89, 90, 93, 96, 97, 101, 109, 110, 111, 118, 122, 124, 144, 147, 152, 168, 187, 189, 192, 197, 203, 206, 207, 222, 232, 234, 236, 239, 243, 244, 245.

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Zwischendurch: Michel Serres

Im nächsten Eintrag wird es um das Konzept der kulturellen Übersetzung und der Übersetzung als Machtgenerator nach Callon und Latour gehen. Callon und Latour berufen sich auf Michel Serres, den ich bisher nicht gelesen hatte. Als Starthilfe hat mir ein Gespräch von Frank Hartmann und Bernhard Rieder gedient, das beide 2001 mit Michel Serres geführt haben und das auf der Seite »Telepolis« zugänglich ist. [1]Am Ende des Interviews werden die Werke von Serres in deutscher Übersetzung angeführt werden, darunter »Hermes III – Übersetzung, Berlin: Merve 1992«, der Titel, auf den sich Callon und Latour … Continue reading Daraus hier einige Zitate.

Das erste soll die Besonderheit seines Übersetzungsbegriffs zeigen. Er stellt darauf ab, dass der Normalfall der Kommunikation nicht die Informationsübertragung zwischen einem Sender und einem Empfänger ist, weil jeder, der an einer Kommunikation beteiligt ist, in ein Netzwerk eingebunden ist.

»Bis 1972 habe ich fünf Bücher über Kommunikation publiziert, die alle auch auf Deutsch übersetzt worden sind und die einen gemeinsamen Übertitel haben: Hermes. In der griechischen Mythologie ist Hermes der Götterbote. Nach dem Boten kamen dann die Hindernisse der Kommunikation: der Parasit – der auch manchmal Initiator sein kann. Danach habe ich ein Buch über die Engel geschrieben, Angelos, wieder ein Botschafter also. … die philosophische Tradition spricht immer von Dialogen. Von Plato bis Leibniz gibt es offensichtlich nur die Technik des Dialogs, während es bei mir eher um die Übertragung in einer pluralistischen Welt geht. Das heißt, die Kommunikation passiert in einem Netz, während sich der Dialog immer von einer einzelnen Person zu einer anderen ereignet. In der Kommunikation können es fünfhundert oder fünftausend sein – eigentlich egal wie viele. Aber diese schaffen sich Möglichkeiten der Übertragung von Botschaften, die sich vom Dialog völlig unterscheiden.«

Das zweite Zitat aus dem Interview von 2001 hat nichts mit dem Übersetzungsthema zu tun, dafür aber um so mehr mit der Zugänglichkeit von Informationen und wohl auch mit dem Plagiatsthema. Es spricht für sich:

»In meinen Augen ist es niemals ein Verbrechen Wissen zu stehlen. Es ist ein guter Diebstahl.
Der Pirat des Wissens ist ein guter Pirat. Wenn ich noch einmal jung wäre, dann würde ich ein Schiff bauen, das so hieße: Pirat des Wissens. Was in der Wissenschaft derzeit schlimm ist, ist dass die Firmen ihr Wissen kaufen und es deshalb geheim halten wollen. Und deshalb werden die Piraten morgen die sein, die im Recht sind.«

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Am Ende des Interviews werden die Werke von Serres in deutscher Übersetzung angeführt werden, darunter »Hermes III – Übersetzung, Berlin: Merve 1992«, der Titel, auf den sich Callon und Latour beziehen (Original: Hermes III: La traduction, Paris 1974, Editions de Minuit).

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Ebola und die Rationalität des Irrationalen

Auf der Suche nach Rechtssoziologie unter fremdem Namen lese ich gerade wieder ethnologische Literatur. Dort werde ich immer wieder fündig. So gibt es in Halle eine LOST-Research Group. LOST steht für Law, Organisation, Science and Technology. Thema ist die weltweite Diffusion [1]Diffusion ist für die Hallenser Ethnologen allerdings eher ein Unwort. Rottenburg hat über mehr als zehn Jahre eine Theorie der »Übersetzung« ausgearbeitet, über die ich vielleicht demnächst … Continue reading von Ideen und Artefakten, wissenschaftlich-technischen und juristisch-rganisatorischen Problemlösungen. Auf der Internetseite des Projekts liest man:

»The current research programme investigates the hypothesis that the global spread and increasing importance of the principle of equal rights simultaneously triggers two opposing developments: (1) the spread of techno-scientific and organizational solutions that reproduce tacit claims to universal objectivity, and (2) the spread of the right to self-determination that fosters various forms of relativism. The programme investigates the interactions and tensions between these opposing tendencies in different negotiations involving legal and scientific arguments.«

Konkreteres erfährt man dort allerdings nicht, und auch die Suche nach Publikationen aus dem Projekt war vergeblich. Immerhin ist aus dem Umfeld von Rottenburg gerade ein Sammelband erschienen, der mein Interesse geweckt hat [2]Andrea Behrends/Sung-Joon Park/Richard Rottenburg (Hg.), Travelling Models in African Conflict Management, Translating Technologies of Social Ordering, Leiden 2014.. Bei der dadurch veranlassten Lektüre der theoretischen Arbeiten Rottenburgs bin ich auf einen Satz gestoßen, der mir nicht aus dem Kopf will, nachdem ich in diesen Tagen von der Ebola-Epidemie in Westafrika lese und erfahre, auf welche durch traditionelle Bräuche und Überzeugungen bedingte Schwierigkeiten oder gar Abwehr die Bekämpfung der Seuche stößt.

»Die Ethnologie ist seit Beginn des 20ten Jahrhunderts mit der Herausforderung beschäftigt, fremde Kulturen zu analysieren und zu beschreiben, um sie gegenüber dem Vorwurf der Irrationalität zu verteidigen.« [3]Richard Rottenburg, Code-Wechsel. Ein Versuch zur Umgehung der Frage: Gibt es eine oder viele Wirklichkeiten?, in: Matthias Kaufmann (Hg.), Wahn und Wirklichkeit – multiple Realitäten, 2003, … Continue reading

Auf der Ebene der Wissenschaftstheorie kommt man um die Anerkennung der Relativität von Realitäten nicht herum. Aber in der technischen und auch in der sozialen Welt gibt es harte Realitäten, deren Ausblendung durch indigene und neotraditionale Kulturen man wohl doch irrational nennen darf oder gar muss. Ethnologen, die prinzipiell fremde Kulturen gegenüber dem Vorwurf der Irrationalität verteidigen wollen, haben da ein Problem.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Diffusion ist für die Hallenser Ethnologen allerdings eher ein Unwort. Rottenburg hat über mehr als zehn Jahre eine Theorie der »Übersetzung« ausgearbeitet, über die ich vielleicht demnächst noch berichten werde.
2 Andrea Behrends/Sung-Joon Park/Richard Rottenburg (Hg.), Travelling Models in African Conflict Management, Translating Technologies of Social Ordering, Leiden 2014.
3 Richard Rottenburg, Code-Wechsel. Ein Versuch zur Umgehung der Frage: Gibt es eine oder viele Wirklichkeiten?, in: Matthias Kaufmann (Hg.), Wahn und Wirklichkeit – multiple Realitäten, 2003, 153-174, S. 160.

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Campact – Protest auf Bestellung

Auch in Zeiten elektronischer Vernetzung ist politischer Protest ist selten ganz spontan derart dass ein Eintrag auf Youtube, Facebook oder Twitter sich wie ein Virus verbreitet. Der Protest wird in der Regel von Parteien, Interessenorganisationen oder sozialen Bewegungen irgendwie gestartet und organisiert. Das ist völlig in Ordnung und legitim, denn anders hat politischer Protest praktisch keine Chance. Anders liegt es aber vielleicht doch, wenn ein Vielzweckorganisator auftritt, der bereit ist, mehr oder weniger jeden Protest, der sich gegen die institutionalisierte Politik richtet, zu organisieren. Eine solche Multi-Purpose-Protestagentur ist Campact. Alles, wogegen sich oppositionelle Kräfte mobilisieren lassen, kann Thema für eine Kampagne werden. 1.433.986 Emailadressen hat man nach eigenen Angaben gesammelt, und Hunderttausende davon sind immer wieder bereit, sich per Mail, Facebook oder Twitter anzuhängen, wenn es heißt: Stoppt die Politik! Stoppt TTPI! Fracking stoppen! Am 23. 6. Antikohlen-Kette in der Lausitz – stoppt den Klimakiller! Diskutiert und argumentiert wird nicht lange. Was nicht passt, wird mit einem Stopp-Schild versehen. Der Stopp-Imperativ impliziert, dass es sich um etwas Böses handeln muss. Das ganze Unternehmen heißt dann »Demokratie in Aktion«.

Was soll die Politik von solcher Polittechnologie halten? Die guten alten Unterschriftenlisten zeigten mindestens die ernste Betroffenheit der Unterzeichner, selbst wenn sie nicht durch Sorge für das Gemeinwohl, sondern bloß an Nimby interessiert waren. Anders, wer sich im Monatsrhythmus für unterschiedliche Kampagnen mobilisieren lässt. Protest wird damit zu einem expressiven Verhalten, zum Selbstzweck, weil er billig Frust abbaut oder gar Spaß macht. Da verlieren Flashmobs und Twitterstorms ihren Schrecken. Die Politik darf sie so schnell vergessen wie wir die Sommergewitter, die in diesem Wochen über uns ziehen. Auch Präsenzprotest ist nicht mehr das, was er einmal war. Er bleibt immerhin lästig, wenn auch die vermummten Gewalttäter, auf die Campact sicher gern verzichten würde, den Protestaufrufen folgen. Die Frage ist allerdings, ob hinter der Polittechnologie von Campact eine Meta-Agenda steckt. Ich weiß es nicht.

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Globale Modernisierung: Die World Trade Organization wird zur World Tourism Organization

Gestern war ich in Münster, wo vor Gästen der Kolleg-Forschergruppe »Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik« deren Fellow Professor Dr. Volker Schmidt (National University of Singapore, Department of Sociology) sein neues Buch »Global Modernity, A Conceptual Sketch« [1]Basingstoke 2014, ISBN 9781137435804, 100 S. zur Diskussion stellte. Vielleicht komme ich noch dazu, eine kleine Besprechung des Buches zu schreiben. Es ist eine Besprechung wert. Aber Rezensionen sind mühsam. Daher bringe ich heute nur einen Gedanken zu Papier, der mir gestern Abend (nach Weingenuss) durch den Kopf ging. Zuvor nur zwei Bemerkungen zu diesem Buch. Erstens: Die Forschergruppe hat die Modernisierungstheorie vor allem unter dem Gesichtspunkt einer »normativen Moderne« im Blick, den ihr Leiter, Thomas Gutmann, ausarbeitet. Zweitens: Schmidt entwickelt auf der Grundlage der Systemtheorie ein Konzept, das die dritte Phase der Modernisierung erfassen soll. In der ersten Phase lag der Schwerpunkt der Modernisierung in Europa, und hier am Ende in England. In der zweiten Phase verlagerte er sich in die USA. Noch immer sprechen Kritiker der Modernisierungstheorie von einem westlichen Modell. Sie haben – so Schmidt – noch nicht wahrgenommen, dass sich der Schwerpunkt der Entwicklung nach Asien verlagert hat und dass die Modernisierung zu einem definitiv globalen Prozess geworden ist. [2]Auf frühere Beiträge Schmidts zur Modernisierungstheorie habe ich im Eintrag vom 24. 9. 2012 Hingewiesen: Kritik der Konvergenzthese III: Eisenstadts »Vielfalt der Moderne«[ … Continue reading

Nun zu meinem Hirngespinst. Im Raum (ganz hinten in der Ecke) stand die These, dass Europa an Gewicht verliere, und auf die Frage, warum das so bedeutsam sei, erhielt ich zu Antwort, dass Europa dann etwa in der WTO an Verhandlungsmacht verliere und sich, wie heute die Entwicklungsländer, die Regeln des Welthandels aus anderen Regionen der Welt diktieren lassen müsse. Meine Überlegung dazu: Bis es soweit kommt, interessiert der Welthandel kaum noch. Eine Folge der unaufhaltsam fortschreitenden Modernisierung wird sein, dass in nicht allzu ferner Zukunft die Regionen der Welt was ihre Versorgung mit materiellen Gütern betrifft, autark sein werden. Der Welthandel wird schrumpfen, denn Rohstoffe verlieren an Bedeutung. Öl, Kohle und Gas werden durch erneuerbare Energien ersetzt, die lokal gewonnen werden können. Andere Rohstoffe werden recycelt oder substituiert. Billigarbeitskräfte, die Hemden nähen und Handys zusammenbauen, wird es auf Dauer nirgends mehr geben. Die Produktion wird daher an den Ort des Verbrauchs zurückgeholt und dort weitgehend automatisiert. Landwirtschaftliche Produkte aller Art, soweit sie nicht gentechnisch den jeweiligen klimatischen Verhältnissen angepasst werden können, lassen sich nach holländischem Vorbild im Treibhaus ziehen. Wirtschaftliche Autarkie war immer wieder Traum der Politik. Die Modernisierung könnte aus dem Traum Wirklichkeit werden lassen – und aus der World Trade Organization wird dann vielleicht die World Tourism Organization [3]Die gibt es schon als UNWTO. Aber dadurch lasse ich mir meinen Gag nicht verderben..

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Basingstoke 2014, ISBN 9781137435804, 100 S.
2 Auf frühere Beiträge Schmidts zur Modernisierungstheorie habe ich im Eintrag vom 24. 9. 2012 Hingewiesen: Kritik der Konvergenzthese III: Eisenstadts »Vielfalt der Moderne«[ https://www.rsozblog.de/kritik-der-konvergenzthese-iii-eisenstadts-vielfalt-der-moderne/].
3 Die gibt es schon als UNWTO. Aber dadurch lasse ich mir meinen Gag nicht verderben.

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Die Ukraine historisch: Das lebende Recht der Bukowina – Idylle oder Elend?

Die Ukraine beherrscht zurzeit die Medien. Was dort geschieht, ist nach den Maßstäben der Merkel-Republik kaum verständlich. Immer wieder müssen wir uns bewusst machen, dass viele Ereignisse sich nur durch Gefühle erklären lassen, die historisch – und das heißt auch ethnisch, religiös, sozial und durch Gewalt – geprägt worden sind.

1913 erschien Eugen Ehrlichs »Grundlegung der Soziologie des Rechts« Aus diesem Anlass hatte ich zusammen mit Stefan Machura einen Artikel über Ehrlichs Rechtspluralismus geschrieben, der im Dezember 2013 in der Juristenzeitung erschienen ist [1]Klaus F. Röhl/Stefan Machura, 100 Jahre Rechtssoziologie: Eugen Ehrlichs Rechtspluralismus heute, Juristenzeitung 2013, 1117-1128. Natürlich gab es im Jubiläumsjahr mehr Würdigungen für Ehrlich: … Continue reading Nun habe ich zufällig im Bücherschrank meines Bruders ein Buch gefunden, das mir zu denken gibt. Es handelt sich um Martin Pollack, Der Kaiser von Amerika. Die große Flucht aus Galizien, Paul Zsolnay Verlag Wien 2010, als DTV-Taschenbuch 2013.

Galizien, bis zum Ende des ersten Weltkriegs ein österreichisches Kronland, setzte sich aus Teilen Polens und der westlichen Ukraine zusammen. Bis zum Großpolnischen Aufstand 1848 gehörte auch die Bukowina Ehrlichs zu Galizien. Danach wurde sie selbständiges Kronland. Der südliche Teil der Bukowina gehört heute zu Rumänien. Die Nordbukowina mit Czernowitz, wo Ehrlich zu Hause war, ist Teil der Ukraine.

Martin Pollock schildert in seinem Buch, wie etwa zwischen 1870 und dem ersten Weltkrieg Hunderttausende verarmter Menschen, in die USA und teilweise auch nach Kanada und Brasilien auswanderten, man muss sagen, ausgewandert wurden. Eine gute Inhaltsangabe bietet die (namenlose) Rezension der NZZ vom 15. 12. 2010. [2]Eine Rezension von Jörg Plath für Arte-TV unter http://www.arte.tv/de/pollack-martin-kaiser-von-amerika/3655690.html.

Das »galizische Elend« war sprichwörtlich. Etwa ab 1870 wuchs die Bevölkerung Galiziens enorm, von etwa 5,5 Millionen auf 8,2 Millionen Einwohner 1914. Da die große Masse von der Landwirtschaft lebte, die durch rückständige Bewirtschaftungsmethoden und die Realteilung im Erbfall zunehmend verelendete, gingen die Menschen in großer Zahl als Saisonarbeiter nach Deutschland, Frankreich oder Dänemark, oder sie wanderten aus nach Übersee. Der Anteil der Juden an der Bevölkerung lag bei 10 %. Zwischen 1880 und 1910 wanderten insgesamt 236.504 von ihnen in die Vereinigten Staaten aus.

Pollacks Buch ist von der Kritik gelobt worden, weil es ein Sachbuch mit literarischem Anspruch sei, dass diesen Anspruch mit der Schilderung von persönlichen Schicksalen realisiert. Ich kann dieses Lob nicht ganz teilen. Die persönlichen Schicksale bleiben blass; sie beschränken sich auf wenige Daten über Herkunft, Hin- und manchmal Rückfahrt nach Amerika und einige allgemeine Bemerkungen über unfallträchtige Arbeit in Bergbau und Stahlindustrie. In keines dieser Schicksale habe ich mich wirklich hineinversetzen können, auch nicht in das des Mendel Beck, der planlos durch das ganze Buch herumgeistert. Aber auch als Sachbuch ist der Band nicht wirklich informativ. Das Kapitel über »Das galizische Elend in Ziffern« ist unergiebig. Aus Wikipedia-Artikeln über Galizien und über Auswanderung erfährt man mehr. Bessere Informationen zur Bukowina bietet eine Internetseite von Prof. Dr. Peter Maser/Münster mit der Überschrift »Galizien: Grenzlandschaft des alten und neuen Europa«. Und dennoch: Pollocks Buch hat mich bewegt und kommt mir jetzt wieder in den Sinn, wo ich jeden Tag über die Ukraine höre und lese. Nicht nur deshalb ist es aktuell. Es schärft auch den Blick für die Armutsfluchtbewegung aus Afrika.

Aus Pollocks Buch erfährt man naturgemäß wenig über das »lebende Recht der Bukowina«. Immerhin: Auf S. 43 ff (»Handel mit delikatem Fleisch«) liest man einiges über Prostitution und den florierenden Mädchenhandel [3]Auf einer Internetseite, die aus der Universität Lemberg kommt, heißt es dazu: »Sozusagen ein ›Nebenprodukt‹ der organisierten Emigration war der Mädchenhandel – nach seriösen Schätzungen … Continue reading, auf S. 59 (»Zum Engelmachen unterbracht«) über die gängige Abtreibungspraxis. Und auf S. 109 ff (»Ein Massenprozess«) erfährt man von einer Justizaktion gegen 65 betrügerische Auswanderungsagenten und korrupte Beamte, von denen 31 verurteilt wurden. Viele seiner Informationen hat der Autor anscheinend aus den Prozessakten. Leider sind die Informationen über den Prozess über das halbe Buch verstreut. [4]In der Judaica-Sammlung der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main (Freimann-Sammlung) findet sich eine zeitgenössische Zusammenstellung von antisemitischen Prozessberichten aus verschiedenen … Continue reading Harmlos dagegen S. 73f: Eier, Butter und Käse gehören traditionell der Bäuerin, die Bienen und ihre Produkt hingegen sind Eigentum des Mannes. Beides wird verkauft, um mit dem Erlös die wichtigsten Anschaffungen zu tätigen. Ich überlege mir aber, ob der Hintergrund des »galizischen Elends« in irgendeiner Weise die Bewertung von Ehrlichs Rechtspluralismus tangiert. Kein Wunder, dass in dem geschundenen Galizien das offizielle Recht der österreichischen Monarchie keine gute Chance hatte. Ehrlich kannte natürlich das »galizische Elend«, insbesondere das der Juden [5]In einem Vortrag aus dem Jahre 1909 empfahl er zur Abhilfe die Assimilierung der Juden und die Industrialisierung der Bukowina: Die Aufgaben der Sozialpolitik im österreichischen Osten (Juden- und … Continue reading Sein »lebendes Recht« erscheint vor diesem Hintergrund jedoch eher wie eine Idylle.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Klaus F. Röhl/Stefan Machura, 100 Jahre Rechtssoziologie: Eugen Ehrlichs Rechtspluralismus heute, Juristenzeitung 2013, 1117-1128. Natürlich gab es im Jubiläumsjahr mehr Würdigungen für Ehrlich: Mikhail Antonov, Eugen Ehrlich – State Law and Law Enforcement in Societal Systems, Rechtstheorie 44Heft 3, 275-286; Hubert Rottleuthner, Das Lebende Recht bei Eugen Ehrlich und Ernst Hirsch, Zeitschrift für Rechtssoziologie 33, 2012/191-206. In demselben Heft (S. 322-325) bespricht Stefan Machura den von Heinz Barta/Michael Ganner/Voithofer Caroline herausgegebenen Sammelband »Zu Eugen Ehrlichs 150. Geburtstag und 90. Todestag« Innsbruck 2013.
2 Eine Rezension von Jörg Plath für Arte-TV unter http://www.arte.tv/de/pollack-martin-kaiser-von-amerika/3655690.html.
3 Auf einer Internetseite, die aus der Universität Lemberg kommt, heißt es dazu: »Sozusagen ein ›Nebenprodukt‹ der organisierten Emigration war der Mädchenhandel – nach seriösen Schätzungen wurden pro Jahr mindestens 10.000 Mädchen aus Galizien an Bordelle in Südamerika, Ägypten oder auch Indien verkauft. Die österreichischen Behörden sahen dem Treiben der Auswanderungsagenten weitgehend tatenlos zu, sie wollten bloß verhindern, dass wehrpflichtige Personen das Land verließen. Nur in einzelnen, besonders krassen Fällen wurden Agenten zur Verantwortung gezogen«.
4 In der Judaica-Sammlung der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main (Freimann-Sammlung) findet sich eine zeitgenössische Zusammenstellung von antisemitischen Prozessberichten aus verschiedenen Zeitungen.
5 In einem Vortrag aus dem Jahre 1909 empfahl er zur Abhilfe die Assimilierung der Juden und die Industrialisierung der Bukowina: Die Aufgaben der Sozialpolitik im österreichischen Osten (Juden- und Bauernfrage), in: Eugen Ehrlich, Politische Schriften, hrsg. von Manfred Rehbinder, 2007, 131-151.

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Luhmanns Rechtsgeltungslehre: Ein Rechtssystem oder viele?

Wer in der Rechtstheorie etwas auf sich hält, fordert eine neue Rechtsquellenlehre. [1]Z. B. Thomas Vesting, Rechtstheorie, 2007, Rn. 184. Wie sie aussehen soll, scheint klar zu sein: heterarchisch und pluralistisch. Was das konkret bedeutet, bleibt allerdings ziemlich offen. Wir sehen bei der Überarbeitung der Allgemeinen Rechtslehre [2]Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008. noch nicht so klar, ob und wie die Rechtsquellenlehre zu erneuern ist.

Wir sind immerhin entschlossen, die Relativität der Rechtsquellenlehre zu betonen. Es gibt – so unser Ausgangspunkt – keinen universellen Rechtsbegriff, und daher gibt es auch keine universelle Rechtsquellenlehre. Die Rechtsquellenlehre ist vielmehr relativ zu dem Rechtssystem, für das sie maßgeblich sein soll. Dieses Rechtssystem wiederum wird durch ein Gerichtssystem individualisiert. Es ist die Aufgabe der Rechtsquellenlehre, den Richtern auf ihre Frage zu antworten: Wonach sollen wir judizieren? Ungeachtet aller inneren Differenziertheit betrachten wir das staatliche Gerichtssystem als eine Einheit und gelangen so zu einer Rechtsquellenlehre für eben dieses Gerichtssystem. Aus der Abhängigkeit der Rechtsquellenlehre vom Gerichtssystem folgt, dass jeder Staat über seine eigene Rechtsquellenlehre verfügt. Darüber hinaus haben staatsunabhängige und/oder übernationale Gerichtssysteme ihre eigenen Rechtsquellen.

Andererseits stehen alle Rechtsquellenlehren vor ähnlichen Problemen. Sie müssen mehr oder weniger alle die gleichen Elemente verarbeiten und deren Verhältnis zueinander klären: Staatliche Gesetze und internationale Rechtsregeln, juristische Lehrmeinungen, naturrechtliche Forderungen, richterliche Präjudizien, autonome Satzungen, administrative, technische und soziale Normen (Gewohnheitsrecht, Verkehrssitte, Handelsbrauch, Geschäftsbedingungen, betriebliche Übung) Soft Law verschiedener Provenienz und gesellschaftliche Erwartungen, kurzum das ganze Angebot, das heute unter dem Titel des Rechtspluralismus vorgestellt wird.

Die übliche Antwort auf die Frage, wonach die Gerichte judizieren sollen, lautet: Nach geltendem Recht. Damit baut die Rechtsquellenlehre auf einer Theorie der Rechtsgeltung auf. Das ist jedoch nur beschränkt hilfreich, weil das Problem der Rechtsgeltung meistens abstrakt philosophisch für das Recht schlechthin erörtert wird, also nicht im Hinblick auf ein bestimmtes abgrenzbares Rechtssystem. Zu einer Rechtsquellenlehre passen deshalb nur solche Theorien, die die Geltung der Normen gerade des Rechtssystems begründen, für das die Rechtsquellenlehre maßgeblich sein soll. Diesen Anforderungen genügen praktisch Kelsens Theorie der Grundnorm und Harts Anerkennungslehre.

Eine der Fragen, die die Rechtsquellenlehre umtreibt, ist die nach der Existenz transnationalen Rechts oder gar eines Weltrechts. Besonders in diesem Zusammenhang wird häufig die Rechtsgeltungstheorie Luhmanns herangezogen, stets affirmativ und oft als so selbstverständlich, dass nicht einmal auf ihre Quelle verwiesen wird.

»Was wir hier beobachten, ist ein sich selbst reproduzierender Rechtsdiskurs globalen Ausmaßes, der seine Grenzen durch Benutzung des binären Codes Recht/Unrecht schließt und sich selbst durch Prozessieren eines Symbols globaler (nicht: nationaler) Geltung reproduziert.« [3]Gunther Teubner, Globale Bukowina: Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus, Rechtshistorisches Journal 15, 1996, 255-290, Hier zitiert nach der Internetfassung … Continue reading.

Bei Fischer-Lescano/Teubner, Regimekollisionen, 2006, 42 ist zu lesen:

»Ein einheitliches Weltrecht reproduziert sich durch die Autopoiese von Rechtsoperationen, die … letztlich alle auf die binäre Codierung von Recht/Unrecht ausgerichtet sind. Nur gründet sich die Einheit des Weltrechts nicht mehr strukturell wie im Nationalstaat auf gerichtshierarchisch abgesicherter Konsistenz des Normgefüges, sondern bloß noch prozessual auf den Verknüpfungsmodus der Rechtsoperationen, über den auch ganz heterogene Rechtsordnungen verbindliche Rechtsgeltung transferieren.«

Und noch ein drittes Beispiel:

»Jenseits der nationalen Rechtsordnungen und des Völkerrechts ist eine neue transnationale Form des Rechts im Entstehen begriffen. … Dieses transnationale Recht ist jedoch intern fragmentiert, es entsteht im Kontext partikularer Regimes. Diese Regimes operieren zwar in einem einheitlichen Medium der Rechtsgeltung, sind aber auf der Ebene ihrer Rechtsanwendungsregeln voneinander unabhängig.« [4]Moritz Renner, Zwingendes Rechts, 2011, 293.

Ich habe nirgends eine ausführliche Darstellung und Würdigung von Luhmanns Geltungslehre gefunden. Deshalb will ich versuchen, sie mir selbst aus seinen Texten zu erschließen, und zwar vor allem unter dem Aspekt, ob diese Geltungslehre ein universelles Rechtssystem postuliert oder ob sie viele Rechtssysteme akzeptiert. Dabei ist von vornherein klar, dass Luhmanns Geltungstheorie eine soziologische Beobachtertheorie und keine juristische Reflexionstheorie bildet. Das betont Luhmann doppelt. [5]Das Recht der Gesellschaft = RdG, 1993, 98 und 523. Bei denen, die diese Theorie heranziehen ist das nicht immer so klar. Auch Luhmann selbst kann der Versuchung, aus der soziologischen Theorie Konsequenzen für die juristische Rechtsquellenlehre abzuleiten, nicht ganz widerstehen. [6]Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 282. Darauf wird zurückzukommen sein.

Keine Frage auch: Die funktionale Differenzierung der Gesellschaft in die großen Teilsysteme, von denen das Recht eines darstellt, wird bisher immer noch von der sektoriell-territorialen Differenzierung überlagert. 1971 hatte Luhmann darauf hingewiesen, es bestehe eine zunehmende Diskrepanz zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Kommunikation, die längst zur Weltgesellschaft zusammengewachsen seien, und dem positiven Recht, das immer noch innerhalb territorialer Grenzen als nationales Recht in Geltung gesetzt werde. [7]Niklas Luhmann, Die Weltgesellschaft, ARSP 57, 1971, 1-35. Die von Luhmann wiederholt betonte Einheit des Rechtssystems ist oder war die Einheit vieler nationaler Rechtssysteme. Wollten wir Luhmann folgen, so wäre die Suche nach einem universellen Weltrechtssystem müßig. Er meinte, das Rechtssystem habe sich im Hinblick auf die Erfordernisse des territorial begrenzten Nationalstaates in einem komplizierten Kopplungsverhältnis mit der Politik entwickelt, so dass schwer vorstellbar sei, wie es auf Weltebene eine Entsprechung finden könne. Die Summe seiner Rechtssoziologie, das »Recht der Gesellschaft« von 1993 endet mit der Prognose:

»Es kann daher durchaus sein, daß die gegenwärtige Prominenz des Rechtssystems und die Angewiesenheit der Gesellschaft selbst und der meisten ihrer Funktionssysteme auf ein Funktionieren des Rechtscodes nichts weiter ist als eine europäische Anomalie, die sich in der Evolution einer Weltgesellschaft abschwächen wird.«

Die Nach-Luhmann-Generation der Systemtheorie will diese Prognose nicht akzeptieren. Sie geht davon aus, dass die Weltgesellschaft ebenso wie bisher die Staaten auf das Funktionieren des Rechtscodes angewiesen sei und postuliert die laufende Schwächung der territorialen Rechtssysteme zugunsten eines transnationalen Rechtssystems. Für die Entstehung und Existenz dieses transnationalen Rechts spielt das »Symbol« oder »Medium« der Rechtsgeltung eine wichtige Rolle.
Die zentrale Textstelle, mit der Luhmann seine Geltungstheorie vorstellt, findet sich im »Recht der Gesellschaft« (RdG) 1993, S. 98:

»Ebenso wie andere Funktionssysteme verfügt auch das Rechtssystem über ein Symbol, das die Einheit des Systems im Wechsel seiner Operationen erzeugt. Im Unterschied zu Reflexionstheorien … handelt es sich bei einem solchen Symbol nicht um eine Beschreibung des Systems, sondern um eine operative Funktion. Das Symbol leistet also nicht eine Verknüpfung von Beobachtungen, sondern eine Verknüpfung von Operationen – obwohl natürlich alle Operationen im System beobachtet und beschrieben werden können und somit auch das Systemsymbol selbst. Die operative Symbolisierung setzt tiefer an als die Beobachtungen, sie ist für den Fortgang von Operation zu Operation, also für das Herstellen von rekursiven Bezügen und für das Finden von Anschlußoperationen unentbehrlich – was immer dann ein Beobachter daran zu unterscheiden und zu bezeichnen vermag. Den Begriff ›Symbol‹ wählen wir deshalb, weil es darum geht, in der Verschiedenheit der Operation die Einheit des Systems zu wahren und zu reproduzieren. Dies leistet im Rechtssystem das Symbol der Rechtsgeltung. … Ebenso wie Geld ist auch Geltung ein Symbol … ›Geltung‹ symbolisiert, … wie das Geld, nur die Akzeptanz der Kommunikation, also nur die Autopoiesis der Kommunikationen des Rechtssystems.«

Die Autopoiesis des Rechtssystems funktioniert dadurch, dass Rechtskommunikationen an Rechtskommunikationen (und nur an solche) anschließen. Rechtskommunikationen sind daran erkennbar, dass sie die Leitunterscheidung (den »Code«) von Recht und Unrecht verwenden. Schwierigkeiten bereitet (mir) zunächst die Frage, was genau es heißt, auf den Recht/Unrecht-Code zu abzustellen.

Von »Recht« zu reden genügt nicht, um sich im Rechtssystem zu bewegen. Verwende ich den Code, wenn ich ihn hier erwähne und problematisiere? Sicher nicht. Auch der Rechtshistoriker, der Rechtsentwicklungen beschreibt und deutet, hat seine Mitteilungen nicht nach Recht und Unrecht codiert.

»In der Umwelt des Rechts kann es zwar Sinnverweisungen auf das Recht geben – etwa Rechtsunterricht, Reportage über Gerichtsfälle in Zeitungen –, aber keine Operationen, die durch Zuordnung der Werte Recht bzw. Unrecht hat an der Reproduktion des Rechtssystems mitwirken.« [8]Die Codierung des Rechtssystems, Rechtstheorie 1986, 171-203, S. 178.

Recht hat eine normative Funktion, und deshalb gehört

»ins Rechtsystem selbst nur … eine Kommunikation, die eine Zuordnung der Werte ›Recht‹ und ›Unrecht‹ behauptet; denn nur eine solche Kommunikation sucht und behauptet eine rekurrente Vernetzung im Rechtssystem«. [9]RdG S. 67.

Zur Verwendung des Codes gehört also, dass der Kommunizierende eine Rechtsbehauptung aufstellt, wie trivial auch immer sie sei. Es kommt nicht darauf an, wer kommuniziert, also darauf, ob der Kommunizierende eine besondere Rolle im Rechtsystem – als Richter, Anwalt usw. – ausfüllt. Auch der Laie kann an der Rechtskommunikation teilnehmen. Es kommt auch nicht darauf an, ob der Kommunizierende ein Recht für sich in Anspruch nimmt, ein Recht für andere geltend macht oder ganz abstrakt darüber redet, dass dieses oder jenes als Recht anzusehen sei. Es kommt weiter nicht darauf an, ob aktuell geltendes Recht behauptet (oder bestritten) wird oder ob die Änderung bestimmter Normen vorgeschlagen oder gar gefordert wird. [10]RdG S. 68 So gehört eine Gesetzesinitiative des Bundesrats ebenso zur Rechtskommunikation wie ein Leserbrief, der sie kritisiert. Luhmann lässt daran eigentlich keinen Zweifel. In dem Aufsatz »Die Codierung des Rechtssystems« von 1986 [11]Rechtstheorie 17, 1986, 171-203. unterscheidet er zwischen dem von ihm gemeinten Rechtssystem und Organisationssystemen des Rechts, nämlich solchen die »mit professioneller Sachkunde durch dafür eingerichtete Organisationen Recht erkenn[en] und Entscheidungen über Recht herbeiführ[en]«. Weiter ist zu lesen

»Nicht nur der organisatorisch-professionelle Komplex, sondern alle Kommunikationen, die auf den Rechtscode Bezug nehmen, sind Operationen des Rechtssystems – gleichgültig ob es sich um bindende Entscheidungen handelt, oder um ›private‹ Rechtsbehauptungen, um kautelarische Vorsorge für Rechtspositionen oder um Versuche, sich angesichts eines drohenden Rechtsstreites zu verständigen. Alle rechtlich codierten Kommunikationen ordnen sich eben durch die Zuordnung zu diesem Code dem Rechtssystem ein. Dies kann nur entweder geschehen oder nicht geschehen, es gibt keine Halbheiten oder Zwischenzustände.« [12]S. 178..

Das ist deutlich. In Fn. 9 spricht Luhmann von der für die Theorie autopoietischer Systeme fundamentalen »Alles-oder-Nichts Annahme«. Das Rechtssystem verträgt also auch Trivialkommunikation. Doch transportiert diese auch das Symbol der Rechtsgeltung? Zweifel kommen auf, wenn zu lesen ist:

»Wir verlagern das Problem deshalb auf die operative Ebene und sehen im Symbol der Rechtsgeltung nur den Vollzug des Übergangs von einem Rechtszustand in einen anderen, also nur die Einheit der Differenz eines vorher und nachher geltenden Rechtszustands.« [13]RdG S. 102

Passt das noch für alle Rechtskommunikationen? Die Zweifel werden verstärkt, wenn es in einem älteren Aufsatz Luhmanns heißt:

»daß Ereignisse nur dann die Qualität einer Elementareinheit des Rechtssystems erhalten können, wenn sie die Rechtslage ändern. … die Selbstreproduktion des Rechts vollzieht sich als Rechtsänderung, als Übertragung der Qualität normativer Geltung auf partiell neue Erwartungen. Das Recht befindet sich mithin in ständiger Bagatellvariation, und die bewährten Großfiguren wie Vertrag und Gesetz sind nur ausdifferenzierte Formen dieses Geschehens.« [14]Die Einheit des Rechtssystems, Rechtstheorie 14, 1983, 129-154, S. 136.

Bisher war ich davon ausgegangen, dass jede Rechtskommunikation in dem oben ausgeführten Sinne eine »Elementareinheit des Rechtssystems« bildet, und zwar auch die triviale Rechtskommunikation, also etwa der Leserbrief, der zu einer rechtspolitischen Frage Stellung nimmt, oder der Jammer meines Nachbarn, das Gericht, das ihn verurteilt habe, habe falsch entschieden. Wie könnte solche Trivialkommunikation das Symbol der Rechtsgeltung pflegen? Laien können dieses Symbol immerhin in Rechtsgeschäften weiterreichen. Sonst »zirkuliert« es wohl doch eher in der professionellen Rechtskommunikation oder gar im Organisationssystem »Recht«, denn

»bei Vermehrung unkoordinierter Normprojektionen [wird] der Punkt erreicht, an dem eine quasi naturwüchsige Reflexivität im normativen Erwarten normativen Erwartens keine Lösungen mehr liefert und ersetzt werden muß durch die Ausdifferenzierung eines organisierten Entscheidungssystems im Recht, das dann die Blicke auf sich zieht und ein Netzwerk von offiziell geltenden Normen entwickelt«. [15]RdG S. 162.

Daher entsteht als

»Bedingung einer universellen und verläßlich erwartbaren Codierung nach Recht/Unrecht, im Rechtssystem ein engerer Bereich des rechtlich verbindlichen Entscheidens – sei es zur Feststellung, sei es zu zur Änderung des Rechts. Hier handelt es sich um ein organisiertes Teilsystem, das heißt um ein System, das sich durch die Unterscheidung von Mitgliedern/Nichtmitgliedern ausdifferenziert und die Mitglieder in ihrer Mitgliedschaftsrolle verpflichtet, Entscheidungen zu produzieren, die sich nach den (innerhalb der Organisation änderbaren) Programmen des Systems, also nach den Rechtsnormen richten. Wir haben für dieses Entscheidungssystem des Rechtssystems nur Bezeichnungen für die dann wieder differenzierten Subsysteme, nämlich Gerichte und Parlamente …, aber keine Bezeichnung für die Einheit dieses Systems. Wir werden deshalb von einem organisierten Entscheidungssystem des Rechtssystems sprechen« [16]RdG S. 144f.

Das Entscheidungssystem ist also ein Teilsystem des Rechtssystems überhaupt und verfügt seinerseits über diverse Subsysteme. Luhmann nennt nur Gerichte und Parlamente. Aber man wird auch Verwaltungen, die Anwaltschaft und die Rechtswissenschaft als Subsysteme dieses Teilsystems einordnen dürfen. Wenn dem so ist, das heißt, wenn das Entscheidungssystem die Gestalt von einer oder mehreren Organisationen hat, dann gibt es so viele Entscheidungssysteme wie es Gerichtssysteme gibt, nämlich mindestens in jedem Staat eines, daneben weitere im übernationalen Raum und vielleicht auch innerhalb der Staaten.

Es bleibt auch nicht dabei, dass jede Rechtskommunikation zählt, wie trivial und laienhaft sie auch immer sei. Erforderlich ist vielmehr ein qualifiziertes Rechtshandeln.

»Die wichtigste theoretische Konsequenz ist: daß Ereignisse nur dann die Qualität einer Elementareinheit des Rechtssystems erhalten können, wenn sie die Rechtslage ändern. Der Grund der Einheitszuschreibung ist eben, daß man dadurch die Differenz von Kontinuität und Diskontinuität operationalisiert und daß man daraufhin im Normalfalle hinreichend leicht und hinreichend rasch feststellen kann, was sich durch ein bestimmtes Rechtshandeln geändert hat. … die Selbstreproduktion des Rechts vollzieht sich als Rechtsänderung, als Übertragung der Qualität normativer Geltung auf partiell neue Erwartungen. Das Recht befindet sich in beständiger Bagatellvariation, und die bewährten Großfiguren wie Vertrag oder Gesetz sind nur ausdifferenzierte Formen dieses Geschehens.« [17]Die Einheit des Rechtssystems, Rechtstheorie 14, 1983, 129-154, S. 135f.

Deutlicher noch ist RdG S. 107 f:

»Nicht jede Rechtskommunikation transportiert allerdings Geltung in diesem Sinne, zum Beispiel nicht das bloße Anmelden von Rechtsansprüchen. Es muß sich um rechtswirksame Entscheidungen handeln. Diese liegen aber nicht nur in den Entscheidungen des Gesetzgebers und der Gerichte, sondern in breitestem Umfang auch in der Gründung von Korporationen und in Verträgen, die in die Rechtslage eingreifen und sie ändern. Es genügen einseitig verbindliche Erklärungen (zum Beispiel Testamente), nicht aber bloße Fakten, die Rechtsfolgen auslösen – etwa der Tod eines Erblassers oder eine strafbare Handlung. Ähnlich wie im Wirtschaftssystem die Geldzahlung ist auch im Rechtssystem der Geltungstransfer nicht identisch mit der Gesamtheit der Systemoperationen; aber es handelt sich um diejenigen Operationen, die die Autopoiesis des Systems vollziehen und ohne die die Ausdifferenzierung eines operativ geschlossenen Rechtssystems nicht möglich wäre.«

Aus dem umfassenden Kommunikationssystem des Rechts wird damit ein »Rechtssystem im engeren Sinne« [18]Gralf-Peter Calliess, Systemtheorie: Luhmann/Teubner, in: Sonja Buckel u. a. (Hg.), Neue Theorien des Rechts, 2006, 57-75, S. 62. herausgehoben. Von dem großen universellen Rechtssystem bleibt nicht viel übrig, und wir können an unserem Ausgangspunkt festhalten. Wenn wir in einer (als Reflexionstheorie des Rechts systemtheoretisch angeleiteten) Rechtstheorie von Rechtsgeltung reden, reden wir über Rechtsgeltung im Entscheidungssystem. Aufgabe der Rechtsquellenlehre ist es dann, das für ein bestimmtes Entscheidungssystem geltende Recht zusammenzustellen. Das bedeutet also, die Rechtsquellenlehre ist relativ zu dem jeweiligen Entscheidungs- bzw. Gerichtssystem. Von der »Gesamtheit der Systemoperationen« dürfen wir getrost die große Masse vergessen und uns auf die herkömmlich dem Recht zugeordneten Elemente konzentrieren.

Damit ist Luhmanns Geltungstheorie aber nicht erschöpft. Immerhin soll das zirkulierende Geltungssymbol, wie Luhmann andeutet [19]Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 279., den Rechtsquellenbegriff ersetzen und deshalb verlangt dieser Eintrag nach Fortsetzung.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Z. B. Thomas Vesting, Rechtstheorie, 2007, Rn. 184.
2 Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008.
3 Gunther Teubner, Globale Bukowina: Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus, Rechtshistorisches Journal 15, 1996, 255-290, Hier zitiert nach der Internetfassung http://www.jura.uni-frankfurt.de/42828668/BUKOWINA_DT.pdf, dort S. 13.
4 Moritz Renner, Zwingendes Rechts, 2011, 293.
5 Das Recht der Gesellschaft = RdG, 1993, 98 und 523.
6 Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 282.
7 Niklas Luhmann, Die Weltgesellschaft, ARSP 57, 1971, 1-35.
8 Die Codierung des Rechtssystems, Rechtstheorie 1986, 171-203, S. 178.
9 RdG S. 67.
10 RdG S. 68
11 Rechtstheorie 17, 1986, 171-203.
12 S. 178.
13 RdG S. 102
14 Die Einheit des Rechtssystems, Rechtstheorie 14, 1983, 129-154, S. 136.
15 RdG S. 162.
16 RdG S. 144f.
17 Die Einheit des Rechtssystems, Rechtstheorie 14, 1983, 129-154, S. 135f.
18 Gralf-Peter Calliess, Systemtheorie: Luhmann/Teubner, in: Sonja Buckel u. a. (Hg.), Neue Theorien des Rechts, 2006, 57-75, S. 62.
19 Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 279.

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Schupperts Patchwork-Methode

Hoffmann-Riem hatte mir kürzlich einen Beitrag zu einem Kolloquium geschickt, mit dem im Oktober 2011 der Abschied Schupperts von einer Forschungsprofessur im WZB gefeiert wurde. [1]Umbauten im Hause des Rechts angesichts des Wandels von Staatlichkeit, in: Verabschiedung und Wiederentdeckung des Staates, hg. von Andreas Voßkuhle, Christian Bumke und Florian Meinel = Der Staat, … Continue reading Darin skizziert er eingangs die Schreibweise Schupperts:

»Der mit den Beiträgen dieses Bandes Geehrte – ich kürze ihn im Folgenden als GFS ab – hat in seinen vielen Büchern und Aufsätzen eine Arbeitsmethode genutzt, die manche Vertreter seiner Disziplin mit einer gewissen Verachtung (vielleicht auch geheimem Neid) zur Kenntnis nehmen, die aber für sein Anliegen besonders geeignet ist: Er baut Texte von Autoren aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen im Originalton in seine Analysen ein, kleidet sie aber durch einleitende und überleitende Kommentare nach Maßgabe der Schuppert’schen Haute Couture ein. Dies ist die offene Patchwork-Methode.«

Ich bin meinerseits schon dabei, diese Methode zu kopieren, indem ich Hoffmann-Riem ausführlich zitiere. Bevor ich damit fortfahre – denn Hoffmann-Riem hat mehr dazu zu sagen – will ich die Methode durch Bilder der ersten vier Seiten von Schupperts Buch, das ich im vorigen Eintrag besprochen habe, »Der Rechtsstaat unter den Bedingungen informaler Staatlichkeit«, illustrieren. Es handelt sich um das Eingangskapitel mit den Seiten 15 bis 18. Die Bilder sollen nur einen Eindruck vom Layout vermitteln und sind deshalb kaum lesbar. Zuerst die Seite 15:
Schuppert_S_15
Sie enthält – ohne Überschriften – zehn Zeilen Eigentext und 23 Zeilen Zitat. Auf den Seiten 16 und 17 sodann zähle ich 32 Zeilen Eigentext und 53 Zeilen Zitat:

Schuppert_S_ 16-17
Auf Seite 18 schließlich kann man den Eigentext ohne Zählung überblicken.
Schuppert_S_18
Er besteht aus fünf Zeilen. Die Zitate dagegen haben 23 Zeilen. Insgesamt komme ich auf 47 Zeilen Eigentext und 99 Zeilen Fremdtext. Das ist grob gesprochen ein Verhältnis 1:2.

Die Zitate gewinnen dadurch zusätzliches Gewicht, dass sie von nur zwei Autoren stammen. Die ersten vier Zitate mit zusammen 45 Zeilen sind von Friedrich Schoch. [2]Entformalisierung staatlichen Handelns, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, 2005, § 37. Die vier Zitate auf S. 17 und 18, zusammen 54 Zeilen, sind von Horst Dreier. [3]Informales Verwaltungshandeln, Staatswissenschaften und Staatspraxis 4, 1993, 647-681, S. 658f. Ich habe sie nicht an Hand der Quellen überprüft.

Von einem Plagiat kann natürlich keine Rede sein, denn die Zitate werden klar und deutlich ausgewiesen. Hoffmann-Riem spricht deshalb von der offenen Patch-Work-Methode und sagt von ihr:

»Sie unterscheidet sich wohltuend von der im Wissenschaftsbetrieb nicht unüblichen verdeckten Patchwork-Methode. Über dieser schwebt allerdings seit kurzem das Damoklesschwert der Denunziation durch Computerfreaks – mit dem weiteren Risiko anschließender Entkleidung von Titeln und Ehrenzeichen. GFS braucht Aktivitäten wie die von GuttenPlag Wiki nicht zu befürchten.«

Auch urheberrechtlich halten sich die Anführungen im Rahmen des Zitatrechts nach § 51 Abs. 2 UrhG, denn eine Längenbegrenzung greift erst, wenn das Zitat im Verhältnis zu dem zitierten Werk unverhältnismäßig lang ist. Das Verhältnis der Gesamtsumme der Zitate zum eigenen Text interessiert nicht. Ich zitiere, jetzt aus einem Kommentar:

»Grundsätzlich ist ein Zitat … dann zulässig, wenn es als Beleg für eine vertretene Auffassung, zur Darstellung übereinstimmender oder abweichender Meinungen, zum besseren Verständnis der eigenen Ausführungen oder sonst zur Begründung oder Vertiefung des Dargelegten dient und nicht nur als beliebig austauschbares ›Anhängsel‹ ohne konkrete Belegfunktion. Nicht erforderlich ist, dass das Zitat ausschließlich zu einem solchen zulässigen Zweck angeführt wird.« [4]Raue/Hegemann in: Hoeren/Sieber/Holznagel, Multimediarecht, Rn. 83 zu § 51 UrhG, nach Beck-online.

Zitate, die die eigene Ansicht nicht nur bestätigen, sondern auch deren eigenständige Ausformulierung erübrigen, gehen danach in Ordnung. Auch die »gute wissenschaftliche Praxis« gibt nichts her. [5]Ich habe die »Richtlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis und zur Vermeidung wissenschaftlichen Fehlverhaltens an der Universität Hamburg« durchgesehen. Es bleibt also dabei, dass vielleicht, wie Hoffmann-Riem meint, einige Kollegen das Verfahren Schupperts mit einer gewissen Verachtung zur Kenntnis nehmen. Neid könnte wohl nur daher rühren, dass sie es selbst nicht wagen.

An dieser Stelle gestatte ich mir eine kleine Abschweifung. Schon vor über einem Jahr hat mir Frau Cottier aus Basel ein Exemplar des von ihr zusammen mit Andrea Büchler verfassten Bandes »Legal Gender Studies« [6]Andrea Büchler/Michelle Cottier, Legal Gender Studies – Rechtliche Geschlechterstudien. Eine kommentierte Quellensammlung, Dike Verlag Zürich/Nomos-Verlag Baden-Baden 2012. dediziert. Er trägt den Untertitel »Eine kommentierte Quellensammlung«. Das ist wirklich ein schönes Buch. Ich habe es schon oft zu Rate gezogen, sei es um mich vorläufig zu orientieren, sei es, um wichtige Literatur aufzufinden. Eigentlich hätte ich längst eine Besprechung dieses Bandes schreiben wollen. Das kann ich hier nicht nachholen. Ich erwähne das Buch aus einem anderen Grunde. Die Verfasserinnen haben sich die Mühe gemacht, für jeden einzelnen der wohl etwa 140 zitierten Texte die Abdruckgenehmigung von Autor und Verlag einzuholen. Wozu eigentlich? Ihre Kommentierungen sind so gehaltvoll, dass die abgedruckten Texte jedenfalls nach deutschem Recht alle als Zitat durchgehen müssten.

Zurück also zu der kommentierten Quellensammlung von Schuppert. Hoffmann-Riem weiß auch zu erklären, warum die befürchtete »Verachtung« nicht als Kritik geäußert wird:

»Die offene Patchwork-Methode hat in der Community der transdisziplinär kommunizierenden Wissenschaftler noch einen weiteren Vorteil. Die mit ihr verbundene Verleihung einer Art Adelstitel an einen Autor, dessen Text GFS als Kronzeuge für wichtige Erkenntnisse im Originalton und unter Nennung des Autors und meist mit begleitenden freundlichen Worten zur Bedeutung des Beitrags aufgreift, nährt das Selbstbewusstsein (vielleicht auch die Eitelkeit) des so Geadelten.«

Nun ja, ob sich Schoch und Dreier geadelt fühlen, mag dahinstehen. Vielleicht ist der Effekt gerade umgekehrt der einer Autoritätsleihe für die eigene Meinung.

Die Patchwork Methode hat weiter den Vorzug, dass der ständige Wechsel verschiedener Textarten Ermüdungserscheinungen vorbeugt. Sie ist damit leserfreundlich und pädagogisch anregend. Insofern hat die Methode ein Vorbild im Casebook, das ja aus Ausschnitten aus Urteilen mit verbindenden Erläuterungen besteht. Analog könnte man vielleicht von Bookbook sprechen. Die pädagogische Absicht zeigt sich auch darin, dass er in jedem Absatz für einen oder mehrere Begriffe oder Phrasen Fettdruck vorsieht. in meinen uralten »Hinweisen zur BGB-Übung« hatte ich noch geschrieben (S. 2):

Verzichten Sie auf Fettdruck, Unterstreichung, Kursivschrift und Wechsel der Schriftgröße. Sonst wirkt das Schriftbild unruhig und der Leser wird meinen, Sie könnten sich allein mit Hilfe des Wortes nicht ausdrücken.

Aber im Lehrbuch verwende ich auch gerne Fettdruck. Das gilt auch für die Wahl von kursiv für Zitate. Ob man dann allerdings innerhalb der Zitate Teile des fremden Textes fetten darf, darüber lässt sich streiten.

Schließlich ist die offene Patchwork-Methode, jedenfalls aus der Feder von Schuppert, wissenschaftlich wertvoll.

»GFS nutzt eine besonders anspruchsvolle Spezies des wissenschaftlichen Patchworks. Die im Original zitierten Quellen sind nur die Bebilderung oder Plausibilisierung einer von GFS eigenständig entwickelten, theoretisch-konzeptionell ansprüchlichen Ausdeutung und Systematisierung wissenschaftlicher Befunde. Die reflektierte Bestandsaufnahme nutzt GFS als Basis, um den Staus quo bisherigen Wissens möglichst zu überwinden und neue Anstöße zu geben.«

Auf den vier Seiten aus Schupperts Buch, die ich hier herangezogen habe, lässt sich Hoffmann-Riems Urteil nicht ohne weiteres nachvollziehen, heißt es doch im Anschluss an das letzte Zitat: »Dieser Analyse ist nichts hinzuzufügen.« Sieht man aber auf das ganze Buch, so kann man ihm sicher Wissenschaftlichkeit bescheinigen. In Jurisprudenz und Sozialwissenschaften sind wir insoweit ja bescheiden.

Was folgt aus alledem? Für mich selbst ziehe ich die Konsequenz, künftig mehr nach der offenen Patch-Work-Methode zu arbeiten. Vor allem aber empfehle ich diese Methode für Qualifikationsarbeiten bis hin zur Dissertation. Vor Jahr und Tag habe ich auf die Schwierigkeit hingewiesen, Qualifikationsarbeiten zu stellen, die die Studenten nicht überfordern und sie dadurch in Versuchung bringen, mit der verdeckten Patch-Work-Methode zu arbeiten. [7]Rechtssoziologisches zum Urheberrecht?, Eintrag vom 1. Juli 2009.8 »Eine angemessene Aufgabe wäre vielleicht heute die Erstellung einer schlüssigen Kompilation zu vorgegebenen Themen (natürlich mit Quellenangaben).« So habe ich damals geschrieben. Diesen Vorschlag kann ich heute bekräftigen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Umbauten im Hause des Rechts angesichts des Wandels von Staatlichkeit, in: Verabschiedung und Wiederentdeckung des Staates, hg. von Andreas Voßkuhle, Christian Bumke und Florian Meinel = Der Staat, Beiheft 21, 2013, 347-370; alle Zitate von S. 347f.
2 Entformalisierung staatlichen Handelns, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, 2005, § 37.
3 Informales Verwaltungshandeln, Staatswissenschaften und Staatspraxis 4, 1993, 647-681, S. 658f.
4 Raue/Hegemann in: Hoeren/Sieber/Holznagel, Multimediarecht, Rn. 83 zu § 51 UrhG, nach Beck-online.
5 Ich habe die »Richtlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis und zur Vermeidung wissenschaftlichen Fehlverhaltens an der Universität Hamburg« durchgesehen.
6 Andrea Büchler/Michelle Cottier, Legal Gender Studies – Rechtliche Geschlechterstudien. Eine kommentierte Quellensammlung, Dike Verlag Zürich/Nomos-Verlag Baden-Baden 2012.
7 Rechtssoziologisches zum Urheberrecht?, Eintrag vom 1. Juli 2009.8

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