Die Meinungsleier

Am 8. April findet in Greifswald eine Tagung zum Start der Internet-Enzyklopädie zur Rechtsphilosophie der IVR [1]Internationale Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie statt, und ich sitze gerade an meinem Beitrag zum Stichwort »Grundlagen der juristischen Methodenlehre«, der mir allerhand Kopfzerbrechen bereitet. Am Rande möchte ich darin auch jedenfalls erwähnen, was ich die kleine Münze der Methodenlehre nenne, nämlich Arbeitstechniken und Kunstregeln, wie sie besonders in Anleitungen zur Fallbearbeitung im juristischen Studium und zur Erstellung von Gutachten und Urteil im Vorbereitungsdienst verbreitet werden. Da ist mir nun ein Gesichtspunkt wieder eingefallen, auf den ich früher in der BGB-Übung viel Wert gelegt habe, nämlich die Darstellung der Meinungen zu einer so genannten Streitfrage. Ich habe mich immer wieder geärgert über das, was ich die Meinungsleier, die Umstritten-ist-Methode oder den Arbeitsgemeinschaftsleiter- und Repetitorenstil genannt habe, nämlich die Eröffnung der Prüfung einer Anspruchsgrundlage mit Feststellung, »das ist umstritten« gefolgt von den Gliederungspunkten »1. Meinung, 2. Meinung, 3. Meinung, Stellungnahme«. Meine Kritik und meinen Vorschlag, wie man es besser machen sollte, hatte ich meinen »Hinweisen zur BGB-Übung« notiert. Die »Hinweise« mögen zwar sonst veraltet sein. Aber die Meinungsleier ist anscheinend weiterhin gang und gäbe. Wegen der Formatierung ist es mir zu kompliziert, die beiden Seiten aus den »Hinweisen« hier einzurücken. Ich stelle daher das gesamte alte Manuskript ins Netz: Die Meinungsleier. Der geneigte Leser möge den Anfang bis S. 18 überschlagen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Internationale Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie

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In eigener Sache VI: Zitierregeln im Internet

Aus Anlass der für den 9. April in Berlin angekündigten Theorieblog-Tagung will ich hier meinen Kommentar zu den Überlegungen von Marc Scheloske »Wie man Blogs wissenschaftlich korrekt zitiert« wiederholen:
Scheloske hat mit einem Posting vom 4. 12. 2007 zur Frage, »Wie man Blogs wissenschaftlich korrekt zitiert«, eine interessante Diskussion eingeleitet. In der Frage, wie die Quellenangabe für ein Zitat zu fassen ist, bin ich jedoch entschieden anderer Meinung als Scheloske. Man muss immer im Sinn haben, dass es sich bei den Zitierregeln, soweit sie nicht im Urheberrecht festgeschrieben sind, um bloße Konventionen handelt, die in erster Linie unter dem Gesichtspunkt von Zweckmäßigkeit und Fairness stehen.
Bei der Gestaltung hat man deshalb erhebliche Freiheiten, solange man nicht gerade eine Qualifikationsarbeit schreibt, für die Bürokraten Zitierregeln festgelegt haben, oder bei einem Verlag publizieren will, der in seinen Veröffentlichungen Einheitlichkeit verlangt. Die von Scheloske vorgeschlagene Zitierregel ist überkorrekt und unzweckmäßig. Es hilft ihr wenig, dass sie sozusagen der herrschenden Meinung in den üblichen Anleitungen zum wissenschaftlichen Arbeiten entspricht. Wenn ich das Posting vom 4. 12. 2007 hier nach seinem Vorschlag zitieren wollte, müsste ich schreiben: »Scheloske, Marc (2007): Eine Wissenschaft für sich » Wie man Blogs wissenschaftlich korrekt zitiert | Werkstattnotiz XLII. In: Wissenswerkstatt [Weblog], 4 Dez. 2007. Online-Publikation: http://www.wissenswerkstatt.net/2007/12/04/eine-wissenschaft-fuer-sich-wie-man-blogs-wissenschaftlich-korrekt-zitiert-werkstattnotiz-xlii/. Abrufdatum: 21. 10. 2008«.
Mir kommt diese Zitierweise beinahe wie eine Karikatur vor. Jedenfalls ist sie unzweckmäßig, und last not least verschenkt sie gerade die spezifische Chance des Web zur Gestaltung von Verweisen als Hyperlink. Der Vorschlag ist unzweckmäßig, weil das Ergebnis leseunfreundlich, schreibunfreundlich und platzraubend ist. Die Länge steht auch nicht in einem angemessenen Verhältnis zum Quelltext. Allein deswegen dürfte mancher von vornherein auf einen Nachweis verzichten. Wie könnte man stattdessen verfahren? Es ist ein Gebot der Fairness, den Namen des Verfassers zu nennen. Ich selbst nenne in der Regel auch den ausgeschriebenen Vornamen. Alle weiteren Angaben stehen unter dem Erfordernis der Zweckmäßigkeit. Die Angabe des Titels ist nur sinnvoll, wenn er näheren Aufschluss über den Inhalt der Quelle gibt. Im Beispiel wird die Sache dadurch komplizierter, dass der Autor seine Überschrift blumig ausschmückt. »Wie man Blogs wissenschaftlich korrekt zitiert« – das ist für sich genommen ein informativer Titel. Etwas anderes gilt für den ersten Teil »Eine Wissenschaft für sich«. Er soll wohl ironisch andeuten, dass die Zitierregeln kompliziert sind. Vielleicht kam es dem Autor auch auf den Sprachwitz an, der sich durch Gleichklang und Doppelsinn von »wissenschaftlich« und »Wissenschaft« einstellt. Für mich wäre dieser Zusatz Grund, gleich ganz auf die Angabe des Titels zu verzichten. Für überflüssig halte ich die Angabe »Werkstattnotiz XVII«. Ich sehe nicht, dass sie dem Leser helfen könnte. [1]Gemeint ist der Leser des zitierenden Textes. Im (zitierten) Blog ist ein solcher Titelzusatz, wie ich ihn ja auch für diesen Eintrag verwende, sinnvoll, weil er ein bißchen Kohärenz in das … Continue reading Die Entstehungszeit einer Quelle ist dagegen meistens relevant. Es genügt aber das Jahr. Das Datum ist nur notwendig, wenn es gerade darauf ankommt.
Ein neues Medium imitiert regelmäßig zunächst seine Vorgänger. Das ist zweckmäßig nicht zuletzt deshalb, weil es damit an deren Reputation anknüpfen kann. Deshalb leuchtet der Vorschlag ein, die übliche Zitierweise für Sammelwerke zu übernehmen, also zu schreiben »In: Wissenswerkstatt …«. Im zweiten Anlauf kommen mir dann aber Zweifel, ob der Blog-Name wirklich eine brauchbare bibliografische Angabe ist. Nicht selten sind diese Namen eher merkwürdig bis albern. Der Klammerzusatz (»Weblog«) ist andererseits wohl nur sinnvoll, wenn zuvor ein Name dasteht. Ich würde auch darauf verzichten, mindestens aber auf die Kennzeichnung als »Internetpublikation«. Man darf wohl annehmen, dass die Leser wissen, dass Weblogs im Internet veröffentlicht werden.
Der Knackpunkt ist die Angabe der URL. In einem Printmedium gilt diese Angabe als notwendig. [2]Obwohl sie dort wenig hilft, weil das Abtippen schwierig ist. In aller Regel genügt es, wenn man weiß, dass die Quelle im Netz zu finden ist. Dann lässt sie sich viel leichter gugeln. Im Web finde ich sie abwegig. Dafür gibt es den (verdeckten, aber als solchen erkennbaren) Hyperlink. Die Sache wird beinahe skurril, wenn im Permalink noch einmal der ganze Titel wiederholt wird. Damit kann man auch redlichen Autoren das Zitieren abgewöhnen. Zum Schluss noch das Abrufdatum: Auch das ist in meinen Augen nur überflüssiges Perfektionsstreben. Fraglos besteht bei Internetquellen das Problem, dass sie im Inhalt verändert werden oder verschwinden. Wenn die Quelle vom Anbieter aus dem Internet entfernt wird, dann ist sie weg. Da hilft kein Abrufdatum mehr. Und auch Änderungen kann man mit seiner Angabe in der Regel nicht erkennen.
Ich plädiere also für eine möglichst schlanke Zitierweise, die dem Autor Fairness angedeihen lässt und dem Leser nur die unbedingt notwendigen und wirklich hilfreichen Informationen bietet. Bei Internetpublikationen ist sie umso mehr angezeigt, als Fußnoten und angehängte Literaturverzeichnisse dem Medium eher fremd sind. Quellennachweise sollten daher unter Verwendung von Hyperlinks in den Text eingebaut werden, und zwar so, dass die Lesbarkeit des Textes darunter möglichst wenig leidet. Mein Zitiervorschlag für das das Posting, auf das sich diese meine Anmerkungen beziehen, ergibt sich implizit aus dem Eingangssatz. Mehr ist nicht notwendig.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Gemeint ist der Leser des zitierenden Textes. Im (zitierten) Blog ist ein solcher Titelzusatz, wie ich ihn ja auch für diesen Eintrag verwende, sinnvoll, weil er ein bißchen Kohärenz in das blogübliche Piecemeal Writing bringt.
2 Obwohl sie dort wenig hilft, weil das Abtippen schwierig ist. In aller Regel genügt es, wenn man weiß, dass die Quelle im Netz zu finden ist. Dann lässt sie sich viel leichter gugeln.

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U.S. Supreme Court als Lachende Justitia

Der U.S. Supreme Court ist das am besten durchforschte Gericht der Welt. Eine neuere Untersuchung von prominenten Autoren geht der Hypothese nach, dass die Anwälte, die in der mündlichen Verhandlung mehr Fragen über sich ergehen lassen müssen als der Gegner, ihren Fall eher verlieren. [1]Epstein, Lee, Landes, William M. and Posner, Richard A., Inferring the Winning Party in the Supreme Court from the Pattern of Questioning at Oral Argument (August 2009). University of Chicago Law … Continue reading Noch wichtiger als die Zahl der Fragen soll der Wortreichtum sein, mit dem die Fragen serviert werden. Das wiederum soll sich aus unterschiedlichen Strategien richterlichen Verhaltens erklären. In einer legalistisch genannten Strategie geht es dem fragenden Richter um die Aufklärung des Sachverhalts. Realistisch wird dagegen eine Strategie genannt, die auf dem Umweg über Fragen an die Anwälte die Richterkollegen beeinflussen will. Diese Strategie ist anscheinend Ersatz dafür, dass unter den Richtern keine intensive Beratung stattfindet. Der Effekt ist erheblich. In 2.952 Fällen gewannen 62 % der Beschwerdeführer. Wenn der Gegner häufiger befragt wurde, erhöhte sich die Quote um 16 %. Wenn umgekehrt Fragen häufiger an den Beschwerdeführer gerichtet wurden, sank dessen Erfolgsquote von 62 auf 50 %, also um 19 %.
Schon vor fünf Jahren gab es wohl eine Studie von J. D. Wexler [2]Laugh Track. The Green Bag. 9.1, 59-61 – habe ich nicht gelesen.. Nun hat Ryan A. Malphurs 60 Verhandlungen am Supreme Court beobachtet, die Tonbänder von 71 mündlichen Verhandlungen abgehört und Protokolle der Verhandlungen aus den Jahren 2006 und 2007 durchgesehen. Es handelt sich um Wortprotokolle, die tatsächlich, ähnlich wie bei uns manche Protokolle aus dem Bundestag, an einschlägigen Stellen »Gelächter« notieren. Malphurs meint am Ende, dass dem Lachen eine bedeutende kommunikative und soziale Funktion zukomme, weil Richter und Anwälte damit die institutionellen, sozialen und intellektuellen Abgrenzungen so in den Griff bekämen, dass jedenfalls für kurze Zeit Gleichheit im Gerichtssaal hergestellt werde. [3]Ryan A. Malphurs, “People Did Sometimes Stick Things in my Underwear”. The Function of Laughter at the U.S. Supreme Court, Communication Law Review, 10, 2010, 48-75.
» The audience’s laughter was dramatic and often returned visitors from their daydreams to the Court’s argument. Laughter also visibly diminished tension between justices and lawyers, commonly relieving heated moments. A brief joke or pun could easily displace building tension, and the justices’ stern appearance would relax in their laughter.«
Der Artikel ist lang, aber die Lektüre teilweise ganz vergnüglich. Zunächst gibt es eine Einführung in die Theorie des Lachens und des Humors. Das ist doch eine echte Bereicherung für die Rechtssoziologie. Es folgt eine kurze Zusammenfassung bisheriger Untersuchungen über die Relevanz der mündlichen Verhandlung für die Entscheidung. So ganz nebenher erfährt man, dass alle Tonaufnahmen und Protokolle der Verhandlungen und die Entscheidungen auf der Webseite http://www.oyez.org/ verfügbar sind.
Und dann wird also aufgelistet, wie oft jeder Richter gelacht hat, worüber und über wen. Es gibt freundliches und bösartiges Lachen, aber anscheinend mehr freundliches. Durch freundliches Lachen werden die Statusunterschiede zwischen Richtern und Anwälten ausgeglichen und man kann damit sogar unverfänglich auf Fehler aufmerksam machen. Doch anscheinend sind es nur die Richter, die Lachen und zum Lachen herausfordern dürfen. Aber das liegt wohl daran, dass die Anwälte ständig wechseln, so dass sich ihr Lachverhalten kaum beobachten lässt. Und was, wenn die Anwälte nicht mitlachen?
Wie dem auch sei: Die Mikrosoziologie des Verfahrens steht vor großen Aufgaben.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Epstein, Lee, Landes, William M. and Posner, Richard A., Inferring the Winning Party in the Supreme Court from the Pattern of Questioning at Oral Argument (August 2009). University of Chicago Law & Economics, Olin Working Paper No. 466. Bei SSRN: http://ssrn.com/abstract=1414317.
2 Laugh Track. The Green Bag. 9.1, 59-61 – habe ich nicht gelesen.
3 Ryan A. Malphurs, “People Did Sometimes Stick Things in my Underwear”. The Function of Laughter at the U.S. Supreme Court, Communication Law Review, 10, 2010, 48-75.

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In eigener Sache II: Veröffentlichungen 2010

Bevor ich mit der Reflexion über Wissenschaftsblogs fortfahre, will ich zu Jahresbeginn meine Veröffentlichungen aus dem Vorjahr anführen. Doch zunächst noch eine kleine Trouvaille. Im Eintrag vom 8. Januar 2010 hatte ich bedauert, keinen neuen Kandidaten für meine Blogroll gefunden zu haben. Gesucht hatte ich aber nur nach einschlägigen deutschsprachigen Wissenschaftsblogs. Nun bin ich in den USA auf »Balkinization« gestoßen. Der Blog wird betrieben von Jack M. Balkin – daher der im ersten Augenblick irritierende Name des Blogs – , einem Verfassungsrechtler an der Yale Law School, der dort einem Information Society Project vorsteht und sich in seinen Veröffentlichungen vielfach mit den rechtlichen Konsequenzen des digitalen Zeitalters befasst. Auch mit seinen weiteren Arbeiten ist Balkin für die Grundlagendisziplinen des Rechts interessant. Sein Blog »Balkinization« ist ein Gemeinschaftsblog, an dem mehrere Autoren mitschreiben, die aus Rechtssoziologie, Rechtstheorie und der Ökonomischen Analyse des Rechts bekannt sind, darunter Brian Tamanaha und Marc Tushnet. Und last not least: »Balkinization« verdrängt in meiner Blogroll das Beck-Blog vom ersten Platz. [1]Ja, und dann bin ich noch auf das Blog »Sternstunden der Soziologie« gestoßen. Es handelt sich anscheinend – ich finde auf der Seite nicht die üblichen Informationen über den Betreiber – um … Continue reading
Und nun meine Veröffentlichungen aus 2010:
Reform der Justiz durch Reform der Justizverwaltung,
in: Hoffmann-Riem, Wolfgang (Hg.): Offene Rechtswissenschaft. Ausgewählte Schriften von Wolfgang Hoffmann-Riem mit begleitenden Analysen. Tübingen: Mohr Siebeck, S. 1279–1319.
Crossover Parsival,
in: Michelle Cottier/Josef Estermann/Michael Wrase (Hg.), Wie wirkt Recht?, Baden-Baden: Nomos, S. 91-100.
Die Macht der Symbole,
in: Michelle Cottier/Josef Estermann/Michael Wrase (Hg.), Wie wirkt Recht?, Baden-Baden: Nomos, S. 267-299.
(Juristisches) Wissen über Bilder vermitteln,
in: Ulrich Dausendschön-Gay/Christine Domke/Sören Ohlhus (Hg.), Wissen in (Inter-)Aktion, Verfahren der Wissensgenerierung in unterschiedlichen Praxisfeldern, Berlin: De Gruyter, S. 281-311.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Ja, und dann bin ich noch auf das Blog »Sternstunden der Soziologie« gestoßen. Es handelt sich anscheinend – ich finde auf der Seite nicht die üblichen Informationen über den Betreiber – um eine vom Campus-Verlag gestützte Seite zur Werbung für den von Neckel u. a. herausgegebenen (verdienstvollen) Reader gleichen Namens. Dagegen wäre nichts einzuwenden. Ich betreibe ja selbst mein Blog »Recht anschaulich« als Begleitseite zum Buch auf der Webseite des Verlegers von Halem. Aber ein Blog ist das bisher nicht. Vielmehr werden nur die Reaktionen der Leser abgefragt. Und da gibt es tatsächlich einige.

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In eigener Sache I: Über Wissenschaftsblogs

Weblogs sind ein Phänomen des Web 2.0. Gegenüber der ersten Generation der eher statischen Webseiten verfügen sie über zwei markante Eigenschaften.
1. Der Betreiber muss die Seite nicht mehr mühsam gestalten. Vielmehr stehen Content-Managementsysteme zur Verfügung, die ein fertiges Design anbieten und die das Eingeben von Inhalten (fast) so einfach machen wie die Textverarbeitung. Im Verein mit kostengünstigen Providern, die die notwendige Rechen- und Speicherkapazität auf ihren Servern günstig, teilweise sogar kostenlos, anbieten, sind Blogs zu einem Publikationsmedium für Jedermann geworden.
2. Der Betreiber eines Blogs kann die Eingabe von Inhalten durch alle Internetnutzer zulassen. Daraus ergibt sich die technische Möglichkeit der Interaktivität, die man vom Web 2.0 erwartet hat.
Weltweit gibt es über 100 Millionen Blog, von denen allerdings nur ein Teil aktiv ist. Darunter sind etwa 500.000 deutschsprachige Blogs. Davon sind vielleicht 200.000 aktiv. International ist das sehr wenig. In den Niederlanden soll es mehr Blogs geben als in Deutschland. [1]Dazu in Spiegel-Online: Warum Deutschland Blog-Hemmung hat. Vgl. auch »marcus« (Beckendahl), Die Deutsche Blogosphäre, 2009. Solche Zahlen sind aber höchst problematisch. [2]Dazu eine Anmerkung von Jan Schmidt, dem Pionier der deutschen Blogging-Forschung, der jetzt im Hans-Bredow-Institut für Medienforschung in Hamburg tätig ist. Schmidt verweist auf die … Continue reading
Man könnte erwarten, dass auch Wissenschaftler in großer Zahl zu Bloggern geworden wären, denn sie verfügen heute alle über die notwendige EDV-Kapazität und Kompetenz und sind notorisch publikationshungrig. Aber sie nutzen diese Chance kaum. Die Zahl der deutschen Wissenschaftsblogs dürfte in der Größenordnung von 2000 zu suchen sein.
Jurablogs (»Blawgs«) gibt es dagegen zu Hauf. Die Gründe liegen auch ohne viel Forschung auf der Hand. Die meisten Blogger sind Rechtsanwälte, die sich von dieser Art der Internetpräsenz Aufmerksamkeit und damit Mandanten erhoffen. Da Blogs als Marketing-Tool konkurrenzlos billig sind, kommt es kaum darauf an, ob sie ihren Zweck erfüllen.
Als Bloggingnovize hatte der Legal McLuhanite anfangs einigen Reflexionsbedarf. Beim Einstieg in das Thema halfen erfahrene Blogger. In der Wissenswerkstatt von Marc Scheloske fand sich eine ganze Serie von Postings über das Wissenschaftsblogging. Hilfreich war auch das Posting »Nische« von Christoph Bächtle, der selbst professionelle Dienste für die Wissenschafts-PR anbietet und dazu die Internetseite »Zeilenwechsel« mit integriertem Weblog betreibt. Beide konstatierten die jedenfalls in Deutschland sehr bescheidene Substanz an Wissenschaftsblogs. Sie wandten sich gegen das geringe Ansehen des Mediums, attestierten ihm große Möglichkeiten und sagten ihm eine erfolgreiche Zukunft voraus. Mit dem Wissenschafts-Café wollte Scheloske die deutschsprachigen Wissenschaftsblogs vernetzen. Die Sammlung sollte alles erfassen, was »irgendwie« Wissenschaft im Munde führt. Bächtle meinte, in die Nische der Wissenschaftsblogs drängten immer mehr publikationswillige Menschen, die sich für Wissenschaftsthemen begeistern könnten. Aber daraus ist nicht viel geworden. Wissenschaftsblogs bewegen sich in Deutschland noch immer unter der Wahrnehmungsschwelle. Man muss sie nicht lesen, um am Wissenschaftsdiskurs teilzunehmen. Bei einem Schnelldurchlauf durch die Szene habe ich keine neuen Kandidaten für meine Blogroll gefunden.
Dennoch hat sich seit meinen Anfängen als Blogger etwas geändert. Das Blogging ist ein ganzes Stück aus der Schmuddelecke, in die man es bis dahin gestellt hatte [3]Hier einige Epitheta, mit denen es zuvor bedacht wurde (nach einer Zusammenstellung von Scheloske): Seichtes Alltagsgewäsch, eitle Selbstdarstellung, Tummelplatz anonymer Heckenschützen, Ort der … Continue reading, herausgekommen. Die FAZ hatte vor etwa zwei Jahren auch im redaktionellen Teil die Blogosphäre entdeckt, den Blogger Hendrik Wieduwilt engagiert und auf einen Schlag gleich zehn verlagseigene Blogs eingerichtet. Der C. H. Beck Verlag hat 2008 mit Ralf Zosel einen Mann aus dem Juristischen Internetprojekt in Saarbrücken eingestellt, der sich mit Jurawiki, als Autor des Blogs Lawgical und mit der Implementation eines juristischen Szenarios in Second Life einen Namen gemacht hatte. [4]Dazu mein Bericht von der Münchener Rechtsvisualisierungstagung 2008. Inzwischen betreibt der Verlag die blühende Beck-Community.
Im Übrigen haben die klassischen Verlage das Wissenschaftsblogging usurpiert. Den Anfang machte, wohl mit Unterstützung des Burda-Verlages, der Blog Iconic Turn. Es folgten Scilogs von Springer/Spektrum der Wissenschaft und Scienceblog von der Seed Media Group [5]Die war mir bisher unbekannt. Wer oder was dahinter steckt und wie sich das Unternehmen finanziert, habe ich so schnell nicht ermitteln können. Die Firma unterhält neben Scienceblog noch ein … Continue reading. Scilog ist ein Portal, das fast 70 Blogs in vier Themengruppen versammelt. Bei Scienceblog sind es, wenn ich richtig gezählt habe, 35 Themenblogs. Academics wird anscheinend von der Wochenzeitung »Die Zeit« getragen und befasst sich vor allem mit Karrierefragen. Aber auch diese Profiblogs blühen eher im Verborgenen. Iconic Turn welkte 2010 mit ganzen zwei Postings dahin, eines davon war die Vorstellung eines neuen, von Burda selbst herausgegebenen Buches. Scheloske ist anscheinend als Redakteur zu Scienceblog gewechselt und hat seine eigene Wissenswerkstatt eingestellt. [6]Letztes Posting im Juli 2010. Ohnehin war die Seite durch allerhand Designmätzchen unlesbar geworden. Ich habe sie aus meiner Blogroll gestrichen. Das Wissenschafts-Café beschränkt sich inzwischen fast ganz auf ein monatliches Blog-Ranking. Delikaterweise erscheinen da vor allem Blogs aus dem Scienceblog-Portal. Auch Scilog betreibt ein Blog-Ranking (und verwendet merkwürdigerweise dasselbe Kaffeebohnenbild »Wissenschaftsblogs Auslese 10« wie Wissenschafts-Café).
Heute nur noch zu einigen Äußerlichkeiten: Das Design vieler Blogs finde ich leseunfreundlich. Das liegt vor allem daran, dass der Bildschirm mit Information überladen wird. Ich hatte gelernt, ein Unterschied des Internet zur herkömmlichen Publikation bestehe darin, dass Inhalte in kleinere Einheiten heruntergebrochen werden, so dass sie auf dem Monitor Platz finden. Doch nur selten findet man auf dem Monitor einen einheitlichen Textblock. Stattdessen wird die Oberfläche vielfach zerstückelt. Eine obere Bildschirmleiste ist unverzichtbar und stört auch nicht. Meistens wird heute ein dreispaltiges Layout verwendet. Auch das ist bis zu einem gewissen Grade noch funktional, denn bei dem Querformat des Bildschirms wären durchgehende Zeilen über die ganze Breite schwerer zu lesen als ein schmalerer Textblock. Aber viele Blogger begnügen sich nicht mit einem sauberen, aus Lesbarkeit getrimmten Textblock, sondern schwelgen in Layout-Mätzchen, die jedenfalls mich als Leser nur abstoßen. Bei einem mehrspaltigen Layout ist es durchaus sinnvoll, die Sidebars auf der einen Seite für eine Übersicht über das Blog selbst (Suchfunktion, Überschriften der jüngsten Beiträge, verwendete Kategorien und »Archiv«) und auf der anderen Seite für Blogroll und Linkliste zu nutzen. Vielfach werden die Sidebars aber so vollgestopft, dass es Überwindung kostet, darin zu suchen. Eine Blogroll und die Linkliste sollten zehn Einträge nicht überschreiten. Ganz schlimm wird es, wenn Anzeigen hinzukommen. Beispiel für ein gelungenes Design ist für mich der schon erwähnte Zeilenwechsel von Bächtle. Aber dahinter steckt ein Kommunikationsprofi. (Fortsetzung folgt.)

Nachtrag vom 23. 2. 2021: Über Wissenschaftsblogs jetzt noch einmal ausführlich mein Beitrag für Barblog Über das (rechtssoziologische) Wissenschaftsblogging.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Dazu in Spiegel-Online: Warum Deutschland Blog-Hemmung hat. Vgl. auch »marcus« (Beckendahl), Die Deutsche Blogosphäre, 2009.
2 Dazu eine Anmerkung von Jan Schmidt, dem Pionier der deutschen Blogging-Forschung, der jetzt im Hans-Bredow-Institut für Medienforschung in Hamburg tätig ist. Schmidt verweist auf die ARD-Online-Studie 2010.
3 Hier einige Epitheta, mit denen es zuvor bedacht wurde (nach einer Zusammenstellung von Scheloske): Seichtes Alltagsgewäsch, eitle Selbstdarstellung, Tummelplatz anonymer Heckenschützen, Ort der verlorenen Beißhemmung, Bühne für das geistige Prekariat, Debattierclub von anonymen, Ahnungslosen und Denunzianten, Klowände des Internet.
4 Dazu mein Bericht von der Münchener Rechtsvisualisierungstagung 2008.
5 Die war mir bisher unbekannt. Wer oder was dahinter steckt und wie sich das Unternehmen finanziert, habe ich so schnell nicht ermitteln können. Die Firma unterhält neben Scienceblog noch ein zweites, ganz naturwissenschaftlich ausgerichtetes Blogportal www.researchblogging.org. Mit www.visualizing.org bietet sie ein Portal für die Visualisierung aller möglichen Themen an, was mich für »Recht anschaulich« interessieren sollte.
6 Letztes Posting im Juli 2010. Ohnehin war die Seite durch allerhand Designmätzchen unlesbar geworden. Ich habe sie aus meiner Blogroll gestrichen.

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Begriffssoziologie II: Sektorielle Differenzierung des globalen Rechts

Dieses Posting setzt den Beitrag vom 25. 11. 2010 fort. Man kann es als Kritik des Buches, »Regime-Kollisionen, Zur Fragmentierung des globalen Rechts« von Andreas Fischer-Lescano und Gunther Teubner (Frankfurt a.M. 2006) lesen.
Die systemtheoretische Analyse behauptet für das neue Weltrecht, verglichen mit den Rechten territorialer Rechtsordnungen, eine neue Qualität. Es ist eine gängige Argumentationsstrategie, die Gegenposition, von der man seine Entdeckung abheben will, kontrastreich darzustellen. Man darf deshalb kritisch fragen, ob die Unterschiede wirklich so groß sind. Der Antwort kommt man näher, wenn man den Vergleich zwischen den traditionellen territorial begrenzten Rechtssystemen und den neuartigen Rechtsphänomenen der Globalisierung konsequent in den systemtheoretischen Rahmen stellt. Dieser Rahmen wird leicht verlassen, wenn nicht zwischen dem Weltrecht im engeren Sinne und einem Weltrecht im weiteren Sinne unterschieden wird. Das Weltrecht i. e. S. besteht aus der Menge der neuartigen globalen Rechtsbildungen. Das Weltrecht i. w. S. ist alles Recht der Weltgesellschaft unter Einschluss auch der territorialen Rechte der Staaten. Das Weltrecht i. e. S. ist das neue Weltrecht. Das Weltrecht i. w. S. ist das ganze Weltrecht.
Systemtheoretisch geht es um die Frage nach der Reichweite des Weltrechts und nach seiner Binnenstruktur. Wenn wir von einem einzigen Weltrechtssystem ausgehen, dann umfasst es nicht bloß das neue, sondern das ganze Weltrecht. Die Binnenstruktur des Weltrechtssystems kann man unter dem Gesichtspunkt seiner Einheit oder unter dem Aspekt seiner Differenzierung betrachten. Die Einheit des Systems stützt sich auf seinen Recht/Unrecht-Code. Aber zum Systemcode gehören auch Programme, die die Zuteilung der Kommunikationen zu den Codewerten steuern. Und da scheint es an einem einheitlichen Programm für das ganze Weltrecht zu mangeln. »Die Einheit des Weltrechts [gründet sich] nicht mehr strukturell wie im Nationalstaat auf gerichtshierarchisch abgesicherter Konsistenz des Normgefüges, sondern bloß noch prozessual auf den Verknüpfungsmodus der Rechtsoperationen«. [1]Regime Kollisionen S. 34. Das ist freilich keine Besonderheit des neuen Weltrechts. Auch für die nationalen Rechtssysteme gilt, dass sie ihre Einheit allein aus der Verknüpfung von Rechtsoperationen beziehen, die man prozessual nennen mag oder auch nicht. Die hierarchische Ordnung dagegen betrifft nur den Innenbereich der nationalen Systeme. Im Außenverhältnis, und damit auch im Verhältnis untereinander, gibt es keine Hierarchie. Der Zusammenhang zwischen den nationalen Rechtsordnungen ist also nicht stärker als derjenige zwischen den »thematisch-funktionalen« Rechtsregimes.
Es geht auch gar nicht um die innere Ordnung der nationalen Rechtssysteme, sondern um die Frage, wie sich diese in die Weltgesellschaft einfügen. Wenn insoweit Hierarchie als Differenzierungsmodus ausscheidet, bleiben vor allem die segmentäre Differenzierung. Sie bedeutet die Gliederung in prinzipiell gleiche Teilsysteme. Die Gliederung der Welt nach dem Prinzip der Territorialität ist daher eine segmentäre. Offen bleibt, ob es sich dabei um eine primäre Differenzierung oder um eine Zweitdifferenzierung handelt.
Die Antwort gibt Luhmann: »Die Weltgesellschaft ist, soweit es um Systemdifferenzierung geht, durch einen Primat funktionaler Differenzierung gekennzeichnet.« [2]RdG 572. Daneben besteht »die segmentäre Zweitdifferenzierung des weltpolitischen Systems in »Staaten«. [3]RdG 582. Das bedeutet, dass die Gliederung in nationale Rechte nicht länger eine primäre segmentäre Differenzierung bildet. Nach der Entstehung der funktional differenzierten Weltgesellschaft hat die territoriale Gliederung nur noch die Bedeutung einer segmentären Zweitdifferenzierung. Die nationalen Rechtssysteme sind nur noch Subsysteme des Weltrechts.
Quer dazu liegt eine andere Zweitdifferenzierung des Weltrechtssystems, die nur das neue Weltrecht erfasst, nämlich eine sektorielle Differenzierung nach Regelungskomplexen.
»Die Gesellschaftsfragmentierung schlägt in der Weise auf das Recht durch, dass eine erfolgsorientierte politische Regulierung unterschiedlich strukturierter Gesellschaftsbereiche eine Parzellierung von issue-spezifischen Policy-Arenen erfordert, die sich ihrerseits stark juridifizieren. Damit wird die traditionelle Binnendifferenzierung nach dem Prinzip der Territorialität in relativ autonome nationale Rechtsordnungen überlagert von einem sektoriellen Differenzierungsprinzip: der Differenzierung des Weltrechts nach transnational einheitlichen Rechtsregimes, die ihre Außengrenzen nicht territorial, sondern issue-spezifisch definieren und einen globalen Geltungsanspruch erheben. Dabei ist zu betonen, dass es nicht darum geht, die alte Differenzierung in nationale Rechtsordnungen abzulösen. Niemand behauptet, dass der Nationalstaat in Prozessen der Globalisierung abgeschafft wird, auch wenn dies von Sympathisanten des Nationalstaates immer wieder unterstellt wird. Es geht nicht um Ersetzung einer Binnendifferenzierung durch die andere, sondern um die Überlagerung zweier unterschiedlicher Prinzipien: territorial-segmentäre und thematisch-funktionale Differenzierung.« [4]Fischer-Lescano/Teubner, Fragmentierung des Weltrechts, 2007, Internetfassung S. 10; ähnlich dies., Regime-Kollisionen, 2006, 36.
Ein »sektorielles Differenzierungsprinzip« gehört nicht zum vertrauten Katalog der Differenzierungsformen der Systemtheorie. [5]Luhmann (Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 613) nennt vier solcher Formen: (1) Segmentäre Differenzierung; (2) Differenzierung nach Zentrum und Peripherie, (3) Stratifikatorische … Continue reading Das sehen natürlich auch Fischer-Lescano und Teubner:
»Die Trias segmentärer, hierarchischer und funktionaler Differenzierung scheint hier nicht zu funktionieren. Weder sind die globalen Rechtsregimes als gleichartige Segmente anzusehen, noch sind sie untereinander hierarchisch aufgebaut, noch folgen sie den Kategorien der gesellschaftsweiten Funktionssysteme.« [6]Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen, 2006, 37.
Dass die Sektorenbildung für transnationale Rechtsregimes nicht der Einteilung der gesellschaftsweiten Funktionssysteme folgen soll, liegt nicht auf der Hand. Immerhin sprechen Fischer-Lescano/Teubner von einer »thematisch-funktionalen Differenzierung« [7]Regime-Kollisionen, S. 37., und die Nähe etwa der lex mercatoria zum Wirtschaftssystem oder der lex sportiva zum System des Sports ist auffällig. Die Zuordnung ist nicht immer so klar. Aber es nicht zu übersehen, dass viele Rechtsregimes enge Bindungen zu einem Funktionssystem haben. Das gilt nicht nur für die Privatregimes, sondern auch für die meisten völkerrechtlich gestützten Regelungskomplexe. Nur so lässt es sich erklären, dass sich die »Bereichslogiken« in die Rechtsregimes hinein verlängern und zu Regime-Kollisionen führen.
Warum die globalen Rechtsregimes, anders als die nationalen Rechtssysteme, nicht als gleichartige Segmente angesehen werden könnten, wird von Fischer-Lescano und Teubner nicht begründet. Es handelt sich um prinzipiell gleichartige Strukturen, und das genau ist das Kriterium für segmentäre Differenzierung. Mit der Erfindung einer neuen Differenzierungsform ist nichts gewonnen. Die sektoriell genannte Differenzierung der Rechtsregimes kann man ohne weiteres als eine segmentäre einordnen. Und zwar handelt es sich auch insoweit um eine segmentäre Zweitdifferenzierung. Denn die Regimes sind ihrerseits Subsysteme des Weltrechts: Die Regimes werden als Systeme behandelt: Sie verfügen intern über die Autonomie begründende Reflexivität ihrer Rechtsbildungsprozesse. Ihnen wird eine Eigenlogik zugeschrieben und sie gehen strukturelle Kopplungen ein. Man könnte allenfalls fragen, welchem Code die Rechtsregimes gehorchen, dem allgemeinen Rechtscode oder einem regimespezifischen? Zieht man hier wieder die Parallele zu den nationalen Rechtssystemen, ist die Antwort klar. So wie die territorial begrenzten Rechtssysteme nicht über einen territorial geprägten, sondern nur über den allgemeinen Rechtscode verfügen, beziehen die transnationalen Rechtsregimes ihre Systemidentität nicht aus einem themenspezifischen, sondern nur aus dem allgemeinen Rechtscode. Wie sich daneben die Bindung zwischen den Rechtsregimes und ihren Muttersystemen systemtheoretisch konstruieren lässt, steht auf einem anderen Blatt.
Es ist offensichtlich, dass die globalen Rechtsregimes untereinander nicht hierarchisch verknüpft sind. Daraus folgt indessen nicht, dass sie nicht intern hierarchisch strukturiert wären. Zum politikwissenschaftlichen Regimebegriff gehört die proliferation of tribunals: Ein Regime geht typisch mit ausformulierten Regeln und Verfahren einher. Oft gehört zu den Verfahren auch eine gerichtsähnliche Instanz. Tatsächlich ergibt auch die systemtheoretische Detailanalyse der diversen Rechtsregimes, dass diese intern hierarchisch aufgebaut sind. [8]Teubner beschreibt etwa die innere Struktur der Codes of Conduct transnationaler Unternehmen als hierarchisch (Selbst-Konstitutionalisierung transnationaler Unternehmen?, 2010, 14). Daraus wird sogar ein besonderes Thema, nämlich die Selbstkonstitutionalisierung der Rechtsregimes. Ein hierarchischer Aufbau im engeren Sinne wäre nicht einmal notwendig, wenn nur eine einzige Letztentscheidungsinstanz besteht, wie es bei den privaten Regimes der Fall ist, wenn die Normierungen nur eine Schiedsgerichtsklausel enthalten Daher spricht die Existenz von 125 gerichtsähnlichen Entscheidungsinstanzen für das neue Weltrecht ebenso wenig gegen die Einheit des Weltrechtssystems wie die Existenz von 196 Staaten mit eigenen Rechtssystemen.
Es bleibt die Frage, wie diese Rechtsregimes koordiniert sind, wenn nicht hierarchisch. Die Antwort von Fischer-Lescano und Teubner heißt: Heterarchisch durch Interlegalität. Aber im Grunde ist die Frage falsch gestellt, jedenfalls wenn man die territoriale und die sektorielle Differenzierung parallel betrachtet. Dann wäre die Analogie zur nationalstaatlichen Hierarchie innerhalb der einzelnen Regimes zu suchen. Die Koordination zwischen den transnationalen Rechtsregimes liegt dann auf der gleichen Ebene wie diejenige zwischen den nationalen Rechtssystemen. Daher passt die Antwort »heterarchisch durch Interlegalität« auf beide.
Die Parallelisierung von transnationalen Rechtsregimes und territorialen Rechtssystemen lässt sich weiter führen. Der sachliche Beitrag der Systemtheorie zur Beobachtung der Globalisierung des Rechts liegt darin, dass die Fragmentierung des Rechts aus dem Gegeneinander der gesellschaftlichen Funktionssysteme erklärt wird. Aber das ist im Vergleich mit den territorialen Rechtssystemen keine Besonderheit. Die Funktionssysteme nehmen auf territoriale Grenzen keine Rücksicht, und so leiden die nationalen oder territorialen Rechte unter deren »Expansionsdrang« und ihren konkurrierenden »Eigenrationalitäten« nicht weniger als die transnationalen Rechtsregimes. Tatsächlich hatte Teubner auch innerhalb der nationalen Rechtssysteme eine der Fragmentierung des globalen Rechts entsprechende »Polykontexturalität« ausgemacht.
»Der Ultrazyklus zwischen dem Recht und den gesellschaftlichen Teilsystemen »führt dazu, daß das Recht sich immer stärker pluralisiert und fragmentiert, weil es sich in gesellschaftliche Abhängigkeiten begibt, seine dogmatische und konzeptuelle Einheit zugunsten einer ›postmodernen‹ Vielheit der Rechtsdiskurse aufgibt.« [9]Verrechtlichung – ein ultrazyklisches Geschehen, 1997; 25.
Wenn die nationalen Rechte die Folgeprobleme besser im Griff haben, so liegt das weniger an ihrer hierarchischen Binnenstruktur, sondern eher an ihrer Allzuständigkeit, daran, dass sie, anders als die transnationalen Rechtsregimes, nicht thematisch begrenzt sind.
Das Auftauchen autonomer Privatregimes, so erfahren wir, führe zum »Zusammenbruch der klassischen Rechtsnormenhierarchien« [10]Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen, S. 48.. Das ist eine rhetorische Dramatisierung. Im Weltrecht hat es bisher keine »klassische Rechtsnormenhierarchie« gegeben, die zusammenbrechen könnte, und die Hierarchien der nationalen Rechte werden durch das neue Weltrecht nicht unmittelbar tangiert. Aber natürlich kann man fragen, wie die Funktion der Hierarchie im Weltrecht ausgefüllt wird.
»Was aber tritt an die Stelle einer Rechtsnormenhierarchie? – die Differenz Zentrum /Peripherie. Während im Zentrum des Rechts die Gerichte stehen, setzt sich die Peripherie autonomer Rechtsregimes aus politischen, ökonomischen, organisationalen religiösen Normierungskomplexen zusammen, die an der Grenze des Rechts zu autonomen Gesellschaftssektoren stehen, dennoch aber integraler Bestandteil des Rechtssystems selbst sind. Wieder ist es die Fragmentierung der Weltgesellschaft, die neue Bruchlinien, nun zwischen dem Rechtszentrum, der Rechtsperipherie und den gesellschaftlichen Umwelten des Rechts erzeugt. An den Kontaktstellen der Rechtsperipherie zu den autonomen Gesellschaftssektoren formieren sich plurale Rechtsbildungsmechanismen: standardisierte Verträge, Vereinbarungen professioneller Verbände, Routinen formaler Organisation, technische und wissenschaftliche Standardisierungen, habituelle Normalisierungen, informelle Konsense von NGOs, Medien und gesellschaftlichen Öffentlichkeiten.« [11]Ebenda S. 48.
Die Differenzierung zwischen Zentrum und Peripherie bezieht sich nicht auf die Beziehung von Elementen eines Systems untereinander, sondern auf deren Stellung im System. Gerichte haben eine zentrale Stellung im Rechtssystem ähnlich wie Krankenhäuser im Gesundheitssystem oder Universitäten im Wissenschaftssystem. Im Weltrecht, so verstehe ich das letzte Zitat, rücken die Gerichte aus dem Zentrum des Systems an die Peripherie. Welche Gerichte, die nationalen Gerichte oder die Entscheidungsinstanzen der transnationalen Rechtsregimes? Eigentlich können nur die letzteren gemeint sein, denn die nationalen Gerichte sind definitionsgemäß weit von den »pluralen Rechtsbildungsmechanismen« des transnationalen Rechts entfernt, gehören sie doch einer anderen Systemkategorie an. So verstanden ist die Aussage nicht besonders aufregend. Dass es auf der globalen Ebene an einer übergreifenden Gerichtshierarchie fehlt, wird niemand in Abrede stellen. Allerdings ist der Kontrast zur territorialen Ebene nicht so stark, wie er rhetorisch aufgebaut worden ist. Auch im Nationalstaat gibt es all die Phänomene, die Fischer-Lescano und Teubner »an den Kontaktstellen der Rechtsperipherie« ausgemacht haben, wenn auch vielleicht nicht in der gleichen Intensität.
Richtig und wichtig ist an der systemtheoretischen Konzeption die Beobachtung, dass transnationales Recht sich weitgehend themenspezifisch entwickelt hat. Aber eine besondere Kollisionsanfälligkeit des neuen Weltrechts folgt allein daraus nicht. Die Kollisionsneigung soll vielmehr aus der Nähe der transnationalen Rechtsregimes zu den gesellschaftlichen Funktionssystemen resultieren. Die Tatsache solcher Affinität muss man wohl akzeptieren. Doch wo sind die Konflikte? Dieser Frage soll ein weiterer Beitrag nachgehen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Regime Kollisionen S. 34.
2 RdG 572.
3 RdG 582.
4 Fischer-Lescano/Teubner, Fragmentierung des Weltrechts, 2007, Internetfassung S. 10; ähnlich dies., Regime-Kollisionen, 2006, 36.
5 Luhmann (Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 613) nennt vier solcher Formen: (1) Segmentäre Differenzierung; (2) Differenzierung nach Zentrum und Peripherie, (3) Stratifikatorische Differenzierung, (4) funktionale Differenzierung.
6 Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen, 2006, 37.
7 Regime-Kollisionen, S. 37.
8 Teubner beschreibt etwa die innere Struktur der Codes of Conduct transnationaler Unternehmen als hierarchisch (Selbst-Konstitutionalisierung transnationaler Unternehmen?, 2010, 14).
9 Verrechtlichung – ein ultrazyklisches Geschehen, 1997; 25.
10 Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen, S. 48.
11 Ebenda S. 48.

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Videos zur »Exzellenz in der Lehre«

Auch wenn ich mich von der Rechtspädagogik verabschiedet habe, will ich doch eine einschlägige Pressemitteilung weitergeben. Der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft hat im Internet unter dem Titel »Horizonte. Expertengespräche des Stifterverbandes« eine Reihe mit Videos gestartet. Die ersten vier Videos befassen sich mit der Frage »Wie entsteht Exzellenz in der Lehre?«. Die Reihe ist anscheinend auf Fortsetzung angelegt.
Wenn man mich fragte, was zur Verbesserung der Lehre sonst noch möglich wäre, würde ich wohl vorschlagen, sich noch einmal näher mit den Studiengebühren zu befassen. Wahrscheinlich gibt es Untersuchungen über die abschreckende Wirkung der Studiengebühren auf mögliche Studienanfänger. Ich habe die Frage nicht verfolgt. Dramatisch scheint die Wirkung allerdings nicht zu sein. Deshalb ist es wohl nicht abwegig, auch einmal nach positiv motivierenden Wirkungen der Gebühren zu fragen. Es lässt sich immerhin mutmaßen, dass die Gebühren bei den Zahlern eine Anspruchshaltung entstehen lassen, dass die Dozenten diese Haltung spüren und sich entsprechend stärker ins Zeug legen. Die Studenten wiederum könnten die Lehre, für die sie zahlen müssen, eher als knappes Gut schätzen und sie deshalb vielleicht besser nutzen. Effekte dieser Art sind ja wohl bei den kommerziellen Repetitorien zu beobachten. Mir ist bisher keine Untersuchung bekannt, die versucht, solche Effekte zu belegen oder gar zu quantifizieren.

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Was können wir von der Globalisierung wissen?

Jeder erlebt die Globalisierung. Er hört und sieht Nachrichten aus aller Welt, kauft Mangos aus Brasilien und Wein aus Südafrika, sieht und hört Menschen mit anderer Hautfarbe oder Sprache in der Nachbarschaft, reist freiwillig oder unfreiwillig in ferne Länder oder erfährt, dass die eigene Firma Arbeitskräfte entlassen will, weil sie in Marokko billiger produzieren kann. Wir lesen Zeitung, sehen fern und gugeln und fühlen uns im Großen und Ganzen recht gut über den Zustand der Welt informiert. Aber das ist wohl eine Illusion. So einfach kann man sich kein Bild von der Globalisierung machen. Dazu ist die Welt zu groß und vielfältig. Annähernd sieben Milliarden Menschen leben verteilt auf über 190 Staaten, der größte China mit über einer Milliarde Einwohnern, der kleinste wohl Nauru mit 13.500 Einwohnern. Vor allem aber ist die Welt in Bewegung. Globalisierung ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Politisch und wirtschaftlich und selbst physikalisch ist die Welt in schneller und unvorhersehbarer Entwicklung: 1989 der Zusammenbruch des sozialistischen Ostblocks, 2009 eine weltweite Finanzkrise und 2029 vielleicht eine Klimakatastrophe?
Kann Wissenschaft uns helfen, die Globalisierung besser zu verstehen? Die wissenschaftliche Literatur zum Thema ist inzwischen so gewaltig und sie wächst jeden Tag weiter und die Themenvielfalt ist so groß, dass sie selbst zum Problem geworden ist. Kein Einzelner kann sie mehr übersehen, geschweige denn hinreichend auswerten. Das Bemühen, sich auf das rechtssoziologisch Relevante zu beschränken, macht die Aufgabe kaum einfacher. Wenn man in der Literatur sucht, die sich selbst als rechtssoziologisch zu erkennen gibt, dann ist es, als ob man in einem Aquarium angelt. Viele, und oft die interessanteren Informationen muss man aus dem Meer der soziologischen, ökonomischen und politikwissenschaftlichen Literatur herausfischen. Nach längerem Studium stößt man aber dann doch auf Themen und Thesen, die immer wiederkehren. Deshalb ist der Versuch, eine Art Basisinformation zur Rechtssoziologie der Globalisierung zusammen zu stellen, nicht hoffnungslos.
Wissenschaft kommt mit Theorie und Empirie. An großen Theorien ist kein Mangel. Beim Globalisierungsthema konkurrieren dieselben Theoriefamilien, die auch in der allgemeinen und in der Rechtssoziologie anzutreffen sind. Theorien sind wie Brillen. Sind sie gut angepasst, sieht man mit ihnen schärfer. Aber sie zeigen nichts Neues. Ob das, was man zu sehen glaubt, nicht bloße Einbildung ist, erweist allein Empirie im Sinne kontrollierter Beobachtung.
Für die makrosozialen und vor allem für makroökonomische Daten gibt es eine erstaunliche Anzahl offizieller oder semioffizieller Quellen, die meistens in Gestalt jährlicher Reports und Rankings erscheinen. UNO, Weltbank, Internationaler Währungsfonds, die OECD und zahlreiche INGOs (International Non-Governmental Organizations), »Think Tanks« und Stiftungen offerieren Statistiken und Berichte, die Berichte meistens in Gestalt von Ländervergleichen (Rankings). Die internationalen Berichte vergleichen mit Vorliebe die Wirtschaftsfreundlichkeit, die politische Kultur und die soziale Lage der Bevölkerung eines Landes. Insgesamt gibt es wohl über 200 solcher Berichte. [1]Dazu verweise ich auf frühere Beträge über die von mir so genannte Berichtsforschung: Berichtsforschung als Datenquelle, Berichtsforschung II, Berichtsforschung: Generationsgerechtigkeit statt … Continue reading
Die Beobachtung des Globalisierungsprozesses hat ihre Tücken. Wenn wir empirische Untersuchungen im Nahbereich anstellen, können wir den Kontext einigermaßen übersehen und die Bedeutung der Ergebnisse (hoffentlich) richtig einschätzen.
Ein beliebter Untersuchungsgegenstand der Rechtssoziologie sind Konfliktregelungsverfahren. Ich habe mich selbst mehrfach auf diesem Gebiet betätigt. So habe ich mit meinen Mitarbeitern vor nun schon 30 Jahren untersucht, wie Verfahren am Amtsgericht ablaufen und unter welchen Umständen sie mit einem Vergleich abgeschlossen werden. Zuvor hatte ich fast zehn Jahre lang als Zivilrichter gearbeitet. Die Mitarbeiter waren angehende Juristen und Soziologen. Die Fälle, die wir beobachteten, waren unser Alltagserfahrung nicht völlig fremd. So waren wir uns einigermaßen sicher, ein abgrenzbares Phänomen zutreffend zu erfassen und einzuordnen. Die Leser unserer Veröffentlichung [2]Klaus F. Röhl u. a., Der Vergleich im Zivilprozeß. Untersuchungen an einem großstädtischen Amtsgericht, 1983. (hoffentlich gab es welche) dürften in der Lage gewesen sein, Qualität, Bedeutung oder Bedeutungslosigkeit der Arbeit zu verstehen und zu beurteilen. Ähnliches gilt für spätere Untersuchungen über außergerichtliche Streitregelung durch den sogenannten Schiedsmann. [3]1983/84 gab es ein größeres Projekt, in dem meine Mitarbeiterinnen eine klassische Begleitforschung zu einer Neuerung im zivilrechtlichen Güteverfahren vor dem Schiedsmann, die darin bestand, dass … Continue reading
Wenn ich dagegen heute eine Untersuchung über alternative Konfliktregelung in Mulukukú [4]Letitia M. Saucedo/Raquel Aldana (2007): The Illusion of Transformative Conflict Resolution: Mediating Domestic Violence in Nicaragua., einem Dorf in Nicaragua, lese, dann bin ich ziemlich hilflos, wie ich das Gelesene einordnen soll. Nicht viel anders geht es mir, wenn ich eine Untersuchung über Mediationsverfahren bei Gewalt gegen Frauen in einer Kleinstadt in Hawaii zur Kenntnis nehme. Merry beschreibt, wie sich dort unter dem Einfluss der internationalen Menschenrechts- und Frauenbewegung drei Gruppen gebildet haben, die Gewalt gegen Frauen auf ganz unterschiedliche Weise bekämpfen. [5]Sally Engle Merry, Rights, Religion, and Community: Approaches to Violence Against Women in the Context of Globalization, Law and Society Review, 35, 2001, S. 39–88. Eine feministische Gruppe nutzte ein in den USA entwickelte Umerziehungs- und Trainingsprogramm. Eine christliche Sekte (Pfingstkirche) griff zum Mittel ritueller Heilung und der Austreibung böser Geister verbunden mit Familienberatung. Und eine dritte Gruppe verwendete das auf Hawaii traditionelle Verfahren des H’oponopono. Dazu versammelt sich die Familie, betet und bittet um die Hilfe der Götter, um dann in einen Versöhnungsprozess überzuleiten.
Wir werden mit Beispielen aus Afrika, Lateinamerika, und Osteuropa bombardiert. Oft handelt es sich nur um anekdotische Belege. Es gibt zwar auch viele empirische Untersuchungen, die lege artis mit den Methoden der Sozialwissenschaften durchgeführt wurden. Doch selten oder nie gibt es Replikationen, ohne die man in anderen empirischen Disziplinen kein Ergebnis akzeptieren würde. Was aber für die Einschätzung solcher Untersuchungen noch schwerer wiegt, ist ihre Relativität zu einem weitgehend unbekannten Kontext. Wir können kaum übersehen, ob die Untersuchungsergebnisse für den Problemzusammenhang der Globalisierung typisch und damit verallgemeinerungsfähig sind.
Ökologie, Wachstum und Alterung der Bevölkerung, Weltfinanzkrise, die Versorgung der Menschheit mit Lebensmitteln, Energieversorgung der Zukunft und der Umgang mit einer globalen Klimaveränderung – alle diese Themen geben vor dem Hintergrund globaler Ungleichheit reichlich Konfliktstoff ab. Sie sind auf Mikro-, Meso- und Makroebene miteinander verwoben und spiegeln so die ganze Komplexität unserer modernen Welt. In Konfliktsituationen treffen schon auf der Beschreibungsebene beinahe zwangsläufig unterschiedliche Perspektiven aufeinander. Je nach Kontext und Perspektive der Beteiligten werden andere Gesichtspunkte relevant. Daher ist kaum eine einzig richtige Beschreibung einer Situation zu erwarten.
Noch unsicherer werde ich, wenn ich allgemeine Prognosen, Einschätzungen oder Urteile lese, etwa vom Ende der Geschichte, vom Kampf der Kulturen, vom Rechtsimperialismus der westlichen Welt oder von der Verderblichkeit des neoliberalen Staates. Dabei drängt sich auf, dass viele solcher Einschätzungen von starken Werturteilen getragen werden. Wenn es um die Globalisierung geht, können viele Wissenschaftler ihre Kritik an den Zuständen und ihre politische Meinung nur schwer zurückhalten.
Auch die Rechtssoziologie ist nicht frei von Hintergrundtheorien, die man als ideologisch einordnen könnte. Einige Vorannahmen wird man gerne teilen, so die Wertschätzung von Demokratie und Menschenrechten. Andere dagegen sind nicht unproblematisch. Das gilt besonders für die Vorliebe für einen transnationalen Rechtspluralismus von unten und die damit korrespondierende Abneigung gegen staatliche Regulierung und das Völkerrecht als »klassischen Herrschaftsmodus internationaler Politik« [6]Symptomatisch die kurze Einführung von Andreas Fischer-Lescano/Tanja Hitzel-Cassagnes/Eva Kocher/Ulrich Mückenberger für das Schwerpunktheft »Transnationales Recht der Zeitschrift »Kritische … Continue reading, die in systemtheoretische Vorstellungen von Selbstregulierung verpackt wird.
Dennoch gibt es kleinere oder größere Inseln des Wissens. Gelegentlich kann man sich mit einem rough consensus beruhigen. Aber im Großen und Ganzen zeigt uns die Globalisierungsforschung eigentlich nur, wie wenig wir wissen und wissen können. Eine Spur optimistischer dürfen wir vielleicht werden, wenn wir unsere Fragestellung bescheidener formulieren. Dann geht es nicht mehr um die Globalisierung als solche, sondern nur noch um die aktive oder passive Rolle des Rechts im Globalisierungsprozess.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Dazu verweise ich auf frühere Beträge über die von mir so genannte Berichtsforschung: Berichtsforschung als Datenquelle,
Berichtsforschung II, Berichtsforschung: Generationsgerechtigkeit statt Generationengerechtigkeit — Die Verwestlichung der chinesischen Rechtswissenschaft. Alle Reports und Indices sind mit einer Suchmaschine im Internet leicht zu finden.
2 Klaus F. Röhl u. a., Der Vergleich im Zivilprozeß. Untersuchungen an einem großstädtischen Amtsgericht, 1983.
3 1983/84 gab es ein größeres Projekt, in dem meine Mitarbeiterinnen eine klassische Begleitforschung zu einer Neuerung im zivilrechtlichen Güteverfahren vor dem Schiedsmann, die darin bestand, dass für den Gegner eine Erscheinenspflicht angeordnet war, wenn der Antragsteller sich (freiwillig) an den Schiedsmann gewendet hatte (Röhl (Hg.), Das Güteverfahren vor dem Schiedsmann, 1987). Zuletzt war ich mit 2004 auf diesem Gebiet mit einer Untersuchung über die obligatorische Streitschlichtung vor dem Schiedsmann aktiv (Röhl/Weiß, Die obligatorische Streitschlichtung, 2005). Nunmehr ging es darum, dass prospektive Kläger verpflichtet wurden, sich zunächst eine Gütestelle zu wenden, bevor sie klagen durften.
4 Letitia M. Saucedo/Raquel Aldana (2007): The Illusion of Transformative Conflict Resolution: Mediating Domestic Violence in Nicaragua.
5 Sally Engle Merry, Rights, Religion, and Community: Approaches to Violence Against Women in the Context of Globalization, Law and Society Review, 35, 2001, S. 39–88.
6 Symptomatisch die kurze Einführung von Andreas Fischer-Lescano/Tanja Hitzel-Cassagnes/Eva Kocher/Ulrich Mückenberger für das Schwerpunktheft »Transnationales Recht der Zeitschrift »Kritische Justiz (Heft 1/2010) mit dem Titel »Die Vielfalt transnationaler Rechtskreation ›from below‹ ((Symptomatisch die kurze Einführung von Andreas Fischer-Lescano/Tanja Hitzel-Cassagnes/Eva Kocher/Ulrich Mückenberger für das Schwerpunktheft »Transnationales Recht« der Zeitschrift »Kritische Justiz« (Heft 1/2010) mit dem Titel »Die Vielfalt transnationaler Rechtskreation ›from below‹«.

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Eigenlogik – eine neue Supertheorie

So neu ist die Sache eigentlich gar nicht. Aber auf dem Jubiläumskongress der DGS in Frankfurt ist sie mir besonders aufgefallen, die Eigenlogik als universelles Erklärungswerkzeug der Soziologen. Von der Logik der Organisation war da die Rede, von der Logik des Vertrages oder von Sanktionslogik. Die Eigenlogik der Bilder, so habe ich gelernt, liegt darin, dass sie über höhere Evidenz verfügen. Konstitutionslogisch handelt es sich dabei um eine Redensart zur Erklärung des nicht weiter Erklärbaren.
Situationslogik lasse ich mir gefallen. Es handelt sich um einen Begriff aus der soziologischen Handlungstheorie. Wer sich nicht treiben lässt, sondern sinnvoll handeln will, muss sich Ziele oder Zwecke setzen und nach Mitteln fragen, mit denen sie verwirklicht werden können. Er muss also fragen, welche Verhaltensweisen (= Mittel) geeignet sind, eine gegebene Ausgangssituation in eine gewünschte andere Situation (= Zweck) zu überführen. Ein Zweck kann darauf beschränkt sein, den gegebenen Zustand vor Veränderungen zu bewahren, eine Entwicklungstendenz zu beschleunigen oder sie zu bremsen. In manchen Situationen drängen sich bestimmte Handlungsstrategien geradezu auf. Situationen dieser Art werden von der Spieltheorie beschrieben. Insofern ist es angezeigt von einer Eigenlogik der Situation oder Situationslogik zu sprechen. Oft wird der Ausdruck gleichbedeutend mit »Rationalität« oder häufiger noch im Plural »Rationalitäten« gebraucht. Für die Frage, wie die Situation von den handelnden Personen »definiert« wird, sind Psychologie und Soziologie zuständig. [1]Zur Orientierung und als Quelle für Nachweise vgl. Hartmut Esser, Die Definition der Situation, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 48, 1996, 1-34.
Entstanden ist die Rede von der Eigenlogik anscheinend zur Ersetzung von Luhmann geprägter Begriffe der Systemtheorie. Anstatt von autopoietischer Schließung und der daraus folgenden Autonomie sprechen manche von der »Eigenlogik« oder »Eigenrationalität« der Systeme. Gemeint ist damit, dass Systeme bestimmten Sachzwängen oder funktionalen Imperativen gehorchen und/oder, dass sie eine relative Autonomie besitzen. Wo zwei Systeme aufeinandertreffen, ist dann von Rationalitätenkonflikten die Rede: Die Wirtschaft arbeitet nach einer anderen »Logik« als die Politik; Religion und Wissenschaft können sich schwer verstehen; der Arbeitsmarkt fordert den räumlich und zeitlich mobilen Arbeitnehmer (Arbeitsmarktlogik), der den Anforderungen einer Familie (Familienlogik) kaum genügen kann, usw.
Bei Marc Amstutz [2]Evolutorisches Wirtschaftsrecht, 2001, S. 184 etwa lesen wir:

Die »Eigenlogik des Rechtsystems markiert nun gerade die äußerste Grenze der Variabilität seiner Normen. «

Von Teubner [3]Google Books findet den Ausdruck »Eigenlogik« in Teubners »Recht als autopoietisches System« vier Mal (auf S. 60, 92, 123 und 149). etwa erfahren wir, dass die Globalisierung sich »polyzentrisch« entwickelt; es entsteht eine Vielzahl von transnationalen Rechtsregimen, die den Eigenlogiken der jeweiligen gesellschaftlichen Teilsysteme folgen, die sich als solche zu Weltsystemen entwickelt haben. Dieses transnationale Recht wird nicht durch das Völkerrecht koordiniert, und es fügt sich erst recht in keinen Stufenbau und wird von keiner einheitlichen Gerichtshierarchie kontrolliert. Daraus entstehen »Regimekollisionen«, denn die jeweiligen transnationalen Rechtsregime orientieren sich an der Eigenlogik ihres Funktionssystems. Die WTO z.B. ist Teil des Wirtschaftssystems und setzt auf wirtschaftliche Rationalität mit der Folge, dass der Freihandel den Gesundheitsschutz behindert oder der weltweite Patentschutz angestammte Kulturtechniken in die Illegalität abdrängt. Mir erscheinen die »Eigenlogik« jeweils systemspezifischer transnationaler Rechtsentwicklungen und die daraus folgenden »Rationalitätenkonflikte« eher als Artefakte der zugrunde liegenden Theorie. Sie werden aus der »operativen Schließung« der Systeme abgeleitet, und Systeme wiederum sind per definitionem »autonom«.
Bei Systemtheoretikern hat die Eigenlogik einen festen Platz im Theoriegebäude. Doch sie wird auch ohne Theoriebezug verwendet. Einige Beispiele:
Aus dem 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung (2. Aufl. 2009, BT Drucksache 16/12860, S. 61):

»Der Körper ist einerseits sperrig und widersetzt sich in seiner spezifischen Eigenlogik der vollständigen Instrumentalisierung.«

ind ebenda S. 71:

»… Themen wie … die Analyse unerwünschter Nebenwirkungen ›fürsorglicher Belagerung‹ und ihrer institutionellen Eigenlogiken …«

Oder: Aus Uwe Vormbusch, Die Kalkulation der Gesellschaft, in: Andrea Mennicken/Hendrik Vollmer (Hg.), Zahlenwerk, Kalkulation, Organisation und Gesellschaft, 1. Aufl., Wiesbaden 2007, S. 43-64, S. 54.

»Form und Ergebnisse der in dieser Weise stimulierten Aushandlungsprozesse folgen einerseits einer gewissen (argumentativen und ›realweltlichen‹) Eigenlogik, andererseits sind sie eine Funktion der zugrunde gelegten Taxonomie und der Fähigkeit kalkulativer Praktiken, soziale Phänomene in organisierbare, komplexitätsreduzierte und handhabbare Größen zu transformieren.«

Der Begriff der Eigenlogik ist weitgehend zu einer bloßen Redensart verkommen, so etwa, wenn von einer »Eigenlogik der Städte« gesprochen wird, oder, wenn »Eigenlogik« und »Verzahnung« als Begriffspaar verwendet werden. Sehr hübsch eine Internetseite, die Beispielsätze mit »Eigenlogik« ins Englische übersetzt. Früher hätte man in vielen Fällen, für die heute von Eigenlogik die Rede ist, vom Wesen oder von der Natur der Sache gesprochen. Diese Redeweisen sind nicht ohne Grund in Verruf gekommen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Zur Orientierung und als Quelle für Nachweise vgl. Hartmut Esser, Die Definition der Situation, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 48, 1996, 1-34.
2 Evolutorisches Wirtschaftsrecht, 2001, S. 184
3 Google Books findet den Ausdruck »Eigenlogik« in Teubners »Recht als autopoietisches System« vier Mal (auf S. 60, 92, 123 und 149).

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Von der geschlechtsspezifischen Bürgerschaft zum geschlechtsspezifischen Management

Durch ein Rundschreiben der Nationalen Kontaktstelle Sozial-, Wirtschafts- und Geisteswissenschaften – Ausgabe 20/2010 bin ich auf ein Seminar mit dem Titel »Geschlechtsspezifische Bürgerschaft im multikulturellen Europa« aufmerksam geworden. Der Begriff der geschlechtsspezifischen Bürgerschaft ist für mich neu. Durch Gugeln bin ich nur noch auf eine weitere Quelle gestoßen, die beiläufig besagt, dass da jemand eine Dissertation zu diesem Thema in Mexiko fertigstellen will. Das englische Original gendered citizenship führt ein Stück weiter. Da findet sich in der viel geschmähten Sammlung von Google ein Buch der Inderin Anapama Roy mit dem Titel »Gendered Citizenship. Historical and Conceptual Explorations« von 2005, bei dem – wie in vielen anderen Büchern auch – der interessanteste Teil die Einleitung ist, die die geistesgeschichtliche Entwicklung des Begriffs »citizenship« referiert. So habe ich gelernt, dass das Konzept der Bürgerschaft ursprünglich für weiße Männer in einer Klassengesellschaft entwickelt worden sei und daher den Bedürfnissen besonderer kultureller Gruppen nicht Rechnung trage. Darauf reagiere der Gegenentwurf einer differenzierten Bürgerschaft, der die Mitglieder gewisser kultureller Gruppen nicht bloß als Individuen, sondern als Angehörige der Gruppe begreife, die für ihre besonderen Bedürfnisse sorge. Man kann sich dann selbst ausrechnen, was gendered citizenship meinen könnte. Aber das interessiert mich gar nicht wirklich. Interessant fand ich dagegen den einzigen deutschen Text, in dem – wie bereits erwähnt – jedenfalls am Rande die geschlechtsspezifische Bürgerschaft auftaucht. Es handelt sich um eine von der EU gesponserte Studie über »Geschlechterquoten bei Wahlsystemen und ihre Umsetzung in Europa« aus dem Jahre 2008. [1]Die Autorenschaft ist so kompliziert, dass sie in die Fußnote verbannt wird. Verfasser: Drude Dahlerup und Lenita Freidenvall mit Unterstützung von Eleonora Stolt, Katarina Bivald und Lene … Continue reading Die bietet harte Rechtstatsachenforschung. Es geht darum, ob und unter welchen Umständen gesetzliche Geschlechterquoten oder von den Parteien freiwillig eingeführte Quoten ihre Wirkung tun. Da scheiden, wie der Vergleich von Deutschland und Frankreich zeigt, parteiinterne Quoten nicht schlechter ab. Das liegt vielleicht daran, dass die Parteien sozusagen die Türhüter der Wahllokale sind.
Nachdem in Deutschland und vielen anderen Ländern der emanzipatorische Feminismus seine Gleichberechtigungsziele erreicht hat, ist nun neben dem kulturellen Feminismus der Leadership-Feminismus angesagt. Dabei geht es um die Repräsentation von Frauen nicht nur in der Politik, sondern auch in Führungspositionen der Wirtschaft. In Analogie zur geschlechtsspezifischen Bürgerschaft kann man von geschlechtsspezifischem Management sprechen. Bisher gibt es den Begriff anscheinend nur in der Medizin, z. B. in der Knie-Endoprothetik.
Während für die Politik in Deutschland parteiinterne und in vielen andern Ländern auch gesetzliche Frauenquoten mehr oder weniger akzeptiert sind, sind sie für die Wirtschaft heftig umstritten. Heute will die EU-Kommissarin Viviane Reding eine Europäische Gleichstellungsrichtlinie vorlegen: 2015 soll der Frauenanteil in Aufsichtsräten 30 Prozent betragen, 2020 sollen 40 Prozent Frauen in Spitzenpositionen der Wirtschaft vertreten sein. Bisher liegt der Frauenanteil für ganz Europa wohl nur bei drei Prozent, bei deutschen DAX-Unternehmen immerhin bei 13 %. Damit stellt sich die Frage, ob auch in der Wirtschaft »freiwillige« Quotenregelungen die gleiche oder bessere Wirkung haben als obligatorische. Rechtssoziologische Empirie kommt da vermutlich, wie so oft, zu spät. Empiriefreie Paradoxologie könnte aber vielleicht das Paradoxon des paternalistischen Feminismus entfalten und invisibilisieren.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Die Autorenschaft ist so kompliziert, dass sie in die Fußnote verbannt wird. Verfasser: Drude Dahlerup und Lenita Freidenvall mit Unterstützung von Eleonora Stolt, Katarina Bivald und Lene Persson-Weiss, Forschungszentrum ›Women in Politics (WIP)‹, Abteilung Politikwissenschaft der Universität Stockholm, in Zusammenarbeit mit International IDEA

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