Von der Soziologie der Waschmaschine zur Natur der Sache

Der vorhergehende Eintrag endete mit der Feststellung, der material turn bleibe eine Antwort, wie man aus dem Materiellen  – und damit aus der »Natur der Sache« – normative Konsequenzen ableiten kann, schuldig. Immerhin gibt es ein Sachgebiet, auf dem der material turn hilfreich zu sein scheint, nämlich auf dem Gebiet der Technik im weitesten Sinne. Da hätte es freilich einer »Wende« kaum bedurft, denn es gab und gibt schon längst eine gehaltvolle Techniksoziologie. Ein Beispiel wäre das immer noch lesenswerte Buch von Ingo Braun über die Soziologie der Waschmaschine.[1]

Der Umgang mit menschlichen Keimzellen ist durch das Embryonenschutzgesetz (ESchG) von 1990 streng reguliert. Neue Techniken der Reproduktionsmedizin rufen nach Änderungen. 2010 zog der BGH die strengen Grenzen des ESchG für Manipulationen an menschlichen Eizellen etwas weiter, als er einen Frauenarzt von der Anklage der missbräuchlichen Verwendung menschlicher Embryonen freisprach, der befruchtete Eizellen auf Genanomalien untersucht hatte, um sie ggfs. zu verwerfen.[2] Zehn Jahre später gewährte das BVerwG genetisch vorbelasteten Eltern einen Anspruch auf Präimplantationsdignostik (PID).[3]

Exemplarisch ist die Eigendynamik neuer Techniken und die Problematik ihrer Regulierung an den relativ neuen und stetig verbesserten Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin zu beobachten. Von den Optionen, die diese Technik bietet, wird in großem Umfang Gebrauch gemacht. Von 1997 bis 2018 wurden in Deutschland 319.119 Kinder nach künstlicher Befruchtung geboren. Seit 2015 liegt die Zahl jährlich über 20.000 oder etwa 2,7 % aller Geburten (Daten im Jahrbuch des Deutschen IVF-Registers, zuletzt 2021).

Vor der Inanspruchnahme neuer Technikoptionen liegt oft eine gewisse soziale Normierung. Am Beispiel der vorsorglichen Eizellkonservierung (social freezing): Es gibt keine soziale Norm, nach der man Kinder haben soll und dafür erforderlichenfalls auch medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen hat. Aber es gibt soziale Muster für das, was als gelungener Lebenslauf gilt, und daran orientiert man sich mehr oder weniger souverän. Kritische Beobachter sprechen von neoliberalen Diskursen, die wie eine Aufforderung wirken, von den Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin Gebrauch zu machen.[4]

Was Soziologie dazu beitragen kann, um zunächst die Entscheidungen des Gesetzgebers und dann auch die Rechtsanwendung zu informieren, hat van den Daele dargestellt. Vorab muss das Recht zur Kenntnis nehmen, dass »die Entstehung von (Technik-)Optionen nicht beherrschbar« ist.

 »Möglichkeiten, die irgendwo entstehen, sind im Prinzip überall verfügbar. Techniken sind der Form nach Wissen. Wissen aber ist übertragbar und stets allgemeiner als jeder Zweck, für den es geplant wird. Auch eine noch so gezielte Technikentwicklung erzeugt daher unvermeidlich einen unkontrollierbaren Überschuss weiterer Möglichkeiten.«[5]

Sodann greifen die Freiheitsrechte, im Fall der Biotechnik allen voran das Recht auf Gesundheit. Die Optionen entfalten eine Eigendynamik, indem Rechtsansprüche geltend gemacht werden »in demselben Maße, wie das faktische Können wächst«.

»Die technischen Optionen der modernen Biotechniken fallen automatisch in den Legitimationskreis des Rechts auf Gesundheit und des Rechts auf Selbstbestimmung. Das macht sie rechtlich und politisch praktisch unverfügbar. Die technische Entwicklung der Medizin löst ambivalente Reaktionen aus. Erkaufen wir das Versprechen, Krankheit und Tod abzuwenden, nicht mit einer immer bedrohlicheren totalen Manipulierbarkeit des Menschen? Diese Frage wurde schon oft gestellt und immer wieder in derselben Richtung beantwortet: Neue Techniken wurden schließlich akzeptiert und in das professionelle Repertoire der Medizin aufgenommen. Das gilt für die Reanimationstechniken, die Organtransplantationen, künstliche Organe und die Neurochirurgie. Es wird auch für die Keimbahntherapie und (vermutlich auch) für embryonale Transplantate gelten, falls sie je möglich und medizinisch sinnvoll sind.«[6]

30 Jahre später hat sich diese Prognose hinsichtlich des Embryonentransfers realisiert, und auch die PID lässt sich rechtlich nicht mehr abwehren, wenn sich die Betroffenen auf Gesundheitsvorsorge berufen.

Setzen sich also Technikoptionen »in the long run immer durch«?[7] Blickt man nur auf die Medizin, spricht vieles dafür. Andere Techniken werden dagegen relativ wirkungsvoll reguliert. Zu den Rechtstechniken der Regulierung gehört die Einräumung subjektiver Rechte zur Abwehr von Gefahren und unerwünschten Folgen des Technikgebrauchs.

»Subjektive Rechte auf Leben, Gesundheit und Selbstbestimmung werden als Positionen des Widerstands gegen die Überwältigung durch Techniken in Anspruch genommen.« Aber: »paradoxerweise kann man nicht Sicherheit und Selbstbestimmung gegen neue Techniken ins Feld führen, ohne damit zugleich die Werthaltungen zu fördern, die auch das Plädoyer für die Techniken tragen. Subjektive Rechte gegenüber technischen Optionen wirken asymmetrisch: Sie implizieren im Detail Restriktionen der Technik, im ganzen schieben sie deren Entwicklung eher weiter an.«[8]

Darauf bezieht sich Karavas und fügt noch eine systemtheoretische Begründung hinzu. Das Wollen habe sich als Kommunikationsmedium verselbständigt. »Für den liberal-demokratischen Rechtsstaat, der auf der Idee der subjektiven Rechte beruht, bedeutet das aber, dass er das Wollen nicht unterbinden kann, ohne sich selbst in Frage zu stellen.«[9] Das klingt klug, ist aber nur sophistisch. Das ganze Strafrecht ist eine Veranstaltung, um »Wollen zu unterbinden«. Das Problem stellt sich vielmehr mit der Frage, ob Ziel der Regulierung die Verteidigung der natürlichen Ordnung sein kann.


[1] Ingo Braun, Stoff, Wechsel, Technik. Zur Soziologie und Ökologie der Waschmaschinen, 1988.

[2]  U. v. 06.07.2010, 5 StR 386/09.

[3]  U. v. 5.11.2020 – 3 C 12.19.

[4] Vagias Karavas, Ermächtigung durch Technik? Zum Umgang mit Technikoptionen im liberal-demokratischen Rechtsstaat am Beispiel der Eizellkonservierung, Ancilla Iuris, 2019, 102-120.

[5] Van den Daele, Freiheiten gegenüber Technikoptionen: Zur Abwehr und Begründung neuer Techniken durch subjektive Rechte, KritiV 74, 1991, 257-278, S. 276.

[6]  Van den Daele S. 277.

[7] Karavas, Ermächtigung durch Technik? Zum Umgang mit Technikoptionen im liberal-demokratischen Rechtsstaat am Beispiel der Eizellkonservierung, Ancilla Iuris, 2019, 102-120.

[8] Van den Daele S. 258.

[9]  Van den Daele S. 278; Karavas S. 119.

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Der Material Turn verspricht mehr als er hält

»Wirklichkeit« als Begriff und Phänomen hat in den heutigen Sozial- und Kulturwissenschaften einen eher schweren Stand. Wohl auch aus Angst, eines naiven Wirklichkeitsverständnisses überfuhrt zu werden, pluralisiert man Wirklichkeit zu beobachterabhängigen Wirklichkeiten, man verflüssigt sie in kulturellen Konstruktionen, oder man löst sie gleich ganz in einem Kosmos referenzloser Simulakren auf, bis man dann in einer Art überschießender Umkehr die Materialität der Dinge unter nicht minder umständlichen Vorkehrungen wieder zum Vorschein bringen möchte.«[1]

Bis ins 20. Jahrhundert hinein standen sich Kultur und Materie weitgehend unvermittelt gegenüber. Kultur wurde als geistiges Phänomen betrachtet, für das materielle Objekte allenfalls als Aufzeichnungs- und Transportmittel dienten. Nur in der Kunst war die Verbindung enger. Spätestens die Medientheorie zeigte dann aber unübersehbar, dass das Material und seine äußere Form sich von dem Inhalt nicht vollständig trennen lassen. »The medium is the message.« Seit den 1980er Jahren gibt es ein verstärktes Interesse an stofflichen Objekten, an Dingen und Artefakten aus Natur, Technik und Kultur, das als material turn[2] geläufig ist.[3] Entsteht daraus eine neue Formel für die Natur der Sache?

Die Phänomenologie entdeckt den Körper (und qua embodiment den Menschen als Artefakt). Überall entdeckt man die Medialität des Sozialen. Cornelia Vismann entdeckt die Akten in Gericht und Verwaltung, der französische Soziologie Bruno Latour Treppenhäuser und Büroklammern im Conseil d‘Etat. Latour verkündet eine Akteur-Netzwerk-Theorie, die Menschen und Gegenstände zu einer hybriden Einheit zusammenfasst (und gleich ihr Akronym ANT mitliefert).[4] Die Dinge beginnen zu vibrieren oder zu performen. Sie zeigen Eigenlogik und Handlungsmacht. Die neue Sichtweise mündet etwa in der Frage, ob Flüssen, Tieren oder Automaten Rechtspersönlichkeit zukommt.

Latour erklärt den Unterschied zwischen der herkömmlichen Sichtweise (»soziologische Version«) und seiner eigenen Theorie (»materialistische Version«) am Beispiel einer Schusswaffe. Nach der soziologischen Version gilt: »Menschen töten Menschen, nicht Schusswaffen«, und Latour erläutert:

»Die Schusswaffe ist ein Werkzeug, ein Medium, ein neutraler Träger eines Willens. Wenn der Waffenbesitzer ein guter Mann ist, wird die Schusswaffe weise eingesetzt und nur gerecht töten. Wenn er jedoch ein Verbrecher oder Verrückter ist, dann wird ohne eine Veränderung in der Waffe selbst ein ohnehin ausgeführter Mord (einfach) effizienter ausgeführt. … die soziologische Version [macht] die Waffe zu einem neutralen Willensträger, der der Handlung nichts hinzufügt, der die Rolle eines elektrischen Leiters spielt, durch den Gutes und Böses mühelos Fließen.«

Die »materialistische Version« sagt dagegen: »Schusswaffen töten Leute«, und wiederum erläutert Latour:

»Ein unschuldiger Bürger wird ein Krimineller kraft der Waffe in seiner Hand. Die Waffe befähigt natürlich, aber sie instruiert auch, lenkt, zieht sogar am Abzug – und wer hätte nicht, mit einem Messer in der Hand, zu einer gewissen Zeit jemanden oder etwas erstechen wollen? Jedes Artefakt hat sein Skript, seinen Aufforderungscharakter, sein Potenzial, Vorbeikommende zu packen und sie dazu zu zwingen, Rollen in seiner Erzählung zu spielen.«[5]

Das hatte die klassische Phänomenologie schon besser im Griff, in dem sie den Aufforderungscharakter von Situationen unter Einschluss iher Dingwelt beschrieb. Nunmehr wird den Objekten selbst agency zugeschrieben, ein schwer übersetzbarer soziologischer Begriff für Handlungsmacht und Handlungsfähigkeit, der zu neuen Wortschöpfungen führt: Materie wird zum Aktanten, sie ist wirkmächtig, eigensinnig oder gar agentativ. Es werden Studien über Naturjoghurt als Resonanz der industriellen Landwirtschaft[6] oder Biografien von Kunststofftüten verfasst, die im Feuilleton einen Ehrenplatz fänden.

Wenn man sich dem Recht zuwendet, geht es darum, wie belebte und unbelebte Körper, Akten, Gerichtsäle, Gebäude, Roben, Büroklammern und Stempel, im Konzert des Rechts mitspielen. Keine Frage, dass man Richter als Frauen oder Männer ansehen kann, die Roben und Unterwäsche tragen, die in Gerichtsgebäuden auf Bürostühlen vor Desktops oder Laptops sitzen, die Dateien und Akten produzieren und Toiletten benutzen. Keine Frage, dass Nichtjuristen beim Paragraphenzeichen oder im Kriminalmuseum Rothenburg an Recht denken. Keine Frage, dass Historiker aus Artefakten Rechtsgeschichte rekonstruieren können. Keine Frage, dass Material und Materialisierungen des Rechts auch ästhetisches Interesse wecken. [7] Doch die »Natur der Sache«, die für die juristische Argumentation von Interesse ist, findet sich hier nicht.

Für die Beziehungen zwischen der materiellen und der sozialen Welt wird eine Fülle von Umschreibungen angeboten: Der Mensch als Teil eines sozio-materiellen Arrangements; Zusammenspiel von sozialem und materialem Raum, von biologischen und psychischen Phänomenen mit sozialem Handeln; Mitwirkung des Materiellen in sozialen Praktiken; Eigengesetzlichkeit von Materialität, soziale Vorgängigkeit der Objekte;  Widerständigkeit von Dingen und von Körpern; usw. usw. Daran schließen sich Forderungen wie die, die Blindheit für die materiale Dimension des Sozialen zu überwinden, hegemoniale Konzeptionen des Verhältnisses von Natur und Gesellschaft zu irritieren, Sozialität und Materialität zu resymmetrieren; materialitätssensibel zu verfahren; Körper, Dinge, Objekte und sogar Materie selbst als prozesshaft und relational zu verstehen, Materie in ihrer Unverfügbarkeit als immer schon grundlegend medial zu erfassen, die interaktive Verschränkung von Sozialem und Materie in den Blick zu nehmen, Akteure als leiblich zu begreifen, sie in ihrer Leiblichkeit ernst zu nehmen; die Relevanz von Materialität und Leiblichkeit für die soziologische Analyse anzuerkennen; die Technik und Medien weder als distinktive Bereiche der sozialen Wirklichkeit zu verhandeln noch diese essentiell in eins zu setzen, usw. Das alles soll zu einer radikalen Neuverhandlung der Frage der Materialität führen mit dem Ergebnis einer Neurahmung von Dinghaftigkeit als Relationalität und Materie als Materialisierung, die in relationalen Konzepten von Körper, Natur und Materie; in pluralen und offenen Ontologien oder postessentialistische Theorien des Materiellen mündet. Eine konsolidierte Theorie ist nicht in Sicht.

Als Neuer Materialismus ist der material turn ein feministisches Unternehmen geworden.[8] Es wendet sich, anders als der Neorealismus, nicht grundsätzlich gegen den kulturalistischen Konstruktivismus, sondern reagiert auf ein selbstgeschaffenes Problem der Queer-Theorie, die Umdeutung des biologisch-anatomischen Geschlechts zu einer sozialen Konstruktion. Der Neue Materialismus kommt mit einer epistemologischen und mit einer normativen Botschaft. Epistemologisch richtet sich er gegen einen positivistischen Tatsachenbegriff und damit gegen die Dualismen von Subjekt und Objekt, Körper und Geist, Natur und Kultur. Normativ fordert er einen sorgsameren Umgang mit materiellen Objekten, zu denen auch der menschliche Körper zählt.

Der Neue Materialismus widmet sich kaum der Materie an sich, sondern wissensgenerierenden Prozessen und kehrt so zu einem Konstruktivismus der Kontingenz und Unbestimmtheit der Materie zurück. Erneut steht dahinter das Anliegen des queertheoretischen Feminismus, auf epistemologischer Ebene die empirische Differenz der Geschlechter auszuhebeln. Das Startzeichen setzte Donna Haraway. Sie verlangte von einem

»feminist empiricism … simultaneously an account of radical historical contingency for all knowledge claims and knowing subjects, … and a no-nonsense commitment to faithful accounts of a ›real‹ world, one that can be partially shared and that is friendly to earthwide projects of finite freedom, adequate material abundance, modest meaning in suffering, and limited happiness«[9].

Karan Barad entwickelt einen agential realism, der Realität nicht vorfindet, sondern erst aus der Begegnung von Menschen und Dingen entstehen lässt.[10] Barad hatte sich als Physikerin dem Feminismus zugewandt. Da lag es nahe, an den Welle-Teilchen-Dualismus und die damit verbundene Unschärferelation anzuknüpfen. Das berühmte Diktum von Nils Bohr, es gebe keine Realität jenseits der Beobachtung, stützte sich auf das Phänomen, dass subatomare Teilchen nicht unabhängig von ihrer Beobachtung zu lokalisieren sind. Barad schließt daraus, dass Materie und menschliche Erkenntnistätigkeit erst in aktivem Zusammenwirken zum Wissenserwerb führen. Die Analogie zur Teilchenphysik überzeugt nicht. Die Analogiebasis taugt nichts, hängt doch die Lokalisierbarkeit subatomarer Teilchen keineswegs von menschlicher Beobachtung ab, sondern von der Nachbarschaft anderer Teilchen. Albert Einstein soll Bohr gefragt haben: Glaubst Du wirklich, dass der Mond nicht da ist, wenn niemand hinsieht? Die Antwort Bohrs war nicht weniger spitzfindig als die Frage: Beweise mir das Gegenteil! Es kommt nicht darauf an, ob Menschen hinsehen. Entscheidend ist, dass in der Masse des Mondes subatomare Teilchen kein Eigenleben führen und als solche nicht beobachtbar sind. Man kann schwerlich von fehlender Realität sprechen, wenn sich das Verhalten der Teilchen so berechnen und steuern lässt, dass man damit funktionierende Quantencomputer bauen kann.

Plausibel wäre dagegen die Wissenschaftstheorie des Biologen Hans Mohr, welche die Leistungsfähigkeit und Grenzen der menschlichen Denk- und Erkenntnisstrukturen durch die Evolution bestimmt sieht.[11] Damit wären letztlich auch die apriorisch gedachten Kategorien von Zeit, Raum und Kausalität sowie die klassische Logik nur das Ergebnis evolutionär verfestigter Erfahrung. Die Erfahrung ist durch die Leistungsfähigkeit der Sinnesorgane begrenzt mit der Folge, dass unsere kognitiven Strukturen nur dem Bereich der »mittleren Dimensionen«, dem so genannten Mesokosmos angepasst sind. Insoweit entsprechen sie den Realstrukturen der Welt.

»Die Auflösungskraft unseres Sehvermögens z. B. ist etwa 1/10 mm im Raum und 1/16 s in der Zeit. Der Grund für die Begrenzung unseres sensorischen Systems und damit unserer Anschauungsformen und kognitiven Strukturen ist darin zu suchen, daß die genetische Evolution des Menschen abhing von der Struktur und Auflösungskraft jener Sinnesorgane, die ihrer prinzipiellen Konstruktion nach viel früher in der tierischen Evolution angelegt waren und kaum noch verbessert werden konnten. Demgemäß war die genetische Evolution der Hominiden in den letzten zwei Millionen Jahren in erster Linie eine Evolution des Gehirns, eine Evolution der Datenverarbeitung.«[12]

Die Folge ist, dass unser Vorstellungsvermögen für Mikrokosmos und Makrokosmos nicht ausreicht, wiewohl auch dort die Realstrukturen mehr oder weniger denen des Mesokosmos entsprechen dürften, so dass indirekte Methoden der Beobachtung und die Mathematik nicht versagen. Die Quantenphysik hat jedenfalls die Suche nach einer Realität mit Ursache und Wirkung nicht aufgegeben.[13]

Es sind Menschen, die über das Verhältnis von Materie und Mensch theoretisieren. Sie können nicht aus ihrer Haut, schreiben aber über etwas außerhalb ihrer selbst, bestätigen damit den Dualismus von Subjekt und Objekt, Geist und Materie, den sie doch überwinden wollen. Das ist der performative Widerspruch der Beobachtung. Der Beobachter ist Teil der Welt, die er beobachtet, und hat doch keine Wahl als die Welt wie etwas Fremdes anzusehen, also als Subjekt über Objekte zu denken und zu reden.

Normativ wendet der Neue Materialismus sich gegen den mit den beklagten Dualismen verbundenen Anthropozentrismus und fordert einen sorgsameren Umgang mit Natur und Umwelt. Barad spricht von verantwortungsvoller Objektivität. Solche Forderungen sind gerne akzeptiert. Dazu braucht es keinen Umweg über die Epistemologie. Mit Epistemologie lässt sich keine Ethik begründen. Der Begriff des Anthropozentrismus entwickelt insoweit eine Eigendynamik, weil er einerseits für die epistemologische Position des Repräsentationalismus und andererseits für ein normatives Konzept steht. Beides hängt allenfalls historisch zusammen. Anthropozentrismus als normatives Konzept hat auch keineswegs zwangsläufig eine Geringschätzung von Natur und Umwelt zum Inhalt. Im Gegenteil: Allein der Mensch kann und muss Verantwortung gegenüber Umwelt und Natur übernehmen.

Es ist keine Frage, dass Raum, Zeit und Materialitäten aller Art menschliches Handeln bestimmen. Aber solche Bestimmung findet ihren Weg immer nur über das menschliche Wahrnehmungs- und Handlungsvermögen, oft auf vielen Umwegen, so dass es an aktuellem Bewusstsein fehlen mag. Materie wirkt, aber sie handelt nicht. Sie liefert Dispositive, nicht mehr und nicht weniger. In letzter Instanz bleibt es der Mensch, der handelt.

Eine Antwort, wie man aus dem Materiellen im weitesten Sinne – und damit aus der »Natur der Sache« – normative Konsequenzen ableiten kann, bleibt der material turn schuldig. Nur wenn man ihn oberflächlich beim Namen nimmt, kann man daraus einigen Nutzen ziehen, sei es, dass man öfter ins Museum geht, um die Materialisierungen der Kultur zu bewundern, sei es, dass man sich ermutigt fühlt, um mit der »Natur der Sache« zu argumentieren.


[1] Patrick Wöhrle, Zur Aktualität von Helmut Schelsky, 2015, Einleitung S. 9.

[2] Dazu allgemein Tony Bennett/Patrick Joyce (Hg.), Material Powers. Cultural Studies, History and the Material Turn, 2010 (Einleitung der Hg. S. 1-19); Peter J. Bräunlein, Material Turn, in: Georg-August-Universität Göttingen (Hg.), Dinge des Wissens 2012, 30-44; Katharina Hoppe/Thomas Lemke, Neue Materialismen zur Einführung, 2021 (Rezension von Martin Küpper, Zeitschrift für philosophische Literatur 9, 2021, 52-57; Martin Küpper, Materialismus, 2017; Hyo Yoon Kang/Sara Kendall, Introduction, Law Text Culture 23, 2019, 1-15; Chandra Mukerji, The Material Turn, in: Robert A. Scott/Stephan M. Kosslyn (Hg.), Emerging Trends in the Social and Behavioral Sciences 2015, S. 1-13. Seit 1996 erscheint bei SAGE ein Journal of Material Culture.

[3] uf der gleichen Ebene liegen temporal turn und spatial turn, die aber selten mit mit dem material turn zusammen gebracht werden.

[4] Bruno Latour, Das Parlament der Dinge: für eine politische Ökologie, 2001 [La fabrique du droit, Une ethnologie du Conseil d‘Etat, 2002], Rezension von Fabian Steinhauer, Der Staat, 56, 2017, 293-304.

[5] Über technische Vermittlung, in: Belliger/Krieger (Hg.), ANThology, 2006, 483-528, S. 485.

[6] Gianna Behrendt, Soziologie der Resonanz Der Naturjoghurt, in: Anna Henkel (Hg.), 10 Minuten Soziologie: Materialität 2018, 29-39.

[7] Hyo Yoon Kang, Law‘s Materiality: Between Concrete Matters and Abstract Forms. How Matter Becomes Material, in: Andreas Philippopoulos-Mihalopoulos (Hg.), Routledge Handbook of Law and Theory, 2019, 453-474, S. 454 u. 458.

[8] Martin Kallmeyer, New Materialism: neue Materialitätskonzepte für die Gender Studies, in: Beate Kortendiek u. a. (Hg.), HB Interdisziplinäre Geschlechterforschung, 2017, 1-10; Nina Lykke, Feministische Postkonstruktionismus, in: Tobias Goll u. a. (Hg.), Critical Matter. Diskussionen eines neuen Materialismus, 2013, S. 36-48.

[9] Donna Haraway, Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective, Feminist Studies 14, 1988, 575-599, S. 579.

[10] Karen Barad, Posthumanist Performativity: Toward an Understanding of How Matter Comes to Matter, Signs: Journal of Women in Culture and Society 28, 2003, 801-831; dies., Agentieller Realismus, Über die Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken, 4. Aufl. 2020; dazu; Katharina Hoppe/Thomas Lemke, Die Macht der Materie: Grundlagen und Grenzen des agentiellen Realismus von Karen Barad, Soziale Welt 66, 2015, 261-279; Sigrid Schmitz, Karen Barad: Agentieller Realismus als Rahmenwerk für die Science & Technology Studies, in: Diana Lengersdorf/Matthias Wieser (Hg.), Schlüsselwerke der Science & Technology Studies, 2014, 279-291. .

[11] Hans Mohr, Natur und Moral, 1987.

[12] Mohr S. 26f.

[13] Das lässt sich der Nobelpreisrede von Anton Zeilinger entnehmen: https://www.youtube.com/embed/fW4SwcMQYdA.

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Relevante Ähnlichkeit

Will man Fragen beantworten oder gar Probleme mit einer Analogie lösen, so hilft nicht jede Ähnlichkeit. Es kommt auf relevante Ähnlichkeiten an.[1] Der Relevanzbegriff ist allerdings kaum schärfer als derjenige der Ähnlichkeit.[2] Der Relevanz kommt man jedoch auf die Spur, wenn man die Beispiele für (mögliche) Analogien nicht abstrakt ansieht, sondern mit den Augen unterschiedlicher Betrachter, die jeweils ihre eigenen Fragen stellen.

Aristoteles wollte bei der Bildung seines Beispiels zeigen, was Sprache leisten kann. Mit Dionysos und Ares hatte er zwei Götter und Söhne des Zeus vor Augen, also zwei gleiche Objekte. Vor Augen hatte er aber auch die verschiedenen Attribute, den einen Gott mit Becher, den anderen mit Schild. Gleichheit und Ungleichheit zusammen ergibt Ähnlichkeit. In dieser Situation, so zeigt Aristoteles uns mit seinem Beispiel, können die Attribute als Ersatz für die Namen dienen.

Den Besucher der Antikenabteilung des Museums, der nebeneinander zwei Vasen mit figürlichen Darstellungen erblickt, bewegt die Frage, wen die Figuren darstellen könnten. Er wird zunächst Gleichheit konstatieren: Auf beiden Vasen sind Figuren aus der Mythologie abgebildet. Dann wird er nach Unterschieden suchen und bemerken, dass beide Figuren einen anderen Gegenstand in der Hand tragen. Nun erscheinen ihm die Figuren nicht länger als gleich, sondern nur noch als ähnlich. Wenn sein Vorwissen ausreicht, wird er mit Hilfe der Attribute aus seinem Vorwissen die Namen der dargestellten Figuren erschließen.

Der Aristoteles-Übersetzer will einen passenden Ausdruck für die Vokabel φιάλη finden, mit der Aristoteles den Becher des Dionysos bezeichnete. Der Übersetzer weiß, dass Dionysos im Bild meistens mit dem κάνθαρος, dem zweihenkligen Weinbecher, dargestellt wurde. Gigon übersetzte daher mit »Becher«, Fuhrmann dagegen mit »Schale«, vielleicht, um sprachlich eine Ähnlichkeit der unterschiedlichen Attribute zum Ausdruck zu bringen, die vielleicht schon Aristoteles im Sinn hatte, hat doch ein Schild umgedreht die Form einer Schale (und im Deutschen kommt die passende Alliteration hinzu). Anstelle des Bechers hätte Aristoteles auch den Thyrsos wählen können. So hat jeder einen anderen Blick auf die Dinge. Was als Ähnlichkeit wahrgenommen wird, liegt im Auge des Betrachters.

Für das »Auge des Betrachters« nutzen Psychologie, Soziologie und Linguistik das Konzept des Framing.[3] Frames sind kognitive Strukturen, die Wissen über bestimmte Phänomene oder Situationen ad personam bündeln. Diese Rahmung hängt von der Position (dem Aspekt) des Fragers ab und bestimmt damit dessen Definition der Situation. Damit schließt sich der Kreis zum Mapping und Encoding. Eine komplexe Situation wird subjektiv durch eine Auswahl konkreter Merkmale strukturiert, die als handlungsleitende Rahmung die Wahrnehmung lenkt. Merkmale, die im frame nicht enkodiert sind, bleiben draußen vor. Unberücksichtigt bleiben so im Beispiel des Aristoteles etwa die verschiedenen Mütter der beiden Zeus-Söhne, aber auch deren weitere Attribute.

Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten: Zwischen zwei beliebigen Objekten gibt es praktisch immer Unterschiede und ebenso Übereinstimmungen, die als Ähnlichkeiten wahrgenommen werden können. Jedes Mapping einer Situation, das durch das die Enkodierung von Merkmalen und Relationen die Erkennung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden möglich macht, lässt viele Merkmale unberücksichtigt. Was verschieden, gleich oder ähnlich ist, ist relativ zum frame desjenigen, der die Antwort auf eine von ihm gestellte Frage sucht. Gelegentlich springen Ähnlichkeiten aber auch unabhängig von bestimmten Problem- oder Fragestellungen ins Auge.

In vielen Situationen bietet der Rechtsstandpunkt einen Bezugsrahmen, der sich gegenüber anderen Rahmungen (wirtschaftlicher Standpunkt, politischer Standpunkt, Interessenstandpunkte) abgrenzen lässt. Der Rechtsrahmen kann jedoch zerfallen, wenn eine Analogie herangezogen werden soll, um ihn auszufüllen. Weinreb versucht zu beruhigen mit der These, dass juristische Ausbildung und Praxis zu einem einheitlichen Urteilsvermögen verhelfen:

»The legal knowledge and experience that lawyers and judges bring to the facts of a case tell them (…) that some similarities count for the matter at hand and others do not.« [4]

Brozek ist kritisch.[5]

»I find Weinreb’s conception problematic for one simple reason: he offers no structural account of analogical reasoning and the fact that we do (and often successfully) use analogies on daily basis is not a strong argument to the effect that analogy can serve as justification in rational legal discourse.«

Volle Skepsis gegenüber dem Ähnlichkeitsurteil der Juristen formuliert Schauer, wenn er schreibt:

» … lawyers do not select analogies that they will believe will not lead someone – judge or jury – to the conclusion that they are advocating, and judges do not select analogies that they believe will not help the reader of an opinion see the wisdom in heir conclusion.«[6]

Ich bin hin- und hergerissen. Deshalb will ich Weinreb ausführlicher zitieren.

»Although no rule dictates a decision, in the manner of a deductive argument, the choice of which analogy to prefer is not like the flip of a coin. Just as her common sense, the accumulation of ordinary experience, tells Edna that it makes no difference how much cranberry juice costs or whether it is imported, a lawyer or judge relies on his knowledge and experience of law. The greater his experience in the particular area of law, the more likely is it that the analogy he chooses will be convincing to others (just like Edna’s advice [der darin bestand, sie solle den roten Saftflecken mit dem gleichen Mittel bekämpfen wie einen Rotweinflecken], to Mary would be more convincing if Edna had a degree in food chemistry). The choice is iformed also by a broad understanding of what is relevant to the sort of decisionbeing made – a matter of liability (Adams) or regulation or business or individual rights – and broader still, what generally ›counts‹ in law.« (S. 59f)

»Without having any general rule or principle to work with, we often can tell with reasonable assurance what is likely to be relevant, because we have had more or less similar experiences, of how things work. Sometimes experience fails us. Who would have thought that the mold that forms on brad and other foods would be the source of an invaluable medicine? But over the lare range, our experience is ordely and serve us well.« (S. 122)

»The coherence and stability of a legal order is an analog of the orderliness of nature. The Analogy is not complete because our knowledge of the natural order depends on the overriding premise that its regularities are part of an objective reality that is there to be discovered. Regularities of the legal order , on the other hand, are the product of human design and have to be constructed. Nevertheless, in an ongoing legal order, they enable us to subject analogies in the law to the ordinary demands of substantive reasonableness, in light of what we know.

In short, support for the analogy on which an analogical legal argument depends is found in its legal context, or, more simply, in the law itself. Those who insist, that there is no basis for validating a legal argument except by deduction or induction suppose that lawyers and judges make their argument in a vacuum, as if they have no more reason to choose one analogy over another than would a visitor from Mars who was asked to explain why the lawn is wet.« (S. 125)

Und noch einmal vollständiger von S. 127:

»The legal knowledge and experience that lawyers and judges bring to the facts of a case tell them … that some similarities count for the matter at hand and others not. Their ability to make such distinctions is no more mysterious in the one case than it is in the other. If a legal analogy cannot be put to the test in the same way that a practical analogy can, it is nevertheless subject to tests of consistency and coherence with rules of law that together indicate the relevance of particular facts to the issue in question, although neither individually nor collectively do they prescribe conclusively for the specific situation.«

Weinreb findet in der Fähigkeit, situationsadäquat Gleichheit, Verschiedenheit und Ähnlichkeit wahrzunehmen, eine jedem Menschen angewachsene Kompetenz.[7]

»Ther is no question, however, that the ability is acquired very early and that it cannot be assimilated or reduced to deductive reasoning, because deductive reasoning depends on it.«

Dazu bezieht sich Weinreb auf W. V. Quine, bei dem zu lesen ist [8]:

»A standard of similarity is in some sense innate.«

Das Zitat stammt aus dem berühmten Aufsatz »Natural Kinds« (dort S. 274), in dem Quine dem Induktionsproblem mit einem realistischen Gattungsbegriff auf die Spur kommen wollte. Auch daraus sei ausführlicher (von S. 272) zitiert:

»For surely there is nothing more basic to thought and language than our sense of [similarity]; our sorting of things into kinds. The usual general term, whether a common noun or a verb or an adjective, owes its generality to some resemblance among the things referred to. Indeed, learning to use a word de pends on a double resemblance: first, a resemblance between the present circumstances and past circumstances in which the word was used, and second, a phonetic resemblance between the present utterance of the word and past utterances of it. And every reasonable expectation depends on resemblance of circumstances, together with our tendency to expect similar causes to have similar effects. The notion of a kind and the notion of similarity or resemblance seem to be variants or adaptations of a single notion. Similarity is immediately definable in terms of kind; for, things are similar when they are two of a kind. The very words for ›kind‹ and ›similar‹ tend to run in etymologically cognate pairs. Cognate with ›kind› we have ›akin‹ and ›kindred‹. Cognate with ›like‹ we have ›ilk‹. Cognate with ›similar‹ and ›same‹ and ›resemble‹ there are ›sammeln‹ and ›assemble‹, suggesting a gathering into kinds. We cannot easily imagine a more familiar or fundamental notion than this, or a notion more ubiquitous in its applications. On this score it is like the notions of logic: like identity, negation, alternation, and the rest. And yet, strangely, there is something logically repugnant about it. For we are baffled when we try to relate the general notion of similarity significantly to logical terms. One’s first hasty suggestion might be to say that things are similar when they have all or most or many properties in common.«

Was folgt aus alledem? Anscheinend gibt es so etwas wie einen Naturalized Turn in Epistemology (Chase Wrenn im der Routledge Handbook of Social Epistemology, 2019). Die Epistemologie kann den Alltagsrealismus doch nicht ganz ingnorieren. Es kommt auf die Suchrichtung an. Wenn man eine Matter of Question im Kopf hat und nach Ähnlichkeiten sucht, findet man nur relevante Ähnlichkeit. Fragt man dagegen nach Gleichheit, vergleicht man also zwei Objekte, so drängen sich auch natürliche (ontologische) Ähnlichkeiten auf.


[1] Bartosz Brożek, Analogy in Legal Discourse, ARSP 94, 2008, 188-201, S. 193.

[2] Brewer (wie Fn. 5) S. 933.

[3] Für die philosophische Argumentationstheorie baut Harald Wohlrapp auf dieses Konzept: wie Fn. 24 und ausführlich in: The Concept of Argument. A Philosophical Foundation, 2014, S. 175ff. .

[4] Lloyd L. Weinreb, Legal Reason. The Use of Analogy in Legal Argument, 2. Aufl., 2016, S. 127.

[5] Bartosz Brożek, Analogy in Legal Discourse, ARSP 94, 2008, 188-201, S. 193.

[6] Frederick Schauer, Thinking Like a Lawyer, A New Introduction to Legal Reasoning, 2009, S. 88.

[7] S. 114ff.

[8] Willard van Orman Quine, Natural Kinds, in: Essays in Honor of Carl G. Hempel,1969. Ich zitiere nach dem Abdruck in: Jaegwon Kim/Daniel Z. Korman/Sosa (Hg.), Metaphysic. An Anthology, 2012, 271-280, S. 272.

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Analogie als Prozess

Die Überlegung, was am Anfang einer Analogie stehen könnte, nämlich die »Matter in Question«, deutet darauf hin, dass die Folgerung am Ende das Ergebnis eines gedanklichen Prozesses sein muss, den man in seinen verschiedenen Stadien beschreiben kann.

Der gedankliche Prozess beginnt mit der Identifizierung eine Ausgangssituation, für die eine Erklärung gesucht, eine Frage zu beantworten oder ein Problem zu entscheiden ist. In juristischem Zusammenhang geht es stets darum, eine Norm zu finden, die eine Rechtsbehauptung stützen könnte. Brewer spricht von der analogy-warranting rule und liefert gleich eine Abkürzung mit (AWR).[1]

Im zweiten Schritt folgt die Suche nach Vergleichssituationen, die als Beispiel oder Vorbild dienen und damit zur Basis der Analogie werden können. In juristischem Zusammenhang geht es darum, einen bereits durch Gesetz oder Präjudiz geregelten ähnlichen Fall zu finden.

Im dritten Schritt wird ein Mapping der Ausgangssituation und der Vergleichssituation auf Ähnlichkeiten und Unterschiede angestellt. In juristischem Zusammenhang geht es darum, den Tatbestand der Vergleichssituation und den Tatbestand der Ausgangssituation zu vergleichen, also um einen Fallvergleich.

Im vierten Schritt werden die Merkmale oder Relationen identifiziert, die das Ausgangsproblem lösen könnten, wenn sie vom Vergleichsfall auf den Ausgangsfall übertragen würden. In juristischem Zusammenhang ist dieser Schritt schon mit dem ersten Schritt erledigt. Zu übertragen wäre die Rechtsfolge der Norm, die den Vergleichsfall regiert.

Im fünften Schritt wird nach Gründen gesucht, die für oder gegen die Übertragung sprechen. In juristischem Zusammenhang ist hier die wichtigste Arbeit zu leisten. Dabei wird man wiederholt auf den dritten Schritt zurückgeworfen, weil Ähnlichkeiten und Unterschiede in Abhängigkeit von den Gründen wahrgenommen werden.

Der sechste und letzte Schritt ist dann die Entscheidung für oder gegen den Analogieschluss.

Brozek fasst die ersten vier Schritte als Heuristik zusammen, den funften und sechsten als Abwägung.

Brewers Abhandlung ist weitgehend als Verteidigung der Analogie als eines selbständigen Arguments rezipiert worden. Dagegen macht Weinreb mit guten Gründen geltend, Brewer lege tatsächlich der Analogie nur als Heuristik einen Eigenwert bei. Alle weiteren Schritte, mit denen die durch die Analogie entdeckte Regel bestätigt oder verworfen werden, liefen auf eine Kombination von induktiven und deduktiven Argumenten hinaus.[2] Es lohnt sich indessen, noch einmal auf das heuristische Anfangsstadium zurückzukommen, das Brewer als Abduktion einordnet. Mit Peirce kann man davon ausgehen, dass die Auffindung von brauchbaren Erklärungen für neue Probleme am besten dem Wissenschaftler gelingt, der im Allgemeinen mit dem Problembereich vertraut ist. Analog gilt das auch für normative Analogien. Was am Anfang die Qualität der Abduktion bestimmt, könnte am Ende nach der Durchmusterung der konduktiven Argumente noch einmal für das abschließende Werturteil für oder gegen die Analogie wichtig werden. Die juristische Expertise überbrückt mit Hilfe der Analogie den dezisionistischen Rest der Entscheidung.


[1] Scott Brewer, Exemplary Reasoning: Semantics. Pragmatics, and the Rational Force of Legal Argument by Analogy, Harvard Law Review 109, 1996, 923-1028, S. 962.

[2] Lloyd L. Weinreb, Legal Reason. The Use of Analogy in Legal Argument, 2. Aufl., 2016, S. 109.

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Analogie und »Matter in Question«

Viele Überlegungen zur Struktur der Analogiebildung gehen davon aus, dass Analogiebildung mit der Wahrnehmung einer Problemsituation beginnt, im Rechtsdenken also etwa mit der Wahrnehmung einer Lücke. In der Argumentationsliteratur wird Analogiebildung als ein Verfahren zur Gewinnung von Schlussfolgerungen behandelt. Am Anfang steht eine Frage, ein Streitpunkt, ein Problem, ein Ausgangsfall, bei Wohlrapp in einem englischen Text »matter in question«[1]. Es ist aber denkbar, dass erst die Feststellung einer Ähnlichkeit auf Fragen und Probleme hinführt. Einem Touristen etwa, der eine fremde Stadt besichtigt, fällt auf, dass dort viele Gebäude einander ähnlich sehen. Der Besucher eines Museums bemerkt Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Kunstwerken. Die Ähnlichkeit wird zunächst auf der Ebene phänomenologischer Betrachtung konstatiert. Erst ex post stellen sich Fragen ein. Man bemerkt einen Menschen, der einem Bekannten frappierend ähnelt und fragt sich: ist das Verwandtschaft oder eine Laune der Natur. Einige Autoren sprechen insoweit von figurativen[2] Analogien, die keine bestimmte Frage beantworten. Explanatorische Analogien sollen allein dem besseren Verständnis dienen.[3] Ein berühmtes Beispiel ist der Vergleich von Strom mit Strom, also Elektrizität mit einem Fluss:

»Did you ever stop to think how words mold science and make it what it is? The scientists who first described electricity as a ›current‹ forever shaped science in this field. It then quite naturally began seriously to be assumed that electricity was something that flowed through wires as water flows between riverbanks. Naturally then it had a potential rate of flow influenced by the resistance it met. One term followed another and soon this cloud of symbols veiled the mystery of electricity and we felt that we completely understood.«[4]

Die Fähigkeit, Gleichheit, Verschiedenheit und Ähnlichkeit zu konstatieren und daraus Schlüsse zu ziehen, ist eine menschliche Basiskompetenz, die sich von früher Kindheit an entwickelt. Zuerst werden nur Attribute unterschieden. Dann auch Funktionen und Kausalitäten und damit Strukturen. So entwickelt sich die Fähigkeit zu weiterführenden Analogien.

Die Priorität von Frage oder Ähnlichkeit ist nicht immer klar. Ähnlichkeiten lösen Fragen aus. Fragen nehmen Einfluss darauf, ob und wo man Ähnlichkeiten findet. Übereinstimmungen, die als Ähnlichkeit erscheinen können, gibt es fast immer. Autos und Häuser haben Fenster gemeinsam. Vögel und Flugzeuge können fliegen. Kunstbilder und Herbstlaub sind farbig. Stühle und Menschen haben Beine. Deshalb werden sie aber normalerweise nicht als ähnlich wahrgenommen. Es scheint jedoch Ähnlichkeiten zu geben, die sich phänomenologisch mehr oder weniger aufdrängen. Anscheinend springt Ähnlichkeit eher ins Auge beim Vergleich von Attributen als beim Vergleich von Relationen.[5] Der Bundesfinanzhof hatte darüber zu befinden, ob Einkünfte aus der Vermietung eines in der die Luftfahrzeugrolle eingetragenen Flugzeugs ebenso zu behandeln seien wie Einkünfte aus der Vermietung von im Schiffsregister eingetragenen Schiffen.[6]  Da drängte das Attribut »Eintragung in ein öffentliches Register« die Analogie geradezu auf. Dagegen mag der Versuch, anonyme Umtriebe im Internet als »digitale Vermummung« in den Griff zu bekommen, zwar innovativ und einleuchtend erscheinen.[7] Die Relation »anonyme Kommunikation« ist aber doch vergleichsweise schwach.

Der Generalverdacht der Analogie-Skeptiker beruht darauf, dass keine zwei Objekte völlig gleich und ebenso wenig keine zwei Objekte gar keine Ähnlichkeit aufweisen. Sie schließen daraus, dass das Auffinden einer Ähnlichkeit schlechthin beliebig sei und die Analogie als selbständige Argumentation entsprechend wertlos.[8] Es fällt schwer, dieser Skepsis uneingeschränkt zu folgen. Die Fähigkeit, über Mustererkennung Gleichheit festzustellen, ist schon bei allen Wirbeltieren vorhanden, und Tiere sind auch schon in der Lage auf Ähnlichkeiten u reagieren.[9] Ähnlichkeiten drängen sich jedermann im Alltag ohne Anlass immer wieder auf. In psychologischen Tests werden relativ übereinstimmend Ähnlichkeiten erkannt. (Nicht nur) Künstler können ein Thema in Sprache Bild und Ton gezielt variieren, also Ähnlichkeiten herstellen, die dann auch in der Regel wiedererkannt werden. Wir können es nicht beweisen. Aber es gibt wohl doch eine objektivierbare Phänomenologie der relevanten Ähnlichkeit.


[1] Harald Wohlrapp, A New Light on Non-Deductive Argumentation Schemes, Argumentation 12, 1998, 341-350, S. 343.

[2] Bruce N. Waller, Classifying and Analyzing Analogies, Informal Logic 21, 2001, 199-218, S. 200.

[3] Douglas N. Walton, Informal Logic, 2. Aufl. 2008, S. 311; Manfred Kraus, Arguments by Analogy (and What We Can Learn about Them from Aristotle), in: Frans H. van Eemeren/Bart Garssen (Hg.), Reflections on Theoretical Issues in Argumentation Theory, 2015, 171-182, S. 172 mit Nachweisen, denen ich nicht nachgegangen bin.

[4] T. Swann Harding, Science at the Tower of Babel, Philosophy of Science 5, 1938, 338-353, S. 347.

[5] Robert L. Goldstone/Douglas L. Medin/Dedre Gentner, Relational Similarity and the Nonindependence of Features in Similarity Judgments, Cognitive Psychology 23, 1991, 222-262.

[6] BFH, Urteil vom 02. Mai 2000 – IX R 71/96 –, BFHE 192, 84.

[7] Timo Schwandner, Das digitale Vermummungsverbot – eine irreführende Analogie, ZRP 2019, 207-209; vgl. auch Hans-Christian Gräfe/Andrea Hamm, Anonymität im Internet, in: Franz X. Berger u. a. (Hg.), Autonomie und Verantwortung in digitalen Kulturen, 2021, 251-286.

[8] Hier lässst sich Peirce zitieren, der mit Beispielen die Beliebigkeit von Ähnlichkeitsargumenten demonstrieren will (CP 2.634): »There is no greater nor more frequent mistake in practical logic than to suppose that things which resemble one another strongly in some respects are any the more likely for that to be alike in others. That this is absolutely false, admits of rigid demonstration; but, inasmuch as the reasoning is somewhat severe and complicated (requiring, like all such reasoning, the use of A, B, C, etc., to set it forth), the reader would probably find it distasteful, and I omit it. An example, however, may illustrate the proposition: The comparative mythologists occupy themselves with finding points of resemblance between solar phenomena and the careers of the heroes of all sorts of traditional stories; and upon the basis of such resemblances they infer that these heroes are impersonations of the sun. If there be anything more in their reasonings, it has never been made clear to me. An ingenious logician, to show how futile all that is, wrote a little book, in which he pretended to prove, in the same manner, that Napoleon Bonaparte is only an impersonation of the sun. It was really wonderful to see how many points of resemblance he made out. The truth is, that any two things resemble one another just as strongly as any two others, if recondite resemblances are admitted.«

[9] Keith James Holyoak/Paul Thagard, Mental Leaps, 1995, S. 40 ff: The analogical ape.

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Analogie und Beispiel III: Fallvergleich und Distinguishing

Jedermann steht ständig vor der Notwendigkeit, Handlungsentschlüsse zu fassen. Da kann jede Handlung, die er beobachtet, zum Vorbild oder Beispiel werden. Beispiele können als bloße Anleitung (Rezept) oder als Normvorschlag dienen. Einem Beispiel zu folgen heißt, die aus dem Beispiel ersichtliche Regel zu verwirklichen. Auch Beispiele, die nur eine Gebrauchsanleitung für einen Sacherfolg liefern, enthalten insofern eine Regel. Handlungen, die nicht als Vorbild gedacht sind, können doch als solches wirken. (Im Alltag ist das anscheinend bei schlechten Beispielen häufiger der Fall als bei guten.) Damit stoßen wir auf ein Henne-Ei-Problem, die Frage nämlich, was geht voraus, der Fall oder die Regel? Anders gefragt, dienen Präjudizien als Vorbild für Fälle oder als Quelle für Regeln?

Jede Bezugnahme auf ein Präjudiz fordert einen Fallvergleich. Der Fallvergleich ist eine wie selbstverständlich geübte juristische Praxis, die allerdings methodisch wenig reflektiert wird. Für Fritjof Haft ist der Fallvergleich »die zentrale juristische Operation«[1]. Haft wendet sich gegen die »Grundvorstellung, daß es dem Rechtsanwender vorgegebene Rechtsideen gebe, und daß diese in abstrakten Begriffen festgehalten werden könnten. … [Denn] Die Gerechtigkeit ist eine Sache des Einzelfalles. Der Einzelfall wird nicht an vorgegebenen Ideen gemessen. Er trägt die richtige Lösung allein in sich.«[2] Über eine »bewußt gestaltete Vergleichsfalltechnik« erfährt man von Haft freilich nicht viel mehr, als dass es sich um »rhetorisches Problem« handelt.[3] Auch Arthur Kaufmann sieht im Fallvergleich den zentralen Akt der Rechtsgewinnung, nämlich »die Gleichsetzung des zu entscheidenden Falles mit solchen Fällen, die der einschlägigen Norm sicher unterfallen, also eine Analogie«[4]. Der Fallvergleich erfolge im Lichte einer durch Abduktion gewonnenen Normhypothese. Kaufmann wendet sich damit ausdrücklich gegen die Auffassung von Haft, dass ein Fallvergleich ohne Norm oder Regel möglich sei, die als tertium comparationis dient. Indessen verdient weder die Position Hafts noch diejenige Kaufmanns Zustimmung. Hafts Regelnihilismus ist nicht akzeptabel. Ohne Abstraktionen könnten wir uns nicht durch die Welt bewegen. Es geht immer nur um den Grad der Verallgemeinerung. Gegen Kaufmann ist zu sagen: Auch ohne eine Rechtsnorm als Vergleichsmaßstab kann man feststellen, dass zwei Objekte gleich oder ähnlich sind. Wäre es anders, gäbe es keine Kategorisierung und damit keine Begriffsbildung.

Die Differenz zwischen Haft und Kaufmann verschwindet, wenn man zwischen gelingender und zweifelhafter Kategorisierung unterscheidet. Auch ohne Vergleichsmaßstab kann man feststellen, dass zwei Objekte gleich sind. Wenn sie verschieden sind, kann man immer noch Ähnlichkeit konstatieren, wenn einzelne Merkmale übereinstimmen. Die Kategorie ist noch kein Vergleichsmaßstab. Dieser tritt für den Vergleich zur Kategorie hinzu. Primärer Maßstab für die Ähnlichkeit bleibt die Kategorie, der versuchsweise zugeordnet wurde. Erst wenn es darum geht, Ähnliches trotz Verschiedenheit gleichzusetzen, braucht man eine Regel als Vergleichsmaßstab. Dann geht es nicht mehr um Ähnlichkeit an sich (ontische oder phänomenale Ähnlichkeit), sondern um relevante Ähnlichkeit.

Die juristischen Kategorien für die Gesetzesanalogie liefern die Tatbestandmerkmale einer Norm. Wenn die Kategorisierung = Subsumtion misslingt, weil nicht alle, sondern nur einige Tatbestandsmerkmale erfüllt sind, geht es nicht länger um Gleichheit, sondern um Gleichsetzung aufgrund von Ähnlichkeit.[5] Die Ungleichsetzung entspricht dem distinguishing im Common Law. Black’s Law Dictionary[6] definiert: »To point out an essential difference.« Für Scott Brewer handelt es sich dabei um eine umgekehrte Analogie (disanalogy).[7] Das Problem steckt im essential. Offen bleibt, ob die Fälle als solche verglichen werden oder ob ein fallexterner Vergleichsmaßstab anzulegen ist.

Soll nicht auf eine Norm, sondern auf ein Präjudiz abgestellt werden, kann man nicht selten Gleichheit der Fälle konstatieren. Wurde dem Käufer eines Audi mit Dieselmotor des Baujahrs 2008 Schadensersatz zugebilligt, weil der Motor des Typs EA189 mit einer so genannten Schummel-Software ausgerüstet war, so liegt der Fall des Käufers eines anderen Audi mit diesem Motor, der nunmehr seinerseits Ersatz fordert, gleich. Für das Gleichheitsurteil bedarf es keiner Regel. Aber so klar ist das Gleichheitsurteil nicht immer. Die Kategorisierung von Fällen als gleich fällt »analog« zur Kategorisierung qua Subsumtion oft zweifelhaft aus. Dann allerdings muss ein Vergleichsmaßstab her. Als solche dient die Regel, die dem Präjudiz entnommen wird.

Ganz interessant ist in diesem Zusammenhang, wie die Sprachphilosophen mit einer »analogen« Problematik kämpfen und sich dazu an der Jurisprudenz orientieren. So überlegt Jasper Liptow, ob »sich unsere Praxis sprachlicher Verständigung aus philosophischer Perspektive in gewinnbringender Weise nach dem Modell einer (stark idealisierten) Praxis der Rechtsprechung verstehen lässt, nämlich des Fallrechts (case law)« [8]. Hintergrund ist die Kontroverse, ob zur Erklärung sprachlicher Verständigung von Idiolekten, also der Privatsprache einzelner Sprecher, oder besser von Soziolekten, also vom regelhaften Sprachverhalten menschlicher Gemeinschaften auszugehen ist. Liptow selbst optiert für den Idiolekt als Ausgangspunkt, weil sich die Individualität sprachlichen Verhalten nur damit vertrage. Aus dieser Sicht wären Sprachnormen nicht konstitutiv für die sprachliche Verständigung, sondern nur sekundäres Hilfsmittel.

»Sprachliche Verständigung dient primär dazu, andere zu verstehen. Insofern sie als das Verstehen einer gemeinsamen Sprache konzipiert wird, verfehlt sie diesen Zweck immer dann, wenn andere in ihren Sprachgewohnheiten – ihren Idiolekten – von dem abstrakten Ideal abweichen.… Einem solchen Begriff von Verständigung zufolge teilen wir zwar keine Sprache, aber eine unüberschaubare Vielzahl von Situationen gelungener Verständigung mit mindestens einer weiteren Person.« (Liptow S. 5, 11)

Liptow geht von einem »Fallrechts-Modell sozialer Praxis« aus, das von Robert Brandom »in einem ganz anderen Kontext« entwickelt wurde, nämlich zur der von ihm semantisch pragmatistisch genannten These, »daß der Gebrauch von Begriffen ihren Gehalt bestimmt, d. h. daß Begriffe keinen Gehalt außer dem haben können, der ihnen durch ihre Verwendung verliehen wird«[9]. Brandom charakterisiert dieses Modell damit,

»daß es ausschließlich auf Fällen beruht. Es ist keine Auslegung von expliziten Grundrechten, Regeln oder Prinzipien. Es gibt hier nur eine Abfolge von Anwendungen von Begriffen auf aktuelle Gruppen von Tatsachen. … Der Gehalt der Begriffe, die der Richter anwenden muß, ist vollständig konstituiert durch die Geschichte ihrer früheren tatsächlichen Anwendungen … Es ist diese Tradition, gegenüber welcher der Richter verantwortlich ist. Der Gehalt dieser Begriffe wurde vollständig durch ihre faktische Anwendung konstituiert.«[10]

Für die an dieser Stelle erörterte Frage, ob Gleichheit und Ähnlichkeit von Fällen auch ohne Rücksicht auf eine Regel oder Norm beurteilt werden kann, helfen die Überlegungen Brandoms aber nicht weiter. Was in seinem von Hegel bestimmten Kontext die »Begriffe« sind, sind im juristischen Kontext eben die Regeln. Brandom geht es darum, wie aus einer Kette von Fällen Regeln entstehen, wiewohl doch der Richter den Vor-Fall als Präjudiz verwerfen könnte. Seine Erklärung mit der »reziproke[n] Autorität« vergangener, aktueller und künftiger »Begriffsverwendungen« könnte im Abschnitt über »Casus und Regula« hilfreich werden. Für den aktuellen Zusammenhang entnehme ich Liptows Aufsatz aber nur, dass die Sprachphilosophie mit dem Gegensatz von Idiolekt und Soziolekt vor einem »analogen« Problem steht wie die Jurisprudenz mit der Frage, ob Fall oder Regel den Ausgangspunkt bilden. Wählt man analog zum Idiolekt den Fall als Ausgangspunkt und zieht man die Analogie mit Liptows Hilfe aus, so verhält es sich entsprechend der »radikalen Übersetzung« im Sinne von Quine und Davidson. Die Analogie funktioniert auf der Basis von Tatsachen, die ohne Regel zugänglich sind, nämlich auf einem Fall.

An Davidson knüpft auch Ralf Poscher in einem neuen Text über »The Hermeneutics of Legal Precedent«. Er stellt auf die intentionalistische Konzeption Davidson zu Meinung und Bedeutung ab, den er wie folgt zitiert:

»So in the end, the sole source of linguistic meaning is the intentional production of tokens of sentences«.

Davidson habe jedoch hinzugefügt, dass Bedeutung und Interpretation nicht auf konventionelle Sprache angewiesen seien. Wenn es um Präjudizien gehe, die selbst kein holding oder keine Regel formulierten, so müsse dennoch »hermeneutisch« nach der Intention der Entscheider gefragt werden.

Meine These lautet hier, dass ein Fallvergleich mindestens vorläufig ohne Hilfe einer Regel möglich ist. Es lässt sich schwerlich bestreiten, dass wir Personen, Gegenstände oder Örtlichkeiten, die wir einmal wahrgenommen haben, auch ohne Anlass wiedererkennen. In der Informatik spricht man vom One-Shot-Learning, das etwa dazu verhilft, ein bestimmtes Gesicht oder eine Stimme zu identifizieren. Praktisch wird dabei eine existente Kategorisierung nur durch zusätzliche Merkmale verfeinert. Nicht immer lässt sich auf diese Weise unterscheiden, ob ein identisches oder nur ein gleiches Objekt erkannt wird.

Schwieriger als der Vergleich von kompakten Objekten ist der Vergleich von komplexeren Situationen, wie ihn der Fallvergleich, der die Heranziehung eines Präjudizes rechtfertigen soll, in der Regel fordert. Auch »Situationen« können nur mit Hilfe von Begriffen = Kategorien beschrieben werden. Situationen lassen sich verhältnismäßig einfach kategorisieren, wenn man nur auf einzelne perzeptiv prominente Merkmale abstellt, z. B. auf die Beteiligten (Mann, Frau, zwei, viele), auf den Streitgegenstand (Geld, Beziehung, Politik) oder den dem Orts- und Zeitbezug. Solche Kategorisierung dient im Vorfeld des Gerichtsprozesses die Zuständigkeitsverteilung. Sie ist nicht von vornherein teleologisch, sondern – wenn man so will – ontologisch. Sie könnte auch für statistische Zwecke genutzt werden oder für die Zusammenstellung einer Stichprobe in der Sozialforschung[11]. Aber singuläre Merkmale machen noch keinen »Fall«. Wenn es um den Tatbestand eines Präjudizes geht, wird es insofern schwierig, als der Fall keine schlechthin objektive Einheit bildet. Was als Fall definiert wird, ist ein interessengeleiteter Ausschnitt aus der Welt. In juristischem Zusammenhang erhält der Fall seine Konturen aus vorhandenen oder gewünschten Regeln, aus Urteilstatbeständen und Klagevorbringen. Doch auch insoweit scheint mir ein vorjuristische, sozusagen ontologischer Fallvergleich nicht ausgeschlossen zu sein.

Wie würde künstliche Intelligenz (KI) den Fallvergleich übernehmen? KI hat keinen direkten Zugriff auf die Semantik und damit auf den intensionalen Gehalt eines Begriffs. KI arbeitet vielmehr extensional, das heißt, es werden Merkmale bestimmt, anhand derer sich die Fälle erkennen und unterscheiden lassen. Je mehr Merkmale benutzt werden, je spezifischer sie definiert werden, um so genauer wird eine Situation = Fall erkannt. Die Schärfe der Fallerkennung scheint also von der Spezifizierung der Merkmale abzuhängen, z. B. ob als Merkmal Tier oder Säugetier gewählt wird. Werden die Merkmale jedoch (zu) eng und scharf gewählt, so fallen (zu) viele Kandidaten aus dem Raster. Daher muss auch KI verfahren wie der Mensch im Alltag. Der bildet mit einer begrenzten Anzahl von Merkmalen ein »Konzept«. Dazu abstrahiert er von konkreten Gegenständen und Personen, Ereignissen und Handlungen. So entstehen »Typen«. Kelle/Kluge beziehen sich (S. 84) dazu (ungenau) auf Alfred Schütz. Diesen Bezug nehme ich als Wegweiser in die (Mundan)-Phänomenologie. Das bedeutet in meinem Zusammenhang, auch neue Aufgaben werden zunächst mit dem Vorrat an symbolischen Konstruktionen = Konzepten in Angriff genommen, die man in seiner Lebenswelt gewonnen hat.

Wenn also eine neue Aufgabe in Gestalt eines Fallvergleichs zu lösen ist, dann probiert man die Lösung zunächst mit unabhängig von dieser Aufgabe schon vorhandenen Konzepten. Zwar sind die Konzepte in Juristenköpfen immer schon mit Normvorstellungen angereichert. Dennoch besteht wohl grundsätzlich die Möglichkeit eines ontologischen oder besser phänomenologischen Fallvergleichs. Erst wenn es um die Gleichsetzung von bloß ähnlichen Fällen geht, kommt eine Regel oder deren Zweck ins Spiel.


[1] Fritjof Haft, Falldenken statt Normdenken, Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung (Hg.), Der deutsche Sprachgebrauch, Bd. II, 1981, 153-161, S. 153.

[2] Haft S. 156f.

[3] Haft S. 160.

[4] Arthur Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung – eine rationale Analyse, Deduktion, Induktion, Abduktion, Analogie, Erkenntnis, Dezision, Macht, 1999, S. VI.

[5] Zutreffend sagt Kaufmann daher an anderer Stelle, dass ein striktes Analogieverbot auf ein Interpretationsverbot hinausläuft (Analogie und »Natur der Sache«, 1965, S. 4).

[6] 5. Aufl. 1979, S. 425.

[7] Brewer S. 936 + S. 983 +S. 1006.

[8] Jasper Liptow, Das Fallrecht als Modell sprachlicher Praxis, in: Friedrich Müller (Hg.), Politik, (Neue) Medien und die Sprache des Rechts, 2007, 55-69, S. 1. Ich zitiere nach einem im Internet verfügbaren Manuskript; daher die abweichenden Seitenangaben.

[9] Robert Brandom, Pragmatistische Themen in Hegels Idealismus, Unterhandlung und Verwaltung der Struktur und des Gehalts in Hegels Erklärung begrifflicher Normen, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47, 1999, 355-381.

[10] A. a. . S. 377f.

[11] Udo Kelle/Susann Kluge, Vom Einzelfall zum Typus. Fallvergleich und Fallkontrastierung in der qualitativen Sozialforschung, 2. Aufl., 2010.

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Analogie und Beispiel I: Beispiele als Kontrastmittel

»An Analogical Argument can be desribed as reasoning by example.«[1]

»The defining feature of ›analogical‹, ›exemplary‹ reasoning is the use of examples in the process of moving from premises to conclusion in an argument«[2].

Ein einschlägiger Sammelband trägt den Titel »Analogy and Exemplary Reasoning in Legal Discourse«[3], erklärt uns aber nicht den Zusammenhang oder den Unterschied von Analogie und Beispiel. Fallen Beispiel und Analogieschluss etwa zusammen, wie man nach der Behandlung des Paradigmas durch Aristoteles meinen könnte? Jedenfalls scheinenBeispiele und Analogie etwas gemeinsam zu haben.

Exempla docent. Beispiele sind lehrreich. Sie dienen zur Konkretisierung von Abstracta. Regeln sind abstrakt, denn sie benennen keine Einzelfälle, sondern generalisieren. Eine Regel ist kraftlos, wenn die Fälle, die sie abdeckt, nicht identifiziert werden können. Beispiele können Regeln verdeutlichen, indem sie Einzelfälle vorstellen, die unter die Regel fallen. Mit Hilfe von Beispielen wird die Reichweite einer Regel ausgelotet. Dazu werden Normalfälle und Extremfälle gebildet, also Beispiele und Gegenbeispiele kontrastiert, um die Extension der Regel zu klären. Genau so werden Computerprogramme mit (Tausenden von) Beispielen trainiert.

Auf den ersten Blick dienen Beispiele nur zur Verbesserung der Kategorisierung. Das hat nichts mit Analogie zu tun. Bei einem zweiten Blick ist das nicht mehr so sicher. Sprachlich formulierte Regeln haben immer wieder unscharfe Grenzen. Beispiele liegen oft auf oder neben der Grenze. Dann ist die »Gleichsetzung« oder Ungleichsetzung des zu entscheidenden Falles mit den vom Gesetz zweifellos zu entscheidenden Fällen«[4] erforderlich. Autoren wie Arthur Kaufmann verneinen praktisch die Möglichkeit einer linearen Kategorisierung und gehen stattdessen von einer »Setzung« aus. Als gesetzlich streng determiniert akzeptiert Kaufmann nur Zahlbegriffe. Jede andere Anwendung einer Regel fordert nach seiner Auflassung eine »Gleichsetzung«, die er als Analogie eingeordnet.[5] Sein enger Subsumtionsbegriff hat einen weiten Analogiebegriff zur Folge. Diese Engführung verfehlt die Realität der Musterkennung durch menschliche und künstliche Intelligenz.

Subsumtion ist für Kaufmann gleichbedeutend mit Deduktion. Damit verwendet er den Subsumtionsbegriff in dem engen Sinne, der in der formalen Logik maßgeblich ist. Juristen nutzen den Subsumtionsbegriff jedoch meistens in einem weiteren Sinne, der eine »kleine« Auslegung einschließt. Kaufmanns immer wieder strapaziertes Beispiel ist der alte Salzsäurefall BGHSt 1, 1, indem das Gericht die Verwendung von Salzsäure gegen das Raubopfer als Verwendung einer »Waffe« angesehen hatte. Wenn die Flasche mit der Säure im Regal steht, also unabhängig von einem Raub, würden weder menschliche noch künstliche Intelligenz sie als Waffe kategorisieren. Es würde Ungleichheit konstatiert werden, und erst die Gleichsetzung von Säure und Waffe machte die Tat zum Raub. Damit läge die im Strafrecht unzulässige Analogie klar zu Tage.

Kategorisierung und Wiedererkennung von Objekten durch Menschen und Computer scheren sich nicht um das Universalienproblem, auf das Kaufmann immer wieder zurückkommt, sondern funktionieren. Im Bereich des Seienden gibt es keine absolute Gleichheit, aber auch keine völlige Verschiedenheit. Je genauer wir die Dinge betrachten, umso mehr schwinden die Gemeinsamkeiten. Bei genauester Beobachtung gibt es in Natur und Kultur keine gleichen Gegenstände. Genau besehen gleicht kein Stein dem anderen. Kein Lebewesen ist das vollkommene Abbild eines zweiten. Auch perfekter Technik will es nicht gelingen, völlig gleichartige Produkte herzustellen. Kein in der Zeit ablaufender Vorgang wiederholt sich in exakt derselben Weise. Es ist immer nur eine Frage der Vergrößerung, ob wir die Unterschiede wahrnehmen. Deshalb müssen wir davon ausgehen, dass wir in einer Welt von unendlicher Vielfalt leben. Wenn wir nur genau genug beobachten, werden wir sehen: Nichts ist schon da gewesen. Nichts wird sich wiederholen. Nichts ist gleich.

Und dennoch: Erfahrung ist Wiedererkennen. Erfahrung ist möglich, aber nur unter Verzicht auf Genauigkeit. Mit abnehmender Genauigkeit fügen sich die Dinge zu Klassen, und die Klassen werden gröber und größer. Blumen und Gräser, Bäume und Sträucher werden zu Pflanzen. Würmer und Käfer, Fische und Warmblüter werden zu Tieren. Stets können wir noch feiner unterteilen oder weiter zusammenfassen. Die Klassifizierungen bleiben notwendig unscharf, denn die Sprache muss mit einer endlichen Zahl von Begriffen die unendliche Vielfalt der Welt einfangen. Aber Menschen verfügen über die Kompetenz zur »elementaren Prädikation«[6]. Sie können in der Regel zwischen Gleichheit und Ähnlichkeit unterscheiden. Zutreffend weist daher Weinreb darauf hin, dass die philosophische Diskussion um den Universalienstreit durch die Arbeit der kognitiven Psychologie über Kategorisierungen abgelöst worden sei.[7]

Auch Psychologen und Informatiker kommen nicht mit Klassenbegriffen aus. Die Regeltheorie reicht ohne Ergänzung durch Prototypen- und/oder Exemplartheorien nicht aus, um das Kategorisierungsproblem zu erklären (o. IV). Dennoch sind menschliche eben so wie künstliche Intelligenz mit der Kategorisierung der Objektwelt sehr erfolgreich.

Für handelnde Menschen gilt: Ich weiß nicht, was eine Waffe ist, aber ich erkenne eine, wenn ich sie sehe. Das heißt: Menschen können auch ohne perfekte Definition kategorisieren. So liegt es »in der Natur der Sache«, dass Kaufmann am Ende den Typenbegriff zur Hilfe nimmt. Es wäre eine Aufgabe für sich, die Prototypentheorie der Kognitionspsychologie (und der Linguistik[8]) mit der juristischen Lehre vom Typus zu vergleichen. Das kann ich hier nicht leisten. Ich will aber auf ein anderes Problem hinweisen, dass sich aus der Verwendung des Typenbegriffs durch Kaufmann ergibt.

»Wenn man, um nochmals dieses Beispiel aufzugreifen, Salzsäure als eine ›Waffe‹ ansieht, so folgt das nicht aus dem Begriff der Waffe, sondern aus dem Typus der gefährlichen Körperverletzung.«[9]

So entfernt sich Kaufmann von der Auslegung und Subsumtion unter Tatbestandmerkmale. An die Stelle einer linearen Betrachtung von Tatbestandsmerkmalen und vielleicht auch noch von Relationen zwischen diesen tritt mit dem Typus eine weiter ausgreifende, ganzheitliche Betrachtung des »Falles«. Je weiter man die Sachverhalte fasst, die verglichen werden, um so eher kann man gemeinsame Merkmale entdecken. Kaufmann fährt fort:

»So erweist sich die Ähnlichkeit der Dinge nicht als eine ihnen bloß vom Subjekt beigelegte, vielmehr tragen die Dinge die Merkmale der Ähnlichkeit allererst in sich selbst.« (S. 44)

Darin würde ich ihm grundsätzlich beipflichten. Allein die Subjektivität verlagert sich bei Kaufmann in die Bestimmung der Vergleichsobjekte. Man kann durchaus darüber streiten, ob für die Anwendung von Rechtsnormen einzelne Tatbestandsmerkmale je für sich behandelt werden oder ob man umfassender »teleologisch« darauf abstellt, welche »Situation« die Rechtsnorm erfassen soll (oder gar noch einen weiteren Kontext einbezieht). Aber jedenfalls vom Strafrecht sollte man erwarten, dass es einzelne Tatbestandsmerkmale kategorisiert, weil andernfalls das strafrechtliche Analogieverbot seine Schärfe verliert.

Der Abschnitt über Analogie und Beispiel ist damit noch nicht abgeschlossen, sondern verlangt mindestens noch zwei Fortsetzungen. Die erste, in der es um Extrembeispiele und die so gennannte Defeasability of Rules geht, ist schon fertig und folgt bald.


[1] Lloyd L. Weinreb, Legal Reason. The Use of Analogy in Legal Argument, 2. Aufl. 2016, S. 4.

[2] Scott Brewer, Exemplary Reasoning: Semantics, Pragmatics, and the Rational Force of Legal Argument by Analogy, Harvard Law Review 109, 1996, 923-1028, S. 934.

[3] Hendrik Kaptein/Bastiaan Velden, Analogy and Exemplary Reasoning in Legal Discourse, 2018. Allerdings befasst sich darin nur der Beitrag von Amalia Amaya, Imitation and Analogy, S. 13-31, mit Beispielen. Bei Amaya geht es aber nicht um Fallbeispiele oder Normbeispiele, sondern um beispielgebenden Personen. Sie nutzt die aristotelische Tugendethik als Brücke, um die Imitation oder Nachahmung tugendhafter Menschen als analogieähnliche Methode zu empfehlen. Dazu hätte Amaya zitieren können: Lawrence B. Solum, Virtue Jurisprudence: A Virtue Centered Theory of Judging, Metaphilosophy 34 , 2003, 178-213.

[4] Arthur Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung – eine rationale Analyse, Deduktion, Induktion, Abduktion, Analogie, Erkenntnis, Dezision, Macht, 1999, S. 71.

[5]Arthur Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung, S. VI, 25.

[6] Wilhelm Kamlah/Paul Lorenzen, Logische Propädeutik, 3. Aufl., 1996, S. 23ff.

[7] Weinreb, Legal Reason, S. 149ff, 151.

[8] Martina Mangasser-Wahl, Prototypentheorie in der Linguistik, 2000; John R. Taylor, Prototype Theory, in: Claudia Maienborn u. a., Hg., Semantics, 2011, 643-664.

[9] Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung, S. 40.

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Abduktion als Induktion oder Analogie

Im Zusammenhang mit der Analogie taucht auch der Begriff der Abduktion auf, und dazu beruft man sich auf den amerikanischen Philosophen Charles S. Peirce. Auf den 5092 Seiten der Collected Papers[1] findet man den Ausdruck abduction – die Überschriften mitgezählt – 130 Mal. Peirce scheint wie besessen von der Abduktion, kann sie (mir) aber am Ende doch nicht wirklich erklären. Auch mit Hilfe der Sekundärliteratur[2] bin ich nicht klüger geworden. Mir kommt es aber auch nicht darauf an, Peirce richtig zu verstehen oder seine Texte adäquat zu interpretieren. Ich behandle die Klassiker als Steinbruch oder Werkzeugkiste, auch wenn sie, anders als Foucault, zu einer solchen banausenhaften Verwendung nicht aufgefordert haben. Der Begriff der Abduktion schwirrt nun einmal herum, so dass man ihn sich irgendwie zurechtlegen muss. Zum Putzen und Schärfen des Werkzeugs habe vielleicht schon zu viel bei Peirce und in der Sekundärliteratur nachgelesen. (Das war aber nicht langweilig.) Ich werde im Folgenden ausführlich Stellen aus den CP zitieren, mit denen ich versucht habe, mir das Problem zu vergegenwärtigen. Der geneigte Leser mag die langen Zitate (zunächst?) überschlagen.

Als Apagoge (ἀπαγωγή = lat. abductio) hatte Aristoteles in der Zweiten Analytik den Schluss vom Besonderen auf das Allgemeine bezeichnet. Peirce nimmt diesen Begriff wieder auf für ein Verfahren, das neben Deduktion und Induktion ein drittes eigenständiges Schlussverfahren bilden soll. Am Rande: Wer sich davon überzeugen möchte, dass Peirce seinen Aristoteles lesen konnte, mag eine philologische Feinheit zur Kenntnis nehmen, die ein Bochumer Autor, der Philosoph Jürgen von Kempski, ausgeleuchtet hat.[3] Peirce war nämlich der Ansicht, dass der überlieferte Aristoteles-Text korrumpiert sei[4], und von Kempski hat ihn darin bestätigt.

»There are in science three fundamentally different kinds of reasoning, Deduction (called by Aristotle {synagögé} or {anagögé}), Induction (Aristotle’s and Plato’s {epagögé}) and Retroduction (Aristotle’s {apagögé}, but misunderstood because of corrupt text, and as misunderstood usually translated abduction). Besides these three, Analogy (Aristotle’s {paradeigma}) combines the characters of Induction and Retroduction.«[5]

Im Anschluss an Deduktion und Induktion (CP 1.66 und 1.67) erläutert Peirce »Retroduktion« und Analogie. Retroduktion ist, was er an anderer Stelle als Abduktion bezeichnet:

»Retroduction is the provisional adoption of a hypothesis, because every possible consequence of it is capable of experimental verification, so that the persevering application of the same method may be expected to reveal its disagreement with facts, if it does so disagree. For example, all the operations of chemistry fail to decompose hydrogen, lithium, glucinum, boron, carbon, nitrogen, oxygen, fluorine, sodium, . . . gold, mercury, thallium, lead, bismuth, thorium, and uranium. We provisionally suppose these bodies to be simple; for if not, similar experimentation will detect their compound nature, if it can be detected at all. That I term retroduction.« (CP 1.68)

CP 1.69: »Analogy is the inference that a not very large collection of objects which agree in various respects may very likely agree in another respect. For instance, the earth and Mars agree in so many respects that it seems not unlikely they may agree in being inhabited.«

Das berühmte Bohnenbeispiel (CP 2.523), an dem Peirce den Unterschied zeigen wollte, ist dazu ungeeignet, denn es läuft auf eine Induktion hinaus.

»DEDUCTION.

Rule.–All the beans from this bag are white.

Case.–These beans are from this bag.

.·.Result.–These beans are white.

INDUCTION.

Case.–These beans are from this bag.

Result.–These beans are white.

.·.Rule.–All the beans from this bag are white

HYPOTHESIS.

Rule.–All the beans from this bag are white.

Result.–These beans are white.

.·.Case.–These beans are from this bag.«

Mi eigenen Worten: Auf dem Tisch liegt ein Sack mit Bohnen. Wenn wir seinen Inhalt schon kennen, können wir deduzieren: Alle Bohnen im Sack sind weiß. Nehmen wir also Bohnen aus dem Sack, so sind diese Bohnen weiß (Deduktion). Kennen wir die Farbe der Bohnen in dem Sack noch nicht, nehmen wir aber eine Probe und finden weiße Bohnen, so werden wir vermuten, dass auch die anderen Bohnen im Sack weiß sind. Das wäre ein (quantitativer) Induktionsschluss. Wir können unserer Sache aber erst sicher sein, wenn wir alle Bohnen im Sack auf ihre Farbe überprüft haben. Wissen wir, dass alle Bohnen im Sack weiß sind, und sehen wir daneben verstreute weiße Bohnen, so »abduzieren« wir, d. h., bilden wir die Hypothese: Die Bohnen sind aus diesem Sack. Dieses anfängliche Erraten einer Hypothese, das auf Grund unserer (allgemeinen?) Erfahrung besser ist als ein Zufallstreffer, nannte Peirce Abduktion. Abstrakt formuliert: Wir beobachten ein Phänomen, für das wir nach einer Erklärung suchen (result). Für die Erklärung braucht es eine Regel. Da eine einschlägige Regel nicht bekannt ist, stellen wir eine Vermutung an (hypothesis, presumtion). Angewendet auf die Beobachtung erklärt die hypothetische Regel den Fall (case). Damit sind wir wieder bei einer Deduktion. Aber woher haben wir unsere Regelvermutung? Dass Bohnenbeispiel legt nahe, dass es sich um eine (schwache) Induktion handelt, denn unsere Erfahrung sagt uns: Wenn neben einem Sack lose Teile liegen, stammen die häufig aus dem Sack.

Peirce legt jedoch Wert darauf, dass Induktion und Abduktion sich grundsätzlich unterscheiden. Seine Erläuterung in CP 2.632 habe ich nicht verstanden. Sein Beispiel dort hilft mir nicht:

»A certain anonymous writing is upon a torn piece of paper. It is suspected that the author is a certain person. His desk, to which only he has had access, is searched, and in it is found a piece of paper, the torn edge of which exactly fits, in all its irregularities, that of the paper in question. It is a fair hypothetic inference that the suspected man was actually the author. The ground of this inference evidently is that two torn pieces of paper are extremely unlikely to fit together by accident. Therefore, of a great number of inferences of this sort, but a very small proportion would be deceptive.«

Das Beispiel bietet sich zunächst für zwei Deduktionen an:

Regel: Wenn immer die unregelmäßigen Risskanten von zwei Papierfetzen zusammenpassen, gehören sie ursprünglich zusammen.

Fall: Hier haben wir zwei Papierfetzen, deren Risskanten zusammenpassen.

Folgerung: Die Papierfetzen sind Teil eines Blatts.

Regel: Der Text auf einem Blatt stammt von ein- und demselben Autor.

Fall: Die beiden Papierfetzen bildeten ursprünglich ein Blatt.

Folgerung: Der Text auf beiden Papierfetzen stammt von demselben Autor.

Die verwendeten Regeln können durch zwei Induktionen gewonnen werden.

Fall: Hier haben wir zwei Papierfetzen, deren Risskanten zusammenpassen.

Folgerung: Die Papierfetzen bildeten ursprünglich ein Blatt.

Regel: Wenn immer die unregelmäßigen Risskanten von zwei Papierfetzen zusammenpassen, bildeten sie ursprünglich ein Blatt.

Fall: Die Papierfetzen bildeten ursprünglich ein Blatt.

Folgerung: Der Text auf beiden Papierfetzen stammt von demselben Autor.

Regel: Der Text auf einem Blatt stammt von ein- und demselben Autor.

Peirce fährt fort:

»The analogy of hypothesis with induction is so strong that some logicians have confounded them. Hypothesis has been called an induction of characters. A number of characters belonging to a certain class are found in a certain object; whence it is inferred that all the characters of that class belong to the object in question. This certainly involves the same principle as induction, yet in a modified form. In the first place, characters are not susceptible of simple enumeration like objects; in the next place, characters run in categories. When we make an hypothesis like that about the  piece of paper, we only examine a single line of characters, or perhaps two or three, and we take no specimen at all of others. If the hypothesis were nothing but an induction, all that we should be justified in concluding, in the example above, would be that the two pieces of paper which matched in such irregularities as have been examined would be found to match in other, say slighter, irregularities. The inference from the shape of the paper to its ownership is precisely what distinguishes hypothesis from induction, and makes it a bolder and more perilous step.«

Jetzt schwenkt Peirce die Aufmerksamkeit also von den Risskanten auf die Buchstaben. Es leuchtet ein, dass man von dem Vorkommen bestimmter Buchstaben auf beiden Papierfetzen kaum auf den Autor schließen kann. Aber die Bedeutung des Beispiels für die Unterscheidung von Induktion und Hypothese = Abduktion bleibt mir verborgen.

In der elektronischen Ausgabe der CP findet man zwischen CP 2. 269 und 2.271 einen durchstrichenen Text, der nach typografischer Bereinigung wie folgt lautet:

»Abduction is a method of forming a general prediction without any positive assurance that it will succeed either in the special case or usually its justification being that it is the only possible hope of regulating our future conduct rationally and that Induction from past experience gives us strong encouragement to hope that it will be successful in the future.«

Diesen Absatz zitiert und übersetzt von Kempski, der noch mit der gedruckten Ausgabe arbeitete, als CP 2.27:

»Eine Abduktion ist eine Methode, eine allgmeine Voraussage ohne jede positive Gewßheit zu bilden, daß sie im besonderen Fall oder gewöhnlich sich bestätigen wird; ihre Rechtfertigung liegt darin, daß sie die einizige mögliche Hoffnung, unser zukünftiges Verhalten rational zu regeln, darstellt und die Induktion von früherer Erfahrung uns stark ermutigt zu hoffen, daß sie in der Zukunft erfolgreich sein wird.«

Interessant ist an dieser Stelle der Hinweis auf »die Induktion von früherer Erfahrung«. Die folgenden beiden Zitate bestätigen nur das bisher Gesagte.

CP 2.96: »Argument is of three kinds: Deduction, Induction, and Abduction (usually called adopting a hypothesis).«

CP 2.777: »Presumption is the only kind of reasoning which supplies new ideas, the only kind which is, in this sense, synthetic. Induction is justified as a method which must in the long run lead up to the truth, and that, by gradual modification of the actual conclusion. There is no such warrant for presumption. The hypothesis which it problematically concludes is frequently utterly wrong itself, and even the method need not ever lead to the truth; for it may be that the features of the phenomena which it aims to explain have no rational explanation at all. Its only justification is that its method is the only way in which there can be any hope of attaining a rational explanation.«

Unter der Überschrift »Pragmatism and Abduction« wird die Abduktion schließlich zu einem Schlüsselelement von Peirce‘ Pragmati(zi)smus (CP 5180ff), so daß Pragmatismus und Logik der Abduktion zusammenfallen«[6]

»(3) The third cotary proposition is that abductive inference shades into perceptual judgment without any sharp line of demarcation between them; or, in other words, our first premisses, the perceptual judgments, are to be regarded as an extreme case of abductive inferences, from which they differ in being absolutely beyond criticism. The abductive suggestion comes to us like a flash. It is an act of insight, although of extremely fallible insight. It is true that the different elements of the hypothesis were in our minds before; but it is the idea of putting together what we had never before dreamed of putting together which flashes the new suggestion before our contemplation.« (CP 5180)

Die ausführliche Kommentierung von Kemspkis versteht diese Stelle als Auseinandersetzung mit der Kantischen Kategorienlehre. Ich verstehe sie gar nicht, auch nicht mit Hilfe der Erläuterungen Karl-Otto Apels[7] zu den »Schleifstein-Thesen«, deren dritte ich eben zitiert habe.

Hilfreich ist dagegen der Wikipedia-Artikel Abduktion, der klarstellt, dass Peirce seine Vorstellungen über die Abduktion später (CP 8.209) geändert hat. Ich zitiere aus Wikipedia:

»Aus heutiger Sicht ist unstrittig, dass Peirce etwa bis 1898 unter dem Begriff Hypothesis zwei recht unterschiedliche Formen des Schlussfolgerns fasste, ohne dies jedoch zu bemerken (ausführlich dazu Reichertz 2013). Als ihm dieser unklare Gebrauch auffiel, arbeitete er in seiner Spätphilosophie den Unterschied zwischen den beiden Verfahren deutlich heraus und nannte die eine Operation ›qualitative Induktion‹, die andere ›Abduktion‹. Das meiste, was Peirce vor 1898 zum Thema Hypothesis geschrieben hatte, charakterisierte jedoch nicht die Abduktion, sondern die qualitative Induktion. Erst später räumt Peirce ein: ›By hypothetic inference, I mean (…) an induction from qualities‹ (CP 6.145). Grund für den Irrtum: ›Doch ich war zu sehr damit beschäftigt, die syllogistische Form und die Lehre von der logischen Extension und Komprehension zu untersuchen, die ich als weit grundlegender ansah als sie wirklich sind. Solange ich dieser Überzeugung war, vermengten sich in meiner Vorstellung von der Abduktion notwendig zwei verschiedene Arten des Schließens‹ (Peirce MS 425 – 1902). In einem Briefentwurf an Paul Carus ging Peirce mit seinen Ansichten von 1883 noch schärfer ins Gericht. ›In fast allem, was ich vor dem Beginn dieses Jahrhunderts in Druck gab, vermengte ich mehr oder weniger Hypothese und Induktion‹ (CP 8.227).

Im Spätwerk hat Peirce entsprechend die formale Struktur des Syllogismus nicht mehr benutzt, um die Abduktion zu charakterisieren. Er hat vielmehr dann das kreative Moment und die Originalität des Einfalls, der wie ein Blitz entsteht, hervorgehoben. ›Die abduktive Vermutung kommt uns blitzartig, Sie ist ein Akt der Einsicht, obwohl von außerordentlich trügerischer Einsicht. Es ist wahr, daß die verschiedenen Elemente der Hypothese zuvor in unserem Geist waren; aber die Idee, das zusammenzubringen, von dem wir nie zuvor geträumt hätten, es zusammenzubringen, lässt blitzartig die neue Vermutung in unserer Kontemplation aufleuchten‹ (CP 5.181).«

So hat Peirce den Abduktionsbegriff auf den Fall reduziert, dass zur Erklärung eine unerklärlichen = überraschenden Beobachtung eine Vermutung oder Hypothese gebildet wird. Er versichert uns immer wieder, dass in einem solchen Fall die Abduktion die eigentliche und einzige schöpferische Leistung der Wissenschaft sei.

»Abduction is the process of forming an explanatory hypothesis. It is the only logical operation which introduces any new idea; for induction does nothing but determine a value, and deduction merely evolves the necessary consequences of a pure hypothesis.

Deduction proves that something must be; Induction shows that something actually is operative; Abduction merely suggests that something may be.

Its only justification is that from its suggestion deduction can draw a prediction which can be tested by induction, and that, if we are ever to learn anything or to understand phenomena at all, it must be by abduction that this is to be brought about.

No reason whatsoever can be given for it, as far as I can discover; and it needs no reason, since it merely offers suggestions.«[8]

In die Bezeichnung als logischen Vorgang darf man nicht mehr hineinlesen, als schon in der Definition steht, eben die Aufstellung einer Hypothese. Die Zitate sollten gezeigt haben, dass Peirce großen Wert darauf legt, die Abduktion von der Induktion zu unterscheiden. Das gelingt aber nur, indem er die Induktion enger definiert als üblich. Induktion ist für ihn nicht schon die erstmalige Verallgemeinerung einer Beobachtung zu einer hypothetischen Regel, sondern sie dient erst nachfolgend dazu, die abduktiv gewonnene Hypothese mehr oder weniger wahrscheinlich zu machen.

Hier noch ein Zitat, das man wohl als das wissenschaftstheoretische Bekenntnis von Peirce ansehen darf:

»The truth of pragmaticism may be proved in various ways. I would conduct the argument somewhat as follows. In the first place, there are but three elementary kinds of reasoning. The first, which I call abduction (…) consists in examining a mass of facts and in allowing these facts to suggest a theory. In this way we gain new ideas; but there is no force in the reasoning. The second kind of reasoning is deduction, or necessary reasoning. … The third way of reasoning is induction, or experimental research. Its procedure is this. Abduction having suggested a theory, we employ deduction to deduce from that ideal theory a promiscuous variety of consequences to the effect that if we perform certain acts, we shall find ourselves confronted with certain experiences. We then proceed to try these experiments, and if the predictions of the theory are verified, we have a proportionate confidence that the experiments that remain to be tried will confirm the theory. I say that these three are the only elementary modes of reasoning there are. … Abduction furnishes all our ideas concerning real things, beyond what are given in perception, but is mere conjecture, without probative force. Deduction is certain but relates only to ideal objects. Induction gives us the only approach to certainty concerning the real that we can have. …The successes of modern science ought to convince us that induction is the only capable imperator of truth-seeking. Now pragmaticism is simply the doctrine that the inductive method is the only essential to the ascertainment of the intellectual purport of any symbol.«

Der Abduktionsbegriff ist eher verwirrend. Er erklärt gar nichts, sondern benennt nur das Phänomen einer innovativen Deutungshypothese, die »irgendwie« auf vorhandenes Vorwissen zurückgreift. Deshalb ist es kein Fortschritt, wenn der Begriff auch Eingang in die juristische Methodenliteratur findet.[9] Will man »Abduktion« dennoch begriffliches Werkzeug verwenden, so handelt es sich um nichts weiter als um eine Vermutung, die als Hypothese formuliert werden kann, um durch qualitative oder quantitative Induktion als mehr oder weniger wahrscheinlich bewiesen zu werden.

Was hat das alles mit Analogie zu tun? Bei der Abduktion geht es (nur) darum, dass eine überraschende Beobachtung eine neuartige Erklärung auslöst. Indessen kommen solche Erklärungen nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel, sondern werden, wenn auch ganz unsystematisch, aus Vorwissen geschöpft. Peirce sieht hier eine »Induktion von früherer Erfahrung« am Werk (CP 2.270). Induktion von früherer Erfahrung ist aber nichts anderes als eine Analogie. Noch einmal CP 1.69:

»Analogy is the inference that a not very large collection of objects which agree in various respects may very likely agree in another respect. For instance, the earth and Mars agree in so many respects that it seems not unlikely they may agree in being inhabited.«

So ist es die Analogie, welche die die innovative Hypothese auslöst, indem sie ein aus anderen Zusammenhängen vertrautes Muster aufruft.

[Fortsetzung folgt: Analogie und Beispiel.]


[1] Collected Papers of Charles S. Peirce, Bd. I-VI, 1931-1935, hg. von Charles Hartshorne und Paul Weiss, Bd, VII -VIII, 1958, hg. von Arthur W. Burks, werden hier nach der im Internet verfügbaren elektronischen Ausgabe zitiert.

[2] Karl-Otto Apel, Der Denkweg von Charles Sanders Peirce, 1975; Igor Douven, Abduction, Stanford Encyclopedia of Philosophy, 2017; Michael Hoffmann, Problems with Peirce’s Concept of Abduction, Foundation of Science 4, 1999, 271-305; Vanessa Inshakova/Alexander Goncharov, Abduction for Juridical Science and Practice, 2017, SSRN 2949793; Jürgen von Kempski, Charles Sanders Peirce und der Pragmatismus [1952], in: von Kemspki, Prinzipien der Wirklichkeit (Schriften Bd. 3), 1992, 193-309; Jo Reichertz, Die Abduktion in der qualitativen Sozialforschung, 2. Aufl. 2013; Gerhard Schurz, Die Bedeutung des abduktiven Schließens in Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, in: Alfred Schramm (Hg.), Philosophie in Österreich 1996, 91-109.

[3] Jürgen von Kempski, C. S. Peirce und die Apagoge des Aristoteles, in: Albert Menne/Alexander Wilhelmy (Hg.), Kontrolliertes Denken: Untersuchungen zum Logikkalkül uud zur Logik der Einzelwissenschaften, Festschrift für Wilhelm Britzelmay, 1952, S. 56-64. Nachdem ich diese alte Ausgabe, in der die griechischen Aristoteles-Zitate noch von Hand eingesetzt sind, aus der Bochumer Philosophen-Bibliothek erhalten hatte, habe ich festgesellt, dass der Text in Band 3 der Ausgabe der Schriften von Kempskis wieder abgedruckt ist: Jürgen von Kempski Rakoszyn, Prinzipien der Wirklichkeit (Schriften Bd. 3), 1992, 310-319; daran anschließend [aus 1988]: Charles Sanders Peirce und die Apagoge des Aristoteles, S. 320-324.

[4] »The truth of pragmaticism may be proved in various ways. I would conduct the argument somewhat as follows. In the first place, there are but three elementary kinds of reasoning. The first, which I call abduction (on the theory, the doubtful theory, I confess, that the meaning of the XXVth chapter of the second book of the Prior Analytics has been completely diverted from Aristotle’s meaning by a single wrong word having been inserted by Apellicon where the original word was illegible) consists in examining a mass of facts and in allowing these facts to suggest a theory. In this way we gain new ideas; but there is no force in the reasoning.« (Peirce, CP 8.209):

[5] Peirce CP 1,65.

[6] Jürgen von Kempski Rakoszyn, Charles Sanders Peirce und der Pragmatismus, 1952, hier zitiert nach von Kempski, Prinzipien der Wirklichkeit (Gesammelte Schriften Bd. 3) 1962, 193-309, S. 200.

[7] Karl-Otto Apel, Der Denkweg von Charles Sanders Peirce, 1975, 297ff.

[8] Peirce CP 5.171.

[9] Z.B. bei Arthur Kaufmann, Die Rolle der Abduktion als Rechtsgewinnungsverfahren, in: Guido Britz/Heinz Müller-Dietz (Hg.), FS für Heinz Müller-Dietz, 2001, 349-360; Ralf Kölbel/Thorsten Berndt/Peter Stegmaier, Abduktion in der justiziellen Entscheidungspraxis, Rechtstheorie 37, 2006, 85-108; Manfred Kraus, Deduktion, Reduktion, Kontradiktion, Rechtstheorie 42, 2011, 417-436, S. 425; Ronen Reichman, Abduktives Denken und talmudische Argumentation, 2006, Alexander Somek, Von der Rechtserkenntnis zur Interpretativen Praxis, Rechtstheorie 23, 1992, 467-490; zurückhaltend Robert Alexy, Arthur Kaufmanns Theorie der Rechtsgewinnung., ARSP Beiheft 100, 2005, 47-66.

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Nicht nur unter Juristen, sondern auch in der Argumentationsliteratur wird der Analogie von vielen Autoren die Qualität eines eigenständigen Arguments abgesprochen mit der Begründung, der Analogieschluss lasse sich entweder auf eine Induktion oder auf eine Deduktion oder auf eine Kombination beider Schlussweisen zurückführen. Mit Hilfe der kanadischen Philosophin Trudy Govier begebe ich mich in dieser Fortsetzung auf die Suche nach der originären Analogie. Was Govier zu sagen hat, dürfte auch Juristen interessieren. Kap. 11 ihres bereits in 7. Auflage erschienenen Lehrbuchs der Argumentation trägt die Überschrift »Analogies: Reasoning from Case to Case«.[1]

Was Aristoteles ἀναλογία nannte und mit dem Beispiel von Dionysos und Ares illustrierte, ist nicht, was wir heute gemeinhin unter einer Analogie verstehen. Der Analogie in diesem modernen Sinne entspricht bei Aristoteles eher der induktive rhetorische Beweis, das Paradigma (παράδειγμα)[2].

»Denn ich bezeichne ein … Beispiel als rhetorischen Induktionsbeweis [1365a] … . Es verhält sich aber weder wie ein Teil zum Ganzen noch wie das Ganze zu einem Teil oder das Ganze zum Ganzen, sondern wie ein Teil zu einem Teil, Ähnliches zu Ähnlichem: wenn beides unter eine Gattung fällt, das eine aber bekannter ist als das andere, liegt ein Beispiel vor. Zum Beispiel: Dionysios trachtet nach der Alleinherrschaft, weil er eine Leibwache fordert, denn auch Peisistratos forderte vorher mit derselben Absicht eine Leibwache, und als er sie erhielt, wurde er Tyrann, ebenso Theagenes in Megara. So werden auch alle anderen, die man kennt, ein Beispiel für Dionysios, von dem man noch nicht weiß, ob er die Forderung nach einer Leibwache in dieser Absicht stellt. All das läßt sich wie folgt verallgemeinern: Wer nach der Alleinherrschaft trachtet, fordert eine Leibwache.  [1357b]«[3]

Aristoteles spricht hier zwar von Induktion (ἐπαγωγή), und wählt gleich zwei Beispiele, aus denen er eine verallgemeinernde Folgerung zieht. Aber zuvor definiert er die »rhetorische Induktion« so, als ob nur von einem Einzelfall auf einen ähnlich gelagerten anderen Einzelfall geschlossen werden soll.[4] Bei Prämissen und Schlussfolgerung handelt es sich ersichtlich um empirische Aussagen. Was Aristoteles als rhetorische Induktion bezeichnete, wäre nach heutigem Sprachgebrauch eine induktive Analogie[5], die auf einer qualitativen Induktion beruht. Als induktive Analogie ist der Gedankengang noch ungenau benannt. Das Ergebnis der Analogie wird nicht direkt von der zugrundeliegenden Induktion getragen, sondern folgt erst deduktiv aus der der Anwendung der induktiv gewonnen Verallgemeinerung. Dass der Gedankengang überhaupt als Analogie bezeichnet wird, hat seinen Grund darin, dass die Verallgemeinerung nicht expliziert wird. Dadurch entsteht der Eindruck, dass die Schlussfolgerung unmittelbar von der Ähnlichkeit der Fälle getragen wird. Daher hat sich heute wohl die Auffassung durchgesetzt, dass die Alltagsform der Analogie mit einer impliziten Induktion arbeitet. Quine/Ullian sprechen von einer slurrred-over induction[6]. Folgt man dieser Interpretation, so ist die Analogie nichts weiter als eine mit nur einem Beispiel schwach begründete Induktion. Die Analogie wäre dann also

»ein aus Induktion und Syllogismus zusammengesetzte[r] Schluß. Beim Analogieschluß wird demnach zunächst induktiv ein allgemeiner Satz gewonnen, aus dem dann deduktiv der gesuchte Satz abgeleitet wird.«[7]

Trudy Govier, deren Analogiethese sogleich im Mittelpunkt stehen soll, formalisiert die induktive Analogie wie folgt

  1. A hat die Eigenschaften x, y, z.
  2. B hat die Eigenschaften x, y, z.
  3. A hat die Eigenschaft f.
  4. *Die meisten Objekte mit den Eigenschaften x, y, z haben die Eigenschaft f.
  5. Daher hat vermutlich auch B die Eigenschaft f.

(Die 4. Zeile hat Govier mit dem Sternchen versehen, weil sie selten explizit gemacht wird.)

Mit der induktiven Analogie wird also aus der Verallgemeinerung von Eigenschaften des Vergleichsobjekts deduktiv auf Eigenschaften des Analogons geschlossen.

Der Argumentwert des Analogieschlusses hängt vom Wert der Induktion ab. Nutzt die Induktion eine breite empirische Basis, so bietet die Verallgemeinerung mehr als eine bloße Vermutung, nämlich ein empirisches Gesetz. Die daraus abgeleitete Schlussfolgerung würde man in anderem Zusammenhang gar nicht als Analogie bezeichnen. In unserem Zusammenhang fällt sie in die Kategorie der vollständigen Analogien.

Hier ist eine Zwischenbemerkung zur Begrifflichkeit angesagt: Als »Gegenstände« oder »Objekte«, die in einer Analogie verglichen werden, kommt alles in Betracht, was man mit einem Wort einer Sprache bezeichnen kann, also nicht nur ein Stein oder ein Baum, eine Symphonie oder eine Theorie, eine Situation oder ein Verlauf und natürlich auch ein Rechtsfall oder ein Gesetz. Stets geht es darum, ein Objekt, mit dem man vertraut ist, mit einem anderen zu vergleichen, das eine Frage aufgibt. Das problematisierte Primärobjekt und das zum Vergleich herangezogene Sekundärobjekt werden gerne mit den Buchstaben A und B repräsentiert. Dabei ist nicht immer klar, was Primär- und was Sekundärobjekt ist. Zur Kennzeichnung des Sekundärobjekts liegt die Benennung als Analogon nahe. In diesem Sinne spricht Govier von primary subject und analogue.[8] Deshalb liegt es nahe, das Sekundärobjekt = Analogon mit dem Buchstaben A zu bezeichnen. Aber damit würde die vertraute Reihenfolge der Buchstaben (A vor B) Verwirrung stiften, weil B für das Primärobjekt stünde. Merktechnisch kann man sich vielleicht so helfen: Der Buchstabe A steht für den Ausgangsfall, den es zu klären gilt, und B für die Vergleichs-Basis. Das Analogon als Sekundärobjekt bildet eine Beurteilungsgrundlage für den Ausgangsfall.

Wieder zur Sache: Nach Ansicht der Analogie-Skeptiker lassen sich auch Gesetzesanalogien nach dem Schema der induktiven Analogie erklären. Von dem Analogon wird zunächst (induktiv?) eine Regel oder ein Prinzip – auf den Unterschied soll es nicht ankommen – abstrahiert, um dann deduktiv auf den Ausgangsfall angewendet zu werden. Wenn das zuträfe, wäre (auch?) die normative Analogie kein eigenständiges Argument.

In den bisher angeführten Beispielen nutzt die Analogie eine Induktion, die eine empirische Gesetzmäßigkeit aufgezeigt. Als Basis für den Induktionsschluss dient »die Natur«. Die quantitativ-induktive Begründung empirischer Gesetze mag theoretisch zweifelhaft sein, weil eine Letztbegründung nicht möglich ist. Praktisch folgt daraus kein Problem. Liegen der Verallgemeinerung nur Einzelfälle zugrunde, handelt es sich also um eine qualitative Induktion, so ist der Argumentwert der Analogie, mit Aristoteles gesprochen, rhetorisch und in der Ausdrucksweise der Argumentationstheorie informal oder konduktiv.

Um auch die normative Analogie als (verkappte) Induktion zu erklären, muss man die Möglichkeit induktiver Gewinnung normativer Prinzipien konzedieren. Das ist nicht unproblematisch. Verneint man diese Möglichkeit, kann man die normative Analogie immer noch als lediglich deduktives Argument aus irgendwie bekannten Prinzipien darstellen. Dann wackelt allerdings der Schwanz mit dem Hund, soll heißen, die Ähnlichkeit ergibt sich nicht aus den Fällen selbst, sondern die Fälle werden erst unter dem Prinzip als ähnlich erkannt.

Auf den ersten Blick hat es den Anschein, als ob mit einer Induktion, die zu einem normativen Satz führt, stets unzulässig vom Sein aufs Sollen geschlossen würde. Dieser Einwand trifft jedoch nicht, wenn »der Fall« nicht als Faktum, sondern als individuelles Sollensurteil des Handelnden, eines Beobachters oder Entscheiders betrachtet wird. Der Argumentationswert der Verallgemeinerung, ihre »Geltung«, hängt daher vom Vergleichsfall ab. Ausgangsfall: Soll Hundehalter HA den Kot hinter seinem Köter aufsammeln? Beobachte ich, dass Halter HB keine Anstalten macht, die Exkremente seines Hundes aufzunehmen, so kann ich daraus schließen, dass Hundehalter HA sich mit einiger Wahrscheinlichkeit ähnlich verhalten könnte. Das wäre eine empirische Induktion. Stelle ich darauf ab, dass HB seine Handlungsweise für angemessen hält und andere Hundehalter ähnlich denken dürften, bleibt die Induktion immer noch empirisch. Erst wenn ich als Beobachter schließe: HB räumt nicht ab; also braucht auch HA nicht abzuräumen (denn es gibt kein entsprechendes Gebot), wird daraus eine normative Analogie. (Beobachter kann auch der nachfolgende Hundehalter HA sein.)

Die (ethische, moralische, juristische) Qualität der normativen Induktion ist abhängig von der Qualität der im Vergleichsfall angetroffenen Norm. Das analoge Urteil über das Verhalten des HA ist nur so viel wert, wie es im Fall HB war, also taugt es nichts. Es gewinnt auch nicht unbedingt durch die Zahl beobachteter Fälle. Anders als auf der Ebene der Empirie ist eine normativ quantitative Induktion nicht besser als die qualitative. Die quantitative Induktion kann Normalität anzeigen. Aber Normalität ist nicht ohne weiteres gut. »Analoges« gilt, wenn es um die Entscheidung von Fällen geht. Wurde im Basisfall entschieden, dass b sein soll, so hat der Induktionsschluss, dass b auch im ähnlichen Vergleichsfall gilt, nur eine von dem Entscheider des Ausgangsfalls abgeleitete Gültigkeit. Hätte also im Vergleichsfall das (längst aufgelöste) Amtsgericht Tönning entschieden, dass HB nicht verpflichtet war, hinter seinem Hund aufzusammeln, weil das gegen die Würde des aufrechten Ganges verstößt, so könnte man induktiv auf die Regel schließen, dass Hundehalter nicht verpflichtet sind, die Hinterlassenschaften ihrer Lieblinge zu beseitigen. Aber als Präjudiz wäre die Regel ohne großen Wert, und zwar nicht, weil sie in der Sache nichts taugt, sondern weil das Amtsgericht Tönning keine bedeutende Autorität darstellt (obwohl ich selbst dort Referendar war). Doch ganz gleich, wieviel die induktiv gewonnene Norm taugt: Ihre (analoge) Anwendung auf den Ausgangsfall fordert noch eine Deduktion.

Trudy Govier nun wendet sich dagegen, dass eine bestimmte Art normativer Analogie, die sie als A-Priori-Analogien benennt, als induktive und damit auch nicht als Verbindung eines induktiven mit einem deduktiven Argument zu erklären sei.[9] Govier begründet zunächst die Benennung damit, dass es für den Wert des Arguments nicht darauf ankomme, ob als Analogon ein realer oder nur ein hypothetischer Fall diene.[10]

»If we accept the conclusion of an a priori analogy we do not, in effect, predict that a feature will or may belong to the primary subject. Rather we decide to describe or treat the primary subject in some way. The basis of a priori analogies is an appeal to handle relevantly similar cases in relevantly similar ways. The merits of such arguments don’t depend on the truth of empirical observations about the analogue case and the conclusion isn’t one which could someday be conclusively verified or falsified by empirical observation. Hence the term ›a priori analogy‹.«[11]

Die Verwendung hypothetischer Fälle erinnert den Juristen an die Argumentationsfigur, die Lawrence B. Solum als Hypothetical umreißt.[12] Darauf wird in einem späteren Abschnitt über Analogie und Beispiel zurückzukommen sein. Ein berühmtes Hypothetical, das auch Govier anführt, stammt von Judith J. Thompson[13]: Eine Frau wird gekidnappt und ihr Kreislauf mit dem eines Meistergeigers verbunden, dessen Nieren versagt haben. Es wird neun Monate dauern, bis eine Dialysemöglichkeit geschaffen ist. Nun hängt das Leben des Geigers von der Entscheidung der Frau ab, ob sie die Verbindung wieder trennt, so wie das Leben des ungeborenen Kindes von der Entscheidung der Mutter, ob sie es abtreiben lässt. Es gibt viele Gründe, diese Analogie nicht für tragfähig zu halten. Dass der Vergleichsfall nur erfunden ist, ist für sich genommen kein solcher Grund. Für den Argumentwert ist aber wichtig, dass der Fall an moralische Intuitionen appelliert. Solum würde ihn als wild case und intuition pump[14] einordnen.

Die induktive Analogie funktioniert, wenn die Induktion im Hintergrund in der Verallgemeinerung einer empirischen Beobachtung besteht, auch wenn es sich dabei nur um einen Einzelfall handelt. Aus der induktiv gewonnenen Verallgemeinerung von Eigenschaften des Vergleichsobjekts wird deduktiv auf Eigenschaften des Analogons geschlossen. Anders, so Govier, wenn der Vergleichsfall nicht empirisch, sondern nur »hypothetisch« ist. Was gemeint ist zeigen ihre Beispiele. Dabei handelt es sich nämlich darum, dass der von Govier angesprochene Urteiler sich ein eigenes moralisches Urteil über den Vergleichsfall bildet und dieses Urteil auf den ähnlichen Ausgangsfall überträgt. Die Analogie bezieht sich hier also nicht auf die Bewertung oder Entscheidung anderer Urteiler, sondern auf das originär gebildete Urteil des zum Vergleich aufgerufenen Betrachters. Hier Goviers Beispiel Nr. 3 (weil es das kürzeste ist):

»Smoking is no more a sin than wearing high heel spike type shoes. These also are dangerous to your health and they destroy the property of others. Have you seen hardwood floors after a woman has walked over them in spike heels?« [15]

Man könnte wohl die Analogie von Fall B auf Fall A als deduktives Argument darstellen, wenn für alle Fälle mit ähnlichen Eigenschaften ein universal claim U gelten sollte. Diese von ihr abgelehnte Position formuliert Govier wie folgt[16]:

  1. Wir stimmen in der Beurteilung des Falles B überein.
  2. Der Grund dafür ist vermutlich, dass wir das Prinzip U akzeptieren.
  3. Auch der Fall A fällt unter das Prinzip U.
  4. Daher ist es konsequent, den Fall A ebenso wie Fall B zu beurteilen.

Govier ist mit ihrem Kritiker Waller darin einig, dass ein solches Prinzip bei vielen Analogien nicht explizit gemacht wird. Aber es müsste doch jedenfalls erkennbar sein. Ein Prinzip lässt sich allein aus den Eigenschaften des Analogons als Fall nicht ableiten. Daher sollte es fallunabhängig gelten. Zwar kann man stets darüber reflektieren, ob sich ein Prinzip finden lässt, dass die Bewertung des Basisfalles begründet. In Goviers Beispielen ist die Entdeckung des Prinzips, wenn es denn eines gibt, schwerer als eine unmittelbare Bewertung der Fälle. Das gilt gerade auch dann, wenn die Beurteilung der Vergleichsfälle wie in den von Govier herangezogenen Beispielen ambivalent ausfällt. Die Ähnlichkeit der Fälle drängt sich auf, ohne dass man ein Prinzip vor Augen hätte. Eindeutig scheint nur zu sein, dass beide Fälle wegen ihrer Ähnlichkeit gleich beurteilt werden sollten, ohne dass es dazu des Rückgriffs auf ein Prinzip oder eine Regel bedürfte. Consistency – Konsistenz – ist für Govier der Antrieb zur Analogie, der auch ohne Prinzip wirksam ist. Wollte man sich bemühen, aus der Beurteilung von Fall A erst ein Prinzip zu extrahieren, um es auf Fall B anzuwenden, würde man auf die eigentümliche Überzeugungskraft der Analogie verzichten.

»Treating relevantly similar cases similarly is a fundamental aspect of rationality.«[17]

Der Jurist möchte annehmen, dass dem Konsistenzerfordernis besser durch (allgemeine) Regeln und Prinzipien gedient ist als durch den Fallvergleich. Govier nimmt diesen Juristen-Bias als Beleg dafür, wie fundamental das Bestreben nach konsistenter Beurteilung sei. Unklar bleibt, ob das Streben nach Konsistenz einem apriorischen Erfordernis der Vernunft entspricht, ob es sich um ein psychisches Phänomen handelt oder ob es (nur) in einer sozialen, moralischen oder ethischen Norm begründet ist. Man kann vielleicht fragen, ob nicht »das Leben viel bunter und schöner [wäre], wenn nicht ähnliche Fälle ähnlich behandelt würden, sondern jeweils der Phantasie freier Lauf gelassen würde«, bekäme eine positive Antwort aber wohl nur aus der Ästhetik.[18] Das Konsistenzerfordernis lässt sich jedenfalls nicht in Abrede stellen. Man kann nur fragen, ob es sich ursprünglicher bei der Fallbetrachtung zeigt oder im Umgang mit Regeln und Prinzipien.

Damit steuert die Suche nach der originären Analogie auf einen Gesichtspunkt zu, der weder von Govier und noch, soweit ich sehe, von anderen im Zusammenhang mit der Analogie erörtert wird, auf die Frage nämlich, ob in rebus moralibus der Einzelfall Vorrang vor der Theorie besitzt oder ob es umgekehrt liegt. Govier behauptet der Sache nach, dass die Betrachtung eines Falles zu einem singulären Verpflichtungsurteil führen kann, dass sich auch in einem ähnlichen Fall bewährt. Diese Frage wird in der Moralphilosophie als Gegensatz zwischen Partikularismus und Generalismus verhandelt.[19] Zu einer fundierten Stellungnahme sehe ich mich nicht in der Lage, zumal ich als Jurist an einem Generalisierungs-Bias leiden dürfte. Auf den ersten Blick würde ich sagen, dass die zunächst klar und eindeutig erscheinende Bewertung eines Einzelfalls stets noch einmal an eventuell einschlägigen Prinzipien überprüft werden muss und dass umgekehrt eine moralische Theorie anzupassen ist, wenn sie nicht zu einer zufriedenstellenden Entscheidung eines Einzelfalles führt. Es bleibt auch dabei, dass man bei schwierigen Fällen nach einem fallunabhängigen Prinzip zu ihrer Beurteilung suchen wird. Wichtig ist aber, dass Einzelfälle einen Eindruck machen, der auch ohne Rückgriff auf eine Regel in einem ähnlichen Fall wiederkehrt. Das hat vermutlich damit zu tun, dass konkrete Fälle eher Gefühle ansprechen als abstrakte Regeln. Abstrakt lässt sich beinahe teilnahmslos über Gut und Böse, Gleichheit und Ungleichheit, Recht und Unrecht reden. Man empört sich nur über relativ konkrete Beispiele.[20] Die Frage ist, ob dieser Effekt die Analogie als eigenständiges Argument retten kann.

Diese Überlegung gibt Anlass, näher über das Verhältnis von Analogie und Beispiel nachzudenken. Zuvor ist jedoch ein Exkurs zur Abduktion angezeigt, weil dieses Stichwort in der Diskussion um Analogien immer wieder auftaucht.[21]


[1] Trudy Govier, A Practical Study of Argument, 7. Aufl., 2014. Den eigenständigen Charakter des Analogiearguments verteidigt auch André Juthe, ­A Defense of Analogy Inference As Sui Generis, Logic and Logical Philosophy , 2019, 1. Ich habe Juthes Text bisher nur überflogen.

[2] Das ist der griechische Ausdruck für Beispiel oder Vorbild (Menge-Güthling, Griechisch-deutsches Wörterbuch, 3. Aufl. 1913, S. 519).

[3] Aristoteles, Rhetorik, Übersetzung von Georg Krapinger, 1999, S. 13, 17.

[4] Christof Rapp in: ders./Klaus Corcilius (Hg.), Aristoteles-Handbuch, 2. Aufl. 2021, S. 330.

[5] Diese Sprachgebrauch geht zurück auf Stephen Francis Barker, The Elements of Logic, 1965.

[6] Willard van Orman Quine/Joseph Silbert Ullian, The Web of Belief, 2. Aufl. 1978, S. 57.

[7] Ulrich Klug, Juristische Logik, S. 109.

[8] Trudy Govier, A Practical Study of Argument, 7. Aufl. 2014, 318.

[9] Trudy Govier, Analogies and Missing Premises, Informal Logic 11, 1989, 141-152; dies., Reply: Should A Priori Analogies Be Regarded as Deductive Arguments?, Informal Logic 22, 2002, 155-157; dies., A Practical Study of Argument, 7. Aufl. 2014. S. 327f. Govier verteidigt ihre Ansicht insbesondere gegen Bruce N. Waller (Classifying and Analyzing Analogies, Informal Logic 21, 2001, 199-218). An Goviers These schließt eine umfangreiche Diskussion, die das Thema nicht voranbringt (z. B. James B. Freeman, Govier’s Distinguishing A Priori from Inductive Arguments by Analogy: Implications for a General Theory of Ground Adequacy, Informal Logic 33, 2013, 175-194; Manfred Kraus, Arguments by Analogy (and What We Can Learn about Them from Aristotle), in: Frans H. van Eemeren/Bart Garssen (Hg.), Reflections on Theoretical Issues in Argumentation Theory, 2015, S. 171-182).

[10] Dennoch bleibt die Benennung als A-Priori-Analogie unglücklich, weil sie falsche Assoziationen weckt.

[11] Govier, Informal Logic 11, 1989, 142f.

[12] Lawrence B. Solum, Legal Theory Lexicon 003: Hypotheticals, 2021.

[13] Judith Jarvis Thompson, In Defense of Abortion, Philosophy & Public Affairs 1, 1971, 47-66.

[14] Dafür verweist Solum auf das Buch von D. C. Dennett, Intuition Pumps and Other Tools for Thinking, 2013.

[15] Govier, Informal Logic 11, 1989, 143f.

[16] Govier, Reply, Informal Logic 22, 2002, 155.

[17] Govier, A Practical Study of Argument, S. 320.

[18] Peter Mengel, Analogien als Argumente, 1995, S. 50.

[19] Zu dieser Frage Lawrence B Solum, Legal Theory Lexicon 067: The Priority of the Particular; ferner: Dominik Düber/Michael Quante, Prinzipien, Prinzipienkonflikte und moralischer Partikularismus, Preprints and Working Papers of the Centre for Advanced Study in Bioethics Münster 2016/85; Jan Gertken, Partikularismus vs. Generalismus, in: Michael Kühler/Markus Rüther (Hg.), Handbuch Handlungstheorie, 2016, 294-298; Erica Haimes/Robin Williams, Sociology, Ethics, and the Priority of the Particular: Learning from a Case Study of Genetic Deliberations, The British Journal of Sociology 58, 2007, 457-476; Marco Iorio, Regeln, moralischer Partikularismus und die Bewertung von Regelwerken, in: Philipp P. Thapa u. a. (Hg.), Umwelt – Gründe – Werte, 2019, 39-50.

[20] Auf diesen Zusammenhang bin ich aufmerksam geworden durch Emily Kidd White, Emotions and Precedent, Preprint aus Endicott/Lewis/Kristjansson (Hg.), Philosophical Foundations of Precedent (Oxford University Press), verfügbar unter https://ssrn.com/abstract=4098653.

[21] Z. B. auch bei Trudy Govier, Reply: Should A Priori Analogies Be Regarded as Deductive Arguments?, Informal Logic 22, 2002, 155-157.

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