Landauf, landab finden Tagungen und Symposien zur gerichtlichen Mediation statt. Die Akzeptanz in den Medien ist enorm. Den Protagonisten gelingt es, in erstaunlicher Weise, Prominenz aus Wissenschaft, Rechtspolitik und sogar »Gesellschaft« zu mobilisieren. Das sieht man auf einem Video über ein vom Contarini-Institut an der Fernuniversität Hagen veranstaltetes Mediationssymposium im Bayerischen Hof in München im Herbst 2008. Gemeinsam beschwören alle den Beginn einer neuen Streitkultur. Der interessierte Beobachter hat jedoch den Eindruck, dass vielen und schönen Worten nur wenige Taten folgen: Es fehlt eine nennenswerte Nachfrage.
Vor etwa 30 Jahren hatte die Rechtssoziologie die Defizite gerichtlicher Konfliktlösung beschrieben und Vorschläge zur alternativen Streitregelung aus den USA importiert. Damals ging es um Community Justice und Neighborhood Justice Centers. In der Folgezeit suchte man zunächst in der alten Bundesrepublik nach Resten außergerichtlicher Streitregelung etwa beim Schiedsmann, in den Güte- und Schlichtungsstellen für Verbraucher und in den Vergleichsbemühungen der Gerichte. Die Suche bekam nach der Wiedervereinigung noch einmal Auftrieb, weil man, in der Hoffnung, irgendetwas Brauchbares im Nachlass der DDR zu finden, die sog. Konfliktkommissionen ins Visier nahm. Doch es änderte sich wenig oder nichts.
Etwa ab 1990 entdeckte eine neue Juristengeneration (Breidenbach, Duve, Eidenmüller, Birner, Prause) noch einmal in den USA die »ADR« (Alternative Dispute Resolution), wie sie nun hieß. Orientierungspunkt war jetzt das Harvard Negotiation Project. Dafür hatten Fisher und Ury eine lehr- und lernbare Vermittlungstechnik entwickelt. Diese Technik wurde nun auch in Deutschland bekannt und verbreitet. Was bisher schlicht unter Vermittlung lief, bekam einen neuen Namen: Mediation. Eigentlich nur das englische Wort für Vermittlung, wirkte der Begriff in Deutschland wie eine Zauberformel. Unter diesem Zauberspruch sammelten sich Juristen und einige Angehörige anderer Professionen, die hofften, hier ein neues Berufsfeld etablieren zu können, auf dem sich ihre Neigung einer gesellschaftlich wertvollen Tätigkeit mit dem Broterwerb verbinden ließ. Sehr schnell wurden diese Idealisten von der Ausbildungsindustrie entdeckt. Die Mediatorenausbildung wurde Vorreiter all der Zusatzstudiengänge, mit denen sich heute die Hochschulen vermarkten. Es gibt in Deutschland zur Zeit angeblich 6000 ausgebildete Mediatoren, aber vermutlich nicht einmal für jeden von ihnen jedes Jahr einen Fall.
Mehr oder weniger alle Autoren, die über ADR schreiben, sind davon überzeugt, dass sie es mit einer Erfolgsgeschichte zu tun haben. Sie stützen sich dabei auf zahlreiche Evaluationen einzelner ADR-Projekte, die fast ausnahmslos positiv ausfallen. Ich spreche von einem Naturgesetz der Vermittlung: Etwa zwei Drittel aller Streitigkeiten werden gütlich geregelt werden, wenn sich die Parteien sich in ein Vermittlungsverfahren begeben. Kaum weniger groß ist die Übereinstimmung, dass alternative Verfahren regelmäßig kürzer dauern als Gerichtsverfahren, dass sie geringere Kosten verursachen, dass sie von den Beteiligten als weniger belastend empfunden werden und dass auch die Umsetzung des Verfahrensergebnisses erfolgreicher ist als die Vollstreckung eines Gerichtsurteils. Die Theorie hinter der Mediation scheint also zu stimmen. Trotzdem fristen die alternativen Streitregelungsverfahren neben der Justiz nur das Dasein eines Mauerblümchens. Ihr Angebot wird vom Publikum nicht angenommen. Sie leben von den Fällen, die ihnen von der Justiz überwiesen werden. Gewisse Erfolge, wie sie anscheinend in den USA erreicht worden sind, beruhen auf massiver Steuerung, nämlich darauf, dass die Parteien gesetzlich in die gerichtsverbundene Mediation gezwungen werden.
Auch in Deutschland hat die Justiz seit 2002 mit Hilfe des damals neuen § 278 ZPO die Mediation für sich entdeckt Die gerichtsverbundene Mediation löst drei Probleme auf einen Schlag. Erstens: Sie überwindet mangelnde Akzeptanz der Mediation durch sanften Druck. Wer sich »uneinsichtig« zeigt, indem er seine Zustimmung verweigert, muss mindestens subjektiv damit rechnen, dass das Gericht ihm sein Wohlwollen entzieht und im streitigen Verfahren von den zahlreichen Sanktionsmöglichkeiten Gebrauch macht, die ihm zur Verfügung stehen. Zweitens: Sie verursacht keine zusätzlichen Kosten. Drittens: Falls sie scheitert, führt das begonnene Gerichtsverfahren doch irgendwie zu einem Ende des Konflikts. Da kann man Mediation ruhig ausprobieren und, wenn nicht genug heraus kommt, immer noch auf ein günstigeres Urteil hoffen. Es ist sozusagen die List der Vernunft, dass es dann doch meistens zu einem Kompromiss kommt, wenn man sich erst einmal auf das Mediationsverfahren eingelassen hat. Die gerichtsverbundene Mediation ist anscheinend sehr erfolgreich, soweit es darum geht, die Parteien an den Verhandlungstisch zu bringen und die Vermittlung zu einem guten Ende zu führen (Projektabschlussbericht Niedersachsen). Kein Wunder. Die Justiz trägt alle Kosten. Die Verbreitung der gerichtsverbundenen Mediation beschränkt sich bisher auf wenige Pilot- oder Projektgerichte. Massenwirksam ist sie noch nicht.
Das (erste) Mediationsparadox haben McEwen und Milburn beschrieben: Man muss die Streithähne mehr oder weniger an den Verhandlungstisch nötigen, damit sie freiwillig zu einer Einigung gelangen. Man muss sie sozusagen zu ihrem Glück zwingen, denn obwohl sie am Anfang meist unwillig waren, sind sie am Ende doch ganz überwiegend sehr zufrieden. Das ist die in der Literatur vielfach bestätigte Erfahrung. Als zweites Mediationsparadox bezeichne ich den Gegensatz zwischen der publizierten Akzeptanz von konsensualer Streitschlichtung und den guten Erfolgsaussichten von Mediationsverfahren auf der einen und dem mangelnden Zulauf auf der anderen Seite.
Die Verfechter der Mediation – Gegner gibt es praktisch kaum – behaupten einen positiven Trend. Aber Zahlen nennen sie nicht. Die gemeldeten Erfolge zeigen sich am Einzelfall und sind damit qualitativ. Der gesellschaftliche Erfolg alternativer Verfahren lässt sich jedoch nicht ohne quantitative Aspekte beurteilen. Eine große, vom Bundesministerium der Justiz beim Max-Planck-Institut für ausländisches und Internationales Privatrecht in Hamburg in Auftrag gegebene Untersuchung über 20 Staaten trägt den Untertitel »Rechtstatsachen, Vergleich, Regelungen«. Aber die beigebrachten Rechtstatsachen sind kümmerlich. Statistiken über die Verwendung von Mediationsverfahren werden schlicht für irrelevant erklärt:
»… dass sich die Mediation nicht statistisch erfassen und bewerten lässt. Ihre Wirkung und Bedeutung für die Rechtspraxis ergibt und erklärt sich vielmehr erst im Zusammenspiel mit dem Rechtsumfeld und der Streitbewältigungskultur. in der sie eingebettet ist. Eine für diese Zusammenhänge unempfindsame Addition und Division der in den Länderberichten erfassten Daten brächte daher keinen Erkenntnisgewinn.«
Massive Zahlen liegen nur für China und Japan vor. In China sollen 2004 von den Volksschlichtungskomitees 4.492.157 Fälle behandelt worden sein, während 4.492.157 Fälle an die Volksgerichte erster Instanz gelangten . Ich verstehe weder Japanisch noch Chinesisch und vermag diese Zahlen daher nicht einzuschätzen.
In Deutschland gibt es immerhin eine halbamtliche Statistik für den Täter-Opfer-Ausgleich, die Vollständigkeit für sich in Anspruch nimmt . Sie beginnt 1993 mit einem Fallaufkommen von 1238, erreicht 1999 einen Höhepunkt mit 5177 Fällen und liegt seit 2003 deutlich unter 3000. Wenn man daneben hält, dass jährlich etwa 800.000 Verurteilungen erfolgen, so sind die Zahlen wenig eindrucksvoll.
Auch für die USA fehlt an brauchbaren Globalzahlen. Prause spricht von der Messung des Unmessbaren . Er schlägt ein indirektes Messverfahren vor, nämlich einen Mediation Receptivity Index (MRI) nach Analogie des Corruption Perceptivity Index. Andere Autoren verweisen auf den aus der Statistik belegbaren Rückgang förmlicher Urteile, ein Phänomen, das als vanishing trial bzeichnet wird, und schließen daraus auf eine Zunahme von ADR.
Der MRI geht auf einen Vorschlag von Frank E. Sander zurück und ist von Prause operationalisiert worden. Die Ankündigung klingt verheißungsvoll:
»Mediation Receptivity describes the level of use and awareness of mediation as a means to resolve disputes in a particular environment and the level of supporting infrastructure.« (Prause S. 139).
In den Mediation Receptivity Index gehen als »objektive Indikatoren« keine Fallzahlen, sondern Angaben über die vorhandenen Einrichtungen, die Mediation anbieten, über die Mitgliederzahl der Organisationen, die sich um ADR kümmern, über akademische Publikationen zum Thema, über Vorkehrungen der Einzelstaaten zur Implementation des Uniform Mediation Act und über das Vorhandensein eines State ADR Office ein. Als subjektive Elemente kommen Einschätzungen von Experten hinzu. Auf diese Weise sollen die Staaten der USA nach ihrer Mediation Receptivity auf einer Skala von 1 bis 10 eingeordnet werden. Wollte man Deutschland in den MRI einreihen, so gäbe es vermutlich einen guten Platz. Die Zahl der Einrichtungen zur alternativen Streitregelung in den USA liegt heute wohl im vierstelligen Bereich. Aber das ist gar nicht so viel, wenn man die Größe des Landes berücksichtigt und bedenkt, dass es in Deutschland über 5000 kommunale Schlichtungsstellen und allein in Nordrhein-Westfalen 1.258 Schiedspersonen gibt. Landauf, landab treffen sich in Deutschland Mediations-Experten auf Tagungen und Symposien und verkünden ihre positive Einschätzung. Die Literaturproduktion ist erheblich, die Akzeptanz in den Medien groß. Doch all das ändert nichts daran: Alle loben die Mediation, aber niemand verzichtet deshalb auf eine Klage.
In den USA stützt sich der Konsens, dass ADR allgemein akzeptiert werde und auch quantitativ enorm gewachsen sei, auf ein Phänomen, das als »vanishing trial« bekannt ist. Gemeint ist die Tatsache, dass im Laufe der Jahre die Zahl der streitigen Urteile stark zurückgegangen ist. Marc Galanter, der dieses Phänomen näher untersucht hat, fasst es wie folgt zusammen:
»The portion of federal civil cases resolved by trial fell from 11.5 percent in 1962 to 1.8 percent in 2002, continuing a long historic decline. More startling was the 60 percent decline in the absolute number of trials since the mid 1980s. The makeup of trials shifted from a predominance of torts to a predominance of civil rights, but trials are declining in every case category. A similar decline in both the percentage and the absolute number of trials is found in federal criminal cases and in bankruptcy cases. The phenomenon is not confined to the federal courts; there are comparable declines of trials, both civil and criminal, in the state courts, where the great majority of trials occur. Plausible causes for this decline include a shift in ideology and practice among litigants, lawyers, and judges. …Within the courts, judges conduct trials at only a fraction of the rate that their predecessors did, but they are more heavily involved in the early stages of cases. Although virtually every other indicator of legal activity is rising, trials are declining not only in relation to cases in the courts but to the size of the population and the size of the economy.« .
Es liegt nahe, diesen Wandel der wachsenden Bedeutung von ADR zuzuschreiben. Aber der Zusammenhang ist nicht klar. Aber der Trend hält schon viel länger an, und aus der Statistik gibt es keinen Beleg . Die Zahlen, die genannt werden – 24.000 Verweisungen bei den Bundesgerichten, das entspricht etwa 10 % der Eingänge – sind noch nicht wirklich eindrucksvoll. In einzelnen Staaten – besonders in Florida, Kalifornien und Ohio – erreicht die ADR aber wohl eine Größenordnung von 20 % der Eingänge bei den Gerichten.
In Deutschland ist kein vergleichbarer Schwund des Anteils der streitig entschiedenen Gerichtsverfahren zu beobachten. Das gilt grundsätzlich sowohl für Zivilprozesse wie für Strafsachen. In Zivilprozesssachen hat es allerdings einen einmaligen Rückgang der Urteilsquote um 5 % (von etwa 30 auf 25 %) und einen entsprechenden Anstieg der Vergleichsquote gegeben, und zwar 2001/2002, anscheinend als Folge einer Änderung der Zivilprozessordnung. Immerhin. Eine Erklärung für die andere Entwicklung in Deutschland liegt sicher darin, dass hier die Hürden zum streitigen Urteil viel niedriger liegen als in den USA zum »trial«. Die gerichtsabhängige Mediation ist in Deutschland bisher erst bei einigen Pilotgerichten eingerichtet und allein deshalb noch nicht mengenwirksam.
Die gerichtsunabhängige Mediation hat nur Nischenplätze erobern können. Eine solche Nische bilden Familien- und Ehestreitigkeiten und wohl auch Erbstreitigkeiten. Doch auch dafür gibt es nur eine kleine Klientel, vergleichbar, aber viel kleiner noch, als die Gruppe derer, die in Naturkostläden einkaufen oder für die Versorgung mit Strom aus alternativen Quellen einen höheren Preis in Kauf nehmen. Zahlen habe ich nicht gefunden.
Die professionelle Mediation ist ein personal- und zeitaufwendiges Verfahren. Nur wenige Konflikte rechtfertigen diesen Aufwand. Deshalb konzentriert sich das freie Mediationsangebot auf zwei Felder, in denen es nicht nur Konflikte gibt, sondern auch Geld vorhanden ist, nämlich auf die Mediation bei umstrittenen umweltrelevanten Planungsvorhaben und auf die Wirtschaftsmediation. Für die Umweltmediation wird von der Mediationsindustrie viel Reklame gemacht. Es hat indessen nur wenige Verfahren gegeben, und die waren kaum erfolgreich. Es fehlt nicht an Beteuerungen, dass die Wirtschaftsmediation immer mehr an Fahrt gewinne und höchst erfolgreich sei. Doch Genaues weiß man nicht. Es gibt eine Menge Literatur, die die Wirtschaftsmediation anpreist, aber nur vereinzelt Berichte über erfolgreich verlaufene Verfahren (z. B. Kraus 1999). In einer Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Price Waterhouse Coopers von 2005 heißt es, dass das Interesse der Wirtschaft an Mediation stark gestiegen sei, betont wird jedoch zugleich der »offenkundige Widerspruch«, dass die Unternehmen zwar versuchten, Streitigkeiten zunächst durch Verhandlungen zu lösen, im Falle des Scheiterns aber meistens direkt den Weg zum Gericht wählten. Auch wenn man berücksichtigt, dass naturgemäß keine offiziellen Statistiken vorhanden sind und dass die einzelnen Verfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, müssten doch die Protagonisten konkretere Angaben über Art und Umfang der Verfahren machen können.
Eine befriedigende Erklärung für so viel Mediationsabstinenz sehe ich nicht. Am wenigsten taugt die übliche Begründung, das Publikum sei über die Vorzüge der Mediation nicht hinreichend aufgeklärt und verharre daher im Konfrontationsdenken, die sog. ignorance hypothesis. Dazu und über andere Erklärungen weiterführend McEwen/Milburn S. 25 ff.
Nachtrag vom 4. 3. 2015:
Anscheinend wird Rsozblog gelegentlich gelesen. Jedenfalls bin ich aus dem Niedersächsischen Justizministerium auf die Einträge zur Mediation angesprochen und gebeten worden, am dem nächsten Konfliktmanagementkongress in Hannover teilzunehmen. Es handelt sich immerhin um den 12. Kongress dieser Reihe. Das ist Anlass, die Internetseite mit einigen Daten über die Vorläufer mitzuteilen: http://www.km-kongress.de/.
Der (mir unbekannte) Verband Integrierte Mediation unterhält eine gut gemachte Internetseite. Ganz interessant die Seite »Mythen der Mediation«.
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