Von der Erdös-Zahl über die Kevin-Bacon-Zahl zur Gunther-Teubner-Zahl

Paul Erdös war ein ungarischer Mathematiker, der zur Netzwerkforschung Überlegungen zur Wahrscheinlichkeitsverteilung von Verknüpfungen in einem Zufallsnetzwerk beigetragen hat. [1]Paul Erdös Alfred Rényi, On the Evolution of Random Graphs, Publications of the Mathematical Institute of the Hungarian Academy of Sciences 5, 1959, 17–61. Erdös war mit etwa 1.500 Veröffentlichungen ungewöhnlich produktiv. Da er die meisten Arbeiten zusammen mit anderen Forschern veröffentlich hatte, kamen Kollegen auf die Idee, [2]Die Idee stammt von von Casper Goffman: And What Is Your Erdos Number?, The American Mathematical Monthly, 76, 1969, 791. ihre Wertschätzung des Autors mit einem Spaß zu verbinden, indem sie das um Erdös entstandene Kooperationsnetzwerk als Netzwerk beschrieben. Wer mit Erdös zusammen veröffentlicht hatte, erhielt die Erdös-Zahl 1. Wer nicht selbst mit Erdös, aber doch mit einem seiner Koautoren publiziert hatte, erhielt die Erdös-Zahl 2, usw. Als Hommage an den Namensgeber wird die Bestimmung der Erdös-Zahl für Mathematiker auf einer besonderen Internetseite bis in die Gegenwart fortgeführt.
Populär geworden ist die Netzwerkanalyse von Kooperationsbeziehungen mit der Kevin-Bacon-Zahl. 1994 erfanden vier College-Studenten das Bacon-Spiel. Kevin Bacon (* 8. Juli 1958) ist ein prominenter amerikanischer Filmschauspieler. Die Studenten behaupteten, Bacon sei der wahre Mittelpunkt Hollywoods, und erboten sich, in einer Fernsehshow für jeden Schauspieler X einen Film zu nennen, in dem dieser zusammen mit Bacon gespielt hatte. Immerhin war Bacon in über 50 Filmen rund 1800 Schauspielerkollegen begegnet. Sollte es aber keinen gemeinsamen Film geben, wollten sie einen Film nennen, in dem Bacon mit einem anderen Schauspieler C zusammen aufgetreten war, der wiederum zusammen mit X gefilmt hatte. Sollte es selbst daran fehlen, würden sie auf die Filme verweisen, in denen B mit C, C mit D und schließlich D zusammen mit X ausgetreten waren, usw. Als Ausgangsknoten des Netzwerks hat Bacon selbst die Kevin-Bacon-Zahl (KBZ) 0. Als Kanten dienen die Filme, in denen zwei Schauspieler zusammen gespielt haben. Schauspieler, die mit Bacon zusammen in einem Film aufgetreten sind, erhalten die KBZ 1. Wer nicht selbst mit Bacon zusammen gefilmt hat, sondern nur mit einem Schauspieler, der zusammen mit Bacon aufgetreten ist, hat KBZ 2, usw. Auf der Internetplattform The Oracle of Bacon kann man das für beliebige Namen ausprobieren. So hat z. B. Gwyneth Paltrow die KBZ 2, denn sie war 1998 zusammen mit William Bogert in »A Perfect Murder« aufgetreten, der wiederum 1980 in »Hero at Large« mit Bacon zusammengespielt hatte.

Das bedeutet also, dass 2.511 Schauspieler mit Bacon zusammen aufgetreten sind, 26.2544 zusammen mit einem, der mit Bacon in demselben Film war usw. Ein Durchschnitt für die KBZ lässt sich folgendmaßen errechnen:
[(01)+(1∙2.511)+(2∙26.2544)+(3∙83.9562)+(4∙20.4764)+(5∙15.344)+(6∙1.397)+(7∙204)+(8∙32)]
./.
(1+2.511+26.2544+839.562+204.764+15.344+1.397+204+32)
= 3.952.127 ./. 1.326.359 = 2,980. [3]Tabelle und Berechnung nach dem Stand vom 24. Juni 2011 auf der Seite http://oracleofbacon.org/center.php die ihre Daten aus der Movie Data Base entnommen hat.
Natürlich war oder ist Bacon nicht das Zentrum Hollywoods. Die Pfadlänge von durchschnittlich 2,980 ist nur das Ergebnis des Kleine-Welt-Phänomens. Dennis Hopper liegt mit einer durchschnittlichen Pfadlänge von 2,802166 an erster Stelle. Bacon folgt erst auf Platz 444. Der relativ kurze Pfad zwischen je zwei Filmschauspielern deutet auf einen hohen Clusterkoeffiienten hin. Im Übrigen ist ihr Aussagewert begrenzt. Die Netzwerkanalyse stellt jedoch Methoden bereit, die gehaltvollere Angaben über Cliquenbildung, Einflüsse, Prestige oder gar Autorität, Zentralität oder Hierarchien gestatten. Dazu wären allerdings weitere Daten notwendig, insbesondere zu der Frage, wie oft kooperiert worden ist.
Analog kann man für alle Personen – Politiker, Wissenschaftler, Facebookmitglieder usw. ihre Nähe zu anderen bestimmen, soweit man über die notwendigen Daten verfügt. So haben die Düsseldorfer Psychologen Jochen Musch und Dennis Winter mit Hilfe einer Literatur-Datenbank eine Koautorenanalyse für 51.808 Psychologen errechnet und so die »Die kleine Welt der Psychologie« abgebildet. Dort misst der kürzeste durchschnittliche Pfad 4,33, der längste 15,02, und der Durchschnittwert beträgt 6,71.
Juristen publizieren verhältnismäßig selten gemeinsam. Der Pfad zwischen zwei Autoren wäre daher vermutlich länger. Um realistischere Zahlen zu erhalten, könnte man außer gemeinsamen Veröffentlichungen auch zählen, ob sie gemeinsamen an Sammelbänden und Festschriften beteiligt waren. Ich wollte wetten, dass sich Gunther Teubner als Mittelpunkt der Rechtstheorie herausstellen würde. Zum Beweis wären also zunächst alle direkten Koautoren (in dem eben genannten weiteren Sinne) zu zählen. Sie erhalten die GTZ (Gunther Teubner Zahl) 1. Ich schätze diesen Kreis auf etwa 100. Sodann wären die Koautoren der Koautoren mit der GTZ 2 zu ermitteln usw. Die Datensammlung ist nicht einfach, da sie sich mit dem vorhandenen bibliographischen Material schwerlich automatisieren lässt. Aber für die nächste Teubner Festschrift wäre das vielleicht eine lohnende Aufgabe, lohnend insbesondere dann, wenn man der Schwierigkeit, die Grundmenge der Rechtstheoretiker zu definieren dadurch ausweicht, dass man nur Autoren mit einer GTZ unter drei zu Rechtstheoretikern erklärt.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Paul Erdös Alfred Rényi, On the Evolution of Random Graphs, Publications of the Mathematical Institute of the Hungarian Academy of Sciences 5, 1959, 17–61.
2 Die Idee stammt von von Casper Goffman: And What Is Your Erdos Number?, The American Mathematical Monthly, 76, 1969, 791.
3 Tabelle und Berechnung nach dem Stand vom 24. Juni 2011 auf der Seite http://oracleofbacon.org/center.php die ihre Daten aus der Movie Data Base entnommen hat.

Ähnliche Themen

Prüfen auf dem Prüfstand: Prüfungskultur in der Rechtswissenschaft

Jahrestagung des Zentrums für rechtswissenschaftliche Fachdidaktik Hamburg
Gastbeitrag
von

Claudio Marti, MLaw;

lic. iur. Lukas Musumeci;

Ref. iur. Mareike Schmidt, LL.M.

Am 20./21. März 2012 fand die Jahrestagung des Zentrums für rechtswissenschaftliche Fachdidaktik an der Universität Hamburg statt. Die Tagung trug den Titel »Prüfen auf dem Prüfstand: Prüfungskultur in der Rechtswissenschaft« und bestand aus sechs Themenblöcken:

  • Grundlagen
  • Kompetenzorientiertes Prüfen
  • Prüfungen in anderen fachbezogenen Hochschuldidaktiken
  • Prüfungen im europäischen Vergleich
  • Prüfungsformate
  • Prüfungsforschung

Die Vorträge wurden durch drei alternative Diskussions-Workshops zu den folgenden Fragestellungen ergänzt:

  • Was können wir aus anderen fachbezogenen Hochschuldidaktiken lernen?
  • Was können wir aus dem europäischen Vergleich lernen?
  • Was können wir aus der allgemeinen Hochschuldidaktik lernen?

Das detaillierte Programm findet sich hier.

Anschließend möchten wir einige Themen und Vorträge vorstellen, die unser Interesse aus den unterschiedlichsten Gründen besonders geweckt haben.

(Mareike Schmidt)

In seinem Grußwort formulierte Prof. Dr. Reinhard Bork, Direktor des Zentrums für rechtswissenschaftliche Fachdidaktik, zwei Thesen, die während der Tagung wiederholt und aus verschiedenen Perspektiven aufgegriffen wurden. Erstens: Prüfen will gelernt sein. Zum Prüfen gehört nicht nur Prüfungsaufgaben zu stellen, sondern auch die Korrektur derselben. Zweitens: Prüfungen und Unterricht sollen in dem Sinne zusammenhängen, dass geprüft wird, was gelehrt wird. Diese zweite These wurde im einführenden Themenblock 1 in den Referaten von Dr. Oliver Reis und Prof. Dr. Hans-Heinrich Trute weiterentwickelt. So sollen Lernziele, Lehr-/Lernaktivitäten sowie Prüfung im Sinne eines »constructive alignment« aufeinander abgestimmt werden.[1] Dadurch soll ein lernendes System entstehen. Die Prüfung erhebt, ob die Studierenden die Lernziele erreicht haben und stellt dadurch auch eine Evaluation von Unterricht und Lernzielen dar. Die Ergebnisse dieser Evaluation erlauben es dem Lehrenden anschließend, die Abstimmung weiter zu verfeinern und somit die Qualität der Lehre zu verbessern.

Diese beiden Thesen stellen grundlegende didaktische Fragen an den Einsatz von Korrektoren. Dieser führt dazu, dass Prüfungsstellung und Prüfungskorrektur personell entkoppelt werden. Dadurch wird die Abstimmung von Lernzielen, Lehre und Prüfung abgeschwächt.[2] Um ein constructive alignment zu gewährleisten, müssen Rückkopplungsschlaufen eingebaut werden, die es erlauben, dass die Ergebnisse der Korrekturen wieder zurück zum Lehrenden fließen. Diese Rückkopplung könnte etwa dadurch erreicht werden, dass der Korrektor dem Prüfer detailliert über die Prüfungsergebnisse berichtet.

Die These, dass Korrigieren gelernt sein will, erfuhr im sechsten Themenblock durch das Referat von Prof. Dr. Urs Kramer und Bernadette Hauser unter dem Titel »Die Korrektur juristischer Arbeiten – ist sie heute schon auf Examensniveau?« Bestätigung.[3] Die beiden Referenten erforschen an der Universität Passau qualitativ, was eine gute Prüfungskorrektur ausmacht. Dabei berücksichtigen sie die Perspektive von Studierenden, Prüfungstellern und Korrektoren. Ein zentrales Qualitätsmerkmal einer Korrektur ist deren Nachvollziehbarkeit. So legen Studierende etwa Gewicht darauf, dass Fehler direkt in der Klausur angezeichnet und kommentiert werden, anstatt in einem Schlusskommentar pauschal darauf hinzuweisen. Zur Nachvollziehbarkeit gehört auch, dass aus der Korrektur erkennbar ist, welche Aussagen bewertet wurden. Von Seiten der Prüfungssteller wird erhofft, nachvollziehbare Korrekturen würden Remonstrationen vermindern. Das Beispiel zeigt, dass Korrekturen mit verhältnismäßig einfachen, problemlos umsetzbaren Mitteln nachvollziehbarer gestaltet werden können. So einleuchtend diese aber auch erscheinen, ist deren Einsatz nicht selbstverständlich. Korrektoren müssen dafür sensibilisiert werden.

Viel größere Probleme stellen sich für Korrektoren hingegen bei der eigentlichen Bewertung. Lösungs- und Bewertungsskizzen, vom Klausursteller erstellt, sind eine erste Hilfe. Sie sind aber nur ein Lösungsvorschlag. Für den Klausursteller ist es aber kaum möglich alle Antworten und Aussagen zu antizipieren, welche seine Aufgabenstellungen zu provozieren vermögen. Hier entsteht das Leid des Korrektors. Die Studierenden tendieren dazu, sich nicht an den Lösungsvorschlag zu halten. Die Korrekturarbeit beinhaltet somit nicht nur ein bloßes Abgleichen von Klausur und Lösungsvorschlag. Vielmehr nimmt der Korrektor häufig die eigentliche Wertung vor. Dazu bedarf es aber eines Verständnisses dafür, was die Qualität eines studentischen Lösungsvorschlages ausmacht, der nicht ganzheitlich der Lösung des Klausurstellers folgt. Ein Korrektor sollte somit vertiefte Fachkenntnisse im abgeprüften juristischen Gebiet mitbringen. Er braucht aber auch didaktische Kenntnisse über die Qualitätsmerkmale einer Klausur und einer Korrektur. Deshalb ist eine Schulung für Korrektoren angebracht und gemäß der Passauer Untersuchung von den Korrektoren auch gewünscht.

Die Forschung von Kramer und Hauser weist aber auch auf das Problem des Zeitaufwandes hin. Qualitativ hochwertige Korrekturen erfordern nebst der eigentlichen Korrekturarbeit auch Vor- und Nacharbeit, etwa indem der Klausursteller die Korrektoren einführt oder sich Korrektoren, welche die gleiche Prüfung korrigieren, unter einander absprechen. Häufig treten Fragen und Probleme erst während der Korrekturarbeit zu Tage, was ein nachmaliges Abstimmen unter den Korrektoren oder eine Nachfrage an den Klausursteller erfordert. Leider setzen die heute vielerorts üblichen tiefen Akkordlohnansätze keine Anreize, die Korrekturen mit der notwendigen zeitintensiven Sorgfalt auszuführen.

In der anschließenden Diskussion kam zudem auf, dass es um hochwertige Korrekturen zu gewährleisten einer Qualitätskontrolle bedarf. So könnte etwa der Prüfer einen gewissen Anteil Klausuren aus allen Bereichen des Notenspektrums gegenkorrigieren. Dies wäre zudem auch eine Variante das Prüfungsergebnis an die Prüfung rückzukoppeln. Dieses Beispiel zeigt auch, dass der Einsatz von Korrektoren, soll er didaktisch sinnvoll sein, die Klausursteller zwar teilweise entlasten kann, aber dennoch deren Einbindung in die Korrekturarbeit erfordert.

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Korrektoren zweifellos verlässliche Korrekturen leisten können. Dazu bedarf es allerdings eines entsprechenden zeitlichen und auch finanziellen Aufwandes. Auf alle Fälle sollte der Einsatz von Korrektoren nicht nur aus ökonomischer und institutioneller, sondern auch aus didaktischer Perspektive näher betrachtet werden.

(Lukas Musumeci)

 

Der Themenblock 4 widmete sich dem Thema »Prüfungen im europäischen Vergleich«. Dieser bestand einerseits in einem Referat der Herren Dr. Oliver Knöfel und Dr. Sebastian Mock, LL.M. von der Universität Hamburg mit dem Titel »Juristische Prüfungen in Europa – eine rechtsvergleichende Tour d’horizon«. Darin stellten die beiden Referenten anschaulich dar, welch unterschiedliche Konzeptionen dem juristischen Prüfungswesen in den europäischen Ländern zugrunde liegen. Gemeinsamkeiten sind kaum auszumachen. Es bleibt einzig die Feststellung, dass allgemein der Fokus stark auf schriftlichen Klausuren liegt. Große Unterschiede hingegen bestehen beispielsweise in der Frage der Einheitlichkeit der Prüfungen zwischen denjenigen Staaten, in welchen die Prüfungen direkt von den staatlichen Ämtern durchgeführt wird wie dies in Deutschland der Fall ist, und denjenigen, in welchen die einzelnen (staatlichen) Universitäten für die Ausgestaltung und die Durchführung von Prüfungen verantwortlich zeichnen, was zu einer relativ umfassenden Lehr- und Prüfungsautonomie der einzelnen Hochschulen führt. Ein solches Modell kennen neben der Schweiz auch beispielsweise Italien und weitere südeuropäischen Staaten. Sehr illustrativ zeigten die beiden Referenten am Beispiel von Finnland auf, welch unterschiedliche Herausforderungen sich an das Prüfungswesen in Ländern stellen, in welchen eine Eintrittsprüfung zur Aufnahme ins Jura-Studium besteht. In Finnland liegt die Durchfallquote bei diesen Numerus clausus Prüfungen bei rund 90% (!). Dadurch entfällt in Finnland de facto die andernorts umstrittene und heiß diskutierte Notwendigkeit der Selektion während des Studiums (Stichwort »wegprüfen«) und auch findet kaum ein Verdrängungswettbewerb unter den Studienabgängern statt, da aufgrund ihrer relativ geringen Anzahl keine Gefahr eines übersättigten Markts besteht.

Einen eigentlichen Höhepunkt dieser Tagung bildete für mich das Referat von Herrn Prof. Dr. Rolf Sethe, LL.M. von der Universität Zürich zum Thema »Vom Staatsexamen/Lizenziat zur Modulprüfung – Erste Erfahrungen mit juristischen Prüfungen im Bologna-System« in welchem Herr Sethe in einer an analytischer Schärfe kaum zu überbietenden Klarheit am Beispiel der Universität Zürich die massiven Auswirkungen der Bologna-Reform an den juristischen Fakultäten der Schweizer Universitäten aufzeigte: So stieg durch die Umsetzung der Bologna-Reform die Anzahl Prüfungsleistungen an der Juristischen Fakultät der Universität Zürich um den Faktor 5 (!). In fast jedem Semester ein oder mehrere Prüfungen absolvieren zu müssen ist durch die Bologna-Umsetzung zum Alltag eines jeden Schweizer Jura-Studierenden geworden, was den in der Schweiz bislang üblichen Nebenerwerb von Studierenden erschwert oder zu einer Studienzeitverlängerung führen kann. Eines der Ziele der Bologna-Reform an den Schweizer Universitäten war jedoch eine Verkürzung der Regelstudienzeit.

Eine weitere Auffälligkeit der Bologna-Umsetzung liegt in der sogenannten Noteninflation: So verzehnfachte (!) sich die Anzahl der vorzüglichen Abschlüsse (Gesamtnotendurchschnitt von über 5,5 auf einer Skala von 1-6 mit 6 als bester Note) im Masterabschluss im Vergleich zum früheren Lizentiatsabschluss. Dies führt zu einer viel geringeren Aussagekraft der Master-Prädikate für die zukünftigen Arbeitgeber. Die bisherige Erfahrung zeigt, dass die potentiellen Arbeitgeber als Konsequenz davon in ihren Beurteilungen den Bachelornoten eine größere Relevanz beimessen, da dort eine geringere Noteninflation zu beobachten ist. Die Krux dabei liegt jedoch wiederum darin, dass diese Prüfungsleistungen rund zwei Jahre vor dem Studienabschluss erzielt wurden und dadurch keine verlässlichen Angaben über die nachfolgende Entwicklung der Studierenden miteinbezogen werden können. Herr Sethe führte den Tagungsteilnehmenden sehr anschaulich vor Augen, welche indirekten Konsequenzen eine solche Noteninflation hat: Weitere, sachfremde Faktoren wie die soziale Herkunft oder das Geschlecht gewinnen bei den Einstellungsentscheiden der Arbeitgeber an Bedeutung und ein sozialer Aufstieg durch das Jura-Studium wird noch schwieriger, da Absolvierende aus Bildungshaushalten sich noch leichter durchsetzen als bisher. Solche Tendenzen können meiner Auffassung nach nicht im Interesse einer modernen Hochschulpolitik liegen.

Herrn Sethes erhellende Ausführungen befeuerten eine lebhafte Diskussion über Sinn und Unsinn der Bologna-Reform im Anschluss an sein Referat, welche im darauf folgenden Workshop ihre Fortsetzung fand. Weitgehend einig war man sich in der Feststellung, dass eine qualitativ erfolgreiche Umsetzung der Bologna-Reform ohne eine Erhöhung der von der Politik dafür bereit gestellten Mittel nicht gelingen kann. Mein persönliches Fazit: Ob die Prämisse »Hände weg von Bologna« der richtige Weg ist oder ob die oben beschriebenen Probleme ihre Ursachen nicht eher in der Umsetzung des Systems »Bologna« haben als im System an sich bleibt eine unbeantwortete Frage, über welche hoffentlich auch über diese Konferenz hinaus dies- und jenseits des Rheins fundiert debattiert wird.

(Claudio Marti)

 

Im Themenblock 6: Prüfungsforschung trug Frau Jun.-Prof. Dr. Stefanie Kemme von der Universität Hamburg unter dem Titel »Am Lernergebnis orientierter Lehr-Lernprozess« Ergebnisse einer quasiexperimentellen Untersuchung zum Erwerb juristischer Methodenkompetenz vor.

Im Zusammenhang ihrer Vorlesung zum Strafrecht BT versuchte Frau Kemme herauszufinden, ob sich durch die veränderte, kompetenzorientierte Gestaltung von Arbeitsgemeinschaften (AGs) zu dieser Vorlesung bessere Klausurergebnisse seitens der Studierenden erzielen ließen. So wurde die Hälfte der entsprechenden AGs nicht nach dem bekannten »Wir lösen einen Fall«-Vorgehen unterrichtet, bei dem der/die AG-Leiter/in – im besten Fall im Frage-Antwort-Spiel mit den Studierenden, im Extremfall in Form des Frontalunterrichts – jede Stunde einen Fall mit den Studierenden löst. Stattdessen erhielt jede AG die Aufgabe, sich selbst einen klausurmäßigen Fall auszudenken. In der Gestaltung des Sachverhaltes waren die Studierenden jedoch nicht gänzlich frei, sondern erhielten Vorgaben darüber, welche juristischen Probleme in den Fall einzuarbeiten waren. Die ausgearbeiteten Sachverhalte wurden dann jeweils an andere AGs weitergeleitet und dort gelöst. Anschließend erfolgte eine Rückleitung an die AG, die den Fall erstellt hatte. Diese staunte mitunter nicht schlecht, welche von ihr nicht vorhergesehenen Probleme noch in ihrem Fall drin steckten bzw. wie sehr die Lösung von der beabsichtigten abwich. Diese Erkenntnisse flossen dann in eine abschließende Überarbeitung der Ausgangsfälle ein.

Zunächst möchte ich an dieser Stelle Frau Kemme meinen Respekt dafür zollen, dass sie nicht nur »einfach mal versucht« hat, ihre AGs anders zu gestalten (auch wenn ihr allein dafür schon Respekt gebührt). Frau Kemme hat dieses Experiment zudem im Rahmen einer kleinen Studie durch Erhebung eines umfangreichen Datensatzes wissenschaftlich ausgewertet und auf eine Reihe von Korrelationen hin untersucht. Erfreulicherweise ließ sich dabei ein positiver (wenn auch schwacher) Effekt der kompetenzorientiert gestalteten AGs auf die Prüfungsleistung der Studierenden feststellen. An dieser Stelle wird es sich also sicher lohnen weiterzuforschen. Ein interessantes Nebenergebnis war die Feststellung, dass die Motivation der Studierenden sich auf ihre Prüfungsleistung kaum auswirkte. Dieses Ergebnis überrascht, da es im Gegensatz zu weit verbreiteten Annahmen der Hochschuldidaktik steht. Es sollte sicherlich ebenfalls weiter hinterfragt werden.

Es war jedoch ein anderer Faktor, welcher zur größten Diskussion im Anschluss an den Vortrag Anlass gab: Den mit Abstand stärksten Prädiktor für die Prüfungsleistung stellt gemäß Frau Kemmes Studie die Abiturnote der Studierenden dar. Dieser Befund wirft gleich eine Reihe von Fragen auf: Welche Faktoren bestimmen überhaupt den Erfolg in juristischen Klausuren bzw. im Jurastudium als Ganzem? Sind es dieselben wie im Abitur? Perpetuiert das Jurastudium letztlich nur die Undurchlässigkeit des Bildungssystems? Ketzerisch ließe sich auch fragen: Warum sollten wir uns über juristische Lehre überhaupt den Kopf zerbrechen, wenn aus »guten« Abiturient/innen ohnehin – und gleichsam automatisch – »gute« Absolvent/innen werden? Genau hier jedoch setzt in meinen Augen unser Auftrag als Lehrende an. Zum einen ist es dringend an der Zeit – dies war auch an der Hamburger Tagung ein wiederkehrendes Petitum –, dass wir als juristische Fakultäten uns darüber vergewissern, was unsere Absolvent/innen können und was wir dementsprechend lehren und prüfen sollen. Zum anderen sollten wir uns die Frage stellen, wie wir die Lehre verändern können, um möglichst gute Jurist/innen auszubilden,[4] und zwar unabhängig davon, ob diese bereits als gute Abiturient/innen zu uns kommen oder nicht. Nicht nur, aber auch gerade vor dem Hintergrund steigender Abiturientenzahlen sowie verkürzter Gymnasialzeiten gehört hierzu meines Erachtens insbesondere auch die Frage, ob wir als Dozierende voraussetzen können, dass Studienanfänger/innen in der Lage sind selbstbestimmt zu lernen oder ob nicht auch Studieren gelernt sein will.

Frau Kemmes Beitrag war als Anstoß zu dieser Diskussion in Hamburg sehr willkommen und wird hoffentlich zu weiteren Studien auf diesem Gebiet führen.

(Mareike Schmidt)


[1] Siehe dazu John Biggs, Enhancing teaching through constructive alignment, Higher Education 32 (1996) 347-364.

[2] Dieses Problem stellt sich auch dann, wenn der Lehrende nicht der Prüfende ist.

[3] Siehe dazu auch Christian Metzger/Charlotte Nüesch, Fair Püfen: Ein Qualitätsleitfaden für Prüfende an Hochschulen, St. Gallen 2004. Darin insbesondere zur Korrektur S. 90-100.

[4] Wie viel gute Noten in den Klausuren während des Studiums bzw. in den Staatsexamina über die Qualität eines Juristen bzw. einer Juristin aussagen, sei an dieser Stelle dahingestellt. Gerade im Zusammenhang mit unserem Absolventenprofil scheint es jedoch zwingend, dieser Frage nachzugehen.

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Was stimmt nicht mit dem Urheberrecht?

Mit dem Urheberrecht stimmt etwas nicht. Das zeigt die intensive Debatte, die bis in den politischen Raum ausgreift.
Der Wutausbruch des Sängers Sven Regener auf Youtube hat Schule gemacht. Ein »offener Brief von 51 Tatort-Autoren«, den diese am 29. 3. 2012 auf der Seite des Verbandes Deutscher Drehbuchautoren ins Netz gestellt haben, hat eine hübsche Kontroverse ausgelöst. Die Autoren heben ihre Urheberrechte auf Verfassungsebene und verlangen von der Netzgemeinde, sich von allerhand Lebenslügen zu verabschieden. Die erste sehen sie in der »demagogischen Suggestion«, es gebe keinen freien Zugang mehr zu Kunst und Kultur; die zweite in der »demagogischen Gleichsetzung von frei und kostenfrei« und die dritte darin, dass die Verwertungsindustrie zum großen Übeltäter erklärt werde, der zur Kasse gebeten werden müsse.
Für die Adressaten (»Liebe Grüne, liebe Piraten, liebe Linke, liebe Netzgemeinde!«) haben noch am gleichen Tag 51 Hacker des Chaos Computer Club den »lieben Tatort-Drehbuchschreibern« erwidert. Ihre Antwort kam nicht nur blitzeschnell, sondern war vergleichsweise auch sehr sachlich. »Auch wir sind Urheber, sogar Berufsurheber, um genau zu sein.« Sie meinen, in erster Linie sollten Urheber sich von ihren Auftraggebern bezahlen lassen. Sie vermeiden es, darauf hinzuweisen, dass das Publikum, das eine milliardenschwere Zwangsabgabe an die Fernsehsender zahlt, vielleicht erwartet, die Tatort-Autoren (und alle anderen Fernsehschaffenden) würden von daher ausreichend bezahlt. In der Tat sehen die Hacker ein Problem bei der Verwertungsindustrie unter Einschluss der Verwertungsgesellschaften. Sie wollen die aber nicht einfach zur Kasse bitten, sondern werfen ihr vor, dass sie sich keine Mühe gebe, die geschützten Werke über die längst verfügbaren Bezahlmodelle zu angemessenen Konditionen anzubieten, sondern sich auf massenhafte Abmahnungen versteife.
Der Briefwechsel hat im Netz viele Kommentare ausgelöst. Im Feuilleton der Heimlichen Juristenzeitung vom 4. April hat sich Reinhart Müller eingemischt. Er schreibt: »51 ›Tatort‹-Autoren beklagen die Vernichtung ihrer Rechte im Internet, 51 Hacker halten dagegen – womit? Mit Ignoranz!« Der Artikel ist nur larmoyant. Er beschwört – und verschleißt damit – Menschenrechte, geht aber nicht auf die Argumente der Hacker ein, und rückt am Ende die rechtswidrige Kopie in die Nähe des Plagiats. Plagiat und unberechtigter Kopie (Raubdruck usw.) gehören nicht in einen Topf. Ein Plagiat leugnet die Urheberschaft des Schöpfers und verweigert ihm damit die verdiente Anerkennung. Das Urheberrecht schützt nicht die Idee, sondern nur seine Materialisierung. Anders als das Plagiat leugnet eine Raubkopie nicht die Urheberschaft des Schöpfers. Bei der Raubkopie geht es allein um die wirtschaftliche Komponente des Urheberrechts. Im Übrigen ist Ignoranz die beste Voraussetzung zum Querdenken, das doch sonst so angesehen ist.
Vielen Internetnutzern geht es in der Tat nur um kostenlosen Konsum geschützter und gegen Entgelt angebotener Inhalte. Aber fair use ist nicht bloß ein Rechtsbegriff. Der Fairnessgedanke steckt so tief in allen Menschen, dass die User wohl bereit wären, faire Entgelte zu zahlen. Sie finden sich jedoch unfair behandelt, weil sie das Gefühl haben, für die Urheberrechte doppelt und dreifach zu Kasse gebeten zu werden. Urheberabgaben auf Kopierer, Scanner, Faxgeräte, Drucker und Computer und für Computer nun auch noch zusätzlich Rundfunkgebühren – da kann tatsächlich der Eindruck entstehen, dass man zum Ausgleich frei herunterladen, speichern und kopieren dürfe. Wo auch immer man sich im Internet bewegt (und selbst im öffentlich-rechtlichen Fernsehen) muss man Werbung erdulden. Da kann man doch glauben, dass damit die Inhalte hinreichend bezahlt seien. Über das fehlende Unrechtsbewusstsein darf man sich jedenfalls nicht wundern. Nach der Vorstellung des Publikums gehören vermutlich jede Art der Privatkopie und auch der private Austausch zum fair use. Daher wird jeder Versuch, digitale Privatkopien zu verbieten, genauso scheitern wie der Krieg gegen die Drogen.
Fraglos muss es ein Urheberrecht geben, das den Kreativen Anerkennung und Lebensunterhalt sichert. Auch die Piraten-Partei verlangt keine Abschaffung deds Urheberrechts, sondern nur die Freistellung nichtkommerzieller Kopien. [1]Vgl. das Parteiprogramm. Aber der Schutz geht zu weit.
Der Schutz des Urheberrechts ist von keinen Qualitätsanforderungen abhängig. So werden viele Trivialitäten geschützt. Ein schlimmer und unverständlicher Exzess ist etwa der Schutz jedes Amateurfotos. Da gibt es natürlich ein Problem. Wer soll die Qualität beurteilen? Hier kommt nur eine indirekte Lösung in Betracht, insbesondere eine Registrierung, wie sie ja in manchen Ländern praktiziert wird. Vielleicht genügt sogar eine Selbstdeklaration.
Der individualistische Urheberbegriff ist problematisch geworden. Alle anspruchsvolleren Werke beruhen auf Gemeinschaftsarbeit. Sie wird in den spärlichen Danksagungen der Vorworte nicht ausreichend gewürdigt. Einen besseren Eindruck gibt der Abspann mancher amerikanischer Filme. Aber die organisierte Zusammenarbeit ist nur die halbe Miete. Jedenfalls in der Unterhaltungsindustrie, in der Kunst und in den Geisteswissenschaften leben alle mehr oder weniger von den Vorleistungen anderer. Schlimme Plagiatoren sind insoweit Journalisten, die selten oder nie ihre Quellen angeben. Da ist es kein Wunder, dass es im Urheberrecht kaum noch oder gar nicht mehr um Anerkennung und Schutz der Urheberpersönlichkeit geht, sondern um kaltes Geschäft. Ein Unterschied zum Finanzmarkt besteht immerhin darin, dass es den Usern leichter gelingt, auf fremde Konten zuzugreifen.
Die Dauer des Urheberrechts ist mit 70 Jahren über den Tod des Urhebers hinaus viel zu lang. Patente erlöschen, und zwar auch schon zu Lebzeiten des Erfinders, nach 20 Jahren. Es lässt sich darüber streiten, ob das Urheberrecht enger mit der Person des Schöpfers verbunden ist als das Patent mit der Person des Erfinders. Hier wirkt vermutlich die Genieästhetik nach (die ich sehr schätze). Aber ein Schutz bis zum Tode des Autors, mindestens jedoch 20 Jahre, müsste genügen.
Die Perpetuierung des Urheberrechts wird dadurch verstärkt, dass bloße Bearbeitungen fremder Werke ihrerseits Urheberrechtsschutz genießen. Das ist unangemessen, insbesondere dann, wenn die Bearbeitung eine vertretbare Leistung ist, etwa eine neue Edition an Hand zusätzlicher Quellen, die auch von anderen Kundigen geleistet werden könnte. [2]Dafür werde ich, wenn überhaupt jemand diese Sätze liest, Prügel beziehen. Ich werde mich wehren. Für Editionen, die die Vorleistung eines anderen einschließen, sollte es vielleicht ein 3%-Urheberrecht geben (das sich natürlich nicht realisieren lässt). Nach § 70 UrheberrechtsG gilt allerdings eine verkürzte Schutzfrist von 25 Jahren nach dem Erscheinen der Bearbeitung.
Es trifft sich, dass die Heimliche Juristenzeitung gleichfalls am 4. April 2012 einen Artikel des Heidelberger Germanisten Roland Reuß [3]Privater Reichtum durch philologische Kafka-Editionen? , S. N5, im Internet nur gegen Entgelt zugänglich. abdruckt, der Ende März Strafanzeige wegen der Verbreitung von Raubkopien zweier Bände aus der von ihm besorgten Kafka-Edition [4]Peter Staengle Historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte, Stroemfeld Verlag Frankfurt, Peter Staengle. Originalpreis: 128 Euro. Bei Amazon wurden anscheinend … Continue reading erstattet hatte. Die Nachricht über die Strafanzeige [5]Darüber berichtete auch die FAZ am 29. 3. 2012 mit einem Artikel von Felicitas von Lovenberg unter der Überschrift »Hehlerei von geistigem Eigentum. im Börsenblatt des Deutschen Buchhandels vom 29. 3. 2012 hatte bis zum 4. 4. im Internet 37 Kommentare auf sich gezogen. Besonders empört zeigt Reuß sich über einen Kommentar, in dem es heißt:
»Ohne das Verhalten von Amazon und Nabu Press gutheißen zu wollen: Da ist ein Professor für neuere deutsche Literaturwissenschaft in Heidelberg und erhält seine Bezüge von uns Steuerzahlern. Teil seiner wissenschaftlichen Arbeit ist die Kommentierung von Kafka, für die er durch den Steuerzahler entlohnt wurde. Nun nimmt er sich das Recht heraus und publiziert diese in einem Verlag. Dieser Verlag hat kaum Kosten, da der Steuerzahler bereits die Kosten der wissenschaftlichen Bibliothek, das Arbeitszimmer, inkl. Einrichtung und vor allem die monatlichen Bezüge von Herrn Reuß übernommen hat.«
Reuß beschimpft die Kommentarspalten der Internetseiten als »angeblich so basisdemokratische Art, unter Pseudonym ›die Sau rauslassen zu können‹ «. Doch anstatt auf die Meinung der Kommentatorin einzugehen [6]Sie hatte ihren Namen genannt. Ich kann nicht erkennen, dass es sich um ein Pseudonym handelt., dass aus Steuermitteln bezahlte Wissenschaftler den Ertrag ihrer Arbeit doch eigentlich frei zugänglich machen müssten – eine Ansicht, mit der der Kommentar nicht alleine steht – erklärt Reuß, dass er die Arbeit für die Kafka-Edition als selbstfinanzierte Nebentätigkeit im häuslichen Arbeitszimmer erledigt habe. Da ist Mitleid angezeigt. Davon abgesehen: Die Forderung nach Open Access für wissenschaftliche Veröffentlichungen stützt sich in erster Linie nicht auf die Finanzierungsform, sondern auf den öffentlichen Charakter der Wissenschaft und ist damit eines Frage des wissenschaftlichen Ethos. [7]Gerhard Fröhlich, Die Wissenschaftstheorie fordert Open Access (am 12. 9. 2009 auf Telepolis).
Eine andere Perpetuierung des Urheberrechts, die immer wieder auf Unverständnis stößt, ist der Schutz für bloße bildliche Reproduktion eines an sich schon gemeinfreien Werkes. Ich halte es hier mit Wikimedia Commons, die in Anlehnung an das New Yorker Urteil Bridgeman Art Library v. Corel Corp. (1999) davon ausgehen, dass jede auf Originaltreue angelegte Reproduktion eines gemeinfreien zweidimensionalen Werks ihrerseits gemeinfrei ist.
Das Urheberrecht in seiner gegenwärtigen Gestalt hat seine Legitimation verloren.

Nachtrag Juni 2012:
Manchmal merke ich selbst nicht gleich, wie nahe die Dinge beieinander liegen. Die Blogsoftware von WordPress verweist automatisch am Ende eines Eintrags auf »ähnliche Artikel«. Das System, nachdem diese Verweisungen funktionieren, ist mir nicht klar. So hätte bei diesem Eintrag eigentlich auch auf Rechtssoziologisches zum Urheberrecht? verwiesen werden müssen. Verwiesen wird immerhin auf den Eintrag vom 12. Mai 2011 Das Urheberrecht ist nicht komisch: Bound by Law. Dabei ist mir selbst eine wichtige Verknüpfung zunächst nicht aufgefallen. In jenem Eintrag ging es eigentlich um Keith Aoki. Aber als sein Mitautor wurde auch James Boyle genannt.
James Boyle ist ein wichtiger Theoretiker und Praktiker der kulturellen Allmende. Bisher hatte ich ihn nur als Praktiker zur Kenntnis genommen und als solchen in dem Eintrag über Keith Aoki erwähnt. Erwähnung verdient er aber auch als Theoretiker der Urheberrechtsdebatte. Er prägte er den Begriff des Second Enclosure Movement [8]James Boyle, The Second Enclosure Movement and the Construction of the Public Domain, Law and Contemporary Problems 66, 2003, 32-74. Gemeint war die schleichende Ausweitung der Immaterialgüterrechte, sei es der Patentrechte auf das menschliche Genom, auf Naturstoffe, biologische Prozesse und traditionelle Rezepte, sei des Urheberrechts durch Ausweitung des Umfangs und Ausdehnung auf Ideen, Software und Daten. »Second« Enclosure deshalb, weil Boyle diese Ausweitung des geistigen Eigentums mit Auflösung der Allemenden im 18. und 19. Jahrhundert und ihrer Überführung in Privateigentum (enclosure of the commons) verglich.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Vgl. das Parteiprogramm.
2 Dafür werde ich, wenn überhaupt jemand diese Sätze liest, Prügel beziehen. Ich werde mich wehren.
3 Privater Reichtum durch philologische Kafka-Editionen? , S. N5, im Internet nur gegen Entgelt zugänglich.
4 Peter Staengle Historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte, Stroemfeld Verlag Frankfurt, Peter Staengle. Originalpreis: 128 Euro. Bei Amazon wurden anscheinend Raubdrucke für unter 20 Euro angeboten. Das ist sicher unerhört, aber nach meiner Vorstellung weniger wegen eines Urheberrechtsverstoßes als nach dem UWG wegen der gewerblichen Ausnutzung einer fremden Vorleistung.
5 Darüber berichtete auch die FAZ am 29. 3. 2012 mit einem Artikel von Felicitas von Lovenberg unter der Überschrift »Hehlerei von geistigem Eigentum.
6 Sie hatte ihren Namen genannt. Ich kann nicht erkennen, dass es sich um ein Pseudonym handelt.
7 Gerhard Fröhlich, Die Wissenschaftstheorie fordert Open Access (am 12. 9. 2009 auf Telepolis).
8 James Boyle, The Second Enclosure Movement and the Construction of the Public Domain, Law and Contemporary Problems 66, 2003, 32-74.

Ähnliche Themen

Nachträge zu älteren Postings

Heute habe ich wieder verschiedene Nachträge zu älteren Postings geschrieben. Die Leser meines Blogs werden die alten Einträge kaum nach solchen Ergänzungen durchforsten. Andererseits würde das Blog künstlich aufgebläht, wenn aus jedem Nachtrag ein selbständiger Eintrag würde. Daher werde ich in Zukunft gelegentlich eine kleine Sammlung von Nachträgen posten, diesen Eintrag dann aber nach etwa einem Monat wieder löschen. Die Nachträge als solche bleiben erhalten. Sonst werden grundsätzlich keine Einträge gelöscht.
Hier also die Nachträge aus den letzten Tagen:

Zu »Lawfare«
Nachtrag vom 5. April 2012: In der Heimlichen Juristenzeitung berichtet Katja Gelinsky heute unter der Überschrift »Recht ohne Grenzen« über den aktuellen Stand der Kontroverse über die Reichweite des Alien Tort Claims Act in den USA. Der Artikel ist nur im kostenpflichtigen Archiv der Zeitung zugänglich. Nähere Informationen findet man auf Scotus-Blog. Auch die zahlreichen Amicus-Briefs sind verlinkt, darunter auch derjenige, mit dem sich die deutsche Bundesregierung gegen die extraterritoriale Anwendung des Gesetzes wendet.

Zu »Herstellung und Darstellung juristischer Entscheidungen«
Nachtrag vom 5. April 2012: Als Beiheft 44 der Zeitschrift für Historische Forschung, hg. von Barbara Stollberg-Rilinger und André Krischer, ist 2010 ein Tagungsband »Herstellung und Darstellung von Entscheidungen, Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne« erschienen. Auf HSozKult gibt es einen Tagungsbericht von Andreas Pecar und eine Rezension von Hanna Sonkajärvi. Ich habe den Band noch nicht in der Hand gehabt. Nach den Berichten zu urteilen, handelt es sich um das übliche Wiederkäuen etablierter rechtssoziologischer Themen und dem kulturwissenschaftlichen Label. Die Differenz von Herstellung und Darstellung, die mein Thema war, wird in dem Band anscheinend nicht behandelt.

Zu »In eigener Sache IX: Wissenschaftsblogging wird domestiziert«
Nachtrag vom 5. April 2012: Nun gibt es bei HSozKult einen wirklich informativen Tagungsbericht von Christof Schöch.
Nachtrag vom 28. März 2012: Hier noch etwas ausführlicher die Links zu der Münchener Tagung und zu den dort gehaltenen Vorträgen, die zum Teil mit Podcasts und Vodcasts verbunden sind:
Programm und Ankündigung der Tagung »Weblogs in den Geisteswissenschaften«
Klaus Graf: Wissenschaftsbloggen in Archivalia & Co. Schriftliche Fassung des Beitrags
Eröffnungsvortrag von Mareike König.
Darin bezieht sich Frau König auf folgende Veröffentlichungen:
Anita Bader, Gerd Fritz und Thomas Gloning, Digitale Wissenschaftskommunikation 2010-2011: Eine Online Befragung, Justus-Liebig-Universität 2012, S. 12, 67, 71, 72
Klaus Graf, Mareike König: Entwicklungsfähige Blogosphäre – ein Blick auf deutschsprachige Geschichtsblogs, 2011
Alle Vorträge sollen online im iTunes-Canal der LMU frei zugänglich sein. Ich habe sie mir nicht angetan.
An Stelle einer Blogroll gibt es den Verweis auf einen »Katalog«, der immerhin 354 Blogs aus 16 Ländern, darunter fünf deutsche, verzeichnet. Ich habe keinen gefunden, der für meine Blogroll von Interesse sein könnte.

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Zu Legalisierung von Cannabis II: Steht die zweite Prohibition vor dem Aus?

Im Juni 2011 erschien der Bericht einer »Weltkommission für Drogenpolitik« mit dem Titel »Krieg gegen die Drogen«. Er beginnt dramatisch mit der Feststellung:

Der weltweite Krieg gegen die Drogen ist gescheitert, mit verheerenden Folgen für die Menschen und Gesellschaften rund um den Globus.

und schlägt vor:

Der Kriminalisierung, Ausgrenzung und Stigmatisierung von Menschen, die Drogen konsumieren, aber anderen keinen Schaden zufügen, ein Ende setzen. Die verbreiteten falschen Vorstellungen über Drogenmärkte, Drogenkonsum und Drogenabhängigkeit in Frage stellen, statt sie zu bekräftigen.

Wer die Kommission eingesetzt hat, ist mir weder aus dem Bericht noch aus ihrer Webseite richtig klar geworden. Aber die Mitglieder sind so prominent, dass ihr Wort Gewicht hat. Irgendwann sind zu einem Thema mehr oder weniger alle Argumente ausgetauscht. Dann können nur noch soziale Bewegungen oder Autoritäten die Dinge im politischen Raum vorantreiben. Die Mitglieder der Kommission verfügen über so viel Autorität, dass die Dinge in Bewegung kommen könnten, nicht zuletzt, weil viele von ihnen aus dem konservativen Lager kommen, das den von Präsident Nixon vor 40 Jahren ausgerufenen War on Drugs als moralischen Kreuzzug versteht. Mitglieder der Kommission sind u. a. die früheren Präsidenten von Brasilien und Mexico, Fernando Henrique Cardoso und Ernesto Zedillo, aus der Ära Ronald Reagans der Außenminister George Shultz und der Chairman des Federal Reserve System Paul Volcker, der frühere Generalsekretär der UN, Kofi Annan, und der Schriftsteller Mario Vargas Llosa.
Anlass zu diesem Posting ist ein kurzer Artikel in der »Time« vom 2. April 2012 [1]Fareed Zakaria, Incarceration nation. The war on drugs succeded only in putting Millions of Americans in jail., der darauf aufmerksam macht, dass die extreme Zahl der verhängten und vollstreckten Haftstrafen in erster Linie auf Drogendelikte (und die dafür verhängten Mindeststrafen) zurückgeht. In den USA beträgt die Quote der Strafgefangenen 760 auf 100.000 Einwohner. In Deutschland sind es 90. [2]Die World Prison Population List des King College London, International Centre for Prison Sudies, nennt etwas abweichende Zahlen, nämlich für die USA für 743 (2009) und für Deutschland 85 (2010). Inzwischen entwickelt die teilweise privatisierte Gefängnisindustrie in den USA insofern eine Eigendynamik, als sie zur Methode der Wirtschaftsförderung in unterentwickelten Landstrichen geworden ist. Vielleicht kommt aus dieser Ecke jetzt ein hartnäckigerer Widerstand gegen die Liberalisierung des Drogenkonsums als von der Front der Moralapostel. Diesen Punkt hat schon vor vielen Jahren Nils Christie in »Crime Control as Industry« (3. Aufl. 2000) aufgespießt.
Natürlich ist die Problematik der Masseninhaftierung in den USA längst zum Thema geworden. Aber darüber kann ich nicht kompetent berichten. Hier nur einige Literaturhinweise, die ich noch nicht alle ausgewertet habe:
Loïc Wacquant, Von der Sklaverei zur Masseneinkerkerung. Zur »Rassenfrage« in den Vereinigten Staaten, Das Argument Nr. 294 vom 20. 1. 2004, teilweise unter http://www.linksnet.de/de/artikel/18600.
Marie Gottschalk, The Prison and the Gallows: The Politics of Mass Incarceration in America, Cambridge University Press 2006 (Rez. von Joseph F. Spillane, Law & Society Review 41, 2007, 936-937);
Mary Bosworth, Explaining U. S. Imprisonment, Sage Publications, 2010;
Jonathan Simon, Governing Through Crime: How the War on Crime Transformed American Democracy and Created a Culture of Fear, Oxford Univ. Press, 2009;
Bernard E. Harcourt, On the American Paradox of Laissez Faire and Mass Incarceration; University of Chicago Institute for Law & Economics Olin Research Paper No. 590; U of Chicago, Public Law Working Paper No. 376 (2012), verfügbar bei SSRN: http://ssrn.com/abstract=2020659. Es handelt sich um die Ewiderung auf eine Rezension eines eigenen Buches, das an sich mit dem Thema nicht direkt etwas zu tun hat. Harcourt wendet sich u. a. gegen den Vorwurf der »Foucaultphilie«. Den Ausdruck kannte ich noch nicht.
Nachtrag Juni 2012:
Nachzutragen ist ein Hinweis auf Gary S. Becker/Kevin M. Murphy/Michael Grossman, The Economic Theory of Illegal Goods: The Case of Drugs, 2004 (NBER Working Paper 10976: http://www.nber.org/papers/w10976). Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass eine Legalisierung weicher Drogen verbunden mit einer hohen Besteuerung wirksamer ist als die strafrechtliche Verfolgung, auch wenn es natürlich Versuche geben werde, die Steuer zu vermeiden. Langsam schwenken auch die Medien auf den Legalisierungskurs ein, so ein großer Artikel von Claudius Seidl und Harald Staun in der FamS vom 29. 4. 2012 (»Machen wir Frieden mit den Drogen«).

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Fareed Zakaria, Incarceration nation. The war on drugs succeded only in putting Millions of Americans in jail.
2 Die World Prison Population List des King College London, International Centre for Prison Sudies, nennt etwas abweichende Zahlen, nämlich für die USA für 743 (2009) und für Deutschland 85 (2010).

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In eigener Sache IX: Wissenschaftsblogging wird domestiziert

Da möchte man auf seine alten Tage noch Pirat werden. Anfang März gab es in München eine Tagung über »Weblogs in den Geisteswissenschaften«, veranstaltet vom Deutschen Historischen Institut Paris und dem Institut für Kunstgeschichte der LMU. Juristen und Soziologen als Blogger hatte man da anscheinend nicht auf der Rechnung. Aber das ist jetzt nicht mein Punkt. Was ich über diese Tagung in Zeitung und Netz gelesen habe, läuft auf eine Selbstkastration der Bloggerei hinaus. Aus vier Richtungen werden die Blogger in die Enge getrieben, nämlich erstens werden sie in die Unselbstständigkeit geführt, zweitens wird ihnen Zensur angedroht, drittens werden sie gewarnt, herkömmlichen Veröffentlichungen keine Konkurrenz zu machen, und viertens werden sie von Rechts wegen zur Ordnung gerufen. »Die Schattenseiten dieser Kommunikationsform sind allerdings auch offensichtlich«, heißt es in einem Tagungsbericht [1]von Alexander Grau, FAZ vom 14. 3. 2012, S. N 4.. Man hat sich anscheinend kräftig bemüht, die Schmuddelkinder ans Licht zu zerren.
1) Der Solo-Blogger ist suspekt. Kaum noch einer wagt es, auf eigene Faust zu bloggen. Anständige Blogger suchen sich eine institutionelle Rückendeckung oder Unterschlupf in einem Blogportal. Mindestens aber schließt man sich zu einem Gemeinschaftsblog zusammen. Die Wissenschaftsblogging wird organisiert. Als Organisator schon länger bekannt ist Marc Scheloske [2]In eigener Sache I: Über Wissenschaftsblogs.. Nun soll ein neues geisteswissenschaftliches Blogportal mit dem griffigen Namen »de.hypotheses.org« (und einem verwirrenden Layout) Ordnung schaffen. Wenn es sich nur um ein Blogportal handelte, wäre die Sache noch erträglich. Aber – so liest man: »Dieses Portal enthält Beiträge, die von der wissenschaftlichen Redaktion aus den deutschsprachigen Wissenschaftsblogs von Hypotheses.org ausgewählt wurden.« Berücksichtigt werden vermutlich nur Blogs, die man selbst hostet. Schon die Aufnahme in das Blogportal ist von einer Aufnahmeprüfung abhängig. Lockmittel ist kostenloses Hosting und technischer Support, finanziert anscheinend vor allem von der Gerda-Henkel-Stiftung. Das ist Verrat an der Blogging-Idee. Ein Weblog ist eigentlich ein Tagebuch, und das schreibt man persönlich, und zwar als Einzelner und nicht als Institution. Es ist heute eine der wenigen Möglichkeiten, sich als Individuum ohne Rücksichtnahme auf Institutionen und etablierte Fachgemeinschaften in einer Weise zu artikulieren, die jedenfalls potentiell von Jedermann wahrgenommen werden kann.
2) »Neben der harmlosen Tatsache, dass unendlich viel Belangloses kommuniziert wird, ermöglichen Weblogs die Verbreitung von Meinungen oder Informationen, die, freundlich formuliert, eher exzentrisch oder eskapistisch daher herkommen.« [3]Grau a. a. O. Das ist natürlich unerhört, und deshalb – so wird Cornelius Puschmann aus Berlin zitiert – müssten die Wissenschaftsblogs »einer Qualitätskontrolle unterliegen, institutionell anerkannt und forschungspolitisch angeregt sein«. Die wichtigste Qualität scheint allerdings die Quote zu sein. Daher gibt es vor allem Ratschläge, wie man mit seinem Blog Akzeptanz findet. Wichtiger als eine Qualitätskontrolle scheint mir eine Code of Conduct für das Wissenschaftsblogging zu sein, wie ich ihn im Eintrag vom 20. März 2011 gefordert habe.
3) Blogs bilden die Schmutzkonkurrenz zu den etablierten wissenschaftlichen Veröffentlichungsformen, insbesondere zu den Zeitschriften. Deshalb wird den Wissenschaftsbloggern (von Marc Scheloske) nahe gelegt, keine ernsthaften wissenschaftlichen Texte einzustellen, sondern sich subjektiv und fragmentarisch zu äußern.
4) Ohne erkennbaren Zusammenhang mit der Münchener Tagung wollen Karl-Heinz Ladeur und Tobias Gostomzyk [4]Der Schutz von Persönlichkeitsrechten gegen Meinungsäußerungen in Blogs, NJW 2012, 710-715. Weblogs juristisch an die Kette legen. Sie haben zwar nicht gerade die Wissenschaftsblogs im Blick, aber auch diese werden von ihrem Vorschlag betroffen, dass Serviceprovider gehalten sein sollen, Speicherplatz nur zur Verfügung zu stellen, wenn die Bewerber sich für äußerungsrechtliche Konflikte einer Schiedsvereinbarung unterwerfen.
Was folgt aus alledem? Blogger, wählt die Piratenpartei!
Hier noch etwas ausführlicher die Links zu der Münchener Tagung und zu den dort gehaltenen Vorträgen, die zum Teil mit Podcasts und Vodcasts verbunden sind:
Programm und Ankündigung der Tagung »Weblogs in den Geisteswissenschaften«
Klaus Graf: Wissenschaftsbloggen in Archivalia & Co. Schriftliche Fassung des Beitrags
Eröffnungsvortrag von Mareike König.
Darin bezieht sich Frau König auf folgende Veröffentlichungen:
Anita Bader, Gerd Fritz und Thomas Gloning, Digitale Wissenschaftskommunikation 2010-2011: Eine Online Befragung, Justus-Liebig-Universität 2012, S. 12, 67, 71, 72
Klaus Graf, Mareike König: Entwicklungsfähige Blogosphäre – ein Blick auf deutschsprachige Geschichtsblogs, 2011
Alle Vorträge sollen online im iTunes-Canal der LMU frei zugänglich sein. Ich habe sie mir nicht angetan.
An Stelle einer Blogroll gibt es den Verweis auf einen »Katalog«, der immerhin 354 Blogs aus 16 Ländern, darunter fünf deutsche, verzeichnet. Ich habe keinen gefunden, der für meine Blogroll von Interesse sein könnte.
(Der Eintrag wurde am 28. März 2012 ergänzt.)
Nachtrag vom 5. April 2012: Nun gibt es bei HSozKult einen wirklich informativen Tagungsbericht von Christof Schöch.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 von Alexander Grau, FAZ vom 14. 3. 2012, S. N 4.
2 In eigener Sache I: Über Wissenschaftsblogs.
3 Grau a. a. O.
4 Der Schutz von Persönlichkeitsrechten gegen Meinungsäußerungen in Blogs, NJW 2012, 710-715.

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Volkswagen Stiftung checkt die Juristenausbildung III

(Fortsetzung des Tagungsberichts vom 26. und 28. Februar 2012) [1]Die geneigten Leser bitte ich um Nachsicht für die Zerstückelung meines Berichts. Sie hat zwei Gründe, nämlich erstens die Diskrepanz zwischen dem Wunsch nach Aktualität und der Lust an der … Continue reading
Die »Neuorientierung der Methodenlehre« war das Thema des zweiten Tages. Der Kölner Chefpräsident Johannes Riedel sprach über »Das Zurichten des Sachverhalts« in ganz anderer Weise als ich es erwartet hatte. [2]Zu meinen Erwartungen der Eintrag vom 21. 2. 1012. Er zitierte eingangs die Beobachtungen Mohammeds aus Dürrenmatts »Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht« [3]Hier findet man die hübsche Geschichte im Internet. Daraus entwickelte er eine bemerkenswert fundamentalistische Wahrheitsskepsis, die in Ermahnungen zur Sensibilisierung für die Arbeit am Sachverhalt mündete.
Arne Pilniok führte gewissenhaft aus, wie wichtig Organisation und Verfahren seien, so dass sie neben dem materiellen Recht auch in der Ausbildung stärkere Berücksichtigung finden müssten, und zeigte damit, wie sehr Juristen Einsichten, die noch vor einer Generation als soziologische Esoterik galten, verinnerlicht haben. Mit dem Hinweis, dass auch Organisation und Verfahren die Juristen vor Gestaltungsaufgaben stellen, schlug Pilniok die Brücke zur Governance.
Barbara Dauner-Lieb und Katharina Gräfin von Schlieffen äußerten sich über »Ansätze zur Urteilsanalyse«. Dauner-Lieb wies nur ganz kurz auf die Wichtigkeit der Lektüre und Analyse von Originalentscheidungen hin. »Daraus lernt man Judiz.« Gräfin von Schlieffen demonstrierte die Urteilsanalyse mit den Methoden der rhetorischen Rechtstheorie. Der Vortrag war ein kleines rhetorisches Meisterstück. Aber nicht deshalb, sondern wegen des Inhalts staunten die Teilnehmer, als ob sie davon noch nie gehört hätten. Hatten sie wohl nicht.
Ich habe schon im Posting vom 28. 1. 2012 zum Ausdruck gebracht, wie mich das Tagungskonzept irritiert hat, indem es auf »Methodenlehre« abstellt, ohne zwischen Rechtstheorie, Methoden überhaupt, der traditionell so genannten Methodenlehre, Didaktik als Methodik der Stoffvermittlung und dem Curriculum zu differenzieren. Am deutlichsten zeigte das Referat von Horst Eidenmüller, wie die »Neuorientierung der Methodenlehre« gemeint ist. Eidenmüller kündigte eine neuartige Vorlesung über »Methodenlehre« an, in der die tradierte Methodenlehre mit den Kanones der Auslegung im Mittelpunkt nur noch das erste von acht Kapiteln bildet. Weitere sieben Kapitel sollen den Jungjuristen Kompetenzen vermitteln, die sie für die Beratungspraxis benötigen, nämlich 1. Prozessrisikoanalyse mit Hilfe von Entscheidungs- und Spieltheorie, 2. Vertragsgestaltung [4]Zu diesem Thema das Posting vom 13. Dezember 2011., 3. Buchführungs- und Bilanzierungskenntnisse wie sie etwa der Staatsanwalt für Wirtschaftsverfahren braucht, 4. Verfahren der Unternehmensbewertung, auf die ein Anwalt etwa bei der Errechnung des Versorgungsausgleichs zurückgreifen muss, 5. Mikroökonomik, wie sie für das Kartellrecht relevant wird, 6. Ökonomische Theorie des Rechts, die etwa die Folgen eines flächendeckenden Rücktrittsrechts eruiert, und 7. Statistik, wie sie in Antidiskriminierungsfällen zum Einsatz kommt. Das sind zwar nicht, wie im Vortragstitel versprochen, »analytische Methoden«. Aber das war eine klare Ansage: Juristen müssen selbst das notwendige außerjuristische Wissen in ihre Vorlesungen einbringen, natürlich jeder nur im Rahmen seiner eigenen Kompetenz und ohne Anspruch auf Vollständigkeit. So könnte der Prozessualist die Psychologie der Zeugenaussage und der Familienrechtler ein Kapitel Kinder- und Jugendpsychologie beisteuern. Schön wäre es.
Vor 50 Jahren noch galten Juristen als Spezialisten für das Allgemeine, und mit dieser Kompetenz waren sie in der Lage, viele Führungspositionen in der Gesellschaft auch außerhalb von Justiz und Verwaltung zu besetzen. Dann wurden sie, etwa aus den Vorständen großer Unternehmen, zunehmend durch Ökonomen und Ingenieure verdrängt. Von Generalisten wurden sie zu Spezialisten für Rechtsfragen und innerhalb großer Organisationen zu besseren Sachbearbeitern. [5]Michael Hartmann, Juristen in der Wirtschaft. Eine Elite im Wandel, 1990. Mehr oder weniger alle Tagungsbeiträge vermittelten im Unterton die Botschaft, Juristen sollten mit dem Anspruch auftreten, mehr als bloß ein paar Verträge zu gestalten, und entsprechend ausgebildet werden. In der Abschlussdiskussion mahnte Clifford Larsen ein Leitbild für die Juristenausbildung an. Das heimliche Leitbild der Tagungseilnehmer war der Jurist als Gesellschaftsmanager.
Ihre frühere Führungsrolle in der Wirtschaft werden Juristen kaum zurückerobern können. Heute geht es darum, dass sie nicht auch noch auf dem internationalen Parkett ins Hintertreffen geraten. Das verlangt nach Elite oder, vornehmer, nach Exzellenz, und die wiederum scheint in der deutschen Juristenausbildung keinen Platz zu haben. Keiner wagt es zu sagen: Die Juristenausbildung ist ein Massengeschäft. Es gibt kein billigeres Verfahren, jedes Jahr 10.000 Studenten zu einem akademischen Abschluss zu führen, der nicht in Arbeitslosigkeit mündet. Es wäre ein hoffnungsloses Unterfangen, alle Absolventen so auszubilden, wie es den Tagungsteilnehmern vorschwebte. Es gibt die Schwachen, und man muss sie nicht auch noch mit Prüfungsanforderungen in Grundlagenfächern und Schlüsselqualifikationen quälen, sondern ihnen helfen, notfalls auch mit verschulter Paukerei, die für einen Brotberuf notwendigen Examen zu bestehen. Die Besseren haben noch immer die Gelegenheit ergriffen, mehr zu tun, als für das Examen notwendig, und sie sind auch im Examen besser, weil sie mehr tun und mehr verstehen. Jedem sollte die Wahl bleiben, ob er sich opportunistisch nach Schlüsselqualifikationen umsieht, die vermutlich berufstauglich sind, ob er sich idealistisch in Philosophie oder Geschichte vertieft oder sich auf eine Karriere als Weltverbesserer vorbereiten will. Es ist die List der Vernunft, dass Exzellenz in Examen und Beruf sich nicht ganz selten einstellen, ohne direkt angezielt zu werden. Entscheidend ist, dass jeder die Chance erhält, zu den Besseren zu gehören.
In der Abschlussdiskussion sollten Vorschläge gemacht werden, wie die mit der Erneuerung der Juristenausbildung verbundenen Stoff- und Themenwünsche durch das Abschmelzen alter Bestände ausgeglichen werden könnten. Nennenswertes kam dabei nicht zutage. Die Lösung kann nur darin liegen, Grundlagenfächer und Schlüsselqualifikationen als Angebot zu verstehen, mit dem man sich im Examen Pluspunkte verdienen, derentwegen man aber nicht verlieren kann. Die erwünschten Eliten bilden sich dann von alleine. Separate Elitebrütereien sind überflüssig.
Hat die Tagung ihr Ziel erreicht? Ich bin da nicht so sicher. Eigentlich hätte sie die Diskussion aufnehmen müssen, die Andreas Fischer-Lescano mit einem Artikel im Februarheft der Blätter für deutsche und internationale Politik wieder angefacht hat [6]Andreas Fischer-Lescano, Guttenberg oder der »Sieg der Wissenschaft«?. Darauf nehmen Bezug Manuel Bewarder, Guttenberg-Enthüller geißelt die Rechtswissenschaft, Welt online vom 29. 1. … Continue reading
Fischer-Lescano hat die von ihm ins Rollen gebrachte Plagiatsaffäre noch einmal zum Anlass genommen, »das Verhältnis der Rechtswissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu hinterfragen«. Die Jurisprudenz ist ein Massenfach, und da wäre es ein Wunder, wenn nicht laufend plagiiert würde. Plaghunting ersetzt keine Gesellschaftsdiagnose. Selbst wenn die Plagiatsaffäre Guttenberg »weit über den spektakulären Einzelfall hinausweist« [7]Was sicher der Fall ist. Ich habe selbst zwei Mal erlebt, dass ein Buch eingestampft werden musste, weil es ein ganzes Kapitel aus meiner »Rechtssoziologie« abgeschrieben hatte. Aber darauf war ich … Continue reading, ist nicht erkennbar, wie gerade das Plagiatsunwesen die von Fischer-Lescano für zentral gehaltene Frage aufwirft: »Welches Maß an Kolonialisierung durch Politik und Ökonomie darf die Rechtswissenschaftswelt zulassen, ohne dass ihre Autonomie und ihre gesellschaftliche Funktion untergraben werden?« Aber das ändert nichts daran, dass die Frage berechtigt und notwendig ist. Ich sehe aber wiederum nicht, dass man dafür die juristische Dogmatik verantwortlich machen könnte. Viel problematischer ist die Governance-Mentalität, solange nicht klar ist, was als Good Governance anzustreben ist.
Hintergrund der neuen Intervention Fischer-Lescanos ist wohl ein Richtungsstreit in der Frankfurter Rechtsfakultät, der durch die Emeritierung Gunther Teubners ausgelöst wurde. In Mittelpunkt des Streits wiederum steht das Frankfurter House of Finance, dem Fischer-Lescano bescheinigt, eine »Kadettenanstalt der Finanzmärkte« zu sein. Früher verstand sich Frankfurt einmal als Zentrum kritischer Rechtstheorie. Aber die Teubner-Schule hatte sich zum Hort einer esoterischen Begriffssoziologie entwickelt [8]Dazu darf ich auf eine Serie von Postings verweisen: Begriffssoziologie I: Fragmentierung Begriffssoziologie II: Sektorielle Differenzierung des globalen … Continue reading und den Anschluss an die lebende Jurisprudenz verloren. Auf der Tagung der Volkswagen Stiftung war die Frankfurter Fakultät durch Thomas Vesting vertreten, der seine eigene Position einer »postmodernen Methodenlehre« [9]Thomas Vesting, Rechtstheorie, 2007, insbesondere S. 119-127. schon in Celle als Kritik der Theorielosigkeit an dem bekannten Grundrechtslehrbuch von Pieroth/Schlink eingebracht hatte. Eine kritische Gesellschaftstheorie ist von der postmodernen Rechtstheorie, wie sie vor allem von Ladeur, Vesting und Ino Augsberg betrieben wird, nicht zu erwarten. [10]Das bedarf der Begründung, die ich nachliefern werde. Aber eine große Gesellschaftstheorie nach alter Frankfurter Sitte wäre für die Jurisprudenz auch gar nicht erwünscht. Die Rechtswissenschaft sollte sich auf Qualitäten des positiven Rechts besinnen, die dessen »innere Moralität« [11]Lon L. Fuller, The Morality of Law, 1964, 2. Aufl. 1968; dazu Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, 298ff. begründen. Damit gewinnt sie eine Basis für die Kritik der gesellschaftlichen Phänomene, mit denen sie umgehen muss.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Die geneigten Leser bitte ich um Nachsicht für die Zerstückelung meines Berichts. Sie hat zwei Gründe, nämlich erstens die Diskrepanz zwischen dem Wunsch nach Aktualität und der Lust an der Schreibarbeit und zweitens, dass Blogeinträge jenseits von etwa 2000 Zeichen nur noch mühsam lesbar sind.
2 Zu meinen Erwartungen der Eintrag vom 21. 2. 1012.
3 Hier findet man die hübsche Geschichte im Internet.
4 Zu diesem Thema das Posting vom 13. Dezember 2011.
5 Michael Hartmann, Juristen in der Wirtschaft. Eine Elite im Wandel, 1990.
6 Andreas Fischer-Lescano, Guttenberg oder der »Sieg der Wissenschaft«?. Darauf nehmen Bezug Manuel Bewarder, Guttenberg-Enthüller geißelt die Rechtswissenschaft, Welt online vom 29. 1. 2012;
Thomas Thiel, Institute for Theorieschwund, FAZ vom 29. 2. 2012.
7 Was sicher der Fall ist. Ich habe selbst zwei Mal erlebt, dass ein Buch eingestampft werden musste, weil es ein ganzes Kapitel aus meiner »Rechtssoziologie« abgeschrieben hatte. Aber darauf war ich eher stolz, als dass ich davon viel Aufhebens gemacht hätte.
8 Dazu darf ich auf eine Serie von Postings verweisen:
Begriffssoziologie I: Fragmentierung
Begriffssoziologie II: Sektorielle Differenzierung des globalen Rechts
https://www.rsozblog.de/?p=1497
Begriffssoziologie IV: Der Schauplatz der Regime-Kollisionen
Begriffssoziologie V: Konstitutionalisierung strukturell
Begriffssoziologie VI: Zur funktionalen Seite der Konstitutionalisierung
Begriffssoziologie VII: Zur empirischen Seite der Konstitutionalisierung.
9 Thomas Vesting, Rechtstheorie, 2007, insbesondere S. 119-127.
10 Das bedarf der Begründung, die ich nachliefern werde.
11 Lon L. Fuller, The Morality of Law, 1964, 2. Aufl. 1968; dazu Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, 298ff.

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Volkswagen Stiftung checkt die Juristenausbildung II

(Fortsetzung des Tagungsberichts vom 26. Februar 2012)
Angenehmer Tagungsort war das Magnus-Haus der Deutschen Physikalischen Gesellschaft am Kupfergraben in Berlin gegenüber dem Pergamon-Museum. Untergebracht waren die Teilnehmer im Hilton Hotel am Gendarmenmarkt. Altbundespräsident von Weizäcker, der sein Büro im Obergeschoss des Magnus-Hauses hat, sprach ein elegantes Grußwort. So war für das richtige Berlin-Gefühl gesorgt. Aber das Programm war so straff, dass für mehr als gefühltes Berlin kein Raum blieb.
Das Tagungsformat mit 22 Kurzvorträgen und zwei Podiumsdiskussionen bewährte sich erneut.
Mit den ersten neun Referaten wurde noch einmal das bereits in Celle begonnene Generalthema »Rechtskritik als Gegenstand der Juristenausbildung« aufgenommen. Den Anfang machte Martin Morlok mit einem Vortrag über »Aspekte der Rechtskritik«. Dafür standen ihm sogar 20 Minuten zu Verfügung, in denen er gediegen so viele Aspekte entfaltete, dass ich nunmehr in der Lage bin, jede mehr oder weniger sinnvolle Beschäftigung mit dem Recht unter die Kategorie Kritik zu subsumieren. In den nachfolgenden Referaten gab es zur Rechtskritik dann auch nur noch Lippenbekenntnisse. Mehr oder weniger alle Beiträge liefen darauf hinaus, den Reformansatz der Verwaltungsrechtslehrer zu verallgemeinern, die den Umbau ihrer Disziplin zur Steuerungswissenschaft zum Programm gemacht haben. [1]Seit Anfang der 90er Jahre war unter deutschen Verwaltungsrechtslehrern eine Reformdiskussion in Gang gekommen, in deren Mittelpunkt Wolfgang Hoffmann-Riem und Eberhard Schmidt-Aßmann standen. Sie … Continue reading Allerdings wurde diese Verwandtschaft nicht erwähnt und war wohl auch den meisten Teilnehmern gar nicht bewusst. Immerhin waren aus der Crew der Steuermänner zeitweise Andreas Voßkuhle und Gunnar Folke Schuppert anwesend, und Vosskuhle forderte in der Podiumsdiskussion am Ende des ersten Tages auch explizit eine Neuausrichtung der Jurisprudenz als Steuerungswissenschaft.
Barbara-Dauner Lieb spitzte ihren lebendigen Vortrag über »Herrschende Meinung und Mindermeinung als Gegenstand der Rechtskritik« auf die These zu, die herrschende Meinung sei ein Phantom, was herrsche, sei die Rechtsprechung. Sie betonte die Dynamik der Meinungsbilder und den Wettbewerb der Argumente und zeichnete so ein kaum durch Irritationen getrübtes Bild des Rechtsdiskurses als Sonderfall a là Alexy. Zitierkartelle seien eher die Ausnahme und die Meinungsmacht der Verlage finde ihre Grenze darin, dass das Kommentargeschäft zu kompliziert sei, um es inhaltlich zu lenken. Der Vortrag des Bonner Steuerrechtlers Rainer Hüttemann über »Rechtskritik in der steuerrechtlichen Lehre« erinnerte mich daran, dass man in der St. Louis University schon vor 20 Jahren das Strafrecht durch Steuerrecht als Ausbildungsmaterie ersetzt hat. Das Steuerrecht bietet alles, was man für die Ausbildung braucht: Prinzipien und System, scharfe Tatbestände und übergroße Komplexität, materielles und Verfahrensrecht, und es verlangt nach Abstimmung mit den anderen Rechtsgebieten. Am Beispiel von Nichtanwendungserlassen und Nichtanwendungsgesetzen kann man das Mit- oder Gegeneinander der drei Gewalten studieren. Die Kritik des Steuerrechts führt schnell in eine allgemeine Gerechtigkeitsdiskussion. Und eine Metakritik der Kritik des Steuerrechts zeigt die Transaktionskosten und damit Möglichkeiten und Grenzen einer Fundamentalreform.
Das Referat der ehemaligen Chefpräsidentin aus Schleswig, Görres-Ohde, über »Ethische Forderungen zur Rechtskritik« wirkte ein bisschen als Fremdkörper. [2]Ich bin ja selbst Schleswig-Holsteiner und da fällt mir auf, dass Richterethik eine Spezialität dieses Landes zu sein scheint. Jedenfalls bin ich ihr schon auf dem Symposium Justizlehre in Dresden … Continue reading Miloš Vec schließlich behandelte das kritische Potential der Zeitgeschichte. Sein geschliffener Vortrag war zu facettenreich, um in wenigen Sätzen zusammengefasst zu werden. So will ich nur einen Punkt erwähnen, der mir in Erinnerung geblieben ist, nämlich dass das Recht nicht immer nur Gegenstand der Kritik bleiben muss, sondern auch selbst als Grundlage der Kritik an Politik, Ökonomie usw. dienen kann.
Ich kann mich nicht erinnern, selbst an einer Kriminologievorlesung teilgenommen zu haben (wiewohl mein späterer Doktorvater der Kieler Kriminologe Hellmuth Mayer war). Aber ich bin sicher, dass die Themen, die Jörg Kinzig als kritisches Potential der Kriminologie für die juristische Ausbildung nannte und anmahnte, in den Vorlesungen meines früheren Bochumer Kollegen Schwind und in denen seines Nachfolgers Feltes zum Standard gehören. Michael Wrase betonte die Selbstimmunisierung der juristischen Methode gegen Fremdwissen und empfahl Rechtswirkungsforschung. [3]Ich darf daran erinnern, dass die Volkswagen Stiftung im Rahmen des Förderschwerpunktes »Recht und Verhalten« zwischen 1997 und 2001 drei Tagungen zur Wirkungsforschung im Recht veranstaltet und … Continue reading
Für Hermann Hills Referat über »Die Veränderung der juristischen Arbeit durch neue Medien« hätte sich der Legal McLuhanite mehr Zeit gewünscht. Hill offerierte eine lange Liste interessanter Stichworte, so dass man auf den Beitrag im Tagungsband warten muss. [4]Gespannt war ich auf die von Hill beiläufig erwähnte Internetseite »Wir sind Einzelfall«, von der ich erwartet hatte, sie würde »Einzelfälle« aus der Gerichts- und Verwaltungspraxis … Continue reading Das Referat des Landgerichtspräsidenten Guise-Ruibe aus Hildesheim entpuppte sich als Bericht über die Implementierung es elektronischen Gerichtsverfahrens und war wohl einer der Gründe für den verzweifelten Zwischenruf der Präsidentin Jacobi des Landesprüfungsamtes in Stuttgart, was denn das alles eigentlich mit der Ausbildung zu tun habe. Er galt aber auch den sieben Vorträgen über »Vorfeld-›Kolonisierung‹ durch Recht«, die am Nachmittag noch abgespult wurden.
»Vorfeld-›Kolonisierung‹ durch Recht« ist eine neue Begriffsschöpfung, die Hagen Hof (Volkswagen Stiftung) erfunden hat. [5]Im Tagungskonzept war noch, anders als im Programm, von »Kolonisation« die Rede. Auf der Tagung definierte er: »Es handelt sich um einen Vorgang, mit dem juristische Begriffe in diesem Vorfeld zur Geltung gebracht werden.« Es geht also darum, dass das Rechtssystem ursprünglich als rechtsfremd betrachtete Phänomene einbezieht. Früher hätte man gesagt, aus Alternativen zum Recht seien Alternativen im Recht geworden. Früher gab es durchaus Stimmen, die eine solche Entwicklung als Ausdehnung staatlicher Sozialkontrolle (widening the net) [6]Richard L. Abel, Delegalization: A Critical Review of Its Ideology, Manifestations, and Social Consequences, in: Erhard Blankenburg u. a., Alternative Rechtsformen und Alternativen zum Recht = … Continue reading oder als Harmonie-Strategie zum Abwürgen von Rechtsansprüchen [7]Laura Nader, Harmony Ideology: Justice and Control in a Zapotec Mountain Village, Stanford University Press 1990; dies., Controlling Processes, Current Anthropology 38, 1997, 711–737. Dazu aus der … Continue reading kritisiert hätten. Solche Kritik scheint heute vergessen zu sein. Oder sollte sie in den Konnotationen von »Kolonisierung« bewahrt werden? Auch die eher technische Kritik, die an der verbreiteten Mediationseuphorie geübt wird, kam nicht zur Sprache. [8]Ich habe diese Kritik in drei Postings zusammengetragen: Das zweite Mediations-Paradox: Erfolgreich, schneller, billiger und besser, aber ungenutzt Noch einmal: Das zweite Mediationsparadox Mit … Continue reading
Als Beispiele für Vorfeld-»Kolonisierung« wurden Mediation, Täter-Opfer-Ausgleich, Absprachen im Strafverfahren, Corporate Governance und weitere Formen des Soft Law vorgeführt. In der Diskussion machte Wolfgang B. Schünemann (TU Dortmund) geltend, Mediation sei Aufgabe von eine Sozialingenieuren und habe nichts mit dem Recht zu tun. Der Einwand war fällig, nachdem Eidenmüller in einem Kurzvortrag auf die im Mediationsgesetz vorgesehene Zertifizierung für Mediatoren hingewiesen [9]BT Drucksache 17/8058 S. 18. und dafür einen Unterrichtsbedarf von 120 Zeitstunden avisiert hatte. Davon sollen anscheinend nach seiner Vorstellung mindestens die ersten 30 Stunden (Grundlagen der alternativen Streitbeilegung) ins Curriculum. Das wäre mehr als die halbe ZPO-Vorlesung.
Der Münchener Rechtsanwalt Ulrich Wastl fand mit seiner These, die Rede vom Soft Law sei eine Verniedlichung; die gemeinten Regeln hätten sich in der Untreue-Rechtsprechung des BGH längst als Hardcore erwiesen und die Rechtswissenschaft habe diese Entwicklung verschlafen, wenig Anklang. Roland Broemel (Hamburg) zeigte, wie aus dem Zivilrecht bekannte Figuren (Organisationspflichten, Wissenszurechnung) in ihrer Verdichtung zu Compliance-Strukturen führen. Er machte klar, dass sich am Beispiel von Corporate Governance auch in der Ausbildung die Bedeutung von Organisation für die Einhaltung des Rechts zeigen lasse. Florian Möslein (Berlin) pries Governance als Instrument der Regelsetzung, als Methode der Rechtssetzungslehre und als Brücke zwischen den Disziplinen. Er zitierte dazu von Thomas S. Ulen, How We Might Teach Law as the Scientific Study of Social Governance. [10]Thomas S. Ulen, The Impending Train Wreck in Legal Education: How We Might Teach Law as the Scientific Study of Social Governance, University of St. Thomas Law Journal, 6, 2009, 302-336. Ulrich Smeddincks Beitrag über eine »Instrumentenlehre des Rechts« verzichtete zwar auf das Label Governance, hätte sich aber zwanglos damit schmücken können, ließ er doch den Policy Circle zur Rechtsgestaltung im Umweltrecht kreiseln. Nachdem zur Sprache gekommen war, dass Verträge (contract governance) und – auf Geheiß der OECD – auch Verbraucherschutz weitere Felder von Governance seien, warf Udo Reifner ein, als Governance sei Herrschaft zur Technik geworden. Ich bezweifle, dass der ausbleibende Widerspruch Zustimmung zum Ausdruck brachte.
Das Stichwort Governance, unübersehbar verkörpert durch Gunnar Folke Schuppert, provozierte aus dem Publikum den Einwurf: Das ist doch alles schon einmal dagewesen. Richtig, und doch nicht ganz zutreffend. Der Neuigkeitswert mancher Vorträge war in der Tat beschränkt. Das gilt besonders, soweit sie Mediation und Täter-Opferausgleich betrafen. Aber es hilft wenig, an die vielen Vorläufer zu erinnern. Viele Probleme als solche sind geblieben, aber das Problembewusstsein ändert sich, und jede Generation muss sie neu erfahren, neu durchdenken und neu formulieren. Wenn die Lösungsvorschläge mit neuen Etiketten versehen werden, steckt dahinter oft ein Sinneswandel. Die Rechtskritik zwischen 1968 und 1990 verband sich mit einer großen Kommunikationseuphorie. Rechtskritik heute ist punktuell und geht mit einem Gestaltungs- und Steuerungsoptimismus einher, der angesichts der Diskussion der 1980er Jahre sehr mutig wirkt. Etwas mehr historische Reflexion wäre im Interesse der auf der Veranstaltung so nachdrücklich geforderten Rechtskritik hilfreich. Wenn man etwa Stephan Breidenbachs Vortrag über »Verfahren gerichtlicher und außergerichtlicher Konfliktbewältigung« mit der Einführung vor § 1025 im AK-ZPO von 1987 vergleicht, so unterscheidet er sich weniger in der Sachinformation als vielmehr durch den Blickwechsel. Vor 1990 war die Alternativendiskussion in erster Linie rechts- und justizkritisch. Das technokratische Interesse der Justiz an einer Entlastung der Gerichte fand nur am Rande Erwähnung und die Beratungsaufgabe der Anwaltschaft wurde vernachlässigt. Breidenbach sortierte die in Betracht kommenden Verfahren aus der Anwaltsperspektive und im Blick auf das Claim-Management großer Unternehmen. Dabei fielen die Probleme der kleinen Leute, für die als Alternative Verbraucherberatung, Beschwerdeverfahren, Ombudsleute, Schlichtungsstellen usw. in Betracht kommen, unter den Tisch. In der Podiumsdiskussion, die den ersten Tag beschloss, gab Andreas Vosskuhle eine ambivalente Analyse und eine eindeutige Empfehlung. Als Folge des Rechtspositivismus habe die Rechtspolitik im Staatsrecht keine Bedeutung mehr. Das Recht sei theoriefeindlich geworden und nehme seine Zuflucht zur Fallmethode. Aber die Juristen spielten in der Gesellschaft eine bedeutende Rolle; sie würden ernst genommen. Mit ihrem Midas-Touch könnten sie politische immer wieder in Verfassungsfragen verwandeln. So seien Juristen die geborenen Rechtspolitiker, und auch in den klassischen Fächern müssten sie steuerungswissenschaftlich denken lernen. Einen wirklich kritischen Beitrag leistete nur Udo Reifner, der Altachtundsechziger aus Hamburg. Er deutete seine »Leidensgeschichte mit der Juristenausbildung« an und sah in den Juristischen Fakultäten bis heute Widerstand gegen echte Reformen. Die Rechtsentwicklung der letzten 200 (?) Jahre habe die Schuldner aus dem Blick verloren. Eigentlich gebe es doch gar keine Vermehrung der Schulden, denn der Saldo von Forderung und Schuld sei immer ausgeglichen. Nur der Schuldner sei der produktive Teil, und dem müsse das Recht Rechnung tragen. Niemand hielt es für nötig, darauf einzugehen oder wagte zu widersprechen.
(Schluss folgt.)

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Seit Anfang der 90er Jahre war unter deutschen Verwaltungsrechtslehrern eine Reformdiskussion in Gang gekommen, in deren Mittelpunkt Wolfgang Hoffmann-Riem und Eberhard Schmidt-Aßmann standen. Sie hatten die Aktivitäten in zehn Tagungen gebündelt und deren Beiträge jeweils in Tagungsbänden zusammengefasst. Den Anfang machte 1993 der Band »Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts«, den Abschluss im Jahre 2004 der Band »Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft«. Seit 2006 erschienen mit dem Anspruch auf eine systematische Gesamtdarstellung die auf drei Bände »Grundlagen des Verwaltungsrechts«.
2 Ich bin ja selbst Schleswig-Holsteiner und da fällt mir auf, dass Richterethik eine Spezialität dieses Landes zu sein scheint. Jedenfalls bin ich ihr schon auf dem Symposium Justizlehre in Dresden in der Person der früheren Vizepräsidentin des LG Itzehoe begegnet (Barbara Krix, Richterethik, in: Sächsisches Staatsministerium der Justiz (Hg.), Impulse für eine moderne und leistungsstarke Justiz, 2009, 119-128). Görres-Ohde verwies auf einen Artikel, der im Februarheft 2012 der Schleswig-Holsteinischen Anzeigen erschienen sein soll. Ich habe ihn im Inhaltsverzeichnis nicht gefunden.
3 Ich darf daran erinnern, dass die Volkswagen Stiftung im Rahmen des Förderschwerpunktes »Recht und Verhalten« zwischen 1997 und 2001 drei Tagungen zur Wirkungsforschung im Recht veranstaltet und in gehaltvollen Tagungsbänden dokumentiert hat: Hagen Hof/Gertrude Lübbe-Wolff, Wirkungsforschung zum Recht I: Wirkungen und Erfolgsbedingungen von Gesetzen, 1999; Hermann Hill/Hagen Hof (Hg.), Wirkungsforschung zum Recht II: Verwaltung als Adressat und Akteur, 2000; Hermann Hill/Hagen Hof (Hg.), Wirkungsforschung zum Recht III: Folgen von Gerichtsentscheidungen, 2001.
4 Gespannt war ich auf die von Hill beiläufig erwähnte Internetseite »Wir sind Einzelfall«, von der ich erwartet hatte, sie würde »Einzelfälle« aus der Gerichts- und Verwaltungspraxis verallgemeinern. Tatsächlich geht es aber um lokale Probleme bei Datenverbindungen, insbesondere im O2-Netz.
5 Im Tagungskonzept war noch, anders als im Programm, von »Kolonisation« die Rede.
6 Richard L. Abel, Delegalization: A Critical Review of Its Ideology, Manifestations, and Social Consequences, in: Erhard Blankenburg u. a., Alternative Rechtsformen und Alternativen zum Recht = Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Bd. 6 1980, 27-47; Richard L. Abel, The Contradictions of Informal Justice in: ders., The Politics of Informal Justice. The American Experience. New York: Acad. Press, 1982, 267-320.
7 Laura Nader, Harmony Ideology: Justice and Control in a Zapotec Mountain Village, Stanford University Press 1990; dies., Controlling Processes, Current Anthropology 38, 1997, 711–737. Dazu aus der Distanz von heute Klaus F. Röhl, Alternatives to Law and to Adjudication, in: Knut Papendorf u. a. (Hg.), Understanding Law in Society, Developments in Socio-Legal Studies, 2011, S. 191-238.
8 Ich habe diese Kritik in drei Postings zusammengetragen:
Das zweite Mediations-Paradox: Erfolgreich, schneller, billiger und besser, aber ungenutzt
Noch einmal: Das zweite Mediationsparadox
Mit harten Bandagen in die Mediation?.
9 BT Drucksache 17/8058 S. 18.
10 Thomas S. Ulen, The Impending Train Wreck in Legal Education: How We Might Teach Law as the Scientific Study of Social Governance, University of St. Thomas Law Journal, 6, 2009, 302-336.

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Die Grundlagenfächer in der Ausbildungsdiskussion

Auf den Tagungen der Volkswagen Stiftung in Berlin und Celle bestand große Einmütigkeit über die Bedeutung der Grundlagenfächer. Meinungsverschiedenheiten, die aber nicht ausdiskutiert wurden, gab es nur darüber, ob sie auch abgeprüft werden sollten. Bevor ich mit meinem Tagungsbericht fortfahre – er ist noch nicht ganz fertig – ziehe ich einen kurzen Rückblick auf die Ausbildungsdiskussion aus der Schublade [1]Gründlicher und besser Wolfgang Hoffman-Riem, Zwischenschritte zur Modernisierung der Rechtswissenschaft, JZ 2007, 1-15..
Die Reform der juristischen Ausbildung war und ist ein Dauerthema. Auf dem Juristentag 1912 wurde von Anhängern der Freirechtsschulen erstmals die Einbeziehung der Soziologie in die Juristenausbildung verlangt. Im Grunde ging es nur um den gegen Begriffsjurisprudenz und Subsumtionsdogma gerichteten Wunsch nach stärkerer Berücksichtigung der sozialen Realität. Für die Zeitgenossen war die Forderung aber viel zu radikal, als dass sie ernsthaft in Betracht gezogen worden wäre.
Nach dem 2. Weltkrieg begannen die Bemühungen um eine Studienreform 1954 in Freiburg in einem »Arbeitskreis für Fragen der Juristenausbildung«. Sie mündeten 1960 in einen umfassenden, die gesamte Literatur auswertenden Reformplan. Von den Forderungen des Arbeitskreises wurde 1965 die Verkürzung der Referendarausbildung von dreieinhalb auf zweieinhalb Jahre umgesetzt. Gleichzeitig wurde ein Stufenplan für das Studium eingeführt, der die Teilnahme an den Vorgerücktenübungen von der Teilnahme an einer Anfängerübung und die Zulassung zu dieser Übung wiederum von der Teilnahme an einer Anfängerarbeitsgemeinschaft abhängig machte. Im Reformausschuss des Fakultätentages einigte man sich darauf, dass die erste juristische Staatsprüfung eine wissenschaftliche Fachprüfung sein und sich nicht nur auf das positive Recht und seine dogmatische Erfassung, sondern auch auf die philosophischen, historischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen erstrecken sollte, die für das Verständnis des geltenden Rechts und seiner Dogmatik erforderlich seien. Damit waren die sog. Grundlagenfächer – Rechtsgeschichte, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie – erfunden, und zwar technisch als Wahlpflichtfächer. Jeder Student sollte sich für eines dieser Fächer entscheiden. Im Übrigen wollte man die Ausbildung vor allem durch eine radikale Beschneidung des Prüfungsstoffes zu reformieren.
Inzwischen hatte die 1968 einsetzende Studentenbewegung zu einer Grundsatzkritik der juristischen Ausbildung geführt, die nicht zuletzt von marxistischen Vorstellungen über das Verhältnis von Staat und Recht als Herrschaftsinstrumenten für Kapital und Militär geprägt waren. Damit erhielt die Forderung nach Berücksichtigung der Sozialwissenschaften, die bis dahin ganz harmlos durch die Forderung nach größerer Realitätsnähe des Rechts motiviert war, eine neue radikalere und politische Färbung. Nun nahm die Reformdiskussion Fahrt auf. 1970 wurde die sog. Experimentierklausel als § 5b in das Deutsche Richtergesetz aufgenommen. Auf ihrer Grundlage wurde ab 1973 in verschiedenen Bundesländern die einstufige Juristenausbildung eingeführt. Ihr Ziel war zwar in erster Linie die Verbindung von Theorie und Praxis. Aber sie gab auch den Sozialwissenschaften größeren Raum. Nach dem Modellentwurf für die einstufige Juristenausbildung in Hessen (»Wiesbadener Modell«) war das Reformziel »der kritisch aufgeklärt-rational handelnde Jurist, der sich der Realität der Gesellschaft bewusst ist und seine eigene Funktion sowie die des Rechts reflektiert. Seine Aufgabe ist es, auf der Grundlage des veränderten Verhältnisses von Staat und Gesellschaft die freie Entfaltung der Persönlichkeit jedes einzelnen Bürgers innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung zu gewährleisten und zu fördern …«. Der künftige Jurist, so hieß es weiter, »müsse die Rechtswissenschaft als Teil der Sozialwissenschaften erkennen«, und seine Ausbildung sollte mit einem »sozialwissenschaftlich-juristischen Grundstudium« beginnen. Coing kritisierte den wissenschaftstheoretischen Ausgangspunkt, denn das Recht sei eine selbständige Wissenschaft, vor allem aber monierte er, dass in diesem Entwurf von der Bindung an Recht und Gesetz keine Rede sei.
Zwar hatte der Juristentag 1970 mit 333:5 Stimmen beschlossen:
»Die Ausbildung muss den Juristen in die Lage versetzen, die Wechselwirkung zwischen Recht und Wirklichkeit zu erfassen, die sozialen Hintergründe rechtlicher Regelungen zu erkennen und zu verarbeiten.« [2]Verhandlungen des 48. DJT, In welcher Weise empfiehlt es sich, die Ausbildung der Juristen zu reformieren? Sitzungsberichte Bd. II Teil P, 1970, S. 314 (Beschluss Nr. 2). Es bestand also mehr oder weniger Übereinstimmung, dass Alltagserfahrung und akademische Bildung nicht mehr ausreichten, um die verwickelten und teilweise verdeckten Zusammenhänge der sozialen Realität zu überschauen. Wie das geschehen sollte, gab jedoch Anlass zu politisch gefärbten Kontroversen. Die Protagonisten der Sozialwissenschaften wollten mehr als Aufklärung über den sozialen Kontext rechtlicher Regelungen. Sie stellten mit der Realitätskenntnis der Juristen auch die Legitimität des Rechts in Frage. Einige griffen unmittelbar auf marxistische Vorstellungen zurück, um Recht und Justiz als Klassenherrschaft anzuprangern. Andere verallgemeinerten (ganz unsoziologisch) rechtstheoretische Vorstellungen über den dezisionistischen Charakter juristischer Entscheidungen, um die Jurisprudenz als versteckte Politik zu entlarven. [3]Seriös und gemäßigt Rudolf Wassermann, Der Politische Richter, 1972. Fordernd sah Lautmann die »Soziologie vor den Toren der Jurisprudenz«. In Bremen wollte man die »Hüter von Recht und Ordnung« durch »neue Juristen« ersetzen, der politisch aktiv handeln sollten, und Rottleuthner erklärte die Rechtswissenschaft schlechthin zur Sozialwissenschaft.
Direktes Ziel solcher Vorstöße war eine volle Integration der Sozialwissenschaften in die juristische Ausbildung. Nicht wenige vermuteten dahinter das Ziel einer Veränderung des politischen Systems, und sie sahen das »Trojanische Pferd in der Zitadelle des Rechts«. Man befürchtete, dass sich die einstufige Juristenausbildung in den für linkslastig gehaltenen Fachbereichen in Bremen, Hamburg und Frankfurt zu »linken Kaderschmieden« entwickeln könnten. Andere antworteten differenzierter, indem sie die Autonomie der Rechtswissenschaft betonten und die Relevanz der Sozialwissenschaft für die juristische Entscheidungstätigkeit in Frage stellten [4]Wolfgang Naucke, Über die juristische Relevanz der Sozialwissenschaften, 1972; Helmut Schelsky, Nutzen und Gefahren der sozialwissenschaftlichen Ausbildung von Juristen, JZ 1974, 410-416. Klaus … Continue reading, und wiederum andere bemühten sich um konkrete Vorschläge, wie die Sozialwissenschaften in die juristische Ausbildung einbezogen werden könnten [5]Christian Dästner/Werner Patett/Rudolf Wassermann (Hg.) Sozialwissenschaften in der Rechts-ausbildung, Unterrichtsmaterialien für die Praxis, 1979; Dieter Grimm (Hg.), Rechtswissenschaften und … Continue reading. Das Reformprojekt endete 1984, weil es – vor allem dadurch, dass die Studenten während der Praxisphase wie Referendare bezahlt wurden – zu teuer wurde und auch politisch nicht mehr erwünscht war. Im Nachhinein hat die einstufige Juristenausbildung für ihre Verbindung von Theorie und Praxis jedoch viel Lob erhalten.
Der politische Eifer ist verflogen. Die sog. Grundlagenfächer haben durch die Studienreform von 2003, die die Prüfung insoweit aus dem Staatsexamen auf die Universitäten verlagert hat, etwas an Bedeutung gewonnen. Doch die Vorliebe von Dozenten und Studenten gehört nach wie vor der Rechtsgeschichte und der Rechtsphilosophie, und die Aufmerksamkeit der Wissenschaft gilt eher der Ökonomischen Analyse des Rechts, seiner Internationalisierung und der Steuerungsdiskussion, die jetzt unter dem Label Governance läuft.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Gründlicher und besser Wolfgang Hoffman-Riem, Zwischenschritte zur Modernisierung der Rechtswissenschaft, JZ 2007, 1-15.
2 Verhandlungen des 48. DJT, In welcher Weise empfiehlt es sich, die Ausbildung der Juristen zu reformieren? Sitzungsberichte Bd. II Teil P, 1970, S. 314 (Beschluss Nr. 2).
3 Seriös und gemäßigt Rudolf Wassermann, Der Politische Richter, 1972.
4 Wolfgang Naucke, Über die juristische Relevanz der Sozialwissenschaften, 1972; Helmut Schelsky, Nutzen und Gefahren der sozialwissenschaftlichen Ausbildung von Juristen, JZ 1974, 410-416. Klaus Lüderssen, Wie rechtsstaatlich und solide ist ein sozialwissenschaftliches Grundstudium?, JuS 1974, 131-135.
5 Christian Dästner/Werner Patett/Rudolf Wassermann (Hg.) Sozialwissenschaften in der Rechts-ausbildung, Unterrichtsmaterialien für die Praxis, 1979; Dieter Grimm (Hg.), Rechtswissenschaften und Nachbarwissenschaften, 2 Bde, 1973; Wolfgang Hoffmann-Riem (Hg.), Sozialwissenschaften im Studium des Rechts: Verfassungs- und Verwaltungsrecht, 1977.

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