Empirisches über die Unbestimmtheit von Gesetzestexten

Oft streitet man sich darüber, ob man sich über den Sinn eines Gesetzes streiten kann. Ward Farnsworth, Dustin F. Guzior und Anup Malani haben sich dem Problem empirisch genähert (Ambiguity About Ambiguity: An Empirical Inquiry into Legal Interpretation). Sie haben einer Auswahl von 900 Juristen im ersten Studienjahr verschiedene Gesetze vorgelegt, bei denen an Hand eines Falles zu entscheiden war, ob der Wortlaut eindeutig sei. Beispiel:

A federal statute, 21 U.S.C. § 841(b), provides for a mandatory minimum sentence of five years for anyone who distributes more than one gram of a “mixture or substance containing a detectable amount of lysergic acid diethylamide (LSD).” The defendant was caught distributing LSD that had been dissolved and sprayed onto blotter paper. The weight of the LSD alone was 50 milligrams, well below the statutory threshold. But if the weight of the blotter paper was included, the total weight was five grams, well above the statutory threshold.

Die Frage ist also, ob nach diesem Gesetz das Gewicht des Löschpapiers eingerechnet wird, oder ob nur das Gewicht der LSD-Substanz maßgeblich ist. Im letzteren Falle wäre der Beschuldigte nicht strafbar.
Die befragten Studenten wurden in drei Gruppen eingeteilt. Die erste Gruppe wurde gefragt, ob sie selbst die Bestimmung für klar hielten. Die Probanden in der zweiten Gruppe erhielten die Frage, ob die Annahme plausibel sei, dass man das Gesetz auf verschiedene Weise auslegen könne, und die dritte Gruppe wurde gefragt, ob nach ihrer Ansicht ein Durchschnittsleser mit englischer Muttersprache das Gesetz als eindeutig oder mehrdeutig ansehen würde. Bei allen Probanden wurden dann die politischen Präferenzen ermittelt, und zwar indirekt mit der Frage, wie nach ihrer Ansicht der Fall fairerweise entschieden werden solle (pro defendant vs. pro government). Entsprechende Fragen wurden zu acht solcher Fälle gestellt. Als Ergebnis kam heraus, dass die eigene Auffassung über die Mehrdeutigkeit der Gesetze deutlich stärker von den politischen Präferenzen der Befragten beeinflusst wurde als die Vermutung über die Interpretation durch den Normalleser. Man kann auch formulieren: Die Einschätzung eines Gesetzes als bestimmt oder unbestimmt hängt bis zu einem gewissen Grade davon ab, ob einem das Ergebnis gefällt.
Der Originaltext der Untersuchung steht bei SSRN zum Download zur Verfügung.

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Outsourcing der Gesetzgebung

Heute nur ein schneller Link auf einen Artikel des gewöhnlich gut informierten Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung über die Kapitulation des Wirtschaftsministeriums vor der eigenständigen Erarbeitung von Gesetzentwürfen: http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/996/483443/text/
Nachtrag vom 12. 8. 2009
Der beginnende Wahlkampf macht die Sache zum Thema. Heute findet man in den Zeitungen die Nachricht, die Bundesjustizministerin (SPD) habe dem Wirtschaftsminister (CSU) Verschwendung von Steuergeldern vorgeworfen, weil er das Bankengesetz durch eine Anwaltskanzlei habe entwerfen lassen. Über diesen Streit kommt zur Sprache, dass es sich längst um eine nicht ganz ungewöhnliche Praxis handelt. Dazu auf faz.net der Artikel »Ein Fall für den Rechnungshof«.
Einige Details in den Antworten der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage zu Dienstleistungsaufträgen der Bundesregierung im Rahmen der Finanzmarktgesetzgebung Drucksache 16/12172 sowie auf eine schriftliche Frage des MdB Neskovic zur Beteiligung externer Mitarbeiter oberster Bundesbehörden in der 16. Legislaturperiode an der Erarbeitung von Gesetzentwürfen und gezahlte Honorare in Drucksache 16/12182 S. 17.
Und hier weiterer Artikel zum Thema aus der FAZ vom 14. 8., der mir wegen einer gelungenen Infografik gefällt: »Über Gesetze entscheiden Politiker selbst«.
Nachtrag vom 30. 11. 2009:
Im August habe ich die Dinge wohl doch zu arglos gesehen. Die ganze (?) Dimension wird jetzt deutlicher, nachdem die Whistleblower-Seite Wikileaks große Teile der Toll-Collect-Dokumente ins Netz gestellt hat. Ich habe sie nicht selbst durchgelesen, sondern nur einmal hineingesehen, sozusagen um auf den Geschmack zu kommen. Im Übrigen verlasse ich mich auf die Analyse in Heise-Online. Auf der Heise-Seite auch der noch interessantere Artikel von Detlef Borchers LKW-Maut: Warum sind die Maut-Verträge geheim? in c’t Magazin vom 26. 1. 2009. Hinzuweisen ist auch auf ein Buch von Kim Otto und Sascha Adamek: Der gekaufte Staat. Wie Konzernvertreter in deutschen Ministerien sich ihre Gesetze selbst schreiben, 2008.
Nachtrag vom 29. 9. 2010:
Dazu heute ein ganz informativer Artikel von Joachim Zahn in der heimlichen Juristenzeitung, allerdings wieder nur für Abonnenten zugänglich. Man erfährt unter anderem, dass es an der HU Berlin eine Tagung zum Gesetzgebungsoutsourcing gegeben hat.

Nachtrag vom 4. 3. 2015:
Literaturhinweis:
Martin Döhler, Gesetzgebung auf Honorarbasis?– Politik, Ministerialverwaltung und das Problem externer Beteiligung an der Gesetzgebung Rechtsetzungsprozessen, Politische Vierteljahresschrift 53 , 2012, 181-210.
Klaus Meßerschmidt, Private Gesetzgebungshelfer – Gesetzgebungsoutsourcing als privatisiertes Regulierungsmanagement in der Kanzlerdemokratie?, Der Staat 2012, Der Staat 2012, Vol. 51, No. 3: 387–415.

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Nachtrag zu »Citizen by Proxy – Entwicklungstendenzen der rechtlichen Stellvertretung«

Das Posting vom 10. Mai »Kreissl zur soziologischen Zeitdiagnose« trägt eine irreführende Überschrift. Es geht eigentlich um Tendenzen der Entwicklung von fürsorgender oder treuhänderischer Stellvertretung. Deshalb hier unter neuer Überschrift ein Hinweis, den ich sonst als Nachtrag an das alte Posting angehängt hätte: In der Politischen Vierteljahresschrift 50, 2009, 50-74, haben Achim Goerres und Guido Tiemann den Artikel »Kinder an die Macht? Die politischen Konsequenzen des stellvertretenden Elternwahlrechts« veröffentlicht. Sie zeigen auf, dass Eltern und Nichteltern (kaum) unterschiedliche Parteipräferenzen haben und simulieren die Auswirkung einer Reform, die nur gering wäre. Das gehört jedenfalls am Rande zum Thema. Der Aufsatz ist unter http://www.mpifg.de/pu/mpifg_ja/PVS_1-09_Goerres_Tiemann.pdf als MPlfG Journal Article verfügbar.

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Qualitätsarbeit der Justiz II

Im Anschluss an den Beitrag vom 17. März 2009 zur Qualität richterlicher Entscheidungen ein Nachtrag: Als Beispiel 8 hatte ich einen Bericht des Magazins frontal21 des ZDF vom 24.02.2009 angeführt, nach dem Staatsanwalt und Haftrichter Fluchtgefahr angenommen hatten, weil das Haus des Beschuldigten in der Zwangsversteigerung sei, was tatsächlich nicht zutraf. Da es sich hierbei um einen Umstand handelt, der schnell und eindeutig zu klären ist, muss wohl von einem echten Justizfehler ausgegangen werden. Der Fall stützt leider die Befürchtung, dass der Richtervorbehalt, der gravierende Eingriffe in die Grundrechte überwachen soll, nicht so sorgfältig gehandhabt wird, wie man es erwarten darf. Diese Befürchtung ist vor einigen Jahren durch eine Untersuchung von Otto Backes und Christoph Gusy begründet worden:
Wer kontrolliert die Telefonüberwachung?
Eine empirische Untersuchung zum Richtervorbehalt bei der Telefonüberwachung
Peter Lang Frankfurt, 2003
Hier die Zusammenfassung:

»Polizei und Staatsanwaltschaft dürfen im Ermittlungsverfahren Methoden zur Gewinnung von Informationen über Tat und Täter einsetzen, die massiv in Rechte der Beschuldigten oder der mit ihnen in Verbindung gebrachten Personen eingreifen. Um diese frühzeitigen Eingriffe rechtsstaatlich abzusichern, ist ihre Anordnung grundsätzlich einem Richter vorbehalten. Die auf Aktenanalysen und Interviews beruhende empirische Studie geht der Frage nach, wie der gesetzlich vorgeschriebene Richtervorbehalt bei der Telefonüberwachung in der Praxis gehandhabt wird. Sie führt zu dem Befund, dass die Richter fast immer dem Überwachungsantrag stattgeben und der Richtervorbehalt eher selten auf einer, wie vom Verfassungsgericht gefordert, eigenständigen Entscheidung der Richter beruht.«

Eine Kurzfassung des Abschlussberichts steht im Internet zur Verfügung.

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Gerichtsmanagement

Zu den Themen, mit denen ich mich viel beschäftigt habe, gehören die Alternativen zum Recht und zur Justiz und das Gerichtsmanagement. Auf das zweite Thema bin ich eigentlich über das erste gekommen, denn seit der berühmten Pound-Konferenz wurde von den Justizverwaltungen in den USA »ADR« als Mittel zur Entlastung der Justiz propagiert. Eigentlich wollte ich mich jetzt ganz auf die Rechtssoziologie konzentrieren. Aber nun habe ich doch noch wieder zwei Einladungen angenommen, das Gerichtsmanagement noch einmal zum Thema zu machen. Die Suche nach Neuigkeiten führt natürlich über das Internet in die USA. Da zeigt sich, dass zwei altbekannte Quellen, nämlich das Federal Judicial Center und das National Center for State Courts ihre Webseiten inzwischen so aufgeladen haben, dass sie wirklich ergiebig sind. Deshalb nehme ich sie vorübergehend auch in meine Linkliste auf.
http://www.ncsconline.org/
http://www.fjc.gov/

Nachtrag vom 17. Juni 2022: Das Gerichtsmanagement ist heute ganz auf Digitalisierung ausgerichtet. Über den Sachstand in Deutschland berichtet eine Untersuchung vom Juni 2022: Boston Consulting Group/Bucerius Law School/Legal Tech Association, The Future of Digital Justice.

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Qualitätsarbeit der Justiz

Am 19. und 20 März findet in Dresden ein »Symposium Justizlehre« statt, das vom Staatsminister der Justiz und dem Sächsischen Oberverwaltungsgericht veranstaltet wird. Dort soll ich einen Vortrag über »Justiz und Justizverwaltung zwischen Ökonomisierungsdruck und richterlicher Unabhängigkeit« halten. Dafür spielt am Rande auch die Frage eine Rolle, ob Quantitätsdruck in Qualitätsverlust umschlägt. Sie lässt sich nur beantworten, indem man Qualität definiert und kontrolliert.

Was die Qualitätskontrolle der Justiz betrifft, gibt es eine jedenfalls auf den ersten Blick erstaunliche Entwicklung. Lange bestand die Auffassung, die Qualität der Justiz lasse sich außerhalb von Rechtsmittelverfahren in keiner Weise überprüfen. 1981 machte man einen ersten zaghaften Versuch mit einer Tagung der Evangelischen Akademie Bad Boll über »Innere und Äußere Kontrolle der Justiz«. 1993 habe ich in der Deutschen Richterzeitung (S. 301-310) ausführlich über Qualitätskontrolle der Justiz in den USA berichtet. Heute ist die Notwendigkeit einer Qualitätssicherung auch in der Justiz durchgehend akzeptiert. [1]Qualität in der Justiz – Beschluss der Bundesvertreterversammlung des DRB vom 15.11.2002 und des Bundesvorstandes vom 26.4.2007 [http://www.drb.de/cms/index.php?id=487] Inzwischen gibt es mehr oder weniger überall Projekte zum Qualitätsmanagement in den Gerichten. [2]Vgl. den Bericht »Qualitätszirkel der Oberlandesgerichte«, DRiZ 2008, S. 269-271 Allerdings zeigt die Wortwahl, dass es nicht um eine Qualitätskontrolle im engeren Sinne, sondern um prospektive Maßnahmen der Qualitätssicherung oder um ein Qualitätsmanagement im Sinne eines TQM geht.

Die Richterschaft akzeptiert zwar durchaus, dass es auch für ihre Entscheidungstätigkeit verschiedene Qualitätsgesichtspunkte gibt. Sie hält indessen eine für Kontrollzwecke hinreichende Definition für ausgeschlossen.

Die Qualität richterlicher und staatsanwaltschaftlicher Arbeit ist letztlich nicht messbar. Auch wenn Richter und Staatsanwälte sich an der Realisierung dieser Qualitätskriterien ›messen‹ lassen müssen, ist doch die Messbarkeit dieser Kriterien im Sinne einer mathematisch überprüfbaren Analyse zu verneinen. Zwar gibt es objektive Parameter wie Zeitaufwand, Rechtsmittelhäufigkeit, Aufhebungs-, Vergleichs- und Erledigungsquote, Verfahrenskosten u.a. Diese Teilaspekte haben aber keine zwingende Aussagekraft für die Beurteilung der Qualität der Rechtsanwendung. Die richterliche Spruchtätigkeit und die staatsanwaltschaftlichen Entscheidungen sind schöpferische Erkenntnisprozesse, die sich deshalb einer Messung letztlich entziehen. [3]Deutscher Richterbund a. a. O. unter I. 2).

Vor allem aber gilt: Für eine (justizinterne) Kontrolle, die auf konkrete Entscheidungen eingeht, kommen nur die gesetzlich vorgesehenen Rechtsmittel in Betracht. [4]Hans-Jürgen Papier, Die richterliche Unabhängigkeit und ihre Schranken, NJW 2001, 1089 -1094 [1094]. Es mag dahinstehen, ob es wirklich ausgeschlossen ist, positive Qualitätsmerkmale von Verfahren und Entscheidungen in einer Weise zu definieren, dass sie kontrollierbar werden. Aber jedenfalls kann man sich doch in vielen Fällen darauf einigen, dass eine bestimmte Handhabung des Verfahrens oder eine Entscheidung mangelhaft ist. Das habe ich bereits vor längerer Zeit einmal darzustellen versucht. [5]Fehler in Gerichtsentscheidungen, in: Helmuth Schulze-Fielitz/Carsten Schütz (Hrsg.) Justiz und Justizverwaltung zwischen Ökonomisierungsdruck und Unabhängigkeit, Duncker & Humblot, Berlin, … Continue reading

Jetzt habe ich mich erneut nach einigen Beispielen für Qualitätsmängel umgesehen. Sie sollen zeigen, dass man Qualitätsmängel ganz konkret benennen kann. Darüber hinaus dürfen die Beispiele nicht verallgemeinert werden, denn sie sind ganz unsystematisch zusammengetragen worden. Aber man sollte sie auch nicht bagatellisieren. Immerhin war es nicht schwer, binnen weniger Tage zehn Beispiele zusammen zu tragen.

Beispiel 1:
Komplizierter Bauprozess vor der Kammer des Landgerichts Irgendwo im Januar 2009. Die Partei, von der die Informationen stammen, berichtet, der Berichterstatter habe die Ausdrücke »Scheiß« und »Mist« gebraucht. Während sie mit ihrem Anwalt zur Beratung über einen Vergleichsvorschlag auf den Flur gewesen sei, sei der Gegenanwalt mit der Bemerkung, er habe dem Gericht etwas zu erzählen, allein mit den Richtern im Gerichtssaal zurückgeblieben; bei ihrer Rückkehr in den Gerichtssaal seien Gegenanwalt und Gericht in eine Unterhaltung vertieft gewesen. Um 15 Uhr betritt eine Reinmachefrau den Gerichtssaal. Sie erklärt dem Berichterstatter, er habe einen Termin. Auf Nachfrage wird sie deutlicher: »Ihre Frau erwartet Sie.« Die Sitzung wird prompt beendet. Auch für die Durchsicht des Protokolls blieb später wohl keine Zeit:

In dem Rechtsstreit pp. erschienen bei Aufruf der Sache:
1. Der Kläger und Rechtsanwalt A
2. der Beklagte und Rechtsanwalt B.
Die Sach- und Rechtslage wurde erörtert. Der Kläger wird darauf hingewiesen, dass die Mängelbeseitigungskosten bisher immer noch nicht substantiiert dargelegt sind. Insbesondere fehlt es an einem Vortrag darüber, wie die Arbeiten, die die Firma Hausbau ausgeführt hat, abzugrenzen sind von den Arbeiten weiterer am Bauvorhaben beteiligter Unternehmen einzugrenzen sind. Soweit die Firma Hausbau Grömitz in Auftrag gegebene Arbeiten nicht ausgeführt hat, wäre hierfür eine Vergütung zu zahlen gewesen soweit insoweit über Zahlungen des Klägers der Vergütung für nicht erbrachte Arbeiten hätten entgegengehalten werden können bisher auch nicht substantiiert inwieweit der Beklagte solche Überzahlungen kannte bzw. damit rechnen musste. Gutachten datiert erst vom 31.08.2005, aus dem sich solche Überzahlungen ergeben.

Der vorstehende Text ist – bis auf die veränderten Namen – Buchstabe für Buchstabe aus dem Protokoll herauskopiert. Nun hoffen die Beteiligten, dass das Urteil etwas sorgfältiger abgefasst ist – oder sie befürchten das Schlimmste.

Beispiel 2:
Erbschaftssache von dem Einzelrichter des Landgerichts. Anwalt und Partei müssen sich anhören: »Mit son’m Scheiß muss ich mich den ganzen Tag herumschlagen. Sonst entscheiden wir über Verkehrsunfälle, wo es um Leben und Tod geht.«
Im Anschluss an die Verhandlung macht der Richter einen schriftlichen Vergleichsvorschlag. Es sollen 10.000 EUR verteilt werden. Davon soll der Kläger ¼ und der Beklagte ¾ erhalten. Der Vorschlag lautet dann: Der Beklagte zahlt an den Kläger 2.000 EUR. Auf den Rechenfehler hingewiesen erklärt der Richter, es bleibe bei dem Vergleichsvorschlag.

Beispiel 3:
Amtsgericht in Ruhrgebiet. Ein Rechtsanwalt, der die Partei im Verfahren um den Versorgungsausgleich vertreten hatte, klagt sein Honorar für die Vertretung in einem Beschwerdeverfahren vor dem Oberlandesgericht ein. Die Beschwerde war von der Rentenversicherung eingelegt worden, weil das Familiengericht von falschen Daten ausgegangen war. Darauf hatte sich der klagende Anwalt für den beklagten Beschwerdebeteiligten gemeldet. Im Ergebnis wurde der Verteilungsbeschluss allerdings nur minimal um wenige Cent geändert. Der Beklagte wendet ein, das Honorar sei höher als der Beschwerdewert. Der klagende Anwalt macht geltend, um das zu erkennen, habe er sich die Beschwerde ansehen müssen, und damit sei der Honoraranspruch schon entstanden. In der Verhandlung über den Honoraranspruch gibt der Amtsrichter zu erkennen, dass er die Einwendung des Beklagten für unerheblich halte, und schlägt einen Vergleich vor. Der Kläger lehnt ab. Darauf wird die Klage abgewiesen mit der Begründung, hier müsse gelten (wörtlich) »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu«.

Beispiel 4:
Eine Privatklinik hat gegen einen Patienten nach einem Krankenhausaufenthalt eine Forderung von über 30.000 EUR. Der Patient – jetzt: der Schuldner – hat Versicherungsleistung und Beihilfe kassiert, aber nicht gezahlt. Die Klinik – jetzt: der Gläubiger – hat einen Vollstreckungsbescheid erwirkt und betreibt die Zwangsversteigerung eines Mietshauses. Am 4. 10. 2007 ist Versteigerungstermin und am Ende ergeht ein Zuschlagsbeschluss. Dagegen legt der Schuldner am 5. 11. Beschwerde ein, da er, obwohl anwesend, zu dem Verzicht auf Einzelausgebote nicht befragt worden sei. Zugleich beantragt er Protokollberichtigung, denn der Rechtspfleger habe ihn nicht im Protokoll aufgeführt, obwohl er anwesend gewesen sei und sich zu Beginn des Termins legitimiert habe. Am 30. 5. 2008 sendet das Landgericht, bei dem die Akten ruhen, diese zurück an das Amtsgericht zur Protokollberichtigung. Am 23. 6. berichtigt der Rechtspfleger das Protokoll dahin, dass der Schuldner erst zu einem Zeitpunkt nach Verkündung des Zuschlagsbeschlusses als anwesend festgestellt wurde. Am 13. 8. 2008 gibt das Landgericht dem Schuldner eine Frist zur Stellungnahme binnen vier Wochen. Eine Stellungnahme erfolgt nicht. Auf wiederholte Sachstandsanfragen erhält der Gläubigeranwalt schließlich am 28. 1. 2009 die Nachricht:

In pp. wird mitgeteilt, dass wegen Überlastung der Kammer und zahlreicher vorrangig zu bearbeitender Sachen bis auf weiteres nicht mit einer Entscheidung gerechnet werden kann.

Auf telefonische Nachfrage im Februar 2009 erhält der Anwalt vom Vorsitzenden die Auskunft, bei dem (großen) Gericht sei ein Richter abgezogen worden. Strafsachen hätten nun Vorrang. Ein Zeitpunkt für die Entscheidung sei nicht abzusehen. Der Anwalt möge sich doch an die Ministerin wenden. Aber dann ergeht am 4. März doch ein Beschluss, der auf einer halben Seite die Beschwerde zurückweist. [6]Ein kleiner Lichtblick ist das Urteil des BGH Urteil vom 11. Januar 2007 – III ZR 302/05. Darin wurden einem Grundstückseigentümer Ansprüche aus einem enteignungsgleichen Eingriff und … Continue reading

Beispiel 5:
Anwälte haften für den kleinsten Fehler, während die Gerichte, die ihre Haftungsblitze in alle Richtungen schleudern, selbst gegen jede Fehlerhaftung immun sind. Pikant sind die Fälle, in denen Anwalt und Gericht gleichermaßen Fehler unterlaufen sind.
Ein Hauseigentümer hatte die Mieter seiner Wohnungen auf Zahlung von Nebenkosten verklagt. Streitig war, ob diese zur anteiligen Zahlung von Versicherung und Grundsteuer verpflichtet waren. Das Amtsgericht gab der Klage statt mit der Begründung, die Mieter hätten durch jahrelange widerspruchslose Zahlung der Umlage einer entsprechenden Änderung des schriftlichen Mietvertrages zugestimmt. Nun ging der Kläger zum Anwalt. Der legte Berufung ein. Jetzt wurde die Klage abgewiesen, weil vorbehaltlose Zahlungen von Mietern, die auch auf Rechtsirrtum beruhen könnten, nicht zu einer Vertragsänderung führten.
Der Anwalt verlangt nunmehr vom Kläger sein Honorar. Dieser lehnt ab, weil der Anwalt das Landgericht nicht auf die Entscheidung des BGH vom 29. 5. 2000 [7]NJW-RR 2000, 14639. über die stillschweigenden Abschluss einer Vereinbarung über zu tragende Nebenkosten durch jahrelange Übung hingewiesen hatte. Der Gebührenstreit ging bis zum BGH und der entschied, dass das Versäumnis des Gerichts den Anwalt nicht entlaste. [8]U vom 18. 12. 2008 – IX ZR 179/07, NJW Spezial 2009 126.

Beispiel 6:
Ein Rechtsanwalt erhebt Scheidungsklage. Richtigerweise hätte er auf Feststellung des Nichtbestehens der Ehe klagen müssen, da die Ehe tatsächlich nichtig war. Obwohl der Sachverhalt vollständig und richtig mitgeteilt worden war, verkennt auch das Familiengericht die Rechtslage und scheidet die Ehe. [9]BGH U. v. 13. 3. 2003 – IX ZR 181/99, NJW-RR 2003, 850 – auch hier geht es um die Haftung des Anwalts.

Beispiel 7:
Nach BGHZ 174, 205: In diesem Fall hatte der Anwalt den Sachverhalt für eine Amtshaftungsklage schlüssig vorgetragen. Das Gericht hatte die Klage fälschlich abgewiesen. Zusätzlich hatte der Anwalt den Schaden zu niedrig berechnet. Der BGH ließ ihn in voller Höhe haften.

Beispiel 8:
24.02.2009: Das Magazin frontal21 des ZDF berichtet: Ein pensionierter Verfassungsschützer wird als mutmaßlicher Erpresser von einem Sondereinsatzkommando der Polizei verhaftet. Dann stellt sich heraus: Er ist Opfer einer Verwechslung.
Der Lidl-Konzern hatte einen Erpresserbrief erhalten. Der Brief kam aus dem Internetcafe einer Spielhalle. Die Polizei hatte deshalb den Spielhallenbetreiber um Hilfe gebeten. Tatsächlich kehrte der Erpresser zurück, und als er das Internetcafe verließ, wurde er von dem Betreiber beobachtet. Der verwechselte aber das Auto des Erpressers mit einem Auto, in dem ein völlig unbeteiligtes Ehepaar saß. Zwei Tage später stürmt ein Sondereinsatzkommando der Polizei deren Haus und beide werden verhaftet. Noch im Lauf der Vernehmung erfährt die Polizei, dass der wirkliche Erpresser sich erneut gemeldet hat und die Verhafteten werden natürlich entlassen.
Eine bedauerliche Verwechslung, lässt die Staatsanwaltschaft verlauten. So weit so gut. Das kann passieren. Was aber nicht passieren darf, ist die Begründung des Haftbefehls für die Fluchtgefahr. Sie lautet nach dem ZDF-Bericht: »Zwar verfügt der Beschuldigte noch über einen festen Wohnsitz. Dieser soll jedoch zwangsversteigert werden, so dass es an tragfähigen sozialen Bindungen fehlt.«
Bei dem Beschuldigten handelte es sich um einen pensionierten Oberamtsrat des Verfassungsschutzes, der seit Jahrzehnten verheiratet und mit seiner Frau schuldenfrei im eigenen Haus lebt. Das hätten weder Staatsanwalt noch Amtsrichter übersehen dürfen. Die Staatsanwaltschaft Heilbronn, die den Haftbefehl beantragte, findet jedoch, die Verhaftung sei »nicht zu beanstanden gewesen«.

Beispiel 9
Das Landgericht hatte entgegen der zwingenden Vorschrift des § 246 Abs. 3 S. 5 AktG versäumt, mehrere Anfechtungsklagen zu verbinden. Im Kostenfestsetzungsverfahren stellte sich die Streithelferin, deren Kosten die Beklagte zu erstatten hatte, auf den Standpunkt, dass jedes Beschlussanfechtungsverfahren eine eigene Angelegenheit im Sinne des RVG bilde, und machte für jedes Verfahren besondere Anwaltsgebühren geltend. Die Beklagte trat der mehrfachen Festsetzung der Kosten entgegen, weil die Verfahren zu verbinden gewesen wären, und legte schließlich gegen den die beantragten Kosten zusprechenden Kostenfestsetzungsbeschluss Rechtsmittel ein. OLG Zweibrücken entschied mit Beschluss vom 09.02.2009 – AZ 4 W 98/08-, dass der Rechtspfleger im Kostenfestsetzungsverfahren von getrennten Verfahren ausgehen müsse. Das gesetzwidrige Versäumnis des Landgerichts könne im Kostenfestsetzungsverfahren auch unter dem Gesichtspunkt der »Notwendigkeit« der Kosten nicht mehr korrigiert werden.
Beispiel 10:
Ein Autofahrer wird von einer Rotlichtampel geblitzt. Gegen den Bußgeldbescheid legt er Einspruch ein, den sein Verteidiger wie folgt begründet:

1. Es wird nicht in Abrede gestellt, dass der Betroffene der Fahrer des Wagens war, der auf den Bildern zu sehen ist.
2. Zwischen der ersten und der zweiten Aufnahme, die im Abstand von 1,1 Sekunden gemacht wurden, hat sich das Fahrzeug des Betroffenen höchstens um eine Fahrzeuglänge bewegt. Die Geschwindigkeit betrug also nur etwa 15 km/h. Das ist ungewöhnlich für einen Rotlichtverstoß.
3. Fahrer und Beifahrer haben den Kamerablitz wohl bemerkt. Der Beifahrer hat sofort gesagt: Das hat wohl einem anderen Fahrzeug gegolten. Wir sind noch eindeutig bei Gelb in die Kreuzung eingefahren.
4. Die Behörde hat zwar die Kopie einer Eichbescheinigung für eine Kamera vorgelegt. Es lässt sich jedoch nicht erkennen, dass die geeichte Kamera und die auf der Kreuzung identisch sind.

Die Behörde gibt die Sache kommentarlos über die StA an das Amtsgericht ab. Nun kommt die Anfrage des Amtsrichters an den Verteidiger:

In pp. haben Sie … Einspruch …eingelegt.
Diesen Einspruch haben sie nicht begründet oder zumindest nicht erklärt, ob Sie auch gegen die
Richtigkeit der Messung (Rotlicht)
die Identität des Fahrers anzweifeln
wenden.

Nun fragt sich der Betroffene: Wenn der Richter nicht einmal die Akten liest und auch keinen korrekten Satz schreiben kann, was darf man dann wohl noch von ihm erwarten? Da fällt es schon nicht mehr ins Gewicht, dass der Richter auch noch eine Vollmacht anfordert, obwohl der Betroffene bereits mit seinem Einspruchsschreiben an die Behörde seinem Verteidiger Vollmacht erteilt hatte.

Nachträge:

Thesen für das Wochenendseminar »Justiz in der Modernisierungsfalle?« am 29./30. Januar 2000 in Hamburg
Arbeitsgruppe 3 – Kann Qualität gemessen werden? Qualitätsinstrumente und Qualitätsmessung.

Dazu jetzt: Jordan M. Singer, Judicial Performance Evaluation in the States: The IAALS JPE 2.0 Pre-Convening White Paper (May 1, 2022). New England Law | Boston Research Paper No. 23-01,  SSRN 505778.

 

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Qualität in der Justiz – Beschluss der Bundesvertreterversammlung des DRB vom 15.11.2002 und des Bundesvorstandes vom 26.4.2007 [http://www.drb.de/cms/index.php?id=487]
2 Vgl. den Bericht »Qualitätszirkel der Oberlandesgerichte«, DRiZ 2008, S. 269-271
3 Deutscher Richterbund a. a. O. unter I. 2).
4 Hans-Jürgen Papier, Die richterliche Unabhängigkeit und ihre Schranken, NJW 2001, 1089 -1094 [1094].
5 Fehler in Gerichtsentscheidungen, in: Helmuth Schulze-Fielitz/Carsten Schütz (Hrsg.) Justiz und Justizverwaltung zwischen Ökonomisierungsdruck und Unabhängigkeit, Duncker & Humblot, Berlin, 2002, S, 67-97.
6 Ein kleiner Lichtblick ist das Urteil des BGH Urteil vom 11. Januar 2007 – III ZR 302/05. Darin wurden einem Grundstückseigentümer Ansprüche aus einem enteignungsgleichen Eingriff und prinzipiell auch Amtshaftungsansprüche zugesprochen, weil er zu lange auf eine Grundbucheintragung warten musste. Im Leitsatz heißt es:

»Der Staat hat seine Gerichte so auszustatten, dass sie die anstehenden Verfahren ohne vermeidbare Verzögerung abschließen können (hier: übermäßige Dauer der Bearbeitung von Anträgen durch das Grundbuchamt wegen Überlastung). Die Erfüllung dieser Verpflichtung kann den Justizbehörden insgesamt als drittgerichtete Amtspflicht obliegen (teilweise Abweichung von BGHZ 111, 272).«

7 NJW-RR 2000, 14639.
8 U vom 18. 12. 2008 – IX ZR 179/07, NJW Spezial 2009 126.
9 BGH U. v. 13. 3. 2003 – IX ZR 181/99, NJW-RR 2003, 850 – auch hier geht es um die Haftung des Anwalts.

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Schluss mit der Rechtsdidaktik

Elf Mal habe ich zu diesem Thema geposted. Nun ist Schluss damit, denn die Sache ist für mich zu groß geworden. Animiert von dem Hamburger »Lehrreich«-Team und tatkräftig unterstützt von Prof. Dr. Günter Reiner, Helmut-Schmidt-Universität, hatte ich einen Drittmittelantrag ausformuliert, der den Weg für die vom Wissenschaftsrat im Beschluss vom 4. Juli 2008 (Drs. 8618-08) empfohlene Einrichtung eines Fachdidaktikzentrums für Hochschullehre bereiten sollte. Anfang Januar hatte ich bei der VolkswagenStiftung angefragt, in welches Programm das Projekt passen könnte. Dann wurden am 13. Januar 2009 von der VolkswagenStiftung und der Stiftung Mercator gemeinsam 10 Mill. EUR für das Programm »Bologna – Zukunft der Lehre« ausgelobt, und ich erhielt die Nachricht, man nehme außerhalb dieses Programmes keine Anträge mehr entgegen, die mit Hochschuldidaktik zu tun hätte. Auch die Mercatorstiftung, der ich den Antragsentwurf übersandt hatte, antwortete Mitte Februar, ich möge das Projekt auf das neue Programm ausrichten. Teilnahmevoraussetzung scheint ein Bekenntnis zum Bologna-Prozess zu sein, das mir nicht leicht fallen würde. Ferner wäre ein größerer Verbund »praxisnah arbeitender Expertengruppen oder Kompetenzzentren für Hochschullehre, Curriculumforschung und –entwicklung« zur organisieren. Das ist nicht mehr die Aufgabe eines Emeritus. Auch meine zeitliche Perspektive war eine andere. Ich ziehe mich also zurück. Allen, die bereit waren mitzumachen und die mich unterstützt haben – und das waren nicht wenige – sage ich herzlichen Dank. Ich hoffe, dass die Sache weiter vorangetrieben wird. Die ausgelobten 10 Mill. sollten nicht ganz den anderen Fakultäten überlassen werden.

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Die Bilder der heimlichen Juristenzeitung

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) ist die heimliche Juristenzeitung. Seit eh und je gibt es mittwochs die Seite »Recht und Steuern«. Ziemlich neu ist die wöchentliche Seite »Staat und Recht«. Dafür verantwortlich ist Reinhard Müller. Auch sonst schreibt er über »alles, was Recht ist«. Die Seite »Die Gegenwart« bot am 8. 9. 2008 einen großen Aufsatz von Roman Herzog und Lüder Gerken über Kompetenzanmaßungen des EUGH, der eine rege Diskussion auslöste. Selbstverständlich, dass die Zeitung über wichtige rechtspolitische Entwicklungen und bemerkenswerte Gerichtsverfahren schreibt. Die Artikel von Friedrich Karl Fromme zu staats- und verfassungsrechtlichen Themen sind in guter Erinnerung. Heute sorgen Alexandra Kemmerer und Melanie Amann für zuverlässige und interessante Berichte. Für den Wirtschaftsteil hat Frau Amann die Anwaltschaft im Blick. Über die Rechtswelt in den USA berichtet zitierwürdig Katja Gelinsky. Im letzten Jahr ist der »Rechtsstab« noch um Hendrik Wieduwilt erweitert worden, der sich der Zeitung dem Vernehmen nach als Blogger [1]Mit Juratexter.de, wo besseres Deutsch für Juristen propagiert wurde. Die Seite wird nicht mehr gepflegt. Wieduwilt bloggt jetzt mit RechtReal über virtuelle Welten und Recht. empfohlen hatte. Auch die alte Tradition, über völkerrechtliche Fragen zu informieren, wird fortgeführt. Am 7. 1. gab es – zwar aus aktuellem Anlass, aber doch ganz abstrakt gehalten – gleich zwei Artikel zum Kriegsvölkerrecht [2]Thomas Speckmann, Sie mögen uns Rebellen nennen, und Reinhard Müller, Totaler Krieg verboten.. Früher war es vor allem Gerd Roellecke, der rechtsphilosophische Themen behandelte. Ihn hat mehr und mehr Michael Pawlik abgelöst. [3]Pawlik listet auf seiner Webseite 110 Rezensionen rechtsphilosophischer Bücher für die FAZ (seit 1991). Die Startseite seiner Internetpräsenz ziert Pawlik mit dem Titelkupfer des Leviathan. Ganze Debatten zwischen Richtern und Professoren werden in der FAZ ausgetragen. [4]An die Kontroverse zwischen Hirsch einerseits und Möllers und Rüthers andererseits knüpft Dieter Simon mit einem Vortrag an, den er am 3. 11. 2008 für den Berliner Arbeitskreis Rechtswirklichkeit … Continue reading
Es liegt beinahe in der Natur der Sache, dass eine anspruchsvolle Zeitung umfangreich über Themen berichtet, die im Fach unter »Law & Society« laufen. Miloš Vec sorgt dafür, dass Rechtssoziologie und Rechtsgeschichte gut vertreten sind. Der interdisziplinär orientierte Jurist findet in den Artikeln von Jürgen Kaube (der meine Skepsis gegenüber dem kulturwissenschaftlichen Staubsauger teilt) Information und Anregung. Über »Law and Economy« erfährt man, vor allem in den Buchbesprechungen des Wirtschaftsteils am Montag, allerhand. Am 5. 1. wurde Richard A. Posner von Patrick Bahners als »Sozialdarwinist auf der Richterbank« vorgestellt, und am 6. 1. erfuhr man aus der Feder von Hendrik Wieduwilt, dass sich die Rechtswissenschaft der Verhaltensforschung öffnet.
Für das Projekt »Recht anschaulich« verfolge ich am Rande auch, wie die Presse juristische Themen illustriert. Daraus war für die Münchener Rechtsvisualisierungstagung ein Diskussionsbeitrag über die »Ästhetisierung der Sachinformation« entstanden. Für das Blog ist er zu lang. Deshalb steht er hier zum Download zur Verfügung.
Hier folgt dazu noch ein Nachtrag: Am 5. 1. druckte die Zeitung in der Rubrik »Neue Sachbücher« unter dem Titel »Bloße Begriffsanalyse ist ausgereizt« eine Rezension von Michael Pawlik zu Brugger/Neumann/Kirste, Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, 2008.
Die Rezension wird, für die Illustrationspraxis der FAZ eher ungewöhnlich, durch ein vermutlich billiges Agenturfoto angereichert, und zwar durch das Foto eines Doppelknotens aus dickem Tau, der auf einem hellen Bouclé-Teppichboden plaziert ist.
faz-knoten
Die Legende lautet: »Hält der Knoten, den die Rechtsphilosophie bindet?« Die Knotenmetapher könnte eigentlich ganz gut zu dem rechtsphilosophischen Thema passen. In der Interpretation durch die Legende beißt sie sich aber mit der Überschrift.
Die Illustration bleibt mit ihrer Qualität hinter dem sonst in der FAZ anzutreffenden Niveau zurück. Das Bild macht den Eindruck eines Amateurfotos. Als Bildquelle wird »BilderBox.com« angegeben. Dabei handelt es sich um eine Agentur aus Österreich. Die Bildagentur nennt zu dem Bild folgende Stichworte:

assisted suicide, aufhaengen, aufhängen, death penalty, Dinge, Example, hang, hangman, Henker, Henkerknoten, henkerschlinge, Henkerseil, Illustration, knod, Mord, murder, rope, Selbstmord, Strick, Suizid, Symbol, symbol image, symbol-image, symbol-photo, Symbolaufnahme, Symbolaufnahmen, Symbolbild, Symbolbilder, Symbole, Symbolen, Symbolfotos, symbolically, symbolisch, Symbolischen, symbolphoto, symbols, thread, Todesstrafe

So also werden Bilder verschlagwortet. Die Webseite fordert damit zu einer rechtsoziologischen Inhaltsanalyse heraus. Hier kann man sehen, welche Bilder und welche Wortwolken juristische Laien mit Rechtsbegriffen verbinden. Das Suchwort »Gericht« zeigt unter den 573 Treffern zuerst »Junge Frau mit Salat« an. Davon darf man sich nicht irritieren lassen. Aber bemerkenswert ist es doch, wenn die ersten zehn von insgesamt 27 Bildern, die auf das Suchwort »Richter« antworten, amerikanische Symbole nutzen, und zwar die ersten eine gavel über Euroscheinen (Legende: Eurogeldscheine und Richter-/ Auktionshammer) und die folgenden sieben eine grüne Spritze in Variationen mit oder ohne Union Jack (Legende: Giftspritze – lethal injection).

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Mit Juratexter.de, wo besseres Deutsch für Juristen propagiert wurde. Die Seite wird nicht mehr gepflegt. Wieduwilt bloggt jetzt mit RechtReal über virtuelle Welten und Recht.
2 Thomas Speckmann, Sie mögen uns Rebellen nennen, und Reinhard Müller, Totaler Krieg verboten.
3 Pawlik listet auf seiner Webseite 110 Rezensionen rechtsphilosophischer Bücher für die FAZ (seit 1991). Die Startseite seiner Internetpräsenz ziert Pawlik mit dem Titelkupfer des Leviathan.
4 An die Kontroverse zwischen Hirsch einerseits und Möllers und Rüthers andererseits knüpft Dieter Simon mit einem Vortrag an, den er am 3. 11. 2008 für den Berliner Arbeitskreis Rechtswirklichkeit gehalten hat (Vom Rechtsstaat in den Richterstaat?, verfügbar auf der Webseite des BAR. Simon flüchtet sich, wie es heute üblich ist, in Paradoxievorstellungen, und plädiert am Ende für bessere Bezahlung, Fortbildung und mehr Respekt für die Richter.

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Der Emeritus als Privatgelehrter

Mit der Emeritierung verabschiedet man sich in aller Regel von einem Mitarbeiterstab, von seiner über Jahre hin aufgebauten Handbibliothek und von der Ausstattung mit Geldmitteln für neue Bücher, Reisen und was man sonst noch so brauchen kann. Man behält ein kleines Zimmer mit Telefon und einem Computer älteren Datums. Darüber hinaus gibt es Kollegen, die ihre Hilfsbereitschaft zusichern, die man aber doch ungern so oft in Anspruch nimmt, wie man sie brauchen könnte. So wird man denn zum Privatgelehrten. Der Schwerpunkt der Arbeit verlagert sich in das häusliche Arbeitszimmer, wo im Zweifel der bessere Computer steht und wo sich im Laufe der Jahre auch eine private Bibliothek angesammelt hat. Da kann man nun versuchen, den Anschluss an sein altes Fach zu halten, sich von Zeit zu Zeit mit Veröffentlichungen, Vorträgen oder der Neuauflagen seiner alten Bücher zu Wort zu melden und voller Selbstmitleid den Verlust aller wesentlichen Ressourcen beklagen. Reflektiert man dann aber die eigenen Arbeitsbedingungen, so muss das Urteil gar nicht so trübe ausfallen. Erst jetzt lernt man den Kollegen Computer richtig zu schätzen. Er hilft mit Datenbanken und bringt Dokumentenlieferdienste auf Trab. Die im Internet ohne den Gang zu Bibliothek erreichbaren Materialien haben einen solchen Umfang angenommen, dass man sie nicht gar mehr ausschöpfen kann. Man muss zwar vorsichtiger sein als mit gedruckten Büchern. Das Internet ist ein großer Selbstverlag, in dem jeder ohne Kontrolle publizieren kann. Doch viele Autoren stellen auch bereits gedruckte oder noch zu druckende Arbeiten ins Netz, weil sie aus gutem Grund annehmen, dass man sie sonst kaum lesen würde. Andere, und sie werden zahlreicher, veröffentlichen ihre Arbeiten von vornherein unter einer Creative Commons Lizenz oder stellen sie gar in die Public Domain. Auf technische Hilfe und materielle Ressourcen ist jedenfalls der Geisteswissenschaftler gar nicht mehr so sehr angewiesen.
Vielleicht kann er sich sogar eine kleine Nische erobern, weil er anders arbeitet, insbesondere andere Quellen heranzieht, als die aktiven Kollegen. Wer den Gang zur Bibliothek Hilfskräften überlässt und die Bücher nicht selbst aus dem Regal holt oder wer gar nur noch mit Kopien arbeitet, die er sich aus Büchern und Zeitschriften anfertigen lässt, dem entgehen viele Kollateralfunde. So nenne ich Informationen, nach denen ich nicht unmittelbar gesucht habe, die auch gar nicht direkt zum Thema gehören müssen, die mir aber doch beim Stöbern auffallen, die aus eingefahrenen Gedankengeleisen herausführen können und die sich nicht selten in die laufende Arbeit einbauen lassen. Noch viel häufiger ist solcher Beifang beim Surfen im Internet. Deshalb bekommt er auch gleich einen neuen Namen: Serendipity-Effekt. Beim Gugeln (kein Schreibfehler) nach bestimmten Informationen stoße ich immer wieder auf andere, die ich im Augenblick gar nicht gesucht habe, die aber doch interessant und relevant erscheinen, und die ich, hätte ich sie direkt gesucht, vielleicht gar nicht gefunden hätte.
Was der Emeritus am meisten entbehrt, ist das tägliche Gespräch mit Mitarbeitern und Studenten. Dafür ist das Internet nur ein dürftiger Ersatz. Es zeigt sich, dass – von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen – die Interaktivität, für die das Internet so gepriesen wird, bloße Möglichkeit bleibt. So dient mein Weblog vor allem dem (vernehmbaren) Selbstgespräch.
Kann man den Privatgelehrten unserer Tage vielleicht sogar beneiden? So abwegig ist die Frage nicht. Bachelorisierung der Studiengänge und Modularisierung des Stoffes einschließlich der zugehörigen Prüfungsverpflichtungen darf er anderen überlassen. (Meine Nachfolgerin durfte zum Semesterschluss gerade 420 Rechtsphilosophieklausuren korrigieren.) Man hört und liest von der auch in der Universität überall spürbaren Kommerzialisierung, von der drängenden Forderung nach Effizienz, von permanenter Evaluation, die messbaren Output und Erfolge bei der Gewinnung von externem Geld zum Maßstab nimmt. Vor aller Forschung kommt heute das Schreiben von Drittmittelanträgen. Die schwierige Situation der aktiven Professoren war im Sommer mehrfach Thema in der FAZ (Heike Schmoll, Die Omnipräsenz der Professoren im Wissenschaftstourismus, F.A.Z., 12.06.2008, Nr. 135 / Seite 8; Alexander Kosenina, Der Vollzeitprofessor stirbt langsam aus, FAZ, 12.06.2008, Nr. 135 / Seite 41; Leserbrief »Wo bleibt der Protest der Hochschullehrer?« von Prof. Dr. Horst Haider Munske, F.A.Z., 30.06.2008, Nr. 150 / Seite 9). Der Emeritus bleibt von alledem ziemlich unberührt und kann unbesorgt zwischen Schreibtisch und Golfplatz pendeln.
Dienen solche Überlegungen nur der Dissonanzreduktion? Es bleibt das Problem: Der Privatgelehrte weiß nicht, was ihm entgeht, weil er es nicht erlebt.

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»Anti-Court-Movement«

Unter dem Chief Justice Earl Warren war der US Supreme Court eine Speerspitze des Liberalismus. Inzwischen dominieren unter Rehnquist und nach dessen Tod seit 2005 unter John Roberts konservative Kräfte das Gericht, und sie kassieren Gesetze und Präjudizien, die nicht nach ihrem Geschmack sind. So jedenfalls sieht es eine wachsende Gruppe linksliberaler Rechtswissenschaftler in den USA, die deshalb auf unterschiedliche Weise die Macht des Verfassungsgerichts zurückdrängen wollen. Ihre Kritik richtet sich nicht speziell gegen die Entscheidung bestimmter einzelner Fälle, sondern sie machen geltend, dass Gericht zu viele Fälle an sich ziehe und zu wenig Entscheidungen der Politik überlasse. Anwälte und Gerichte behandelten Konflikte, die besser durch das Wahlvolk entschieden würden. In einer Rezensionsabhandlung in Law & Social Inquiry 33 (2008) 1071-1110 geht Josh Benson diesem »Anti-Court-Movement« nach. Dazu bespricht er Bücher von Larry D. Kramer (The People Themselves: Popular Constitutionalism and Judicial Review, 2004), Jeffrey Rosen (The Most Democratic Branch: How the Courts Serve America, 2006) Cass R. Sunstein (One Case at a Time: Judicial Minimalism and the Supreme Court, 1999) und Mark V. Tushnet (Taking the Constitution Away from the Courts, 1999). Diese Kritik, so Benson, habe in der politischen Öffentlichkeit eine enorme Wirkung. »Restraint« und »minimalism« seien zu neuen Leitideen geworden. Neben der ökonomischen Analyse des Rechts könnte das »Anti-Court-Movement« zum stärksten Impuls werden, der von der Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten ausgegangen sei. In seinem lesenswerten Besprechungsaufsatz geht Benson den historischen Wurzeln und den aktuellen Ausprägungen dieser Gerichtskritik nach, nicht ohne auf die Dilemmata der liberalen Minimalisten hinzuweisen: Den judicial activism des Warren Court fanden sie gar nicht so schlecht. Und der Richter John Roberts, der sich 2005 bei seiner Anhörung im Parlament als Minimalist gab, scheint sich nun doch ganz anders entwickelt zu haben.
Benson endet:

In the 1930s, the first liberal Anti-Court Movement bloomed. Its history, though tumultuous, is at least familiar. The Anti-Court idea is one liberals habe embraced before, then turned against, then embraced again. As Mark Twain observed, the past does not repeat itself, but it rhymes.

Das schöne Twain Zitat ergibt den Titel von Bensons Essay.
Hier noch zwei Internetquellen zum Thema:
In einer ausführlichen Rezension des Buchs von Larry D. Kramer, The People Themselves, haben Larry Alexander und Lawrence B. Solum dem Konzept des Popular Constitutionalism Unklarheit und Widersprüchlichkeit vorgehalten: Popular? Constitutionalism?, Harvard Law Review 118 (2005) 1594-1640. Verfügbar bei SSRN: http://ssrn.com/abstract=692224.
Ob der »Roberts Court« tatsächlich als konservativ gelten muss, ist durchaus kontrovers. Dazu Jonathan H. Adler, Getting the Roberts Court Right: A Response to Chemerinsky (November 2008), verfügbar bei SSRN: http://ssrn.com/abstract=1307177. Aus dem Abstract:

Reviewing the Court’s decisions over the past three years, Dean Chemerinsky concludes that the Roberts Court is the “the most conservative Court since the mid-1930s.” This is a substantial overstatement. The Roberts Court appears moderately more “conservative” than its predecessors in some contexts, but is also quite “liberal” in others. Its decisions on enemy combatants, capital punishment, and standing, among other issues, could hardly be characterized as “conservative,” however this term is defined. Furthermore, any assessment of the Roberts Court at this point is necessarily tentative. The current roster of justices have sat together for less than three full terms, and the small size of the docket means any single term provides an unrepresentative picture of the Court’s jurisprudence. While the Roberts Court may eventually show itself to be a conservative court, there is no basis at present to claim the Court is the “most conservative” in over seventy years.

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