Her Masters (Strong) Voice: Linda Nell, Die multiple Differenzierung des Rechts

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es handelt sich um eine gediegene Dissertation.[1] Ich würde das Buch auch als Habilitationsschrift durchgehen lassen. Die Verfasserin hat ein hohe Abstraktionsniveau angestrebt, erreicht und durchgehalten, und sie bringt mit der These von der »normativen Wiederaufladung des funktional differenzierten Rechts« (S. 277) eine neue Sichtweise auf den viel beschworenen Rechtspluralismus. Ihr wichtigster Baustein ist das Konzept impliziten Wissens, das sie stellenweise an die Phänomenologie Husserls und Heideggers heranführt.

Bevor man den Gedankengang der Verfasserin schätzen lernt, muss man allerdings den Eindruck abschütteln, den dieses Buch als Illustration akademischer Abhängigkeit und Karrierezwänge weckt. Die Verfasserin ist Mitarbeiterin am Lehrstuhl des Soziologen Joachim Renn in Münster. Renn ist ein Habermas-Schüler, der sich mit einer Theorie der pragmatischen oder multiplen Differenzierung von Habermas und vor allem von  Luhmann absetzt. Seine Texte sind so »elaboriert« geschrieben, dass ich sie nicht lesen kann und seine »Theorie« nur aus zweiter Hand zur Kenntnis nehme, so jetzt durch Vermittlung von Nell. Es gibt in ihrem Buch mindestens drei Seiten, auf denen Renn nicht genannt wird. Auf S. 75 lässt er sich als Entdecker der Normalität von Vollzugsdefiziten feiern. In Fußnote 46 auf S. 263 erfahren wir sogar, dass Renn »die Soziologie, richtig verstanden« für eine Erfahrungswissenschaft hält. Wie ich inzwischen erfahren habe, stammt das Erstgutachten zur Dissertation nicht von Renn, sondern von Schützeichel in Bielefeld. Dadurch wird die Sache immerhin um 10% besser.

Auch vom Schreibstil des Meisters hat die Verfasserin einiges übernommen. Hier eine Kostprobe: Was in der Rechtstheorie als Problematik der Allgemeinheit des Gesetzes geläufig ist, wird im Soziologenkauderwelsch zur »Differenzierungsachse von abstrakter und konkreter Handlungskoordination« (S. 245).

»Generalisierte Rechtskommunikation prozessiert in Eigenlogiken über den Köpfen von Personen (Anwesende und Abwesende), sodass die angemessene situations- (und auch: fall-)spezifische Konkretisierung abstrakter Prinzipien aufgrund der Spezifikations-Inkompetenz codierter Kommunikation niemals erschöpfend von sich aus, selbsterklärend und an sich selbst vollzogen werden kann.«

Als Verständnishilfe dient mir die etwas schlankere Formulierung auf S. 74:

»Kontingente Situationsbedingungen erfordern die permanente Rückübersetzung aus dem Medium der semantisch verallgemeinerten Bedeutung in die Bestimmtheit der praktischen Situation.«

Wieso allerdings die »Übersetzung« des abstrakten Rechts in konkrete Praxis »durch einen Bedeutungsbruch« hindurchgehen soll (S. 277 Fn. 66), bleibt mir verschlossen. Transformierende Übersetzungen lasse ich mir gefallen. »Sinnbrechende« (S. 285) oder »bedeutungsbrechende« (S. 316 Fn. 107) Übersetzungen mögen vorkommen. Da hätte ich mir aber doch eine Übersetzungsfehlerlehre gewünscht.

Fast hätte ich das Buch ungelesen zurückgegeben. Nach einigem Hin- und Herblättern lockte mich aber das Versprechen, jenseits allen Pluralismus die Einheit des Rechts dingfest zu machen.

»Genauer gesagt ist das Recht die Einheit der Differenz zwischen dem Recht als Funktionssystem und den außersystemischen Rechtstranslaten.« (S. 32)

Genau! Dazu gilt es »die pragmatische Integration von ausdifferenzierten gesellschaftlichen Teilbereichen« in den Blick zu nehmen (S. 302). Um zu erfahren, was es da zu sehen gibt, habe ich den Band Anfang bis Ende gelesen, was mir nur noch mit wenigen Büchern passiert.

Der Tenor des Buches: Luhmanns Systemtheorie ist nur die halbe Miete. »Systematischer Gegenspieler zum Recht als System« ist die Rechtskultur (S. 181). Die Umsetzung abstrakter Regeln in situationsangemessene Entscheidungen wird von implizitem Wissen getragen, das sich nicht ohne Verlust explizieren lässt. Zwar sind letztlich Personen Träger impliziten Wissens. »Aber aufgrund einer Gleichsinnigkeit der impliziten normativen Haltungen gegenüber Fällen des Gebrauchs bildet sich so auch die Form des sozialen Milieus.« (S. 255) Kollektives implizites Wissen = Milieu. Bemerkenswert die Aufwertung impliziten Wissens zur »entscheidenden Ressource für die rationale Verwendung rationaler Sätze und Überzeugungen« (S. 260).

In den Sozialwissenschaften gibt es eine Konjunktur des Vorreflexiven, die vor über 50 Jahren durch Michael Polanyis »Tacit Dimension« und Harold Garfinkels Ethnomethodologie angestoßen wurde. Seither ist das Phänomen aus verschiedenen Richtungen immer wieder »entdeckt« und theoretisiert worden. Ethnologen sprechen Vorstellungen, die wie selbstverständlich zugrunde gelegt werden und im Prinzip unbewusst sind, als kulturellen Code an. Im so genannten practice turn hat es die halbe Soziologie erobert. Soziologen alter Schule bemühen eine Theorie der Frame-Selection, die eine »Vorstrukturierung des Handelns durch kognitiv-emotional verankerte Schemata« zugrunde legt (Kroneberg KZfSS 59, 2007, 215–239, S. 217). Einige versuchen sogar, an die altmodischen Konzepte von Rechtsgefühl und Rechtsbewusstsein anzuknüpfen. Renn verdankt sein Erweckungserlebnis anscheinend seiner Wittgenstein-Lektüre. Daraus hat er wohl eine Registertheorie entwickelt, die das Zusammenwirken von implizitem Wissen, Intentionalität und Situation orchestriert. Auf Renn geht auch der von Nell ubiquitär verwendete Begriff der Übersetzung zurück, der mich ein bißchen irritiert, denn den hatte ich bisher im Kontext der Ethnologie verortet. Vielleicht passt er auch hier. Aber da hättte doch der Anschluss zur »kulturellen Übersetzung« hergestellt werden sollen. Irritierend ist schließlich die Verwendung des Milieu-Begriffs[2], der, wie gesagt, für kollektives implizites Wissen steht. S. 283 wird es eine Spur konkreter, denn dort erfährt man:

»Auch das Phänomen der ›Klassenjustiz‹ wäre als ein Übersetzungsverhältnis zu interpretieren, bei dem die formale Rechtsgleichheit durch milieuspezifisch befangene Richter systematisch im Lichte des Eigen-Ethos respezifiziert wird.«

Der Jurist stieß sich zuvor allerdings an der Formulierung in Fn. 49 auf S. 79:

»Wobei man sich eingestehen muss, dass die vielbeschworene Unabhängigkeit der Richter auch im nationalstaatlichen Recht ein Mythos ist: Da die Auslegungsbedürftigkeit einen essentiellen Stellenwert in der Rechtsordnung hat, spricht im Richter immer auch ein Milieu, welches nie unparteilich oder unabhängig sein konnte (früher: ›Klassenjustiz‹).«

Da sind verschiedene Begriffe von Unabhängigkeit im Umlauf. Ich hätte lieber Konkretes über das für die »normativen Wieder(?)aufladung des Rechts« verantwortliche »universalistische Milieu« (S. 277) erfahren.

Die lange Einleitung (oder den Hauptteil des Buches?) macht eine für sich genommen vertiefte und wohl auch triftige Kritik der Systemtheorie Luhmanns und ihrer fragwürdigen Rezeption durch seine Jünger aus. Luhmann wird vorgehalten, dass die von ihm postulierten Systemgrenzen, insbesondere zwischen Recht und Politik, de facto verschwimmen, und ferner, auf das Rechtssystem bezogen, eine kognitivistische Umdeutung rechtlicher Normativität. Zutreffend ist wohl auch, dass Luhmanns Systemtheorie einem methodologischem Nationalismus verhaftet bleibt (S. 138). Allerdings sollte für meinen Geschmack die kritische Konnotation des Begriffs durch den Gegenbegriff des methodologischen Globalismus (Eric Posner) entschärft werden. Luhmanns Jüngern hält Nell mit gutem Grund eine normative Aufrüstung der Systemtheorie vor (S. 194f). Die Systemtheorie werde von ihnen »offensiv und unumwunden normativistisch ergänzt, auch wenn es die begrifflichen Weichenstellungen nicht erlaub[t]en« Die strukturelle Kopplung zwischen den Systemen werde »zugunsten einer angemesseneren Beschreibung gesellschaftlicher (um nicht zu sagen weltgesellschaftlicher) Phänomene bis hin zu einer ›Responsivität‹ der Systeme aufgeblasen … bis zur Konstruktion einer fortschreitenden Entdifferenzierung zwischen Recht und Politik [sei es nicht mehr weit«.

Ein bißchen plötzlich kommt S. 263 der Übergang zum Ausgangsthema: »Wir … landen bei der impliziten Einheit der Gesellschaft.« und nun rennen wir »der nur indirekt erfahrbaren und nicht-expliziten Einheit des Rechts pragmatisch« (S. 266) hinterher.

»Die Einheit des Rechts lässt sich, wenn überhaupt, dann nur aus dem Gesamtkontext der modernen Gesellschaft heraus rekonstruieren«, und zwar »nur« als »eine notwendige Unterstellung von Koreferentialität zwischen ausdifferenzierten normativen Ordnungen, die aber praktisch wirksam ist, auch wenn sie nur indirekt über die Kaskaden der Übersetzung zwischen normativen Ordnungen erschließbar ist.« (S. 267f)

Man möchte den Soziologen zurufen: Nun fangt doch mal zu (re-)konstruieren und redet nicht immer nur darüber, was man könnte.

S. 276 o. wird en passant eine neue Geltungstheorie formuliert: In der »Geltungszuschreibung« an eine der heterogenen (pluralen) Ordnungen »ist das milieuspezifisch formatierte Generalmotiv zur Rechtstreue hinterlegt!« (Die Hervorhebung durch Kursivschrift und Ausrufungszeichen an vielen anderen Stellen ist in den Zitaten zum Teil verlorengegangen, und ich kann sie nicht wieder herstellen, da ich das Buch zurückgeben musste.)

Den »Typus des reflexiven soziokulturellen Milieus« (S. 277) hätte ich gerne besser kennengelernt. Die typologische Untergliederung in »Rechtsautoren und Rechtsadressaten (oder auch Professionelle und Klienten)« (S. 279) hilft mir nicht weiter. Diese Typen gab es immer. Wie haben sie sich unter den Auspizien globaler Rechtspluralität verändert? Gibt es ein neues »sozialmoralisches Milieu« (Lepsius)?

Was S. 278 über die »Soziogenese des Rechts-Systems« erläutert wird, habe ich schlicht nicht verstanden. Stattdessen zitiere ich Nells interimistische Zusammenfassung von S. 280:

»Die normative Binnenstruktur des Weltrechts setzt sich zusammen aus einerseits normativen Erwartungen, die systemisch sicher gestellt werden und die man durchaus noch als ›kognitivistisch verkappt‹ bezeichnen könnte, und einer basalen impliziten normativen Binnenstruktur des Rechts andererseits, die Milieus ausbilden und praktisch integrieren und die (aufgrund des Respezifikationszwanges!) als ›entgegenkommende Rechtskulturen‹ zusätzlich und vielfach für die stetige normative Wiederaufladung des funktional differenzierten Rechts sorgen.«

Stark ist dann noch einmal der Abschnitt über Differenzierung und Entdifferenzierung des Rechts S. 287ff, soweit dort erklärt wird, dass es durch bloße Beobachtung der Vielfalt normativer Ordnungen nicht gelingen kann, zwischen bloßem Pluralismus und einem Recht der Weltgesellschaft zu unterscheiden. Wenn Nell dann allerdings selbst nach dem Weltrecht als Emergenzphänomen sucht, kann sie nur auf »multiple Differenzierung« verweisen (S. 291).

In der Tat, »es droht ein Kriterienverlust mit Bezug auf die einst weniger problematische Abgrenzbarkeit von Rechts- und sozialen Normen« (S. 293). Klaus Günthers universaler Code der Legalität ist kein schlechtes Angebot. Eine »additive« Zusammenführung mit Luhmanns binärem Recht/Unrecht-Code hält Nell jedoch angesichts unterschiedlicher Theoriesprachen für ausgeschlossen. Da hat sie meiner Meinung nach Luhmanns Rechtsgeltungslehre nicht ausgeschöpft. Ihr Rückgriff auf den marokkanischen Rechtspluralismus bewegt sich aus der Moderne rückwärts. Aber da bin ich wohl allergisch, denn auch wenn die Kabylei in Algerien liegt, erinnern mich rechtsethnologische Beispiele aus Nordwestafrika an Bourdieus Rückschaufehler. Meinen Favoriten, die neoinstutionalistische Weltkulturtheorie der Stanford-Schule von John W. Meyer, würde Nell in die substantialistische Mülltonne klopfen. Wir sollen nämlich »Globalisierung gerade als eine Partikularisierung der normativen Integration selbst« begreifen lernen (S. 296).

Diese Forderung soll durch einen »Theoriepluralismus« eingelöst werden, der Struktur- und Handlungstheorien verbindet. Die Lösung soll Renns Theorie der multiplen Differenzierung bieten. Renns Texte habe ich, wie gesagt, nicht gelesen. Gelesen habe ich immerhin die Symposiumsbeiträge von Schwinn, Münch und Knöbl zu Renns Buch »Übersetzungsverhältnisse« von 2006 in der Soziologischen Revue 31, 2008, 357ff. Die haben mich nicht weiter gebracht. Und Nell hatte nicht die Aufgabe, für mich einen Lehrbuchtext zu schreiben. Daher versage ich mir auch einen Kommentar zu den S. 314ff, die dem Unterschied zu Luhmanns Systemtheorie gelten.

Bevor Nell zum Schluss kommt, bietet sie S. 303ff eine lesenswerte Kritik des Umgangs mit der Figur des impliziten Wissens bei Thomas Vesting und Sabine Müller-Mall. Hier bekommt man einen Eindruck, was mit einem »starken Begriff« impliziten Wissens gemeint sein könnte. Ich habe allerdings schon vor Jahren nach der Lektüre des einschlägigen Bandes von Jens Loenhoff für einen schwachen Begriff optiert, freilich ohne mir viele Gedanken zu machen. Es ist sicher richtig, dass implizites Wissen sich nicht in Gedächtnisleistungen erschöpft, richtig auch, dass man nicht auf die Somatisierung starren darf. Andererseits blendet die Konzentration auf »Wissen«, sei es nun kognitiv oder normativ, die emotionale Seite aus. Aber die These, dass sich implizites Wissen nicht ohne Verluste in explizites überführen lasse, bedarf doch der Spezifizierung. Zutreffend ist wohl, dass für den Handelnden selbst sein implizites Wissen nicht explizierbar ist. Aber seine Beobachter sollten mindestens den Vorsatz haben, das implizite Wissen möglichst vollständig zu Tage zu fördern.

Am Ende erfahren wir:

»Das Recht findet seine Einheit in der rechtspezifischen Dimension komplexer Übersetzungsverhältnisse« (S. 319)

Was ist hier rechtsspezifisch? Die Antwort auf der folgenden Seite historisiert und partikularisiert die »hochgradig vitalen« Spezifika so weit, dass man nicht widersprechen mag, aber von dem Ertrag doch etwas enttäuscht ist, auch weil das Begriffs-Rennen hier noch nicht am Ziel ist, sondern mit dem »Sektor« einen neuen Mitläufer erhält. Im Fazit S. 326 kommt ein weiteres Spezifikum des Rechts hinzu (das ich vermutlich bis dahin überlesen hatte), nämlich dessen »Formstabilität«.

Man könnte noch hier und da beckmessern. S. 131 zitiert die Münsteraner Wissenschaftlerin den Münsteraner Werner Krawietz, Das Recht als Regelsystem von 1984, (korrekt aber nur) indirekt über Martin Pilch. Aber auf dessen erstaunliches Buch[3] bin ich allerdings erst durch Nell aufmerksam geworden. Leider fehlt für die schöne Formulierung vom »symbolischen Mehrwert des Rechts«, die Klaus Günther zugeschrieben wird (S. 50) und die ich gerne gelegentlich verwenden würde, der Nachweis im Literaturverzeichnis.

Das alles klingt nun eher nach Kritik. Aber Nell hat mich (erneut) davon überzeugt, dass die Rechtssoziologie, im Gegensatz zur Rechtstheorie, nicht den Juristen überlassen werden sollte, vorausgesetzt allerdings, dass sie sich um eine Sprache bemühen, die ohne Übersetzung für Juristen verständlich ist (vgl. S. 267 Fn 51). Nells Buch hat meine träge gewordenen Gedanken auf Trab gebracht. Ihre Luhmann-Kritik gibt mir zu denken. Das gilt insbesondere für die ausführliche Auseinandersetzung mit Luhmanns Normbegriff (S. 169ff). Von der Literatur, die Nell zu Rate zieht, werde ich mir alsbald Hans Joas‘ »Kreativität des Handelns« von 1992 besorgen.

Rechtstheorie und Methodenlehre kämpfen immer wieder darum, das ungewiss-gewisse Etwas des juristischen Urteils in den Griff zu bekommen. Zurzeit sind besonders Rechtsästhetik und der material turn im Angebot. Einige sind so kühn, auch das altmodische Rechtsgefühl und/oder Rechtsbewusstsein wieder aus der Schublade zu ziehen. Wieder andere suchen nach transnationalen epistemischen Netzwerke, die eine einheitliche kognitive und normative Orientierung ihrer Mitglieder bewirken. Nells Darstellung wird helfen, diese und andere Angebote neu zu bewerten und zu koordinieren. Vor allem aber beeindruckt ihr Angriff auf die »kognitivistische Umfunktionierung des normativen Geltungssinnes des Rechts in der Weltgesellschaft« durch die systemtheoretisch orientierte Rechtssoziologie (S. 281).

Nachtrag: Von Linda Nell auf BARBLOG: Kann es eine Kritische Systemtheorie geben? Zur Frage der rechtssoziologischen Differenzierungstheorie.


[1] Linda Nell, Die multiple Differenzierung des Rechts. Eine pragmatistisch-gesellschaftstheoretische Perspektive auf den globalen Rechtspluralismus, Velbrück Wissenschaft, 2020, 400 S., 39,90 EUR.

[2] Dazu gibt es einen Sonderband der Zeitschrift für Theoretische Soziologie von 2014 »Die Form des Milieus«, herausgegeben von Peter Isenböck, Linda Nell und Joachim Renn, der mir zur Zeit nicht zugänglich ist. Ich kenne nur die Einleitung der Herausgeber. Dort wird vom Milieubegriff gesagt, dass er »in der Soziologie nicht als geklärt gelten» könne, und die Klärung ist wohl auch 2014 nicht gelungen, denn auf dieses Statement wird 2018 in Münster affirmativ Bezug genommen (von Karl Gabriel, Religiöses Milieu, in: Handbuch Religionssoziologie, S. 611). Aber der Milieubegriff, wie Nell ihn verwendet, bleibt interessant, weil er nicht von vornherein, wie viele andere soziologische Begriffe, soziale Ungleichheit erfassen soll. Das wird allerdings dadurch verdeckt, dass Nell auf das als Beispiel »Klassenjusstiz« zugreift.

[3] Martin Pilch, Der Rahmen der Rechtsgewohnheiten. Kritik des Normensystemdenkens entwickelt am Rechtsbegriff der mittelalterlichen Rechtsgeschichte, 2009. Das Buch hat große Beachtung gefunden (vgl. die Rezension von Gerhard Dilcher, Zf Historische Forschung 38, 2011, 65-79). Pilch selbst hat es 2010 aus Anlass einer um das Buch veranlassten Tagung zusammengefasst: Rechtsgewohnheiten aus rechtshistorischer und rechtstheoretischer Perspektive, Rechtsgeschichte 17, 2010, 17-39.

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Travelling Models II: Modelltransfer in der Governance-Forschung

Dieser und noch einige weitere Beiträge dienen (mir) zur Vorbereitung auf eine Besprechung des Bandes »Travelling Models in African Conflict Management, Translating Technologies of Social Ordering« herausgegeben von Andrea Behrends, Sung-Joon Park und Richard Rottenburg (Leiden 2014). Dieser Band ist gemeint, wenn »Travelling Models« in Anführungszeichen steht. [1]Der am 27. 8. 2014 Eintrag angekündigte Eintrag zur Diffusion folgt als nächster.

Governance-Forschung ist Rechtssoziologie unter fremdem Namen. Sie hat sich in der Wissenschaftslandschaft so breit gemacht, dass sie sich nicht mehr übersehen lässt. Das gilt natürlich aus meiner Sicht in erster Linie im Verhältnis zur Rechtssoziologie und Rechtsvergleichung. Das gilt aber auch für die Ethnologie im Allgemeinen und die »Travelling Models« im Besonderen. 2012 gab es in der Reihe Ethnoskripts des Instituts für Ethnologie der Universität Hamburg ein Schwerpunktheft »Governance«. Im Eintrag vom 23. 10. 2013 hatte ich dieses Heft dahin kommentiert, ich könne nicht erkennen, warum die Ethnologen dem Governance-Begriff nachliefen, es sei denn um an dem Momentum, mit dem dieser Begriff sich durchgesetzt hat, zu partizipieren. Aber das Thema des Modelltransfers ist in der Governance-Forschung so aktuell, und es wird dort so breit bearbeitet, dass man darüber nicht ganz hinweggehen kann. Dabei fällt auf, dass die Governance-Forschung mit Scheuklappen durch die Wissenschaftswelt geht. Von Ethnologie scheint man da noch nie etwas gehört zu haben.

Wo immer man sich in Deutschland mit öffentlichem Recht, Verwaltung, Europäisierung und Globalisierung befasst, ist auch von Governance die Rede, sei es auf breiter Front in Speyer, sei es in Hamburg [2]Hoffmann-Riem, Trute, Pilniok., sei es im Max-Planck-für Gesellschaftsforschung in Köln. [3]Dort gibt es einen Forschungsbereich »Governance of Global Structures«. Ich schätze besonders die Arbeiten von Quack und Djelic. Diese Begriffsverwendung sei hier mit einem Zitat kommentiert:

»Nun ist ja bekanntlich keine Form des Denkens davor gefeit, der Marktlogik unterworfen und in der Form des Begriffsdropping für Zwecke der Eigenreklame oder der Beförderung einer bestimmten Denkschule eingesetzt zu werden; jeder Person, die je Forschungsanträge geschrieben hat, ist diese Form des instrumentellen Denkens vertraut.« [4]Birgit Wagner, Kulturelle Übersetzung. Erkundungen über ein wanderndes Konzept, 2008: http://www.kakanien.ac.at/beitr/postcol/BWagner2.pdf.

Berlin ist das Zentrum der deutschen Governance-Forschung. Bis 2011 hatte das Wissenschaftszentrum Berlin eine Forschungsprofessur und Querschnittsgruppe »Neue Formen von Governance« um Gunnar Folke Schuppert. Zurzeit gibt es dort in der Forschungseinheit »Internationale Politik und Recht« um Michael Zürn eine Unterabteilung »Global Governance«. Am produktivsten ist aber der Sonderforschungsbereich 700 »Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit« an der FU. Er gibt im Nomos Verlag »Schriften zur Governanceforschung« heraus und hat von 2006 bis heute über 60 Working Papers veröffentlicht.

Der SFB 700 ist thematisch sehr nahe an der Ethnologie, weil er die »Räume begrenzter Staatlichkeit« in den Blick nimmt, die das bevorzugte Forschungsfeld der Ethnologen sind. Noch näher kommt er den »Travelling Models« scheinbar durch acht Working Papers, bei denen schon im Titel von »Governance Transfer« die Rede ist. Tatsächlich ist der Abstand enorm, denn die Governanten befassen sich auf der Makroebene mit dem Transfer von Menschenrechten, Demokratie, Rule of Law und Good Governance. Sie legen ein Exportmodell zugrunde, das anscheinend nicht so glatt funktioniert. Im Namen der Exporteure wird beklagt: »The differences we find between the governance transfers of our nine ROs indicate that the process of diffusion we may observe is ›localized‹ (Acharya 2004 ), meaning that it is driven or at least mitigated by region-specific, domestic factors.« Was die Lokalisierung betrifft, kommen sie also nicht weiter als bis 2004. Wenn es dann heißt: »The literature does not provide a theoretical approach that would be capable of explaining our double finding of growing similarities and persisting differences in governance transfer by regional organizations.« (S. 23), möchte man ihnen vorschlagen, sich den Hallenser Anthropologen Rat zu holen.

Eines der jüngsten Forschungspapiere (Nr. 60 von 2013) von Johannes Kode befasst sich mit »Social Conditions of Governance: Social Capital and Governance in Areas of Limited Statehood«. Darin wird ausführlich theoretisiert, dass »Governance ohne Staat»« stattfinden könne, wenn nur hinreichend Sozialkapital vorhanden sei. Für die Behauptung, »Governance without a state appears to be an empirical reality in many parts of the world«, werden Autoren aus dem eigenen Hause benannt, die ihrerseits konzipieren. [5]Nämlich Tanja A. Börzel/Thomas Risse, Governance without a State: Can It Work?, Regulation & Governance 4, 2010, 113-134. Diese führen (auf S. 120) zwar einige Beispiele für Ordnungsinseln an, zitieren dafür aber wiederum fast nur Autoren aus dem eigenen Hause. [6]Überhaupt erklärt sich die Produktivität des SFB erklärt sich zum Teil daraus, dass man sich immer wieder selbst zitiert und wiederholt. Das wichtigste Beispiel ist wohl Somaliland. Die Gewährsleute sprechen hier allerdings von einer »de facto state entity«. [7]Tobias Debiel/Rainer Glassner/Conrad Schetter/Ulf Terlinden, Local State‐Building in Afghanistan and Somaliland, Peace Review 21 , 2009, 38-44, S. 41.

[Nachtrag vom 1. 11. 2014: Ich bin darauf hingewiesen worden, dass Kode in seinem Paper als empirischen Beleg für »Governance ohne Staat« im weiteren Verlauf des Artikels die Autoren Raeymaekers, Rosenau/Czempiel, Richards/Khadija/Vincent, Reno, Mitchell, Lund, Debiel/Glassner/Schetter/Terlinden sowie Colletta/Cullen und Brinkerhoff et al. heranzieht, so dass unzutreffend der Eindruck erweckt werde, er habe sich auf »nur« auf Autoren aus dem eigenen Hause gestützt.]

Zu den umsichtigeren Autoren aus dem SFB zählt Antje Draude. Das zeigte sich schon in ihrer Diplomarbeit, die als Monographie veröffentlicht worden ist [8]Anke Draude, Der blinde Fleck der Entwicklungstheorie. Von der Unüberwindbarkeit der Modernisierungstheorie im Korruptionsdiskurs, 2007.. Mit Interesse habe ich von ihr auch gelesen »Governance in der postkolonialen Kritik: Die Herausforderung lokaler Vielfalt jenseits der westlichen Welt« [9]SFB Working Paper 24, 2010.

Über die Person einer Autorin des Bandes »Travelling Models«, bin ich auf einen gehaltvollen Beitrag zum Interdisziplinaritätshema gestoßen: Veronika Fuest, Alle reden von Interdisziplinarität aber keiner tut es – Anspruch und Wirklichkeit interdisziplinären Arbeitens in Umweltforschungsprojekten, 2004. Anscheinend funktioniert nicht einmal – wie ich sie nennen möchte – die kleine Interdisziplinarität. Gemeint ist die Kooperation zwischen Nachbardisziplinen und hier wiederum zwischen Forschergruppen, aus dem weiteren Bereich der Sozialwissenschaften, die auf dem gleichen Themenfeld tätig sind. Das betrifft nicht nur den SFB 700 in Berlin, sondern auch das GIGA Institut für Afrika-Studien in Hamburg. Die Hallenser (und andere) Ethnologen sind dort anscheinend unbekannt. Sonst hätten etwa Nadine Ansorg und Kim Schultze, Friedensinseln in Subsahara-Afrika, GIGA Focus Afrika, 2014, 1-8, den Text von Behrends und Schlee zitieren können oder gar müssen, in dem diese die These begründen, sei ein Irrtum, dass Ethnizität Ursache von Konflikten sei. [10]Andrea Behrends/Günther Schlee, Lokale Konfliktstrukturen in Darfour und dem Osten des Tschad oder: Was ist ethnisch an ethnischen Konflikten, in: Walter Feichtinger/Gerald Hainzl (Hg.), … Continue reading Auch der Artikel von Matthias Basedau, Annegret Mähler und Georg Strüver, Neue Erdölfunde in Afrika: Können Konflikte vermieden werden? [11]GIGA Focus 7, 2010, 1-8. bietet sich für wechselseitige Bezugnahmen an. Der naive Jurist sucht ferner nach einer Verbindung zwischen dem »Forschungsteam Natürliche Ressourcen und Sicherheit« im GIGA-Institut und dem Projekt »Oil and Social Change in Niger and Chad«, an dem Ethnologen aus Göttingen und Halle beteiligt sind. Sollte es da zwischen den verschiedenen Institutionen der Afrika-Forschung Wahrnehmungssperren geben?

Immerhin, die Zusammenarbeit zwischen vier Max-Planck-Instituten, darunter demjenigen für ethnologische Forschung in Halle, dem dortigen Seminar für Ethnologie und der Universität Freiburg scheint auf den ersten Blick zu funktionieren. Jedenfalls haben sie sich unter der Bezeichnung »International Max Planck Research School on Retaliation, Mediation and Punishment« zusammengefunden. Es gibt eine lange Liste von 71 Veröffentlichungen, die man sich zurechnet. Auch das Seminar für Ethnologie an der Universität Halle unter der Leitung von Richard Rottenburg ist beteiligt. Von dort heißt es vielversprechend: »His research focuses on the anthropology of law, organization, science and technology (LOST).« [12]Vgl. dazu den Eintrag vom 2. 8. 2014.

Noch einmal zurück zu den Transfer-Papers aus Berlin. In allen acht ist mindestens im Vorwort jedenfalls einmal von der »diffusion of a global governance script« die Rede. Beklagt wird auch der schlechte Zustand der »Diffusions- und Vergleichenden Regionalismusforschung«. [13]Bei Tanja A. Börzel/Vera van Hüllen/Mathis Lohaus, Governance Transfer by Regional Organizations, SFB-Governance Working Paper Nr. 42, Januar 2013. Zugegeben: Ich habe die Papiere nicht gründlich gelesen, sondern eher nur gescannt. Aber auch dabei hätte ich eigentlich auf eine Darstellung des beklagten Forschungszustandes treffen müssen. Fehlanzeige. Das ist Anlass, im nächsten Eintrag auf die Diffusion von Recht einzugehen, zumal Diffusion auch bei den Ethnologen ein eher ungeliebtes Thema ist.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Der am 27. 8. 2014 Eintrag angekündigte Eintrag zur Diffusion folgt als nächster.
2 Hoffmann-Riem, Trute, Pilniok.
3 Dort gibt es einen Forschungsbereich »Governance of Global Structures«. Ich schätze besonders die Arbeiten von Quack und Djelic.
4 Birgit Wagner, Kulturelle Übersetzung. Erkundungen über ein wanderndes Konzept, 2008: http://www.kakanien.ac.at/beitr/postcol/BWagner2.pdf.
5 Nämlich Tanja A. Börzel/Thomas Risse, Governance without a State: Can It Work?, Regulation & Governance 4, 2010, 113-134.
6 Überhaupt erklärt sich die Produktivität des SFB erklärt sich zum Teil daraus, dass man sich immer wieder selbst zitiert und wiederholt.
7 Tobias Debiel/Rainer Glassner/Conrad Schetter/Ulf Terlinden, Local State‐Building in Afghanistan and Somaliland, Peace Review 21 , 2009, 38-44, S. 41.
8 Anke Draude, Der blinde Fleck der Entwicklungstheorie. Von der Unüberwindbarkeit der Modernisierungstheorie im Korruptionsdiskurs, 2007.
9 SFB Working Paper 24, 2010.
10 Andrea Behrends/Günther Schlee, Lokale Konfliktstrukturen in Darfour und dem Osten des Tschad oder: Was ist ethnisch an ethnischen Konflikten, in: Walter Feichtinger/Gerald Hainzl (Hg.), Krisenmanagement in Afrika, Erwartungen, Möglichkeiten, Grenzen, Wien 2009, 159-178.
11 GIGA Focus 7, 2010, 1-8.
12 Vgl. dazu den Eintrag vom 2. 8. 2014.
13 Bei Tanja A. Börzel/Vera van Hüllen/Mathis Lohaus, Governance Transfer by Regional Organizations, SFB-Governance Working Paper Nr. 42, Januar 2013.

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Wie Modernisierung auf Erdöl ausrutscht: »Crude Domination«

Will man sich nicht mit Zeitungsleserwissen zufrieden geben, so bieten Ethnologen, Anthropologen und die zahlreichen auf Entwicklung und Entwicklungsländer spezialisierten Forschungseinrichtungen [1]Eine ganz unvollständige Aufzählung im Posting vom 14. 7. 2012: Die Rolle des Rechts im Prozess der nachholenden Modernisierung. Informationen beinahe im Überfluss, so dass man Schwierigkeiten hat, aus der Fülle des Gebotenen das relevante Wissen herauszuziehen. Man kann nicht alles lesen und als Fachfremder nur schwer Verallgemeinerungen treffen. Doch von Zeit zu Zeit finden sich Perlen, die andere Quellen überstrahlen und vielleicht auch ersetzen können. Eine solche Perle will ich hier vorstellen, nämlich den von Andrea Behrends, Stephen P. Reyna und Günther Schlee herausgegebenen Band »Crude Domination«. [2]Berghahn Books, New York, 2011, ISBN 9780857452559.
Der Band ist bemerkenswert, weil er das übliche ethnologisch-anthropologische Klein-Klein hinter sich lässt. Er liest sich wie eine Analyse negativer Governance. Wer von Governance redet [3]Wie z. B. Julia Eckert/Andrea Behrends/Andreas Dafinger, Governance – and the State: An Anthropological Approach. – das geschieht in diesem Buch nicht –, will analysieren, wie verschiedene Ebenen und Akteure an der Herstellung gesellschaftlicher Ordnung beteiligt sind. In der Regel werden vier Ebenen unterschieden, die lokale, die regionale, die staatlich-nationale und die globale (S. 23). Als Akteure werden genannt Individuen mit ihren Familien und Clans, ethnische Gruppen, lokale, regionale und staatliche Funktionäre und Behörden, Militär, Polizei, Rebellengruppen, auf allen Ebenen auch NGOs und Wirtschaftsunternehmen und schließlich die offiziellen Global Player wie Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IMF). »Crude Domination« konzentriert den Blick auf das Erdöl, oder vielmehr darauf, was Ölvorräte und Ölförderung in den Entwicklungs- und Transformationsländern angerichtet haben. Es geht um den Fluch des Ölreichtums (the oil’s crazy curse). Das Öl, das doch eigentlich Wohlstand und Entwicklung bringen könnte, hat in den sog. Petrostaaten vielfach zu einer verheerenden Kombination von Stillstand und Verarmung der Massen, zu oft gewaltsamen Konflikten und nicht selten zu autoritären Regimen geführt (S. 19).
Für den Fachfremden ist der wichtigste Abschnitt des Buches die Einleitung von Andrea Behrends und Stephen P. Reyna. [4]The Crazy Curse and Crude Domination, S. 3-29. Über das eingangs angedeutete Weltkrisenszenario – der Ölverbrauch steige, aber Hubbard’s Peak sei überschritten; Ersatztechnologien seien technisch und ökonomisch nicht verfügbar; so steuere die Welt auf eine lange und tiefe Depression zu, in der sie zusätzlich vom Klimawandel gebeutelt werde – lässt sich trefflich streiten, ebenso wie über den Schluss, die Zukunft der Welt hänge am Öl und wie die Menschheit davon Gebrauch mache (S. 4f.). Aber es nimmt für die Autoren ein, dass sie zunächst feststellen, der Beitrag ihres eigenen Faches, der Anthropologie, sei begrenzt; andere Sozialwissenschaften hätten schon mehr zum Thema gesagt, und dass sie dazu die wichtigsten Thesen aus Ökonomie und Politikwissenschaft referieren. Ökonomen kennen die aversen Effekte von Ressourcenreichtum, dessen Geldfluss Handel und produzierendes Gewerbe fortspült. Eine moderne Erscheinungsform ist als holländische Krankheit (dutch disease) bekannt, wenn Exportüberschüsse, wie sie in den Niederlanden nach der Entdeckung von Gasvorkommen entstanden, einen Importboom zur Folge haben, unter dem die einheimische Produktion leidet. Rohstoffvorkommen verleiten zur unproduktiven Rentensuche (rent-seeking [5]Der Begriff wurde von Anne O. Krueger geprägt. (The Political Economy of the Rent-Seeking Society, The American Economic Review 64, 1974, 291-303. Dazu Uwe Mummert, Freihandel als Schlüssel zur … Continue reading). Sie verbindet sich mit dem in der Politikwissenschaft als Neo-Patrimonialismus bekannten Phänomen. Wichtig auch, dass die Autoren die Pfadabhängigkeit der Entwicklung betonen (S. 7). Eingeführt wird auch das Greed-Modell [6]Paul Collier/Anke Hoeffler, Greed and Grievance in Civil War, Oxford Economic Papers 56, 2004, 563-595 (hier zitiert nach einer im Internet verfügbaren Fassung von 2002). zur Erklärung von Bürgerkriegen, von dem Behrends später (S. 84f., 95) zurückhaltenden Gebrauch macht. Es stellt darauf ab, dass in den Entwicklungsländern weniger das Leiden der Bevölkerung zur offenen Rebellion führt als vielmehr die Möglichkeiten zur Rekrutierung und Finanzierung einer Rebellenarmee, die manche Akteure, um sich ihren Teil etwa des Ölreichtums zu sichern.
Der Fluch des Öls verfolgt die afrikanischen Staaten schlimmer als Lateinamerika und Russland. Aber selbst Norwegen hat es nicht ganz geschafft, die holländische Krankheit zu vermeiden. [7]Jonathan Friedman, Oiling the Race to the Bottom, in dem hier besprochenen Band S. 30-45, S. 33. In Lateinamerika scheint sich immerhin, insbesondere unter der indigenen Bevölkerung, eine gewisse Protestkultur herausgebildet zu haben. In Afrika scheint sie zu fehlen. Zwei Beiträge des Bandes berichten davon, wie dort magische Vorstellungen, die sich in Hexereivorwürfen äußern, als kleines Ventil dienen.
Klar, dass die Autoren den besonderen Beitrag herausstellen, den die Anthropologie zum Thema leistet. Er besteht darin, dort zu beobachten, wo die Menschen sind. Dazu gehören die lokalen Kontexte. [8]Dazu aus der Sicht der Ethnologie Johanna Pfaff-Czarnecka, Lokale Identitäten, Lokalismus und globale Horizonte (Vortragsmanuskript, 2003). Dort zeigt sich auch, wie tradierte Kultur den Lauf der Dinge beeinflusst. (S. 11) Alle reden davon, dass Globalisierung auch in Transaktionen, die oberflächlich betrachtet lokaler Natur sind, zu spüren ist. Globalisierungsromantiker sprechen von einer Vermischung oder Hybridisierung [9]Vgl. dazu den Eintrag über »Zur Hybridisierung der Kulturen« vom 15. 10. 2012., die etwas Neues entstehen lässt, in der die Ursprünge aufgehoben werden. Aus der Sicht von »Crude Domination« ist das eine böse Verharmlosung. Der Kampf um das Öl hat wenige Gewinner und viele Verlierer. Der Kampf um das Öl ist ein Nullsummenspiel und damit ein Machtkampf, der in Lateinamerika eher auf der politischen Ebene entschieden wird und in Afrika eher durch Gewalt. Im einen Fall könnte man von einer politischen Rente, im anderen von einer Gewaltrente sprechen. In jedem Fall – das ist das Ziel des Buches – geht es darum, die Strukturen zu beschreiben, in denen sich der Kampf um das Öl abspielt.
Auf das Einleitungskapitel von Behrends und Reyna folgt ein weiteres, in dem Jonathan Friedman, ein Grandseigneur der Anthropologie, unter der Überschrift »Oiling the Race to the Bottom« (S. 30-45) betont, dass von einem Ressourcen- oder Öl-Determinismus keine Rede sein könne; dass zeige die unterschiedliche Entwicklung in Lateinamerika und Afrika, in Russland/Sibirien und Tschetschenien und schließlich Norwegen. Im Übrigen kann ich mit dieser zweiten Einleitung, die etwas gedankenflüchtig das Thema in den Zusammenhang des Globalisierungsdiskurses stellt, wenig anfangen. Im mittleren Teil des Buches folgen drei Kapitel mit vier Beiträgen über Afrika, drei Beiträgen über Lateinamerika und zwei Beiträgen zu Russland. Über einige werde ich vielleicht in einem späteren Eintrag noch berichten. Behrends und Reyna haben diese Beiträge informativ zusammengefasst (S. 13-19).
In einem kurzen Nachwort präzisiert der Mitherausgeber Günther Schlee noch einmal den Zusammenhang, oder vielmehr umgekehrt, die bloß indirekte Verbindung zwischen dem Öl und der Entwicklung von Konflikten: Ebenso wenig wie Ethnizität lasse sich das Öl (oder andere Ressourcen) als »Ursache« von Konflikten identifizieren, denn solche Gegebenheiten kämen regelmäßig erst ins Spiel, wenn sich bereits Konfliktlinien formiert hätten. Das Zusammenspiel mit dem Öl ist das faszinierende Thema dieses Bandes.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Eine ganz unvollständige Aufzählung im Posting vom 14. 7. 2012: Die Rolle des Rechts im Prozess der nachholenden Modernisierung.
2 Berghahn Books, New York, 2011, ISBN 9780857452559.
3 Wie z. B. Julia Eckert/Andrea Behrends/Andreas Dafinger, Governance – and the State: An Anthropological Approach.
4 The Crazy Curse and Crude Domination, S. 3-29.
5 Der Begriff wurde von Anne O. Krueger geprägt. (The Political Economy of the Rent-Seeking Society, The American Economic Review 64, 1974, 291-303. Dazu Uwe Mummert, Freihandel als Schlüssel zur Entwicklung. Rent-seeking als Hindernis, E. +Z. – Entwicklung und Zusammenarbeit Nr. 9, September 2001, S. 268-270.
6 Paul Collier/Anke Hoeffler, Greed and Grievance in Civil War, Oxford Economic Papers 56, 2004, 563-595 (hier zitiert nach einer im Internet verfügbaren Fassung von 2002).
7 Jonathan Friedman, Oiling the Race to the Bottom, in dem hier besprochenen Band S. 30-45, S. 33.
8 Dazu aus der Sicht der Ethnologie Johanna Pfaff-Czarnecka, Lokale Identitäten, Lokalismus und globale Horizonte (Vortragsmanuskript, 2003).
9 Vgl. dazu den Eintrag über »Zur Hybridisierung der Kulturen« vom 15. 10. 2012.

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Die Einfalt der Vielfalt: Von der organischen zur normativen Solidarität

Vielfalt oder Pluralität ist zum Standard der Modernität geworden. Auf dem Soziologentag, der zur Zeit in Bochum stattfindet, wird die Anschlussfrage gestellt, was die Vielfalt der Gesellschaft zusammenhält.

»Während die – von Vielen als wachsend wahrgenommene – Pluralität sozialer Lebensäußerungen und -formen also einerseits als Bedrohung des ›sozialen Bands‹ thematisiert wird, erscheint sie andererseits geradezu als Voraussetzung und grundlegender Mechanismus der Stiftung (neuer) sozialer Bindungen.« (Programm S. 14)

Es geht um nichts weniger als um Nachfolgekandidaten für die von Durkheim so genannte organische Solidarität.

Der faktische Pluralismus, der nicht zuletzt als Folge der Globalisierung überall zu beobachten ist, kann je nach dem Zustand der Gesellschaft der Modernisierung einen weiteren Schub geben und zu Wohlstand und Reichtum führen oder er kann die Entwicklung blockieren und Konflikt und Selbstzerstörung hervorbringen. Die unterschiedlichen Gesellschaftszustände lassen sich als positiver und negativer Pluralismus kennzeichnen.

Die Vielfalt, wie sie als Melange aus der Globalisierung und ihren Rückkopplungsprozessen entsteht, ist für moderne Gesellschaften zwar eine laufende Quelle von Querelen, etwa um die Grenzen der Zuwanderung oder den Raum, den man einer importierten Religionspraxis geben soll. Aber davon wird eine moderne Gesellschaft nicht zerissen, sondern eher bereichert. Das gilt auch für die durch das Abstreifen von Traditionen möglich gewordene Vielfalt der Familienformen einschließlich solcher, in denen traditionell unterdrückte sexuelle Orientierungen zu ihrem Recht kommen. Moderne Gesellschaften sind in der Lage, einen positiven Pluralismus zu leben. Besonders in den Entwicklungs- und Transformationsländern zeigt sich der faktische aber als negativer Pluralismus. Im Schatten der unvollständigen Modernisierung gibt es viele destruktive Konflikte.

Von negativem Pluralismus ist die Rede, wo die Sicherung der Vielfalt gegen Selbstzerstörung nicht gewährleistet ist. Unter den Bedingungen der Globalisierung ist dieser Zustand vor allem bei den Modernisierungsverlierern anzutreffen. Sie machen über die Hälfte der Weltbevölkerung aus. Modernisierungsverlierer gibt es auch in modernisierten Gesellschaften. Aber dort wird jedenfalls soweit für sie gesorgt, dass ein offener und destruktiver Konflikt vermieden wird. Die große Masse Modernisierungsverlierer konzentriert sich jedoch in den Entwicklungs- und Transformationsländern, wo sie auf sich selbst angewiesen sind.

Die Modernisierungsverlierer sind nicht einfach nur arm, sondern sie sind in gewisserweise funktionslos geworden, weil sie im Zuge der Modernisierung ihre überkommene Existenzgrundlage verloren, im modernen Wirtschaftsprozess aber keinen neuen Platz gefunden haben. Sie zahlen als Preis der Modernisierung mit einer Relativierung ihrer Kultur und dem Verlust gewachsener Identitäten. An vielen Plätzen hat die Veränderung der natürlichen Umwelt durch die Ausbreitung von Infrastruktur und Technik und oft auch durch Umweltzerstörung ihnen ihre natürlichen Lebensgrundlagen genommen. Unter den so Marginalisierten provoziert die Globalisierung lokale und partikulare Gegenbewegungen, die gerade in ihrer Gegnerschaft zu den globalisierenden Tendenzen neue soziale Identitäten hervorbringen. Sie suchen ihr Heil in religiösen oder ethnischen, rassischen oder ideologischen Zugehörigkeiten. Konsequenz sind gesellschaftliche Spaltungen und Konfrontationen, die den negativen Pluralismus ausmachen.

»Negative pluralism refers to any totalizing affiliation which results in the transformation of interests into principle and results in cleavage politics and increasingly differentiated societies. An example of such totalizing affiliations is race. Another is religion.« (David E. Apter, The Political Kingdom in Uganda, A Study of Bureaucratic Nationalism, 3. Aufl., London [u.a.] 1997, Fn. 85 auf S. LXXV)

Diese Definition lässt sich leicht in die bekannte Unterscheidung zwischen Wertkonflikt und Interessenkonflikt übersetzen. In einer modernen Gesellschaft ist die gesellschaftlich organisierte Interessenwahrnehmung selbstverständlich. Die Modernisierungsverlierer suchen ihre Zuflucht aber nicht in Interessenverbänden, sondern in traditionellen oder neotraditionellen Formationen, die Werte über Interessen stellen, indem sie deren religiöse, ethnische oder rassische Basis zu einem kompromissfeindlichen Prinzip steigern.

Als moralisches und als rechtsphilosophisches Problem ist die Frage nach den Grenzen des Pluralismus altbekannt. Es genügt hier, an das Problem der Selbstdestruktion der Toleranz oder der Demokratie zu erinnern. Die Philosophen wissen auch Rat, etwa John Rawls mit Forderung nach einem »overlapping consensus«[1]. Aber Philosophie hält keine Gesellschaft zusammen. In der Realität gibt keine durchschlagende Lösung. Man kann nur beobachten, dass in einem Teil der Welt die Gesellschaft an der neuen Vielfalt nicht zerbricht, sondern mehr oder weniger gut integriert bleibt, während in vielen anderen Teilen aus der Vielfalt Konfliktlinien wachsen.

Will man diese Beobachtung theoretisieren, so bieten sich die Überlegungen der Meyer-Schule an. Den Zusammenhalt garantiert die Institutionalisierung eines positiven Pluralismus, wenn und soweit sie gelingt. Die Antwort ist allerdings auch beinahe trivial. Immerhin impliziert sie dreierlei. Erstens: Es geht um eine soziologische Frage, nicht um ein moralisches oder philosophisches Problem. Zweitens: Anscheinend begegnet die Institutionaliserung des Pluralismus auf der Ebene der Weltkultur geringeren Widerständen und ist dort weiter fortgeschritten als in nationalen und regionalen Gesellschaften. Drittens: Die nationale und regionale Institutionalisierung eines positiven Pluralismus korreliert positiv mit den Indikatoren, die für Modernisierung stehen.

Positiver Pluralismus beruht auf der Wertschätzung von Diversität als (materielle und ideelle) Bereichung und als Quelle laufender Innovation. Er ist eingebettet in einen institutionellen Rahmen, der einer konflikthaften Selbstzerstörung vorbeugt. Moralisch gehört dazu das Toleranzgebot und politisch Formen der Partizipation, wie sie in Demokratie und Rechtsstaat vorgesehen sind.

Auf der Ebene der Weltkultur ist der positive Pluralismus fest institutionalisiert. Dafür stehen, ganz abgesehen von den Achtungsansprüchen und Antidiskriminierungsregeln der Menschenrechtserklärung die UNESCO-Konvention über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen und die United Nations Declaration on the Rights of Indigenous Peoples von 2007. Man kann verfolgen, wie der Imperativ kultureller und religiöser Pluralität und als seine Kehrseite Diskriminierungsverbote in zahllosen nationalen und internationalen Dokumenten und Traktaten instututionalisiert ist. Repräsentativ ist wohl der UNESCO World Report, Investing in Cultural Diversity and Dialogue, 2009 [2000]. Man könnte diese Institutionalisierung eines positiven Pluralismus in der Weltkultur als normative Solidarität benennen, um dann nach der Reichweite der normativen Solidarität zu fragen.

Die Programmautoren der DGS haben die »die ›klassische‹ (Parsonssche) Sichtweise, soziale Kohäsion werde vor allem durch normative Integration gesichert« auf das Altenteil geschickt (Programm S. 18). Damit liegen sie falsch. Sicher gibt es unterhalb der normativen Ebene unzählige Konstellationen, in denen sich organische Solidarität bewährt, weil Vielfalt vielerlei Arbeitsteilung und Austausch nach sich zieht. Aber ohne den großen normativen Rahmen, ohne den institutionalisierten Imperativ der Diversität und Toleranz, gibt es in größeren Gesellschaften keinen positiven Pluralismus.

Literatur: David E. Apter, Globalisation and the Politics of Negative Pluralism, International Social Science Journal 59, 2008, 255-268; ders., Marginalization, Violence, and Why We Need New Modernization Theories, in: World Social Science Report, Paris 2010, S. 32-37.



[1] Dazu Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 300f.

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Isomorphie der Institutionen und die Entkoppelung von Recht und Realität

Um die Serie über die Modernisierungstheorie endlich mit der »Einfalt der Vielfalt« zu Ende zu bringen, brauche ich als Baustein noch die Weltkulturtheorie. Auf den ersten Blick liest sie sich wie eine Bestätigung der Konvergenztheorie. Auf den zweiten Blick sieht die Welt dann aber doch ganz anders aus.

Die »Isomorphie der Institutionen« ist ein Begriff aus der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie. Heute beobachtet man mehr oder weniger überall auf der Welt eine lange Reihe von rechtlich geprägten Institutionen, die einander mindestens der äußeren Form nach ähnlich sind. Die wichtigste Konvergenz dieser Art ist die Aufteilung der Welt in Nationalstaaten nach dem zweiten Weltkrieg. Fast alle Staaten haben geschriebene Verfassungen[1] angenommen, politische Wahlen eingeführt, Parlamente installiert, die förmliche Gesetze erlassen, und offizielle Gerichte für die Entscheidung von Streitigkeiten eingerichtet. Mehr oder weniger überall gibt es Universitäten mit juristischen Fakultäten, eine Anwaltschaft, Gefängnisse und Polizei.

Diese Gleichförmigkeit hat fraglos etwas mit Modernisierung und Globalisierung zu tun. Für die genauere Bestimmung des Zusammenhangs sind verschiedene Erklärungen geläufig. Die schlichteste läuft auf bloße Nachahmung hinaus. Funktionale Erklärungen verstehen die jeweils gewählten institutionellen Arrangements als Lösung praktischer Probleme. Das ist wohl die heimliche Theorie der Entwicklungshilfe, wenn sie darauf abstellt, dass die rule of law notwendige Bedingung für wirtschaftlichen und humanitären Fortschritt sei. Es lässt sich auch (hoffentlich) nicht ganz ausschließen, dass westliche Ideen von Rechtsstaat und Demokratie, Bildung und Daseinsvorsorge auf Grund ihrer Überzeugungskraft gewirkt haben. In der Rechtssoziologie ist von imposition of law die Rede, wenn machtüberlegene Länder anderen ihr Rechtsmodell aufdrängen. Eine anspruchsvollere Theorie, die alle diese Erklärungen bis zu einem gewissen Grade in sich aufnehmen kann, bietet die Meyer-Schule in Stanford. Sie erklärt die weltweite Gleichförmigkeit der Institutionen nicht primär aus Diffusions-, Planungs- oder Nachahmungsprozessen, sondern aus einer vorgängigen globalen Weltkultur (world polity), welche die institutionelle Umgebung aller Akteure, seien sie Individuen, Organisationen oder Staaten, prägt.

Der Forschergruppe des »Stanford Center for Research in Development in Teaching« um John W. Meyer war aufgefallen, dass Bildungseinrichtungen – gegliederte Schulsysteme, Universitäten, typisierte Abschlüsse usw. – sich jedenfalls äußerlich weltweit ähnlich geworden waren. Auf der Suche nach einer Erklärung stellten sie zunächst fest, dass Organisationen – und zwar nicht nur Schulen und Universitäten – in ihrer konkreten Ausgestaltung den Anforderungen ihrer institutionellen Umgebung folgen, um sich damit Legitimität und Ressourcen zu verschaffen. Die institutionelle Umgebung von Organisationen besteht aus verfestigten Komplexen von Normen, Erwartungen und Leitbildern. Eine Schule, als Organisation betrachtet, entspricht also dem, was man allgemein von einer Schule erwartet und was überwiegend auch in Gesetzen festgeschrieben ist. Das ist an sich beinahe trivial. Neu war aber die These, mit der die Ähnlichkeit von Institutionen über Ländergrenzen hinweg erklärt wurde, die These nämlich, dass die institutionelle Umgebung von Organisationen von einer einheitlichen world polity geprägt werde. Kern dieser Weltkultur ist instrumentelle Rationalität, »die Strukturierung des täglichen Lebens entlang von standardisierten unpersönlichen Regeln, die die soziale Ordnung auf unpersönliche Zwecke hin ausrichten. Im Zuge von Rationalisierungsprozessen konstituiert sich Autorität ausdrücklich als formale und zunehmend bürokratisierte Rechtsordnung; Tauschprozesse richten sich an Regeln der rationalen Kalkulation und Buchführung sowie an Regeln zur Konstitution von Märkten aus und beinhalten weitergehende Prozesse wie Monetarisierung, Kommerzialisierung und bürokratische Planung.«[2]. Im Ursprung ist die globale Weltkultur aber religiösen, und hier wiederum vornehmlich christlichen Ursprungs.

Die institutionellen Regeln, die diese Rationalisierung vorantreiben, »liegen auf einer sehr allgemeinen (jetzt oft globalen) Ebene …«. Sie leiten sich aus einer »herrschenden universalistischen historischen Kultur« ab. Aus den »transzendenten Gottheiten (Jehova, Gott, Allah)« sind »transzendentale Begriffe« geworden: Gleichheit, Freiheit, Rechte, Fortschritt. Sie gelten in jeder modernen oder sich modernisierenden Gesellschaft mit der Folge, »dass die konkreten institutionellen Ziele und Definitionen in der Praxis fast überall auffallend ähnlich sind« … »Zum Beispiel pflegen Lehrer unterschiedliche Unterrichtsstile, Unternehmen unterschiedliche Managementmethoden und staatliche Regime unterschiedliche ideologische Standpunkte – aber alles innerhalb der konstitutiven Festlegung dessen, was ein Lehrer, ein Wirtschaftsunternehmen oder ein Nationalstaat überhaupt ist.«.

Bezogen auf den Nationalstaat heißt es etwa:

»Nationalstaaten sind das Produkt von außen kommender, universalistischer und rationalisierter kultureller Modelle und werden von diesen als letztlich ähnliche Akteure konstituiert und konstruiert. Dies führt zu einem hohen Grad an Isomorphie und isomorphem Wandel zwischen Nationalstaaten, ebenso wie zu einem hohen Grad von Diffusion zwischen verschiedenen Nationalstaaten einerseits und zwischen den Zentren des globalen Diskurses und einzelnen Nationalstaaten andererseits.« (Meyer 2005, 158f.)

Im Detail ist die Herleitung der world polity natürlich viel komplexer. Darauf und damit auch auf Zustimmung oder Ablehnung will ich mich hier nicht einlassen. Unbestreitbar scheint jedenfalls die weltweit zu beobachtende Isomorphie der Institutionen zu sein. Gäbe es noch eine unberührte Insel – so Meyer – , dann würden die internationalen Organisationen von den Vereinten Nationen bis Attac, von der Weltbank bis Greenpeace sie schnell in einen Nationalstaat mit Gewaltenteilung, Behörden und Instanzen, Minderheitenschutz, Schulen und Religionsfreiheit verwandeln. Wer Mitglied der UNO werden und an der Entwicklungshilfe der Weltbank und anderer Einrichtungen teilhaben will, kann dies nur als Nationalstaat tun mit einer Regierung an der Spitze, die in ihrer Organisation die westlichen Bürokratiemuster spiegelt. Der Staat muss mindestens pro forma Resolutionen und Leitlinien zu Menschenrechten oder Umweltschutz usw. akzeptieren. Ein Heer von Beratern, »interesselosen« Wissenschaftlern und Experten, IGOs und INGOs tritt in Aktion und sorgt für die Diffusion westlicher Normen und Institutionen.

Für die Rechtssoziologie ist besonders ein dritter Argumentationsstrang interessant, der 1977 von Meyer und Rowan eingeführt worden ist. Ihre These war, dass Organisationen aller Art sich nach außen formal und rational geben, dass sie intern aber nicht, wie es das Gebot der Rationalität eigentlich fordert, bürokratisch mit Weisung und Kontrolle arbeiten, sondern sich von der Formalität abkoppeln (decoupling) und mit informellen Vertrauensbeziehungen arbeiten. Isomorphie der Institutionen heißt deshalb nicht, dass die Organisationen überall gleich sind, sondern dass sie äußerlich einem übergeordneten Rationalitätsimperativ entsprechen. Dieses Formalitätsgebot sei der Mythos, der den Organisationen helfe, in ihrer Umgebung zu überleben, indem er ihnen Legitimität verschaffe und zu Ressourcen verhelfe.

Die Differenz zwischen der formalen Struktur von Organisationen und ihrem praktischen Funktionieren ist ein alter Hut der Organisationsforschung. Auch die Idee, dass Organisationen sich unter gleichen Umweltbedingungen einander angleichen, war in der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie nicht neu. Neu war aber die Verortung dieser Umweltbedingungen auf der abgehobenen Ebene der world polity und damit verbunden die Radikalisierung der Differenz zwischen Formalstruktur und Realität von Institutionen: Bis zu einem gewissen Grade ist die globale Isomorphie bloßer Schein. Staaten und Institutionen passen sich äußerlich den globalen »Vorgaben« an, setzen sie aber nur formal oder symbolisch um und füllen sie mit eigenen Inhalten. Oft besteht nur eine sehr äußerliche Ähnlichkeit der Institutionen, die tatsächlich von Land zu Land und teilweise von Ort zu Ort ganz unterschiedlich funktionieren. Historisch betrachtet sind sich die Länder der Welt ähnlicher geworden, und zwar die Rechtssysteme sogar noch stärker als die Kulturen. Diese Konvergenz bedeutet aber keine Homogenität. Homogenität scheitert an der Differenz zwischen Rechtsanspruch und Rechtswirklichkeit, die überall unterschiedlich ausfällt, und an der kulturellen Färbung, die die Institutionen in ihrer Umgebung jeweils annehmen.

Literatur: John W. Meyer u. a., Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, 2005 (Übersetzung von acht Aufsätzen von Meyer und Koautoren, die zwischen 1997 und 2001 veröffentlicht wurden; eine Rezension des Bandes von Michael Hölscher in der Online-Zeitschrift H-Soz-u-Kult 19. 5. 2006); John W. Meyer/John Boli-Bennett/Chase-Dunn Christopher, Convergence and Divergence in Development, Annual Review of Sociology 1, 1975, 223-246. John W. Meyer/Brian Rowan, Institutionalized Organizations: Formal Structure as Myth and Ceremony, American Journal of Sociology 83, 1977, 340-363.


[1] Zur globalen Konvergenz von Verfassungen David S. Law/Mila Versteeg, The Evolution and Ideology of Global Constitutionalism, 2010, http://ssrn.com/abstract=1643628, auch in California Law Review, Vol. 99, 2011,1163-1253. Die Autoren versuchen ein Ranking aller erreichbaren Verfassungen, allerdings nur unter dem Aspekt subjektiver Individualrechte.

[2] Zitate aus John W. Meyer u. a., Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, 2005, S. 32, 34, 37, 40.

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Kritik der Konvergenzthese V: Kampf der Kulturen?

Als Gegenreaktion hat der globale Prozess der Verbreitung von Kultur die Sorge um kulturelle Identitäten, Diversität und Einmaligkeit hervorgerufen. Man befürchtet, dass die exzessive Kommunikation fremder kultureller Produkte eine einheimische Kultur beschädigen oder gar zerstören könne. Manche Beobachter zeichnen das Bild der kulturellen Konvergenz daher nicht als wechselseitige Bereicherung, sondern stellen sich die Welt als kulturelles Schlachtfeld vor. Unter der Überschrift »The Clash of Civilizations« hat Samuel P. Huntington (1993) die These vertreten, in der Welt von morgen würden Konflikte zwar nicht länger aus konkurrierenden politischen Ideen oder wirtschaftlichen Rivalitäten entstehen.[1] Dafür werde es aber zum Zusammenstoß von Zivilisationen kommen, in erster Linie wohl zwischen der europäisch orientierten Industriegesellschaft und den verschiedenen nicht westlichen Zivilisationen.

Huntington unterscheidet sechs große Zivilisationen, die ihrerseits in zahlreiche lokale Kulturen untergliedert sind, den Westen, den Islam, den Konfuzianismus, den Hinduismus, die slawisch-orthodoxe Welt, die japanische Zivilisation und den Latinoamerikanismus. Er lässt offen, ob auch Afrika als Zivilisation in diesem Sinne gelten kann. Der Kalte Krieg werde durch eine neue Form des internationalen Konflikts abgelöst, weil das Bewusstsein der Menschen, einer bestimmten Zivilisation zuzugehören, wachse oder wiedererwache und sie von anderen Zivilisationen abgrenze.

Huntington ist von der Kritik behandelt worden, als hätte er etwas Unanständiges gesagt. Ich halte mich daher an Tenbruck, wenn er der »allseitigen Öffnung, Durchdringung und Vermischung der Kulturen«, die durch die »globale Präsens der Massenmedien in neue Dimensionen« hineingetrieben werde, ein neuartiges Konfliktpotential zuschreibt:

»Das ergibt im Dauereffekt nicht ein ›Kulturkonzert‹ mit Austausch, Bereicherung und Befruchtung auf Gegenseitigkeit, sondern eine Konfrontation, welche den Fortbestand der einzelnen Kulturen in ihrer selbständigen Individualität und Lebendigkeit bedroht. Eine nüchterne Betrachtung der Lage lehrt, daß hier mit verschiedensten kulturellen Kolonialisierungen, Selbstbehauptungsbewegungen, Deklassierungen zu Subkulturen wie auch mit dem Sprachverlust, der Einschmelzung, ja dem Ende von Kulturen gerechnet werden muß. Neu daran aber ist, daß all dies ohne Eroberung vor sich geht wie ein globaler Kulturkampf, dessen Träger und deren Ziele kaum zu erfassen sind. Hier vollzieht sich Geschichte in einer neuen Form, für die uns noch die Kategorien fehlen. Doch eines ist sicher: daß darin nur einige Kulturen und Kulturmuster sich behaupten werden.«[2]

Die Konflikthaftigkeit des Modernisierungsprozesses ist nicht zu übersehen. Konsequente Anhänger der Theorie führen sie jedoch nicht in erster Linie auf religiöse und kulturelle Differenzen zurück, sondern auf die Ungleichheiten, die die Modernisierung durch das unterschiedliche Tempo in den verschiedenen Ländern hat aufbrechen lassen.[3] Danach sind die aktuellen Proteste gegen Mohammed-Videos oder Karikaturen nicht in erster Linie als religiöser oder kultureller Konflikt, sondern als Auflehnung der Modernisierungsverlierer zu interpretieren.

 


[1] Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations?, Foreign Affairs 72, 1993, 22-49.

[2] A. a. O. Fn. 1027, S. 14, ausführlicher noch S. 30f.

[3] Wolfgang Zapf, Modernisierungstheorie – und die nicht-westliche Welt, in: Thomas Schwinn (Hg.), Die Vielfalt und Einheit der Moderne, 2006, 227-235, S. 234; Thomas Schwinn, Konvergenz, Divergenz oder Hybridisierung?, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 58 , 2006, 201-232, S. 214.

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Kritik der Konvergenzthese IV: Kulturalistische Kritik

Kulturalistische Kritik macht geltend, dass die Modernisierungstheorie die Bedeutung der Kultur für die Entwicklung der Gesellschaft prinzipiell verkenne. Meistens wird mehr oder weniger stillschweigend ein holistischer Kulturbegriff zugrunde gelegt. Holistisch ist ein Kulturbegriff, der sich viele große oder eher kleinere Kulturkreise vorstellt, die voneinander verschieden sind, in sich aber geschlossen, homogen und relativ statisch erscheinen. Er verbindet sich mit dem Kulturrelativismus[1], der jede Kultur als einzigartig ansieht, so dass sie ihren Wert in sich trägt. Das typische Argument lautet dann, die Übertragung einer modernen Institution in eine prämoderne Gesellschaft werde entweder misslingen oder deren indigene Kultur zerstören. Als Folge wird eine globale Homogenisierung oder McDonaldisierung konstatiert. Zur Abwehr dient die Forderung nach der Pflege kultureller Diversität. Kulturelle Diversität wird neben Biodiversität zu einem Wert an sich. Solche Kritik kann die Konvergenzthese aber nicht widerlegen, sondern nur beklagen.



[1] Zur Kritik des Kulturrelativismus sei verwiesen auf Thomas Sukopp, Wider den radikalen Kulturrelativismus – Universalismus, Kontextualismus und Kompatibilismus, Auflärung und Kritik 2, 2005, 136-154; zum Stand der Theoriediskussion in der Ethnologie auf Karl-Heinz Kohl, Ethnologie – die Wissenschaft vom kulturell Fremden, 3. Aufl., 2011, S. 130ff.

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Kritik der Konvergenzthese III: Eisenstadts »Vielfalt der Moderne«

Vorbemerkung: Herr Boulanger hat in seinem Kommentar zum Posting vom 18. September über »Konvergenz als Ende der Geschichte« darauf aufmerksam gemacht, dass auf Sozblog der (deutsche) Soziologe Volker H. Schmidt aus Singapur gerade eine Beitragsserie zum Modernisierungsthema schreibt. Die war mir bisher entgangen, und da ich verreist war, habe ich Schmidts Beiträge erst heute gelesen. Sie sind lesenswert und wichtig, denn sie bieten eine Fortschreibung der Modernisierungstheorie, die deutlich über das hinausgeht, was etwa Wolfgang Zapf oder David E. Apter angeboten haben und die ich selbst nicht leisten kann. Ich hatte immerhin Schmidts Aufsatz über »Die ostasiatische Moderne« (Berliner Journal für Soziologie 20, 2010, 123-152) gefunden. Er hat mir sehr geholfen, als ich in den letzten Monaten mit einem Festschriftbeitrag über »Entwicklungshilfe durch Recht und die Konvergenzthese« befasst war. Ich hätte natürlich gleich auf Schmidts Webseite gehen und nach weiteren einschlägigen Arbeiten fahnden sollen. Das habe ich versäumt, bis ich heute seine Postings auf Sozblog las. Ich bin ein bißchen in Eile, weil ich mit meiner Beitragsreihe zur Modernisierung noch bis zum Soziologentag in Bochum am 1. Oktober bei der »Einfalt der Vielfalt« ankommen möchte. Deshalb in diesem Monat die schnelle Folge der Beiträge, die ich teilweise schon auf Vorrat geschrieben hatte und die WordPress zu vorbestimmten Terminen dann automatisch veröffentlicht hat. Auch der heutige Beitrag ist schon länger fertig. Ich habe ihn nicht mehr verändert, obwohl Schmidt dazu allerhand Wichtiges gesagt hat. Immerhin liege ich wohl ziemlich genau auf seiner Linie, wozu sein Aufsatz über »Die ostasiatische Moderne« entscheidend beigetragen hat.

Die Berücksichtigung der Pfadabhängigkeit führt zu einer Verfeinerung der Modernisierungstheorie, lässt deren zentrale Aussage aber unberührt. Dagegen wird das Konzept der multiplen Modernen von Shmuel N. Eisenstadt von vielen so verstanden, als rühre es an die Substanz der Modernisierungstheorie.

»Im Gegensatz zur Ansicht, moderne Gesellschaften seien der natürliche Endpunkt der bisherigen Evolution menschlicher Gesellschaft, geht diese Sicht davon aus, dass die Moderne eine im Westen entstandene Zivilisation ist, die sich zum Teil analog zu der Kristallisierung und Expansion der großen Religionen — Christentum, Islam, Buddhismus, Konfuzianismus – in der ganzen Welt ausgebreitet hat. Die zweite Annahme multipler Modernen ist, dass diese Zivilisation, mit ihrem spezifischen kulturellen Programm und seinen institutionellen Auswirkungen sich ständig verändernde kulturelle und institutionelle Muster hervorgebracht hat, die unterschiedliche Reaktionen auf die Herausforderungen und Möglichkeiten, die in den Kernmerkmalen moderner zivilisatorischer Prämissen enthalten sind, darstellen. Mit anderen Worten, die Expansion der Moderne brachte keine uniforme und homogene Zivilisation hervor, sondern, in der Tat, multiple Modernen.« (Eisenstadt 2006:37)

Eisenstadt geht zwar davon aus, dass es sozusagen einen Kern der Moderne gibt, der aber unterschiedliche Ausprägungen findet, die nicht bloß als Varianten einer zielgerichteten Entwicklung verstanden werden dürfen, sondern jeweils eigenständige Gesellschaftsformationen bilden. Die Basis der Moderne verlegt Eisenstadt in die (von Karl Jaspers so getaufte) Achsenzeit, also in die Zeit von 800 bis 200 v. Chr., in der mythische Kulturen durch abstrakt-transzendente Religionen abgelöst wurden und in der sich die vier großen Kulturkreise gebildet haben, die bis heute die Welt prägen, die griechisch-römische Antike, das Judentum, der Buddhismus und der Konfuzianismus. Eisenstadt dehnt die Achsenzeit noch auf die Entstehung des Islam aus und bedenkt die japanische als eine Kultur ohne ausgeprägte transzendente Konzeption. Das führt zu einer Betonung der Nachwirkung dieser Kulturkreise auch für den Modernisierungsprozess.

Mit diesem Modell hat Eisenstadt viel Zustimmung erfahren. Das Problem liegt darin, dass das, was Eisenstadt selbst als »Kern der Moderne« bezeichnet, verschwommen bleibt.

Stichworte aus Eisenstadt 2006:»Anerkennung der Möglichkeit …, zwischen mannigfaltigen, über festgelegte und askriptive hinausgehende Rollen« zu wählen und »Teil umfassender translokaler, womöglich auch sich wandelnder Gemeinschaften zu sein« (S. 38f.); Reflexivität und Autonomie. Größeren Wert legt Eisenstadt auf die mit der Moderne verbundenen »Spannungen« (Suche nach Wiederherstellung von Gewissheit, Spannung zwischen »Kontrolle und Autonomie, oder Disziplin und Freiheit« (S. 39), Zweckrationalität und Wertrationalität (S. 40), zwischen »absolutierenden« und pluralistischen Tendenzen (S. 40).»Verlust der Grundlagen aller Gewissheit und die Suche nach ihrer Wiederherstellung« (S. 39), »zentrale Rolle des Politischen« (S. 42), »Nationalstaaten und revolutionäre Staaten als charismatische Träger des Leitbildes der Modernität« (S. 51), »Anerkennung der Möglichkeit …, zwischen mannigfaltigen, über festgelegte und askriptive hinausgehende Rollen« zu wählen und »Teil umfassender translokaler, womöglich auch sich wandelnder Gemeinschaften zu sein« (S. 38f.)

Mit Blick auf die Globalisierung charakterisiert Eisenstadt die »klassische Epoche der Moderne« auf eine Art, dass man ihn für einen Anhänger der Modernisierungstheorie halten könnte:

»… vier unterschiedliche Prozesse: erstens, weitreichende, mit der Entwicklung neuer Technologien und der Herausbildung neuer Muster der politischen Ökonomie eng verbundene strukturelle Transformationen hin zur Wissens- und Informationsgesellschaft … ; zweitens, gleichzeitige umfangreiche Veränderungen der allgemeinen sozialen Strukturen sowie der Klassen- und Statusbeziehungen; drittens, kontinuierliche Demokratisierungstendenzen auf der gesamten Welt …; viertens, ein umfassender ideologischer und kultureller Wandel.« (S. 46.)

Was Eisenstadt als »Kern der Moderne« bezeichnet lässt sich nicht empirisch festmachen, ebenso wenig wird die Qualität der Varianten deutlich formuliert. Deshalb fällt es leicht, überall Variation, Differenz oder gar Divergenz zu finden. Eisenstadts Paradebeispiel für eine eigenständige Variation der Modernität ist das moderne Japan.[1] Wenn man sich auf operationalisierbare Parameter festlegt, mit denen Modernisierung gemessen wird[2], so entspricht die Entwicklung Japans, und auch die der asiatischen Tigerstaaten, sehr genau den Prognosen der Modernisierungstheorie. Das hat kürzlich Volker H. Schmidt vorgerechnet.[3]

Wenig überzeugend ist auch die Auszeichnung fundamentalistischer Bewegungen als Variante der Moderne, weil sie insofern modern sind, als sie antimoderne Ideen verkünden.[4] Eisenstadt betont, dass sie »die Grundthematik der Moderne« nicht verlassen. Er bescheinigt ihnen, sie seien »zutiefst reflexiv«  und »sich dessen bewusst, dass es keine definitiven Antwort auf die Spannungen der Moderne gibt, selbst wenn jede auf ihre Art eindeutige, unbestreitbare Antworten auf die unlösbaren Dilemmas der Moderne anzubieten versucht.« (2006:59) So zeigen sich im Prozess der Globalisierung für Eisenstadt vielfältige Reaktionen auf die »Grundantinomien des modernen Programms«. Ich werde sie gleich noch als Rückkopplungsschleifen einordnen. Der andauernden Schubkraft dieses Programms tun sie keinen Abbruch.

Eisenstadt stellt auch die Interdependenzbehauptung der Modernisierungstheorie in Frage, denn »in allen oder fast allen Gesellschaften zeigen die verschiedenen institutionellen Sphären – Wirtschaft, Politik, Familie – stets relativ voneinander unabhängige Merkmale«.[5] Richtig ist sicher, dass die Institutionen eines jeden Landes – außer den genannten auch Recht und Religion, Bildungssektor und Arbeitsmarkt, Gesundheitssystem und soziale Sicherung – nicht nur in ihrer je einzelnen Ausprägung, zu spezifischen Paketen »verschnürt« sind, die dem Lauf der Modernisierung jeweils Tempo und Richtung vorgeben.[6] Doch eben darin besteht die Pfadabhängigkeit der Entwicklung. Das Interdependenztheorem behauptet nicht mehr, als dass alle Institutionen der Gesellschaft vom Modernisierungsprozess affiziert werden. Es behauptet keinen Gleichschritt und keine Homogenisierung. Eisenstadts Vielfaltsthese ist letztlich nur eine emphatische Ausarbeitung des Theorems von der Pfadabhängigkeit der Entwicklung.

Die große Zustimmung, die Eisenstadt gefunden hat[7], dürfte darauf beruhen, dass er die Modernisierung aus der Verklammerung mit einer amerikanischen Leitkultur befreit, ohne einen global wirksamen Modernisierungstrend in Abrede zu stellen. Damit hat er mehr zur Stützung der Modernisierungstheorie beigetragen, als zu ihrer Überwindung.

Literatur: Shmuel N. Eisenstadt, Comparative Civilizations and Multiple Modernities, Leiden 2003 (Aufsatzsammlung, darin »Multiple Modernities in an Age of Globalization« von 1999 sowie »Multiple Modernities« von 2000); ders., Multiple Modernen im Zeitalter der Globalisierung, in: Thomas Schwinn (Hg.), Die Vielfalt und Einheit der Moderne, 2006, 37-61; ders., Die Vielfalt der Moderne, 3. Aufl., 2011; Volker H. Schmidt, Die ostasiatische Moderne – eine Moderne ›eigener‹ Art?, Berliner Journal für Soziologie 20, 2010, 123-152; Thomas Schwinn, Multiple Modernities: Konkurrierende Thesen und offene Fragen, Zeitschrift für Soziologie 38, 2009, 454-476.



[1] Die Vielfalt der Moderne, 3. Aufl., 2011, Kap. 3, S. 110ff.

[2] Als solche werden genannt und in verschiedenen Reports gemessen: Bruttosozialprodukt je Einwohner, relativer Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion, Urbanisierung, Anstieg der Lebenserwartung, höhere Bildungsbeteiligung, höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen, Abnahme der Kinderzahl und Verkleinerung der Familie, Freiheitlichkeit, Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit, Effektivität des Regierungshandelns und Korruptionskontrolle, Infrastruktur und Innovationsfähigkeit.

[3] Volker H. Schmidt, Die ostasiatische Moderne – eine Moderne ›eigener‹ Art?, Berliner Journal für Soziologie 20, 2010, 123-152.

[4] Die Vielfalt der Moderne, 3. Aufl., 2011, Kap. 4, S. 174ff.

[5] Die Vielfalt der Moderne, 3. Aufl., 2011, S. 11.

[6] Thomas Schwinn, Konvergenz, Divergenz oder Hybridisierung?, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 58 , 2006, 201-232, S. 207.

[7] Zur Kritik etwa Johannes Berger, Die Einheit der Moderne, in: Thomas Schwinn (Hg.), Die Vielfalt und Einheit der Moderne, 2006, 201-225.


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Kritik der Konvergenzthese II: Pfadabhängigkeit der Modernisierung

Das Konzept der Pfadabhängigkeit wendet sich nicht direkt gegen die Modernisierungstheorie, leistet aber eine gerne akzeptierte Differenzierung. Die Pfadabhängigkeit begründet einen gewissen Widerstand gegen die Konvergenz gesellschaftlichen Wandels. Sie bewirkt, dass Wirtschaftsverfassung und Demokratie, Rechts- und Sozialstaat, Familie und Kultur je nach den historischen und situativen Gegebenheiten unterschiedlichen »Pfaden« folgen und sich variantenreich entwickeln können.

Das Konzept der Pfadabängigkeit kommt aus der Wirtschaftswissenschaft, wo aufgefallenen war, dass sich von mehreren Alternativen nicht immer die effizientesten durchsetzen. Der Gedanke wurde populär, nachdem Paul A. David ihn dazu nutzte, um am Beispiel der Qwerty-Tastatur zu zeigen, warum eine Technologie auch dann noch langfristig überleben kann, wenn der für ihre Entwicklung verantwortliche Grund längst weggefallen ist, so dass sich eigentlich unter Effizienzgesichtspunkten eine verfügbare bessere Technologie durchsetzen müsste. Später machte Douglass North (1990) Pfadabhängigkeiten zur Grundlage für eine Theorie des institutionellen Wandels.

Grob gesprochen geht es bei der Pfadabhängigkeit darum, dass historisch gegebene Situationsbedingungen Einfluss darauf haben, wie sich aus einem neuen Impuls etwas entwickelt, kurz gesagt: Geschichte bleibt wichtig (»history matters«). Gemeint ist nicht nur die politische Geschichte, sondern Geschichte in einem umfassenderen Sinn, so dass man sagen muss, auch »culture matters« und religion matters«. Die Pfadabhängigkeit begründet einen gewissen Widerstand gegen Wandlungsprozesse überhaupt, so dass manchmal von einem »institutional lock-in« die Rede ist. Die Übernahme des Konzepts in die Soziologie hat wohl zu einer Pfadabhängigkeit im soziologischen Denken geführt derart, dass es die gesellschaftlichen Beharrungstendenzen im Allgemeinen überschätzt (Werle S. 129). olitische Geschichte, sondern Geschichte in einem umfassenderen Sinn, so dass man sagen muss, auch »culture matters« und religion matters«. Die Pfadabhängigkeit begründet einen gewissen Widerstand gegen Wandlungsprozesse überhaupt, so dass manchmal von einem »institutional lock-in« die Rede ist. Die Übernahme des Konzepts in die Soziologie hat wohl zu einer Pfadabhängigkeit im soziologischen Denken geführt derart, dass es die gesellschaftlichen Beharrungstendenzen im Allgemeinen überschätzt (Werle S. 129).

Literatur: Jürgen Beyer, Pfadabhängigkeit ist nicht gleich Pfadabhängigkeit, 34, 2005, 5–21; Paul A. David, Clio and the Economics of QWERTY, The American Economic Review 75, 1985, 332-337; Raymund Werle, Pfadabhängigkeit, in: Arthur Benz u. a. (Hg.), Handbuch Governance, Wiesbaden 2007, 119-131.

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Kritik der Konvergenzthese I: Weltgesellschaftstheorien

Die (alte) Modernisierungstheorie gilt manchen Soziologen nur noch als historisch relevantes Phänomen.[1] Sie wurde beiseitegeschoben nicht eigentlich aus theoretischen Gründen, sondern weil sie als Weltdeutung verstanden wurde, die für Intellektuelle im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts nicht akzeptabel war.[2] Beerbt wurde sie von Differenzierungstheorien und von Weltgesellschaftstheorien.[3]

Luhmann hat die Modernisierungstheorie abstrakter in die These verpackt, dass die funktionale Differenzierung der Gesellschaft sich über alle Ländergrenzen hinweg durchsetzen und schließlich zu einer Weltgesellschaft führen werde. Für unterschiedliche Gesellschaftszustände, die als Binnendifferenzierung der Systeme erscheinen, bleibt viel Platz. Zusätzliche Parameter, mit deren Hilfe die Modernisierung als Konvergenz gemessen werden könnte, lassen sich ihnen aber nicht entnehmen. Das gilt auch für die Theorien der reflexiven Moderne. Sie bilden insofern keine Konkurrenz zur Theorie der weitergehenden Modernisierung.

Eine handfeste Gegenthese zur Konvergenzthese folgt aus der Weltsystemtheorie von Wallerstein.[4] Danach verursacht der Modernisierungsprozess eine wachsende Divergenz nicht nur in ökonomischer, sondern auch in kultureller Hinsicht; die Kräfte des Weltmarktes wiesen den drei von dieser Theorie postulierten Weltregionen – Zentrum, Semiperipherie und Peripherie – unterschiedliche wirtschaftliche Rollen zu, denen wiederum besondere politische und kulturelle Strukturen entsprächen. Doch auch diese Theorie ist als Gegenposition zur Modernisierungstheorie nicht wirklich weiterführend. Was als Divergenz zwischen Zentrum und Peripherie herausgestellt wird, sind aus der Sicht – die damit dem Anliegen Wallersteins natürlich nicht gerecht wird – der Modernisierungstheorie nur unterschiedliche Grade der Modernisierung.



[1] Wolfgang Knöbl, Die Kontingenz der Moderne, Wege in Europa, Asien und Amerika, 2007, S. 23 ff. Andere erheben sich auf eine Metaebene, indem sie von »soziologischen Modernitätsnarrativen« sprechen, oder verweigern die Diskussion

[2] Jeffrey C. Alexander, Modern, Anti, Post, and Neo: How Social Theories have Tried to Understand the “New World” of “Our Time”, Zeitschrift für Soziologie 23, 1994, 165-197.

[3] Knöbl, S. 28 ff.

[4] Immanuel Wallerstein, The Capitalist World-Economy, Cambridge, Mass. 1979; ders., Kapitalistische Landwirtschaft und die Entstehung der europäischen Weltwirtschaft im 16. Jahrhundert, 1986; ders., Culture as the Ideological Battleground, in: Mike Featherstone (Hg.), Global Culture, Nationalism, Globalization, and Modernity, London, Newbury Park 1990, 31-55.

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