Die Dominanz des Verfügbaren

Der Umbruch der Medienlandschaft hat handfeste Folgen. Die Digitalisierung der juristischen Literatur, insbesondere der juristischen Zeitschriften setzte erst mit der Jahrtausendwende in voller Breite ein. Es wurden jedoch nur wenige Jahrgänge rückwärts digitalisiert. In aller Regel nehmen die Anbieter nur neue Texte in ihre Datenbanken auf. Das hat zur Konsequenz, dass die älteren Texte kaum noch zur Hand genommen und gelesen werden. Das ist einerseits ein Segen, denn ich stehe nicht an zu behaupten, dass über 90 % aller juristischen Texte – meine eigenen nicht ausgenommen – nach wenigen Jahren zur Makulatur geworden sind. Das ist andererseits ein Verlust, denn in den restlichen 10 % steckt vielleicht Substanz.
Die Tatsache, dass im Zuge der Digitalisierung ältere Texte in Vergessenheit geraten, hat eine Kehrseite. Einige machen daraus ihr Geschäft, indem sie in der Vergangenheit wühlen, alte Texte editieren und Ideengeschichten schreiben. Andere benutzen die alten Bücher in erster Linie als Steinbruch, aus dem sich brauchbare Spolien oder gar ganze Säulen gewinnen lassen. Die Älteren haben oft noch einen gefüllten Bücherschrank, in den sie gelegentlich hineingreifen, und sei es nur aus Nostalgie. Sie (damit meine ich mich) sind dann oft überrascht, wie frisch und neu manche alten Texte wirken, oder umgekehrt, wie altmodisch viele neue Gedanken eigentlich sind. Vielleicht werde ich in Zukunft häufiger Fundstücke aus der Vergangenheit vorzeigen. Heute will ich nur noch mitteilen, welches Buch gerade der Auslöser für diesen Eintrag war, nämlich das Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Bd. 2 »Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft« von 1972. Dagegen wirkt manche moderne Einführung in die Rechtstheorie oder die Grundlagen der Rechtswissenschaft ziemlich blass.

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Überflüssige Literatur

Gelegentlich liest man Zahlen über den gewaltigen Ausstoß an wissenschaftlicher Literatur. Die Naturwissenschaften übertreffen insoweit wohl sogar noch die Sozial- und Geisteswissenschaften. Keiner kann alles thematisch Einschlägige lesen. Man kann das Problem der überflüssigen Literatur von einem distanzierten Beobachterstandpunkt aus ansehen nach dem Motto: Die Evolution wird es schon richten. Aber dem individuellen Wissenschaftler ist damit nicht geholfen. Viele Doktoranden verbringen zwei wertvolle Jahre ihres Lebens damit, überflüssige Literatur zu lesen und auszusondern. Im Übrigen entwickelt jeder seine eigene Technik zum Umgang mit dem Überfluss. Gelegentlich bewundere ich wissenschaftliche Arbeiten, die explizit nur wenige Quellen heranziehen als souverän und elegant. Vermutlich kenne ich dann selbst die einschlägige Literatur nicht gut genug, um zu erkennen, wem alles der Autor noch hätte Kredit geben können.

Bewährt ist die Methode, nur zu lesen und auszuwerten, was andere bereits mehr oder weniger zustimmend oder jedenfalls als diskussionswürdig zitiert haben. Aber da landet man nicht ganz selten in geschlossenen Zitiernetzwerken. Soweit vorhanden, helfen Buchbesprechungen. Dabei zeigt sich jedoch eine merkwürdige Asymmetrie. Es wird immer noch viel zu viel Literatur positiv als wertvoll erwähnt. Selten oder nie erklärt jemand ein Stück schlicht für überflüssig. Dafür gibt es natürlich Gründe. Der erste liegt in dem prinzipiellen Wohlwollen, mit dem nicht nur jede Alltagskommunikation beginnt, sondern das auch Grundlage aller hermeneutischen Anstrengungen ist. Zweitens gehört auch das Besprechungswesen weitgehend zur Netzwirkerei. Drittens fehlt aber auch ein selbstverständlicher Maßstab für das Überflüssige unter dem thematisch an sich Relevanten. Eine Begründung für das Überflüssigkeitsurteil ist ähnlich schwierig wie die Begründung für die offensichtliche Unbegründetheit eines Rechtsmittels nach § 313 Abs. 2 Satz 1 StPO.

Für den Produzenten selbst ist sein Literaturstück nie überflüssig, und sei es, dass er, wie regelmäßig der Verfasser dieser Zeilen, nur schreibt, um sich seiner eigenen Gedanken zu versichern. Vieles wird im Laufe der Zeit überflüssig. Da gilt wohl längst, dass Texte, die älter als zehn Jahre sind, nur noch gelesen werden, wenn sie Bestandteil der Zitatenschatzes geworden sind (und damit wären wir wieder im Netz). Mir geht es aber um die Literatur, die von vornherein überflüssig ist, weil sie mehr oder weniger Bekanntes nur neu formuliert, die man aber dennoch sichten muss, sei es wegen der Prominenz der Autoren, sei es wegen der deutlichen Bezüge der angebotenen Stichworte zu der eigenen Thematik.

Eine große Teilmenge des Genres überflüssige Literatur besteht aus Sammelbänden, wie sie nach Tagungen entstehen oder als Festschriften produziert werden. Wohl unvermeidlich enthält jeder Sammelband Überflüssiges. [1]Kritisch zur Sammelbandunkultur hat sich gerade Gerd Schwerhoff in der heimlichen Juristenzeitung geäußert. (Entschleunigung der Forschung – aber wie?, FAZ Nr. 184 vom 10. 8. 2011 S. N5.) Der … Continue reading Aber nicht selten kann man den ganzen Band vergessen. Ich habe mich gerade wieder über zwei solcher Exemplare geärgert, denn die Mühe, sie zu beschaffen und sie dann mindestens durchzublättern, ist (jedenfalls für mich) nicht unerheblich. Und deshalb fange ich einfach damit an zu benennen, was ich überflüssig gefunden habe, nämlich:
Ralf Diedrich/Ullrich Heilemann (Hg.), Ökonomisierung der Wissensgesellschaft, Wie viel Ökonomie braucht und wie viel Ökonomie verträgt die Wissensgesellschaft?, Berlin 2011
Marc L. M. Hertogh (Hg.), Living Law, Reconsidering Eugen Ehrlich, Oxford 2009; vgl. dazu die zurückhaltende Rezension von Dan Steward. Law & Society Review 45, 2001, 225-227).
Guido Holzhauser/Carolin Suter (Hg.), Interdisziplinäre Aspekte von Compliance, Baden-Baden 2011.

Nachträge:
Schöner Titel, nichts dahinter: Heinz-Dieter Assmann/Frank Baasner/Jürgen Wertheimer (Hg.), Normen, Standards, Werte – was die Welt zusammenhält, Baden-Baden 2012.
Unergiebig: Ralf Diedrich/Ullrich Heilemann (Hg.), Ökonomisierung der Wissensgesellschaft, Wie viel Ökonomie braucht und wie viel Ökonomie verträgt die Wissensgesellschaft?, Berlin 2011.

Christoph Möllers, Die Möglichkeit der Normen. Über eine Praxis jenseits von Moralität und Kausalität, 2015. Klug und belesen. Viel rezensiert und zitiert. Und trotzdem: Überflüssig, es sei denn, man suchte nach einem Beleg für die Möglichkeit des Schreibens.

Dieter Grimm/Christoph König (Hg.), Lektüre und Geltung. Zur Verstehenspraxis in der Rechtswissenschaft und in der Literaturwissenschaft, 2020. Die Texte sind in drei Kolloquien 2012, 2014 und 2016 entstanden und entsprechend abgehangen. Immerhin erfahren wir (S. 7) »Rechtswissenschaft und Literaturwissenschaft sind Interpretationswissenschaften.« Ich habe nur einen interessanten Beitrag gefunden, der aber eigentlich gar nicht unter das Rahmenthema des Bandes passt: Pascale Cancik, Wenn der Gesetzgeber schweigt … — »Interpretation« durch die Verwaltung(en). Das Beispiel der Lärmaktionsplanung, in: Dieter Grimm/Christoph König (Hg.), S. 172-187. Darin zeigt Cancik auf, dass an der Implementation von Planungsrecht eine Vielzahl von Akteuren beteiligt ist.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Kritisch zur Sammelbandunkultur hat sich gerade Gerd Schwerhoff in der heimlichen Juristenzeitung geäußert. (Entschleunigung der Forschung – aber wie?, FAZ Nr. 184 vom 10. 8. 2011 S. N5.) Der weiß auch kein Rezept außer dem Vorschlag, Tagungsbeiträge zunächst grundsätzlich im Open Access Verfahren im Netz zu veröffentlichen.

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Download des Jahres

Ende Juli 2011 unternahm FDP-Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger einen Vorstoß zur Restgleichstellung homosexueller Lebenspartnerschaften mit der Ehe. Aus der CDU erhielt sie Widerspruch, von der Opposition, besonders von den Grünen, dagegen Unterstützung. Da ist es vielleicht der Artikel von Interesse, der zur Zeit an der Spitze der Hitliste des SSRN steht: »What is Marriage?« von Sherif Girgis, Robert George (beide Princeton) und Ryan T. Anderson (University of Notre Dame). Seit der Veröffentlichung am 11. 12. 2010 wurde er 34.283 Mal heruntergeladen und 84.402 zitiert. Die Autoren plädieren vehement für das Festhalten am herkömmlichen Ehebegriff und gegen die absolute Gleichstellung. Hier das Abstract:
In the article, we argue that as a moral reality, marriage is the union of a man and a woman who make a permanent and exclusive commitment to each other of the type that is naturally fulfilled by bearing and rearing children together, and renewed by acts that constitute the behavioral part of the process of reproduction. We further argue that there are decisive principled as well as prudential reasons for the state to enshrine this understanding of marriage in its positive law, and to resist the call to recognize as marriages the sexual unions of same-sex partners.
Besides making this positive argument for our position and raising several objections to the view that same-sex unions should be recognized, we address what we consider the strongest philosophical objections to our view of the nature of marriage, as well as more pragmatic concerns about the point or consequences of implementing it as a policy.
Das Thema ist in vielen Ländern der westlichen Welt aktuell. Es trifft sich, dass mir vor kurzem Thomas Kupka seinen Artikel über »Verfassungsnominalismus« geschickt hat, der der soeben in ARSP 97, 2011, 44-77 erschienen ist. Kupka macht die Sache spannend, denn er verspricht eingangs, zwei auf den ersten Blick höchst widersprüchlich erscheinende Urteile des kalifornischen Supreme Courts zur Zulässigkeit der gleichgeschlechtlichen Ehe zu harmonisieren. 2008 ging es um die Verfassungsmäßigkeit einer Bestimmung aus dem Familiengesetzbuch, die ihrem Wortlaut nach nur Personen unterschiedlichen Geschlechts die Eheschließung gestattete:
»Family Code section 300 currently provides in relevant part: ›Marriage is a personal relation arising out of a civil contract between a man and a woman, to which the consent of the parties capable of making that contract is necessary.‹ In light of its language and legislative history, all parties before us agree that section 300 limits marriages that lawfully may be performed in California to marriages of opposite-sex couples.« (In re Marriage Cases, 43 Cal. 4th 757). Diese Beschränkung wurde für verfassungswidrig erklärt, denn auch wenn die kalifornische Verfassung das Recht auf Eheschließung nicht erwähne, so sei doch nach vielen Vorentscheidungen klar, dass unter dem Schutz der Verfassung jedermann das Grundrecht auf Heirat ohne Rücksicht auf das Geschlecht des Partners habe. Und dazu gehöre auch, dass die Verbindung gleichgeschlechtlicher Paare als »marriage« zu bezeichnen sei, auch wenn das nicht dem historischen Sprachgebrauch entspreche. »The current statutes—by drawing a distinction between the name assigned to the family relationship available to opposite-sex couples and the name assigned to the family relationship available to same-sex couples, and by reserving the historic and highly respected designation of marriage exclusively to opposite-sex couples while offering same-sex couples only the new and unfamiliar designation of domestic partnership—pose a serious risk of denying the official family relationship of same-sex couples the equal dignity and respect that is a core element of the constitutional right to marry.«
Kalifornien ist bekannt dafür, dass es der direkten Demokratie großen Raum gewährt. Sogar die Verfassung kann durch Volksentscheid geändert werden. Im November 2008 wurde auf diesem Wege mit der Proposition 8 ein Verfassungszusatz mit dem Namen California Marriage Protection Act angenommen, der die Verfassung um den Zusatz ergänzte: »Only marriage between a man and a woman is valid or recognized in California«.
Schon im nächsten Jahr hatte der Supreme Court in Strauss v. Horton, 46 Cal. 4th 364 über die Gültigkeit dieser Bestimmung zu entscheiden. Aus deutscher Sicht hätte man wohl die Frage gestellt, ob Proposition 8 verfassungswidriges Verfassungsrecht begründet hätte. Der Supreme Court rettete die Proposition 8, in dem er sie eng auslegte: Sie bedeute in keiner Weise eine Einschränkung des Rechts gleichgeschlechtlicher Paare zur Heirat mit allen ihren Wirkungen. Dieser Verbindung werde einzig und allein die Benennung als Ehe versagt, und selbst in dieser eingeschränkten Bedeutung gelte Proposition 8 nur für die Zukunft: » Proposition 8 reasonably must be interpreted in a limited fashion as eliminating only the right of same-sex couples to equal access to the designation of marriage, and as not otherwise affecting the constitutional right of those couples to establish an officially recognized family relationship.« Eine andere Frage ist dann, ob die Bestimmung gegen die Bundesverfassung verstößt, wie inzwischen wohl ein Federal Court entschieden hat. Wie Kupka mit diesen Urteilen umgeht, möge man bei Interesse selbst nachlesen.
Ich finde das Thema zurzeit unter dem Gesichtspunkt interessant, ob und wieweit die juristische Methode die Gesetzesauslegung lenken kann. In der Zeitschrift für Rechtssoziologie gibt es einen älteren Artikel zum Thema von Jörg Wegener [1]Die Ehe für gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften, ZfRSoz 16, 1995, 170-191. Damit reagierte Wegener auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 4. 10. 1993, NJW 1993, 3058., der sehr schön Fakten zum Thema zusammenstellt und dann – vorsichtig gesagt – wenig überzeugend die Ansicht zu begründen versucht, die Ehe von gleichgeschlechtlicher Personen sei bereits de lege lata zulässig. Wenig überzeugend, denn das, was Wegener als »institutionelle Auslegung« des Art. 6 GG abtut, ist nun einmal der Standard der Methodenlehre [2]Sehr viel differenzierter Hans-Martin Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl., Heidelberg 1999, 409 ff.. Es wird ja immer wieder behauptet, dass die Richterpersönlichkeit für viele Entscheidungen wichtiger sei als das Gesetz. Ich würde eine Wette abschließen, dass fast alle Juristen, die in einer professionell eingekleideten Gesetzesauslegung zu dem Ergebnis gelangen, der Ehebegriff des Art. 6 GG verlange kein unterschiedliches Geschlecht der Partner, selbst homosexuell sind.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Die Ehe für gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften, ZfRSoz 16, 1995, 170-191. Damit reagierte Wegener auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 4. 10. 1993, NJW 1993, 3058.
2 Sehr viel differenzierter Hans-Martin Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl., Heidelberg 1999, 409 ff.

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In eigener Sache VIII: Veröffentlichungen

Ressort- und Berichtsforschung als Datenquelle, in: Matthias Mahlmann (Hg.), Gesellschaft und Gerechtigkeit, Festschrift für Hubert Rottleuthner, Baden-Baden 2011, S. 357-393

Alternatives to Law and to Adjudication, in: Knut Papendorf u. a. (Hg.), Understanding Law in Society, Developments in Socio-legal Studies, Berlin 2011, S. 191-238

Die Wissenschaftlichkeit des juristischen Studiums, in: Judith Brockmann u. a. (Hg.), Exzellente Lehre im juristischen Studium, Auf dem Weg zu einer rechtswissenschaftlichen Fachdidaktik, Bd. 1, Baden-Baden 2011, S. 67-78.
Die ausführliche Besprechung von Cornelia Vismann, die ich abschnittsweise bereits in Recht anschaulich und in Rsozblog eingestellt hatte, ist nunmehr in der Zeitschrift für Rechtssoziologie 32, 2011, 262-276 erschienen.

Zusammen mit Hans Christian Röhl: Röhl, Juristisches Denken mit Versatzstücken, in: Judith Brockmann u. a. (Hg.), Methoden des Lernens in der Rechtswissenschaft, Baden-Baden 2012, S. 251-258.

Im Januar 2013 ist bei Mohr Siebeck erschienen »Demokratie-Perspektiven. Festschrift für Brun-Otto Bryde zum 70. Geburtstag (ISBN 978-3-16-152197-3). Darin S. 675-710 mein Beitrag »Entwicklungshilfe durch Recht und die Konvergenzthese«.

Erschienen sind schließlich in der EzR (Enzyklopädie zur Rechtsphilosophie der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie – IVR) meine Beiträge Grundlagen der Methodenlehre I und Grundlagen der Methodenlehre II.

Zusammen mit Stefan Machura: 100 Jahre Rechtssoziologie: Eugen Ehrlichs Rechtspluralismus heute, Juristenzeitung 2013, 1117-1128.

»Die Rechtstheorie ist schlecht vernetzt«, in: Aarnio Aulis u. a. (Hg.), Positivität, Normativität und Institutionalität des Rechts, Festschrift für Werner Krawietz zum 80. Geburtstag, Berlin 2013, S. 537-565.

Theodor Geiger, Bemerkungen zur Soziologie des Denkens, ARSP XLV, 1969, 23-52, in: Annette Brockmöller (Hg.), Hundert Jahre Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 2007, S. 149-165.

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Wäre das ein Plagiat?

In der heimlichen Juristenzeitung vom 24. 6. 2010 schreiben Justus Haucap und Jürgen Kühling über »Gerechtere Wasserpreise«. Ein bißchen (aber nur ganz wenig) habe ich mich über den ersten Satz geärgert: »Die kommunale Trinkwasserversorgung ist das letzte Monopol ohne wirksame Kontrolle.« Das ist reißerisch, weil es falsch ist. Deshalb habe ich einfach einmal nicht, durch Copy and Paste, sondern durch Suchen und Ersetzen, die Trinkwasserversorgung gegen die Abwasserbeseitigung ausgetauscht:
Die Abwasserbeseitigung ist ein natürliches Monopol. Echter Wettbewerb konkurrierender Entsorger im Markt ist nicht nur schwer zu etablieren, er ist volkswirtschaftlich auch gar nicht effizient und würde letztlich zu Kostensteigerungen führen. Weil aber deswegen die Verbraucher – anders als auf den meisten anderen Märkten – ihren Anbieter nicht wechseln können, wenn dessen Preise oder Service ihnen nicht gefallen, fehlt die marktliche Disziplinierung der Anbieter.
Die Verbraucher sind daher – weil die Entsorgung von Abwasser ein besonders wichtiges Gut ist – besonders schutzbedürftig. Ohne effektive behördliche Kontrolle könnten die Entsorgungsunternehmen ihre Monopolstellung missbrauchen. Wie die Erfahrung zeigt, lässt sich dies auch nicht allein dadurch verhindern, dass Abwasserentsorgung als öffentlich-rechtliche Organisationseinheit im kommunalen Eigentum geführt wird. Denn dies birgt die Gefahr, dass übermäßig hohe Kosten produziert werden, ineffizient gewirtschaftet wird und – im schlimmsten Fall – durch inkompetente Betriebsführung und Verwaltung den Bürgern unnötige Kosten aufgebürdet werden, denen sie sich nicht entziehen können. Eine Privatisierung allein hilft auch nicht weiter, da sie die Anreize zu Preismissbrauch nicht verhindert.
Entscheidend ist demnach weniger die Organisationsform als die Aufsicht über die Abwasserentsorgung der Endverbraucher. Denn auch ein Durchleitungswettbewerb, bei dem Konkurrenten die Leitungen der etablierten Anbieter zu regulierten Preisen mitbenutzen, ist in der Abwasserwirtschaft – anders als bei Telekommunikation und Energie – wenig sinnvoll.
Usw. usw.
Zugegeben, an einigen Stellen müsste man von Hand nacharbeiten. Der regionale Schwerpunkt könnte von Hessen in die ostdeutschen Bundesländer wandern. Doch im Prinzip passt alles.

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Verlust der Empirie: Entkernung oder Entlastung der Rechtssoziologie?

Die Rechtssoziologie als akademische Disziplin scheint eher durch Tiefen als durch Höhen zu gehen. Sie musste sich eine weitgehende Deinstitutionalisierung durch den Abbau von Lehrstuhldenominationen und Lehrveranstaltungen gefallen lassen. Sie muss mit dem anscheinend unaufhaltsamen Imperialismus der Kulturwissenschaften [1]Dazu mein Beitrag »Crossover Parsival«, in: M. Cottier u. a. (Hg.), Wie wirkt Recht?, 2010, 91-100. leben. Und sie traut sich nicht mehr, unter ihrem angestammten Namen aufzutreten. [2]Die Vereinigung für Rechtssoziologie heißt nun Vereinigung für Recht und Gesellschaft. Immer deutlicher zeigt sich jetzt eine andere Entwicklung, die man als Entkernung der Rechtssoziologie beklagen könnte, nämlich den Verlust der empirischen Forschung.
Ein Kernstück der Rechtssoziologie war die anwendungsbezogene Rechtstatsachenforschung. Sie ist heute weitgehend durch das verdrängt worden, was ich als Berichtsforschung beschrieben habe. [3]Ressort- und Berichtsforschung als Datenquelle, in: M. Mahlmann (Hg.), Gesellschaft und Gerechtigkeit, FS Rottleuthner, 2011, 357-393. Die Berichtsforschung stellt sozusagen auf Vorrat Faktenwissen für Politik, Justiz und Verwaltung zusammen. Wenn dennoch einmal ad hoc eine Rechtstatsachenforschung in Auftrag gegeben wird, so wird sie nicht von der akademischen Rechtssoziologie, sondern von spezialisierten Sozialforschungsinstituten erledigt. [4]»DJI erforscht Motive für und gegen gemeinsame Sorgeerklärung nicht miteinander verheirateter Eltern«, so lautet eine Pressemeldung vom 10. 5. 2011. Früher hätte ich diese Meldung als … Continue reading
Aber auch die empirische Grundlagenforschung ist abgewandert, und zwar in andere Disziplinen, nämlich in die Sozialpsychologie und die Verhaltensökonomie. Wenn ich zuletzt in meinem Blog über empirische Untersuchungen berichtet habe, so stammten die fast immer von Psychologen, so zuletzt »Das Frühstück der Richter und seine Folgen« sowie »Normstrenge und lockere Kulturen«.
Was folgt daraus? Soll man diese Entwicklung als Entkernung der Rechtssoziologie beklagen und, den Laden schließen und die Arbeit anderen überlassen? Ich möchte das Abwandern der empirischen Forschung zu verschiedenen Spezialisten eher als Entlastung verstehen. Rechtssoziologie bleibt deshalb doch eine empirische Disziplin in dem Sinne, dass sie für alle Theorien und Thesen empirische Belege sucht, mögen die auch von anderen beigebracht werden. Das Recht ist zum dominierenden Faktor bei der Koordinierung und Regulierung des Komplexes von Subsystemen geworden sei, die das Gesamtsystem der modernen Gesellschaft ausmachen. [5]Alan Hunt (Foucault’s Expulsion of Law, Law and Social Inquiry 17, 1992, 1/30) würde diese Einstellung als legal imperialism kritisieren. Aber irgendetwas muss man der Konkurrenz ja … Continue reading Nur noch das Recht kann der Wirtschaft Paroli bieten. Über die Realität des Rechts werden Daten beinahe im Überfluss erhoben. Es bleibt die Aufgabe, die von anderen gesammelten Daten zu einem Wissenssystem zu integrieren. Das vermag nur eine Disziplin, welche die Beobachtung des Rechts als ihre zentrale Aufgabe versteht und die darin über lange und intensive Übung verfügt. Deshalb ist die Rechtsoziologie wichtiger denn je.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Dazu mein Beitrag »Crossover Parsival«, in: M. Cottier u. a. (Hg.), Wie wirkt Recht?, 2010, 91-100.
2 Die Vereinigung für Rechtssoziologie heißt nun Vereinigung für Recht und Gesellschaft.
3 Ressort- und Berichtsforschung als Datenquelle, in: M. Mahlmann (Hg.), Gesellschaft und Gerechtigkeit, FS Rottleuthner, 2011, 357-393.
4 »DJI erforscht Motive für und gegen gemeinsame Sorgeerklärung nicht miteinander verheirateter Eltern«, so lautet eine Pressemeldung vom 10. 5. 2011. Früher hätte ich diese Meldung als Ankündigung eines Projekts der Rechtstatsachenforschung gelesen. Heute habe ich das Gefühl, dass sie für die Rechtssoziologie so richtig nicht mehr interessiert.
5 Alan Hunt (Foucault’s Expulsion of Law, Law and Social Inquiry 17, 1992, 1/30) würde diese Einstellung als legal imperialism kritisieren. Aber irgendetwas muss man der Konkurrenz ja entgegenhalten.

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Der myopische Zelot

Dieses Stückchen [1]Dieter Simon, Ein Arbeitsrechtler vom Bodensee, Myops 2011, 68-72. zeigt, dass es doch nicht so einfach ist, eine Satire zu schreiben. Simon legt hier so viel Eifer an den Tag, als sei er von dem Objekt der Satire persönlich angegriffen worden. [2]Dabei will er vielleicht nur aus ggfs. falsch verstandener Solidarität Mitherausgeber und Autoren von Myops in Schutz nehmen. Rüthers hat Grasnick und Ogorek scharf kritisiert (Rechtswissenschaft … Continue reading Damit sägt er dann doch eher an seiner eigenen Reputation, die ihm wahrscheinlich ohnehin herzlich egal ist.

Simon der Zelot (Caravaggio): Gesägter oder Säger?

Gute Witze dürfen auch mal geschmacklos sein. Allerdings erzählt man sie im Herrenzimmer und schreibt sie nicht auf. Von einer schizoiden Persönlichkeit zu fabulieren und damit anzudeuten, dass der Angegriffene einem wissenschaftlichen Selbstwiderspruch erlegen sei, ist nicht einmal im Ansatz komisch. Das kommt einem eher wie ein schlechter Altherrenwitz vor. Myops will für Juristen geschrieben sein, »die offen sind für Stil, Ethos, Verantwortung und Geschichte« (Verlagsankündigung). Das hört sich wie die Werbung für einen zweitklassigen Herrenausstatter an. Und passt insofern auch irgendwie.

Bernd Rüthers muss man nicht mögen. Aber seine rechtstheoretischen Überlegungen für ein wenig unterkomplex zu halten, seine Nähe zum Arbeitgeberlager zu benennen oder seine wissenschaftspolitischen Ansichten als konservativ zu geißeln, das ist alles wie Felchen in den Bodensee zu werfen: Nicht neu, nicht mutig, nicht interessant. Was übrig bleibt, ist degoutant.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Dieter Simon, Ein Arbeitsrechtler vom Bodensee, Myops 2011, 68-72.
2 Dabei will er vielleicht nur aus ggfs. falsch verstandener Solidarität Mitherausgeber und Autoren von Myops in Schutz nehmen. Rüthers hat Grasnick und Ogorek scharf kritisiert (Rechtswissenschaft ohne Recht?, NJW 2011, 434-436). Zwar ist diese Kritik erst Anfang Februar 2011 erschienen, während Simons Invektive im Januarheft 2011 von Myops veröffentlicht wurde. Aber dass schließt nicht aus, dass Rüthers‘ Manuskript in Frankfurt bereits bekannt war. In Frankfurt hört man das Gras wachsen.

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In eigener Sache VII: Blogroll und Linkliste

Von einem Weblog erwartet man eine Blogroll, das heißt eine Auflistung von anderen Blog, die der Blogger aus welchen Gründen auch immer wichtig oder interessant findet. Für die meisten Blogger ist es wichtig, dass ihr Blog in möglichst vielen Blogrolls aufgeführt wird. Solche Vernetzung schafft Prestige und vielleicht auch mehr Leser. Kompensationsgeschäfte scheinen üblich zu sein. Linkst du meinen Blog, linke ich deinen Blog. Deshalb wird die Blogroll oft so lang, dass man keine Lust mehr hat, sie durchzugehen, zumal mit sie mit einiger Sicherheit auch Schrott enthält. Ich bemühe mich deshalb, meine Blogroll kurz zu halten und darin nur solche Blogs zu notieren, die Informationen zu meinem Themenbereich bieten. Das ist nicht ganz einfach, weil ich nicht planmäßig nach fremden Blogs suche oder sie gar beobachte, sondern nur mehr oder weniger zufällig über den einen oder anderen stolpere.
Das WWW besteht nicht nur aus Blogs. Es gibt bessere Quellen. Daher führe ich zusätzlich eine Linkliste. Auch hier bemühe ich mich um Kürze und Ergiebigkeit. Nachdem ich das Fundbüro, indem einzelne Texte notiert wurden, geschlossen habe, konzentriere ich mich auf Webseiten, die ihre Inhalte laufend erneuern oder erweitern. Gelöscht habe ich daher die Links zu einzelnen »Fundstücken«.
Leider sind in meiner Blogroll Blogs aus den USA in der Überzahl. Aber ich finde im deutschsprachigen Raum allenfalls Blawgs, aber keine einschlägigen Wissenschaftsblogs. Nun bin ich wieder über ein interessantes Blog gestolpert oder vielmehr hat mich ein freundlicher Leser auf ComparativeConstitutions.org aufmerksam gemacht. Es handelt sich um ein Gemeinschaftsblog von zurzeit 18 Autoren, überwiegend aus den USA, das in die Internetseite des Comparative Constitutions Project (CCP) und des United States Institute of Peace (USIP) eingebettet ist. CCP ist rechtsvergleichend und empirisch ausgerichtet. USIP ist eine von der Regierung der USA finanzierte Einrichtung, die aktuellen politischen Entwicklungen beobachtet. Diese Webseite scheint mir ihrerseits so gehaltvoll, dass ich sie zusätzlich zu dem Blog in meine Linkliste aufnehme. Ein anderes Gemeinschaftsblog aus den USA, das von elf wohl überwiegend jüngeren Rechtsprofessoren unterhalten wird, ist Concurring Opinion. Man sieht dort auch etwas über den juristischen Tellerrand, und deshalb will ich das Blog jedenfalls einmal beobachten.
Man mag vom CIA halten, was man will. Aber wer sich für den Globalisierungsprozess interessiert, findet in dem World Factbook des CIA viel Material. Es kommt daher gleichfalls in die Liste.
Erwogen habe ich, auch verfassungsblog.de, das Blog des journalistisch tätigen Juristen Maximilian Steinbeis, auf das ich durch Postings über die aktuelle Verfassungsdiskussion in Ungarn aufmerksam geworden war, in meine Blogroll aufzunehmen. Ich habe mich aber dagegen entschieden, weil das Blog langfristig doch eher zu eng auf die Wiedergabe von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ausgerichtet zu sein scheint.

Aus der Blogroll habe ich sozlog von Tina Guenther gestrichen. Frau Guenther ist in Deutschland eine Pionierin des Wissenschaftsblogging. Aber sozlog ist seit August 2010 nicht mehr aktiv.

Nachtrag vom 29. 4. 2011:

In meine Linkliste werde ich die die SSRN Top Downloads aufnehmen. Wer meinen Blog kennt, weiß, dass das SSRN (Social Science Research Network) eine meiner wichtigsten Quellen darstellt. Ich schätze es besonders, weil ich dort viele Veröffentlichungen finde, die früher oder später gedruckt werden, oft in entlegenen amerikanischen Zeitschriften oder in teuren englischen Büchern, die dem Privatgelehrten nicht ohne Weiteres zugänglich sind. Über Rennlisten kann man streiten. Mir sind sie eine Hilfe.
Und gleich habe ich davon auch Gebrauch gemacht: Download of the Year.

Eigentlich gehört auch das Institut für interdisziplinäre Rechtsforschung (Law and Society Institute Berlin — LSI Berlin) in die Linkliste, denn es handelt sich um das einzige deutsche Institut, dass sich explizit um die Rechtssoziologie kümmert. Aber bisher ist die Webseite noch zu unergiebig.

Veränderungen am 4. 3. 2015:

Blogroll:

Barblog hat die alte Homepage des Berliner Arbeitskreises Rechtswirklichkeit (BAR) abgelöst.

Im Hinblick auf meine Einträge zu Foucault habe ich das Schweizer Foucault-Blog aufgenommen.

In der Annahme, dass man dort interdispziplinär ausgerichtet ist, notiere ich den JuWissBlog (Junge Wissenschaft im Öffentlichen Recht).

Idee, Editorial Board und Redaktion

Neue Links:

Als beste Soziologie-Lehrstuhlseite ausgezeichnet (mit vielen Manuskripten zum Download).

Der Blick auf die Unstatistik des Monats schadet einer empirisch ausgerichteten Rechtssoziologie nicht.

In die Linkliste zur Allgemeinen Rechtslehre gehört die materialreiche Seite Legal Gender Studies.

Der Socio-Legal Newsletter der britischen Socio-Legal Studies Association erscheint seit 1989, war aber zwischendurch einmal verschwunden. Er bietet u. a. eien guten Überblick über weltweite Law and Society Organisationen.

Wer sich ein Bild über aktuelle Forschungsvorhaben aus dem Bereich der Rechtssoziologie machen will, kann die Webseite der US-amerikanischen National Science Foundation (NSF) aufschlagen. Dort ist die Rechtssoziologie der Abteilung Social and Ecnonomic Sciences zugeordnet, und zwar mit einem Programm Law and Social Sciences. Von dort findet man weiter zu Auflistung von 169 laufenden Forschungsvorhaben, für die Mittel bewilligt wurden, und zwar jeweils mit einem Abstract.

 

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Die Meinungsleier

Am 8. April findet in Greifswald eine Tagung zum Start der Internet-Enzyklopädie zur Rechtsphilosophie der IVR [1]Internationale Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie statt, und ich sitze gerade an meinem Beitrag zum Stichwort »Grundlagen der juristischen Methodenlehre«, der mir allerhand Kopfzerbrechen bereitet. Am Rande möchte ich darin auch jedenfalls erwähnen, was ich die kleine Münze der Methodenlehre nenne, nämlich Arbeitstechniken und Kunstregeln, wie sie besonders in Anleitungen zur Fallbearbeitung im juristischen Studium und zur Erstellung von Gutachten und Urteil im Vorbereitungsdienst verbreitet werden. Da ist mir nun ein Gesichtspunkt wieder eingefallen, auf den ich früher in der BGB-Übung viel Wert gelegt habe, nämlich die Darstellung der Meinungen zu einer so genannten Streitfrage. Ich habe mich immer wieder geärgert über das, was ich die Meinungsleier, die Umstritten-ist-Methode oder den Arbeitsgemeinschaftsleiter- und Repetitorenstil genannt habe, nämlich die Eröffnung der Prüfung einer Anspruchsgrundlage mit Feststellung, »das ist umstritten« gefolgt von den Gliederungspunkten »1. Meinung, 2. Meinung, 3. Meinung, Stellungnahme«. Meine Kritik und meinen Vorschlag, wie man es besser machen sollte, hatte ich meinen »Hinweisen zur BGB-Übung« notiert. Die »Hinweise« mögen zwar sonst veraltet sein. Aber die Meinungsleier ist anscheinend weiterhin gang und gäbe. Wegen der Formatierung ist es mir zu kompliziert, die beiden Seiten aus den »Hinweisen« hier einzurücken. Ich stelle daher das gesamte alte Manuskript ins Netz: Die Meinungsleier. Der geneigte Leser möge den Anfang bis S. 18 überschlagen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Internationale Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie

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In eigener Sache VI: Zitierregeln im Internet

Aus Anlass der für den 9. April in Berlin angekündigten Theorieblog-Tagung will ich hier meinen Kommentar zu den Überlegungen von Marc Scheloske »Wie man Blogs wissenschaftlich korrekt zitiert« wiederholen:
Scheloske hat mit einem Posting vom 4. 12. 2007 zur Frage, »Wie man Blogs wissenschaftlich korrekt zitiert«, eine interessante Diskussion eingeleitet. In der Frage, wie die Quellenangabe für ein Zitat zu fassen ist, bin ich jedoch entschieden anderer Meinung als Scheloske. Man muss immer im Sinn haben, dass es sich bei den Zitierregeln, soweit sie nicht im Urheberrecht festgeschrieben sind, um bloße Konventionen handelt, die in erster Linie unter dem Gesichtspunkt von Zweckmäßigkeit und Fairness stehen.
Bei der Gestaltung hat man deshalb erhebliche Freiheiten, solange man nicht gerade eine Qualifikationsarbeit schreibt, für die Bürokraten Zitierregeln festgelegt haben, oder bei einem Verlag publizieren will, der in seinen Veröffentlichungen Einheitlichkeit verlangt. Die von Scheloske vorgeschlagene Zitierregel ist überkorrekt und unzweckmäßig. Es hilft ihr wenig, dass sie sozusagen der herrschenden Meinung in den üblichen Anleitungen zum wissenschaftlichen Arbeiten entspricht. Wenn ich das Posting vom 4. 12. 2007 hier nach seinem Vorschlag zitieren wollte, müsste ich schreiben: »Scheloske, Marc (2007): Eine Wissenschaft für sich » Wie man Blogs wissenschaftlich korrekt zitiert | Werkstattnotiz XLII. In: Wissenswerkstatt [Weblog], 4 Dez. 2007. Online-Publikation: http://www.wissenswerkstatt.net/2007/12/04/eine-wissenschaft-fuer-sich-wie-man-blogs-wissenschaftlich-korrekt-zitiert-werkstattnotiz-xlii/. Abrufdatum: 21. 10. 2008«.
Mir kommt diese Zitierweise beinahe wie eine Karikatur vor. Jedenfalls ist sie unzweckmäßig, und last not least verschenkt sie gerade die spezifische Chance des Web zur Gestaltung von Verweisen als Hyperlink. Der Vorschlag ist unzweckmäßig, weil das Ergebnis leseunfreundlich, schreibunfreundlich und platzraubend ist. Die Länge steht auch nicht in einem angemessenen Verhältnis zum Quelltext. Allein deswegen dürfte mancher von vornherein auf einen Nachweis verzichten. Wie könnte man stattdessen verfahren? Es ist ein Gebot der Fairness, den Namen des Verfassers zu nennen. Ich selbst nenne in der Regel auch den ausgeschriebenen Vornamen. Alle weiteren Angaben stehen unter dem Erfordernis der Zweckmäßigkeit. Die Angabe des Titels ist nur sinnvoll, wenn er näheren Aufschluss über den Inhalt der Quelle gibt. Im Beispiel wird die Sache dadurch komplizierter, dass der Autor seine Überschrift blumig ausschmückt. »Wie man Blogs wissenschaftlich korrekt zitiert« – das ist für sich genommen ein informativer Titel. Etwas anderes gilt für den ersten Teil »Eine Wissenschaft für sich«. Er soll wohl ironisch andeuten, dass die Zitierregeln kompliziert sind. Vielleicht kam es dem Autor auch auf den Sprachwitz an, der sich durch Gleichklang und Doppelsinn von »wissenschaftlich« und »Wissenschaft« einstellt. Für mich wäre dieser Zusatz Grund, gleich ganz auf die Angabe des Titels zu verzichten. Für überflüssig halte ich die Angabe »Werkstattnotiz XVII«. Ich sehe nicht, dass sie dem Leser helfen könnte. [1]Gemeint ist der Leser des zitierenden Textes. Im (zitierten) Blog ist ein solcher Titelzusatz, wie ich ihn ja auch für diesen Eintrag verwende, sinnvoll, weil er ein bißchen Kohärenz in das … Continue reading Die Entstehungszeit einer Quelle ist dagegen meistens relevant. Es genügt aber das Jahr. Das Datum ist nur notwendig, wenn es gerade darauf ankommt.
Ein neues Medium imitiert regelmäßig zunächst seine Vorgänger. Das ist zweckmäßig nicht zuletzt deshalb, weil es damit an deren Reputation anknüpfen kann. Deshalb leuchtet der Vorschlag ein, die übliche Zitierweise für Sammelwerke zu übernehmen, also zu schreiben »In: Wissenswerkstatt …«. Im zweiten Anlauf kommen mir dann aber Zweifel, ob der Blog-Name wirklich eine brauchbare bibliografische Angabe ist. Nicht selten sind diese Namen eher merkwürdig bis albern. Der Klammerzusatz (»Weblog«) ist andererseits wohl nur sinnvoll, wenn zuvor ein Name dasteht. Ich würde auch darauf verzichten, mindestens aber auf die Kennzeichnung als »Internetpublikation«. Man darf wohl annehmen, dass die Leser wissen, dass Weblogs im Internet veröffentlicht werden.
Der Knackpunkt ist die Angabe der URL. In einem Printmedium gilt diese Angabe als notwendig. [2]Obwohl sie dort wenig hilft, weil das Abtippen schwierig ist. In aller Regel genügt es, wenn man weiß, dass die Quelle im Netz zu finden ist. Dann lässt sie sich viel leichter gugeln. Im Web finde ich sie abwegig. Dafür gibt es den (verdeckten, aber als solchen erkennbaren) Hyperlink. Die Sache wird beinahe skurril, wenn im Permalink noch einmal der ganze Titel wiederholt wird. Damit kann man auch redlichen Autoren das Zitieren abgewöhnen. Zum Schluss noch das Abrufdatum: Auch das ist in meinen Augen nur überflüssiges Perfektionsstreben. Fraglos besteht bei Internetquellen das Problem, dass sie im Inhalt verändert werden oder verschwinden. Wenn die Quelle vom Anbieter aus dem Internet entfernt wird, dann ist sie weg. Da hilft kein Abrufdatum mehr. Und auch Änderungen kann man mit seiner Angabe in der Regel nicht erkennen.
Ich plädiere also für eine möglichst schlanke Zitierweise, die dem Autor Fairness angedeihen lässt und dem Leser nur die unbedingt notwendigen und wirklich hilfreichen Informationen bietet. Bei Internetpublikationen ist sie umso mehr angezeigt, als Fußnoten und angehängte Literaturverzeichnisse dem Medium eher fremd sind. Quellennachweise sollten daher unter Verwendung von Hyperlinks in den Text eingebaut werden, und zwar so, dass die Lesbarkeit des Textes darunter möglichst wenig leidet. Mein Zitiervorschlag für das das Posting, auf das sich diese meine Anmerkungen beziehen, ergibt sich implizit aus dem Eingangssatz. Mehr ist nicht notwendig.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Gemeint ist der Leser des zitierenden Textes. Im (zitierten) Blog ist ein solcher Titelzusatz, wie ich ihn ja auch für diesen Eintrag verwende, sinnvoll, weil er ein bißchen Kohärenz in das blogübliche Piecemeal Writing bringt.
2 Obwohl sie dort wenig hilft, weil das Abtippen schwierig ist. In aller Regel genügt es, wenn man weiß, dass die Quelle im Netz zu finden ist. Dann lässt sie sich viel leichter gugeln.

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