Modernisierung durch Recht: Schwerpunkte der Modernisierungstheorie

Alle soziologische Großtheorie befasst sich letztlich mit der Modernisierung oder der Kritik der Modernisierung. Ich lege hier die Fortschreibung der struktur-funktional orientierten Modernisierungstheorie zugrunde. Sie nimmt ihren Ausgang bei den Klassikern, die den Durchbruch der Modernisierung zum Thema machten. Zu erklären war der Umbruch, der durch die Industrialisierung in England und durch die Französische Revolution ausgelöst wurde. Von den Klassikern wurde Modernisierung negativ bestimmt als Ablösung der traditionalen oder organischen Gesellschaft durch etwas Neues. Neu waren Bewusstsein und Realität größerer Kontrolle des Menschen über seine natürliche und soziale Umgebung mit der Folge, dass Zweckrationalität zur dominierenden Einstellung wurde. Getrieben wurde die Modernisierung durch Wirtschaft, Wissenschaft und Technik.
Der Durchbruch der Moderne war nicht das Ergebnis einer Reform, sondern der ungeplante Prozess der Generierung neuen Wissens, seiner Ausbreitung und Anwendung. Es bleibt keine Wahl, als diesen Prozess als einen solchen der Evolution zu verstehen. Rationalität als Wissensbasis der Moderne bedeutet Fremdbeobachtung, Selbstbeobachtung und Kontingenzbewusstsein, kurz, sie bedeutet Reflexivität mit der Folge permanenter Reformanstrengungen und Widerstandsaktivitäten. Doch auch solches Akteurhandeln lässt sich von außen als evolutionär oder, bescheidener, als eigendynamisch oder funktional veranlasstes Geschehen auffassen. Das ist das Thema der »klassischen« Modernisierungstheorie, von der gleich die Rede sein wird.
Der Durchbruch der Modernisierung löste dort, wo er sich ereignete, einen Prozess des permanenten sozialen Wandels aus. »Was heute modern ist, ist morgen schon veraltet.« [1]Johannes Berger, Die Einheit der Moderne, in: Thomas Schwinn (Hg.), Die Vielfalt und Einheit der Moderne, 2006, 201-225, S. 201. Der Schwerpunkt der wirtschaftlichen Entwicklung verlagerte sich im 20. Jahrhundert von der Industrie auf Dienstleistungen und auf Informationen. Der Übergang zur nachindustriellen Gesellschaft (Daniel Bell) bildet die eigendynamische Fortsetzung der Modernisierung. Das gleiche gilt für die weltweite Intensivierung aller Wirtschafts- und Kommunikationsbeziehungen, die als Globalisierung geläufig ist. Die Modernisierung hat parallel auch das politische System und mit ihm das Recht erfasst. Während die Industrialisierungsphase mit Rationalisierung, Bürokratisierung und Säkularisierung und einer relativ ungebrochenen Autoritätsgläubigkeit einherging, wuchsen in der postindustriellen Gesellschaft das Verlangen nach persönlicher und politischer Selbstbestimmung und die Wertschätzung von Kreativität.
Im letzten Drittel des 20. Jahrhundert haben sich die dysfunktionalen Effekte der Modernisierung immer stärker bemerkbar gemacht. Auf der materiellen Ebene ist es der gewaltige Umweltverbrauch, der dem Wachstum Grenzen zu ziehen scheint. Auf der menschlichen Ebene bewirkt die Modernisierung den Verlust der traditionellen persönlichen Beziehungen und der damit verbundenen sozialen Absicherung. Die Reaktion auf diese nicht intendierten Nebenfolgen ist entweder Widerstand oder eine Selbstkorrektur der Modernisierung unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit. Der Widerstand gegen die Modernisierung hat sich an vielen Stellen formiert, als Widerstand gegen Umweltzerstörung oder gegen kulturelle Einebnung und als Forderung nach sozialer Gerechtigkeit. Er artikuliert sich in wissenschaftlichen Analysen und philosophischen Reflexionen, in gesellschaftlicher Selbstorganisation und in politischen Aktionen. Die Dysfunktionalität der Modernisierung und der Widerstand sind das Thema neuer Modernisierungstheorien, etwa der von Anthony Giddens und Ulrich Beck. [2]Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, 1986; ders., Macht und Gegenmacht im globalisierten Zeitalter. Neue weltpolitische Ökonomie, 2002; Ulrich Beck/ /Wolfgang Bonß … Continue reading Radikaler noch ist These, nach der die Moderne abgeschlossen und durch eine Postmoderne ersetzt worden sei, welche zentrale Merkmale der Moderne wie Rationalität und Fortschritt irreversibel zerlegt habe. Aber die Modernisierung lässt sich anscheinend nicht aufhalten, sondern wird durch Widerstand allenfalls zur Nachbesserung veranlasst. Damit befasst sich die Fortschreibung der Modernisierungstheorie, etwa durch Wolfgang Zapf als Theorie der weitergehenden Modernisierung. [3]Wolfgang Zapf, Modernisierung, Wohlfahrtsentwicklung und Transformation. Soziologische Aufsätze 1987-1994, 1994, S. 184, ferner ders., Die Modernisierungstheorie und unterschiedliche Pfade der … Continue reading
Alle Modernisierung führt nur wieder zu weiterer Modernisierung. [4]Friedrich H. Tenbruck, Der Traum der säkularen Ökumene. Sinn und Grenze der Entwicklungsvision, Annali di Sociologia/Soziologisches Jahrbuch 3, 1987, 11-36, S. 28. Als evolutionärer Vorgang hat sie kein Ziel. Sie begründet einen Prozess des permanenten sozialen Wandels. Einmal in Gang gesetzt, ist die Modernisierung zum Selbstgänger geworden. Sie produziert laufend Innovationen, die sich zwanglos verbreiten und den Wandel antreiben. Ein Ende ist nicht abzusehen. Anders sieht es die Fortschrittsidee, die die Modernisierung seit der französischen Revolution beflügelt hat. Mit ihr wird die Evolution zum Evolutionismus, vom historischen Vorgang zum gesollten Programm. Am Ende steht die Eine Welt, in der alle großen Unterschiede und Spannungen beseitigt sind und mit ihnen die Gründe für Krieg und Ausbeutung.
Die Modernisierungstheorie war und ist heftiger, teilweise polemischer Kritik ausgesetzt. Ihr wurde vorgehalten, sie sei als Instrument des Kalten Krieges zur ideologischen Unterfütterung der Position des Westens entstanden. Ihr wird vorgeworfen, die Vorstellung von einer besseren Gesellschaft europäisch-amerikanischen Musters zum Ziel der Entwicklung zu erheben; im Gewand des Neoliberalismus setze sie nur den Kolonialismus und Imperialismus des 19. Jahrhunderts fort. Als Begleiterscheinungen des wirtschaftlichen Imperialismus werden dann auch Rechtsimperialismus und Kulturimperialismus kritisiert. [5]Repräsentativ für solche Kritik ist Ugo Mattei/Laura Nader, Plunder. When the Rule of Law is Illegal, Malden MA 2008. Dazu meine ausführliche Besprechung auf Rsozblog: Über das Buch »Plunder« … Continue reading
Fraglos wurde und wird die Modernisierungstheorie normativ aufgeladen. Aber zunächst enthält sie die empirische Aussage, dass die Globalisierung als Angleichungsprozess beschrieben werden kann. Die normative und die empirische Behandlung des Modernisierungsthemas sind unlösbar miteinander verschränkt, und dennoch darf eine soziologische Betrachtung, den Versuch unternehmen, die faktische Seite wertfrei zu analysieren.
[Fortsetzung ist beabsichtigt.]

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Johannes Berger, Die Einheit der Moderne, in: Thomas Schwinn (Hg.), Die Vielfalt und Einheit der Moderne, 2006, 201-225, S. 201.
2 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, 1986; ders., Macht und Gegenmacht im globalisierten Zeitalter. Neue weltpolitische Ökonomie, 2002; Ulrich Beck/ /Wolfgang Bonß (Hg.), Die Modernisierung der Moderne, 2001; Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne, 1995; Ulrich Beck/Anthony Giddens/Scott Lash, Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, 1996.
3 Wolfgang Zapf, Modernisierung, Wohlfahrtsentwicklung und Transformation. Soziologische Aufsätze 1987-1994, 1994, S. 184, ferner ders., Die Modernisierungstheorie und unterschiedliche Pfade der Entwicklung, Leviathan 24, 1996, 63-77, S. 67; Modernisierungstheorie – und die nicht-westliche Welt, in: Thomas Schwinn (Hg.), Die Vielfalt und Einheit der Moderne, 2006, 227-235.
4 Friedrich H. Tenbruck, Der Traum der säkularen Ökumene. Sinn und Grenze der Entwicklungsvision, Annali di Sociologia/Soziologisches Jahrbuch 3, 1987, 11-36, S. 28.
5 Repräsentativ für solche Kritik ist Ugo Mattei/Laura Nader, Plunder. When the Rule of Law is Illegal, Malden MA 2008. Dazu meine ausführliche Besprechung auf Rsozblog: Über das Buch »Plunder« von Mattei und Nader.

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Die Rolle des Rechts im Prozess der nachholenden Modernisierung

Derzeit versuche ich mich an einer Abgleichung der »klassischen« soziologischen Modernisierungstheorie mit den Untersuchungen über Law and Development. Dabei sind mir drei Forschungsprojekte aufgefallen, die Rechtssoziologie unter fremdem Namen betreiben.
Das älteste ist das Projekt »States at Work. Public Services and Civil Servants in West Africa: Education and Justice in Benin, Ghana, Mali and Niger« des Instituts für Ethnologie und Afrikastudien an der Universität Mainz. Es lief von 2006 bis 2011. Ein zusammenfassender Projektbericht liegt anscheinend noch nicht vor. Aber die Webseite verweist auf viele interessante Arbeitspapiere und Buchbesprechungen. Hervorzuheben sind besonders:
Gifty Amo Antwi u. a., “They Are not Enlightened”. Wie Staatsbedienstete in Nordghana Differenz zwischen sich und ihren Klienten konstruieren.
Thomas Bierschenk, States at Work in West Africa: Sedimentation, Fragmentation and Normative Double‐Binds, 2010. Von »nachholender Rechtsstaatsentwicklung« spricht Bierschenk in einer ausführlichen Buchbesprechung. [1]Des Bandes von Rolf Kappel/Hans-Werner Tobler/Peter Waldmann (Hg.), Rechtsstaatlichkeit im Zeitalter der Globalisierung, Freiburg im Breisgau 2005. Zu diesem Band gibt es eine handliche … Continue reading

»Persistenz und Wandel von Neopatrimonialismus in verschiedenen Nicht-OECD-Regionen« heißt das von der Volkswagen Stiftung geförderte Projekt des Leibniz-Instituts für Globale und Regionale Studien (GIGA). Ein Forschungsschwerpunkt befasst sich speziell mit Recht und Politik. Das Projekt wird auf den Internetseiten gut beschrieben und es gibt eine Bibliographie sowie viele Hinweise auf eigene und fremde Vorarbeiten, die zum Teil online verfügbar sind.

Das dritte Projekt, das hier zu vermelden ist, steht unter der Regie der Konstanzer Politikwissenschaftlerin Katharina Holzinger und trägt den Titel »Traditionale Governance und moderne Staatlichkeit«. Es wird als Reinhart-Koselleck-Projekt von der DFG mit 1,5 Mill. EUR gefördert. [2]Frau Holzinger ist Sprecherin des Fachkollegiums 111 Sozialwissenschaften der DFG. Bisher gibt es dazu nur eine Presseinformation. Dort liest man:

Weltweit gibt es in vielen Staaten ethnische Bevölkerungsgruppen, die ihr inneres politisches Leben gemäß traditionaler Strukturen organisieren. Knapp 57% der Weltbevölkerung in 63 UN-Mitgliedstaaten leben in Rechtssystemen, in denen indigene Rechte in relevantem Umfang mit der staatlichen Gesetzgebung koexistieren. Gerade in Afrika sind traditionale Institutionen keineswegs strikt von staatlichen Institutionen abgegrenzt. ›Traditionale Institutionen, die sich entlang von Ethnien konstituieren, sind in vielen afrikanischen Ländern noch besonders bedeutend: sowohl in Hinsicht auf ihren Umfang als auch bezogen auf ihre politische Bedeutung. In diesen Staaten koexistieren indigene Formen der Governance mit modernen staatlichen Formen‹, schildert Katharina Holzinger. In vielen Fällen übernehmen solche traditionalen Institutionen staatliche Aufgaben – teils in Konkurrenz zum Staat, teils komplementär oder sogar verschränkt mit dem Staat.

»In einer weltweiten, quantitativen Untersuchung«, so heißt es weiter, soll ermittelt werden, »welche Wechselbeziehung zwischen Staat und traditionaler Governance bestehen und welche Auswirkungen dies auf die demokratische Entwicklung des Staates hat. Mittels acht Länderfallstudien, die sich auf afrikanische Staaten konzentrieren, wird Holzinger ihre weltweiten Analysen vertiefen.« In der Rechtssoziologie würde man nicht von Governance, sondern von Legal Pluralism reden.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Des Bandes von Rolf Kappel/Hans-Werner Tobler/Peter Waldmann (Hg.), Rechtsstaatlichkeit im Zeitalter der Globalisierung, Freiburg im Breisgau 2005. Zu diesem Band gibt es eine handliche Zusammenfassung des Wissenschaftlichen Beirats beim BMZ: Staatsentwicklung und Rechtsstaatlichkeit: Lehren aus der europäischen Geschichte und lateinamerikanischer Erfahrungen 2006.
2 Frau Holzinger ist Sprecherin des Fachkollegiums 111 Sozialwissenschaften der DFG.

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Persönliche transnationale Netzwerke

»Transnational Communities are social groups emerging from mutual interaction across national boundaries, oriented around a common project and/or ›imagined‹ identity which is constructed and sustained through the active engagement and involvement of at least some of its members. Transnational communities can overlap in different ways with formal organizations but, in principle, the do not need formal organization to be sustained. Transnational organizations imply transnational networks, but they are more than that since the notion of community connotes a sense of belonging to a common ›culture‹ in the broadest sense.« [1]Marie-Laure Djelic/Sigrid Quack (Hg.), Transnational Communities, Shaping Global Economic Governance, Cambridge 2010, Vorwort. VBon Interesse zum thema in diesem Band besonders das Einleitungs- und … Continue reading
Solche Gruppierungen, die oft formale Organisationen und nationale Grenzen übergreifen, können eine einheitliche kognitive und normative Orientierung ihrer Mitglieder bewirken und dadurch transnationale Phänomene beeinflussen. In dem Buch, dessen Vorwort ich die vorstehende Definition entnommen habe, geht es um Economic Governance. Als »Communities« werden darin u. a. behandelt Netzwerke von chinesischen Kaufleuten im Ausland, die sog. Shuttle Trader, nämlich Ausländer aus Ungarn, Jugoslawien, der Tschechoslowakei und Polen, später aus Nordafrika und schließlich aus den russischen Nachfolgestaaten, die etwa ab 1970 ein Stadtviertel in Istanbul in einen internationalen Handelsplatz verwandelten, Gruppierungen, die auf den internationalen Finanzmärkten tätig sind, den Berufsstand der international tätigen Rechnungsprüfungsfirmen, die virtuelle Gemeinschaft der Computerfreaks, die an Freeware und Open Source Software arbeiten, oder die soziale Bewegung, die sich eine Entkommerzialisierung des Urheberrechts (Creative Commons) zum Ziel gesetzt hat. Man könnte auch die Koalitionen von international orientierten Beamten anführen, die zwischen den Bürokratien der IGOs und der Nationalstaaten entstehen (und die eine Kontrolle und Steuerung der politischen Aktivitäten durch die Nationalstaaten angeblich erschweren ). Für Europa wird uns dagegen die Entstehung eines transnationalen Beamtenkorps eher als integrativer Mechanismus beschrieben.
Djelic und Quack sortieren die transnationalen Gruppierungen in verschiedene Typen:
Gruppierungen mit Migrationshintergrund: Dazu gehören die Migranten selbst und ihre Unterstützer und Sympathisanten. Das gilt jedenfalls solange, wie die Migranten noch Beziehungen zu ihrem Herkunftsland unterhalten, etwa Familienbeziehungen, oder wenn sie zweisprachig sind. In solchen Gruppen ereignen sich kulturelle Anpassungsprozesse. Sie äußern sich im Sitzland wie im Herkunftsland zu politischen Themen oder sie entwickeln wirtschaftliche Aktivitäten.
Transnationale Aktivisten: Hier geht es um Netzwerke und Bewegungen, die auf der Grundlage gemeinsamer Werte und politischer Überzeugungen transnationale Ziele verfolgen, in historischer Zeit etwa das Frauenwahlrecht oder ein Alkoholverbot (Prohibition), heute etwa Menschenrechte und Umweltschutz.
Transnationale Experten, Professionelle und Wissenschaftler: Sie haben gemeinsam, dass sie transnational bei der Produktion und Verbreitung von Wissen engagiert sind. Für die Rechtssoziologie wird man in dieser Rubrik vor allem nach international orientierten Gruppierungen von Richtern, Anwälten, Rechtswissenschaftlern und Verwaltungsbeamten suchen. Ist der Expertenzirkel auf seinem Gebiet soweit anerkannt, dass auch die Politik dort Rat sucht, so spricht man von epistemic communities. [2]Peter M. Haas, Epistemic Communities and Policy Knowledge, in: International Encyclopedia of Social and Behavioral Sciences, 2001, S. 11578–11586.
Transnationale Eliten: Es geht hier um die Machtelite auf der allerhöchsten Ebene. Diese Gruppierung trifft sich etwa auf dem jährlichen Weltwirtschaftsgipfel in Davos. C. Wright Mills hat 1956 die nationale Machtelite der USA (in »The Power Elite«) als eine kleine Gruppe von Individuen beschrieben, die die einen weit überproportionalen Anteil des Reichtums kontrollieren und auf Entscheidungen aller Art Einfluss nehmen. Zu dieser Gruppe gehören neben Wirtschaftsführern Politiker, einige Militärs, einige Medienleute und wenige Wissenschaftler. Heute ist diese Elite praktisch ausnahmslos transnational orientiert. Bemerkenswert an dieser Gruppierung ist, dass sie zwar jeder für ganz unterschiedliche Interessen verfolgen können, aber dennoch von einem gewissen Korpsgeist zusammengehalten werden.
Diese Gruppierungen werden zusammengehalten nicht durch eine formelle Organisation, sondern durch ein gemeinsames Projekt, Thema oder Problem mit transnationalem Bezug, über das sie mehr oder weniger häufig kommunizieren. Djelic und Quack heben hervor, dass bei aller Internationalität persönlicher Kontakt sehr wichtig ist. Man trifft sich vor allem auf Tagungen oder in Arbeitsgruppen. Der Informationsaustausch wird durch die elektronischen Medien und durch die einheitliche Verwendung der englischen Sprache zugleich informeller und intensive. Sie praktizieren Transnationalität und bringen dadurch die Globalisierung voran. Das gilt selbst für Globalisierungskritiker, wenn sie sich international vernetzen und austauschen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Marie-Laure Djelic/Sigrid Quack (Hg.), Transnational Communities, Shaping Global Economic Governance, Cambridge 2010, Vorwort. VBon Interesse zum thema in diesem Band besonders das Einleitungs- und das Schlusskapitel der Herausgeber (Transnational Communities and Governance, S. 3-36; Transnational Communities and Their Impact on the Governance of Business and Economic Activity, S. 377-413) sowie von Renate Mayntz »Global Structures: Markets, Organizations, Networks – and Communities? (S. 37-54).
2 Peter M. Haas, Epistemic Communities and Policy Knowledge, in: International Encyclopedia of Social and Behavioral Sciences, 2001, S. 11578–11586.

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Rechtliche Identität

Zu den Berichten, die ich in meinen Einträgen zur Berichtsforschung im Blick hatte, gehört der Bericht der UNO Commission on Legal Empowerment of the Poor »Making the Law Work for Everyone«. Es handelt sich um eine Kommission unter dem Dach des United Nations Development Programme (UNDP) in New York. Vorsitzende waren die ehemalige amerikanische Außenministerin Madeleine Albright und der peruanische Ökonom Hernando de Soto. 2008 hat die Kommission einen zweibändigen Bericht abgeliefert:
Der erste Band mit seinen 96 Seiten ist mit vielen Bildern und buntem Design wie eine Public-Relations-Broschüre aufgemacht. Man kann ihn wie ein Management Summary lesen. Als solches bietet er klare Kernaussagen und darüber hinaus ganz interessante Hinweise und Inhalte. Die dramatische Basisaussage: Vier Milliarden Menschen haben keinen Zugang zum Recht. Der zweite Teil mit seinen 353 Seiten ist nüchterner im Stil eines wissenschaftlichen Gutachtens gehalten. Es wird viel Literatur ausgewertet, und es werden illustrative Einzelbeispiele herangezogen. Aber es gibt keine systematische Datenerhebung.
Ein gute Übersetzung für Legal Empowerment ist mir bisher nicht eingefallen. »Zugang zum Recht« trifft die Sache nicht ganz. Blankenburgs »Mobilisierung des Rechts« [1]Erhard Blankenburg, Mobilisierung des Rechts, Eine Einführung in die Rechtssoziologie, Berlin 1995. gefällt mir auch nicht 100%ig, weil sie auf die Aktivierung der Betroffenen abstellt. Das Problem beginnt nicht erst, wenn die Menschen nach Institutionen suchen, die ihnen helfen könnten, und sie sich bei diesen mit ihrem Anliegen durchsetzen müssen. Bei sehr vielen Menschen beginnt das Problem noch früher damit, dass sie keine legale Existenz haben, keinen amtlich registrierten Namen und folglich keinen Ausweis. Es fehlt damit die rechtliche Identität, an die der rechtliche Schutz von Eigentum und Vertragsrechten anknüpfen kann. Es fehlt die Identität vor Banken und Behörden. Mit Interesse hatte ich deshalb schon vor Jahr und Tag einen Zeitungsartikel von Christoph Hein mit der Überschrift »Eine Nummer für jeden Inder« gelesen. [2]FamS vom 14. 2. 2010 (S. 39). Bisher gibt es in Indien keinen Pass oder Personalausweis für jedermann, sondern nur zweckgebundene Einzelausweise. Hein: »Wer Steuern zahlt, bekommt eine PAN, die Nummer für ein Steuerkonto. Wer älter als 18 Jahre ist, wird im Wahlregister vermerkt. Die Armen erhalten Karten für Nahrungsrationen. Die im Ausland lebenden Inder haben den Status des NRI – des Non-Resident Indian.« Man kann sich leicht vorstellen, wie sehr dieser Zustand die Verwaltung des riesigen Landes erschwert. Deshalb hat die indische Regierung den Milliardär und Gründer von Infosys, Nandan Nilekani, beauftragt hat, 1,2 Millionen Inder mit einem Personalausweis zu versehen.

Nandan M. Nilekani nach einem Foto von E.T. Studhalter für das World Economic Forum 2007

(Nandan M. Nilekani nach einem Foto von E.T. Studhalter für das World Economic Forum 2007)

Nilekani ist nunmehr Leiter der Unique Identification Authority of India im Range eines Ministers. Nach dem Bericht von Christoph Hein zu urteilen, hat Nilekani die Aufgabe, hier Abhilfe zu schaffen, aber nicht übernommen, um der Verwaltung beizuspringen, sondern er sieht sie als eine soziale Aufgabe an.
Wie belastend ihr Zustand für die Ausweislosen ist, steht nicht ganz außer Frage. Die Doing-Business-Reports der Weltbank und ähnliche Berichte gehen einhellig davon aus, dass die Klarheit der Zuordnung von Eigentumsrechten, die Sicherheit des Eigentums und die Durchsetzbarkeit von Verträgen der Wirtschaft helfen. Autoren aus dem Deutschen Institut für Entwicklungspolitik weisen jedoch darauf hin, dass diese Annahme für den Informellen Sektor, der in den armen Entwicklungsländern für die Wirtschaft erhebliche Bedeutung hat, nicht zutreffen müsse. [3]Tilman Altenburg, Christan von Drachenfels, (2006): The ‘New Minimalist Approach’ to Private- Sector Development: A Critical Assessment. In: Development Policy Review, 24, 2006, 387–411; dies. … Continue reading Sie berufen sich auf Studien, nach denen die Registrierung von Grundeigentum und Unternehmen für den informellen Sektor keine Bedeutung habe.
Die Eintragung von Grundeigentum kann sogar kontraproduktiv wirken, weil die Bodennutzung in manchen Regionen in einer Weise informell geregelt ist, die auch den Schwächsten noch eine gewisse Nutzungsmöglichkeit bietet. Die Registrierung von Grundeigentum führe dagegen zur Exklusion und zur Spekulation. Dem lässt sich wieder der Bericht der UNO Commission on Legal Empowerment of the Poor entgegenhalten. Darin wird an einem Beispiel aus Kenya gezeigt, wie wichtig die Registrierung von Grundeigentum für den Zugang zum Recht sei. Ohne registriertes Eigentum hätten die Bewohner keine Chance zur Gegenwehr, wenn Behörden oder Unternehmen ganze Siedlungen abreißen, um neu und modern zu bauen.
Im Ergebnis wird man wohl sagen müssen: Sobald die Modernisierung eines Landes einmal eingesetzt und die alten sozialen Strukturen zerstört hat, geht es nicht mehr ohne die rechtliche Identität.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Erhard Blankenburg, Mobilisierung des Rechts, Eine Einführung in die Rechtssoziologie, Berlin 1995.
2 FamS vom 14. 2. 2010 (S. 39).
3 Tilman Altenburg, Christan von Drachenfels, (2006): The ‘New Minimalist Approach’ to Private- Sector Development: A Critical Assessment. In: Development Policy Review, 24, 2006, 387–411; dies. und Matthias Krause, Seven Theses on Doing Business. Deutsches Institut für Entwicklungspolitik, 2008; Miguel Jaramillo, Is there Demand for Formality among Informal Firms? Evidence from microfirms in downtown Lima, Deutsches Institut für Entwicklungspolitik 2009.

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Begriffssoziologie VII: Zur empirischen Seite der Konstitutionalisierung

Dieses Posting setzt die Beiträge über die strukturelle Seite der Konstitutionalisierung und die funktionale Seite der Konstitutionalisierung fort.
Die Systemtheorie nimmt immer wieder für sich in Anspruch, mit ihren Konzeptualisierungen einen radikalen Blickwechsel herbeizuführen. Durch einen Blickwechsel lässt sich auch die Konstitutionalisierungshypothese der Systemtheorie fruchtbar machen, indem man fragt, wo tatsächlich Gemeinwohlvorstellungen in das neue Weltrecht eindringen und wie die Türöffner beschaffen sind. Dazu gibt es von Teubner und seiner Schule interessante Hinweise. Sie bestätigen Luhmanns Andeutung, dass eine Rechtswirkungsforschung möglich sei, »ohne einen Gedanken an ›Autopoiesis‹ zu verschwenden« [1]Niklas Luhmann, Steuerung durch Recht?, Zeitschrift für Rechtssoziologie 11, 1990, 137-160/144..
»Eine globale Verfassungsordnung steht vor der Aufgabe: Wie kann externer Druck auf die Teilsysteme so massiv erzeugt werden, dass in ihren internen Prozessen Selbstbeschränkungen ihrer Handlungsoptionen wirksam werden?« [2]Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 9.
Gemeint ist wohl nicht, dass eine schon vorhandene Verfassungsordnung Druck erzeugen soll, sondern dass externer Druck den Prozess der Konstitutionalisierung vorantreibt. Nun endlich ist man bei Fragen angelangt, die sich empirisch beantworten lassen: Woher kommt »externer Druck« auf die Teilsysteme? Wo reagiert das neue Weltrecht »responsiv« durch den Einbau gemeinwohlorientierter Normen?
Vor der Empirie liegt aber noch eine Hürde, nämlich die Frage, wie der Druck »theoretisch« Eingang in die Systeme finden kann, denn die Systeme haben mit ihrer Umwelt keinen Kontakt. Sie können nur – bevorzugt – die eigenen und – eigentlich nur als Irritationen – die Kommunikationen anderer Systeme, etwa von Wissenschaft oder Medien – zu Kenntnis nehmen. Die ökologische Umwelt, also Mensch und Natur, und ihre Probleme spiegeln sich in den Kommunikationen der Wissenschaft und der Massenmedien. Als Filter und Verstärker spielt die Zivilgesellschaft eine so große Rolle, dass man sich fragt, welchen Platz sie im Gebäude der Systemtheorie einnimmt.
Bei Fischer-Lescano/Teubner [3]Regime-Kollisionen, 2006, 55; ähnlich S. 56. ist von einer »zivilgesellschaftlichen Konstitutionalisierung von autonomen Regimes« die Rede. Sollten die privaten Rechts-Regimes selbst Teil der Zivilgesellschaft sein? Das entspricht kaum der üblichen Verwendung des Begriffs, denn die verlangt eine primäre Gemeinwohlorientierung. Auch wenn »Politik, Recht und Zivilgesellschaft« gelegentlich [4]Teubner, Verfassungen ohne Staat, 2010, Internetfassung S. 11. in einem Atemzug genannt werden oder gar von den »vielen Autonomien der Zivilgesellschaft« die Rede ist [5]Teubner, Vertragswelten, 1998, Internetfassung S. 35., so kämen doch nur Laien auf die Idee, die Zivilgesellschaft ihrerseits als Funktionssystem der Gesamtgesellschaft einzuordnen. In einer Fußnote [6]Teubner, Nach der Privatisierung?, Zeitschrift für Rechtssoziologie 19, 1998, 8-36, Fußnote 12 auf S. 11. präzisiert Teubner den »vielgebrauchten, aber äußerst unscharf verwendeten Begriff … im systemtheoretischen Sinne«. Dieser deckt »alle die gesellschaftlichen Kommunikationen …, die nicht zum Politiksystem oder zum Wirtschaftssystem gehören. Insoweit wie bei Habermas … soll er also gesellschaftlich diffuse (›lebensweltliche‹) Kommunikation, aber auch – insoweit anders als bei Habermas – alle anderen (und nicht nur die menschen-nahen) Funktionssysteme umfassen.« Das ist so scharf nun auch wieder nicht.
Hier soll es genügen, auf die kognitive Offenheit der Systeme zu verweisen. Die Wirtschaft ist »Lernpressionen« ausgesetzt. Dabei handelt es sich um kognitive Änderungen verbunden mit darauf gerichtetem Zwang. [7]Selbst-Konstitutionalisierung, 2010, 19 Teubner bezieht sich dazu auf Luhmanns These vom Primat kognitiver Strukturen in der Weltgesellschaft. Eigentlich braucht es diesen Umweg gar nicht, denn das operativ geschlossene Wirtschaftssystem ist per definitionem kognitiv offen, auch für das Soft Law der Codes des offiziellen Weltrechts. Interessanter sind daher die Pressionen.
Die TNC und transnationalen Rechtsregimes, insbesondere wenn sie privater Genese sind, werden ihre systemdienlichen Regelungen kaum aus Menschenfreundlichkeit oder sozialer Verantwortung am Gemeinwohl ausrichten, sondern sie reagieren nur auf äußeren Druck. (Das ist keine Besonderheit der globalen Rechtsbildung. Auch dem staatlichen Recht geht es regelmäßig so, dass die Adressaten ihm nicht immer aus Überzeugung folgen.) Der Druck stammt nur zum kleineren Teil von den Nationalstaaten und den internationalen Organisationen, viel stärker von Protestbewegungen, NGOs, Gewerkschaften und der öffentlichen Meinung. Den Ausschlag gäben oft »ökonomische Sanktionen« wie das Kaufverhalten des Verbraucherpublikums und das Investitionsverhalten bestimmter Anlegergruppen. [8]Selbst-Konstitutionalisierung, 2010, 20 f.
Die Wirtschaft qua »Eigenrationalität« reagiert auf externen Druck, wenn der ihre internen Operationen stört, wenn er die Absatzmöglichkeiten einschränkt oder die Wettbewerbssituation verändert. Voraussetzungen sind breitenwirksame Kampagnen, die die ökologische Qualität bestimmter Produkte anprangern, sei es, dass Herstellung oder Konsum umweltschädlich sind, sei es, dass Produktion, etwa wegen Kinderarbeit, als sozial unverträglich dargestellt werden kann. Die Wettbewerbssituation verändert sich, wenn es gelingt, Produkte als umweltfreundlich und sozialverträglich auszuzeichnen. Dazu dienen Umwelt- und Ökolabel oder neue Vertriebswege (»Fair Trade«). Das geht so weit, dass die Wirtschaft bei der Vermarktung ihrer Produkte auf einen neuen Lebensstil setzen kann. Die Wirtschaft spricht von Lhas (Lifestyle of Health and Sustainability). Das alles gehört inzwischen zum Zeitungsleserwissen. Vor allem aber, es ereignet sich ohne direkte Hilfe des Rechtssystems.
»Die Wirtschaft dagegen benötigt zur ihrer Selbstkonstituierung massiver Subventionierung durch das Recht, wenn auch nicht in dem umfassenden Maße wie die Politik.« [9]Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 24.
Rechtlicher Druck auf die globalen Funktionssysteme kommt in erster Linie nicht aus dem neuen Weltrecht, sondern aus den territorialen Rechtssystemen. Da die transnationalen Akteure immer noch eine territoriale Basis haben müssen, können sie von den territorialen Rechtssystemen etwa auf dem Umweg über Strafverfahren oder Menschenrechtsklagen zur Verantwortung gezogen werden. Organisationen der Zivilgesellschaft sorgen dafür, dass dabei auch Weltgemeinwohlgesichtspunkte zum Tragen kommen. Eine Reihe von NGOs hat sich auf den Bereich Legal Advice spezialisiert [10]Über die Legal Resources Foundation in Zambia Beatrix Waldenhof, Die Rolle der NGOs als Teil der Zivilgesellschaft im demokratischen Transitions- und Konsolidierungsprozess Zambias, Bochum … Continue reading und benutzt die nationalen Gerichte als Hebel. Einen globalen Charakter erhalten die Fälle (nur) durch die internationale Vernetzung der NGOs, durch ausländische Finanzierung, durch die Berufung auf internationales Recht, vor allem auf Menschenrechtskonventionen, und natürlich dann, wenn sie sich gegen transnational tätige Akteure richten.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Niklas Luhmann, Steuerung durch Recht?, Zeitschrift für Rechtssoziologie 11, 1990, 137-160/144.
2 Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 9.
3 Regime-Kollisionen, 2006, 55; ähnlich S. 56.
4 Teubner, Verfassungen ohne Staat, 2010, Internetfassung S. 11.
5 Teubner, Vertragswelten, 1998, Internetfassung S. 35.
6 Teubner, Nach der Privatisierung?, Zeitschrift für Rechtssoziologie 19, 1998, 8-36, Fußnote 12 auf S. 11.
7 Selbst-Konstitutionalisierung, 2010, 19
8 Selbst-Konstitutionalisierung, 2010, 20 f.
9 Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 24.
10 Über die Legal Resources Foundation in Zambia Beatrix Waldenhof, Die Rolle der NGOs als Teil der Zivilgesellschaft im demokratischen Transitions- und Konsolidierungsprozess Zambias, Bochum sozialwissenschaftliche Dissertation, 2003. 271ff.

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Begriffssoziologie VI: Zur funktionalen Seite der Konstitutionalisierung

Dieses Posting setzt den Beitrag über die strukturelle Seite der Konstitutionalisierung fort.
Strukturelle Kopplungen haben die »paradoxe« Funktion, die Teilsysteme der Gesellschaft zu verknüpfen und sie dabei gleichzeitig auf Abstand zu halten.
»Politische Verfassungen haben in systemtheoretischer Sicht die konstitutive Funktion, die in der Neuzeit gewonnene Autonomie der Politik gegenüber ›fremden‹ religiösen, ökonomischen, militärischen Machtquellen dadurch abzustützen, dass sie das der Politik ›eigene‹ Machtmedium formalisieren.« [1]Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 17.
Eine »Verfassung« stützt die Autonomie des Systems gegenüber anderen Systemen, und zwar – paradoxerweise Weise, möchte man sagen – dadurch, dass mit ihr das System seinen eigenen Expansionsdrang bremst. Die Verfassung des Staates ist fungiert als strukturelle Kopplung zwischen Politik und Recht. Zentrale Bestandteile der Verfassung sind Grundrechte und Gewaltenteilung. Grundrechte markieren und stützen die soziale Differenzierung, die sich in den Gesellschaften der westlichen Welt herausgebildet hat. Gewaltenteilung sorgt dafür, dass das Rechtssystem tut, was die Politik verlangt, allerdings nur, soweit das Verlangen »verfassungsgemäß« in Gesetzesform geäußert wird. Umgekehrt kann sich die Politik nur noch in eben dieser Form in das Recht einmischen. Mit der Staatsverfassung legt die Staatsgewalt sich selbst Zügel an. Als strukturelle Kopplung von Recht und Politik erzeugt die Verfassung einen Meta-Code, der die Systemcodes überlagert, und zwar den Code verfassungsmäßig/verfassungswidrig. So wirkt die Verfassung als Selbstbeschränkung der Politik. [2]Luhmann, RdG 446, 468 ff.
Die Analogie legt nahe, dass auch transnationale Rechtsregimes sich durch eine »Verfassung« selbst beschränken könnten. Über diese Analogie werden die neuen transnationalen Rechtsregime als »globale Zivilverfassungen« in den Adelsstand des Verfassungsrechts erhoben: Die privaten Rechtsregimes verfügen über strukturelle Kopplungen zu anderen Systemen. Die strukturelle Kopplung des Rechts mit der Politik heißt Verfassung. Also verfügen die Regimes über eine Verfassung, wenn es ihnen gelingt, sich mit anderen Systemen strukturell zu verkoppeln. Und so werden aus autonomen Privatregimes Verfassungen. Sicher kann man den Verfassungsbegriff so definieren, dass auch die Satzung eines Kaninchenzüchtervereins darunter fällt. Aber das ist höchst unzweckmäßig.
Der Gedanke der Selbstbeschränkung bleibt aber interessant, weil damit eine Einfallstelle für die Gemeinwohlorientierung von transnationalen Rechtsregimes benannt wird, die herkömmlich mit der »öffentlichen« Seite des Rechts in Verbindung gebracht wird. Nach dem Vorbild der Staatsverfassungen soll das neue Weltrecht sich mit den anderen Teilsystemen der Gesellschaft in einer Weise verkoppeln, die deren Expansionsdrang Zügel anlegt.
»Der Witz der Meta-Codierung aber liegt nun darin, dass sie nicht nur dem Rechtscode übergeordnet ist, sondern zugleich dem Wirtschaftscode, dass sie also alle ökonomisch binär codierten Operationen der Unternehmung der Reflexion aussetzt, ob sie den Grundsätzen einer öffentlichen Verantwortung der Unternehmung entsprechen oder nicht.« [3]Selbst-Konstitutionalisierung, 2010, 10 f. Unerklärt bleibt, wieso auch diese Verfassungen miteinander in Konflikt geraten; Vgl. Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen, 2006, 26: »In der … Continue reading
Die Idee ist einleuchtend. Aber vielleicht ist sie zu schön, um wahr zu sein. Woher kommt die Zuversicht, dass die Selbstkonstitutionalisierung auch zu einer sozialverträglichen Selbstbeschränkung führt? »Theoretisch« gibt es dafür keine andere Begründung als die Analogie zur Staatsverfassung. Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Funktionssysteme und die Ausbildung struktureller Kopplungen sind evolutionäre Prozesse. Luhmann verwies auf die politische Situation im letzten Drittel des 18. Jahrhundert, in dem in den USA die explizit ausformulierte Staatsverfassung erfunden wurde. Der dafür nötige »Druck« resultierte aus zwei sozialen historischen Entwicklungen. Die feudalistischen Verhältnisse in Europa hatten sich wirtschaftlich überlebt und die Kolonien in der neuen Welt wollten vom Mutterland politisch unabhängig werden. Die Folgerung liegt nahe, dass sich mit dem aktuellen Evolutionsschub der weltweiten Ausbreitung der Funktionssysteme auch neue strukturelle Kopplungen aufbauen, die einen wechselseitigen Verkehr über die Systemgrenzen hinweg ermöglichen, ohne die Grenzen einzureißen. Aber was sich am Ausgang des 18. Jahrhunderts ereignete, war geprägt durch eine konkrete historische Situation, das Ergebnis deshalb kontingent, das heißt es hätte unter anderen Umständen anders ausfallen können. Tatsächlich gab und gibt es Staatsverfassungen, die das Verhältnis zwischen Recht und Politik weniger freundlich gestalten. In vielen Staaten ist zu beobachten, dass auch autoritäre oder diktatorische Regime die Grenzen zwischen Politik und Recht nicht ganz abschaffen, sondern mindestens äußerlich auf demokratischen Wahlen und rechtliche Formen sogar gesteigerten Wert legen. Deshalb kann Theorie nicht versprechen, dass eine Konstitutionalisierung immer die erhofften positiven Wirkungen hat. Die Evolution schlägt nicht unbedingt den Kurs ein, den ihre Theoretiker sich wünschen. Man muss auch bösartige strukturelle Kopplungen für möglich halten.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 17.
2 Luhmann, RdG 446, 468 ff.
3 Selbst-Konstitutionalisierung, 2010, 10 f. Unerklärt bleibt, wieso auch diese Verfassungen miteinander in Konflikt geraten; Vgl. Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen, 2006, 26: »In der Fragmentierung des globalen Rechts wirken genuine Verfassungskonflikte, die letztlich über autonome Rechtsregimes vermittelt auf in der Weltgesellschaft institutionalisierte Rationalitätenkollisionen zurückzuführen sind.«

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Lawfare II

Im Artikel vom 13. März 2010 hatte ich über die Herkunft und den unterschiedlichen Gebrauch von »Lawfare« berichtet. Ich hatte gehofft, diesen Ausdruck wertneutral zur Kennzeichnung juristischer Strategien verwenden zu können, mit denen Opfer von Menschenrechtsverletzungen, ihre Anwälte und vor allem NGOs versuchen, über Ländergrenzen hinweg Ansprüche durchzusetzen, die auf transnationales Recht gestützt werden, besonders natürlich auf Menschenrechtsverletzungen. Doch daran sah ich mich gehindert, weil der Begriff nach Entstehungsgeschichte und tatsächlicher Verwendung eher dazu dient, die Berufung nichtstaatlicher Akteure auf Menschenrechte gegenüber kriegerisch staatlichen Maßnahmen herabzusetzen. Nicht durchgesetzt hat sich dagegen die Bedeutung, die John L. Comaroff dieser Wortschöpfung beilegen wollte, nämlich die Kennzeichnung des Missbrauchs der Rechtsform zunächst durch die Kolonialmächte und heute durch autoritäre Regime in den Entwicklungsländern.
Vor allem die Auseinandersetzung zwischen Israel und den Palästinensern ist zum Schauplatz von Lawfare in dem Sinne geworden, den Dunlop dem Ausdruck mitgegeben hatte. Als Beispiel dafür gibt es bei SSRN ein ausführliches Manuskript von Michael G. Kearney (Lawfare, Legitimacy, and Resistance: The Weak and the Law, Juni 2010). Kearney spricht von einem Lawfare-Narrativ, das man in Israel aufgebaut habe, um eine drohende Delegitimierung des Kampfes gegen die Hisbollah und die Hamas abzuwehren.

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Begriffssoziologie V: Konstitutionalisierung strukturell

In vielen Texten Teubners und seiner Schule ist von Konstitutionalisierung, Selbstkonstitutionalisierung, Zivilverfassungen oder von »Verfassung ohne Staat« die Rede. [1]Andreas Fischer-Lescano, Globalverfassung, Die Geltungsbegründung der Menschenrechte, 2005; Gunther Teubner, Globale Zivilverfassungen: Alternativen zur staatszentrierten Verfassungstheorie, … Continue reading Dahinter steckt die These von der Ablösung staatszentrierter Verfassungen durch die »Konstitutionalisierung« einer Vielheit von autonomen weltgesellschaftlichen Teilsystemen (societal constitutionalism). Sie knüpft an die Redeweise des Völkerrechts und der Politikwissenschaft an, wenn dort die Verdichtung globaler Rechtsphänomene als Konstitutionalisierung bezeichnet wird. Teubner (2003) bezieht sich zusätzlich auf den amerikanischen Soziologen David Sciulli, der ein Konzept eines »societal constitutionalism« entwickelt hatte. [2]David Sciulli, The Theory of Societal Constitutionalism, Foundations of a Non Marxist Critical Theory, Cambridge 1992. Sciulli hat allerdings etwas anderes im Sinn, nämlich eine Umstellung … Continue reading
Juristisch redet man von der Konstitutionalisierung der Rechtsordnung im Hinblick auf den Vorrang der Verfassung gegenüber allem einfachen Recht, der sich insbesondere in der Drittwirkung der Grundrechte äußert. [3]Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, 413 ff. Dabei bleibt die Verfassung im Staat. Es gibt aber auch in der Rechtswissenschaft die Idee eines vom Nationalstaat abgelösten Konstitutionalismus. So hat Ingolf Pernice in Anlehnung an den von Habermas geprägten Begriff der »postnationalen Konstellation« für das zusammenwachsende Europa eine »postnationale Verfassungstheorie« vorgeschlagen. [4]Ingolf Pernice, Europäisches und Nationales Verfassungsrecht, Vortrag, 2004. Im gleichen Sinne schreiben die Völkerrechtlerin Anne Peters [5]Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 , 2010, 3-63; dies., Grundlage europäischer Konstitutionalisierung: Die Entkopplung von … Continue reading und Neil Walker von der London School of Economics [6]Neil Walker, The Idea of Constitutional Pluralism, Modern Law Review 65, 2002, 317-359, Internetfassung S. 36; ders., Taking Constitutionalism Beyond the State, RECON Online Working Paper 2007/05; … Continue reading Dagegen hält Dieter Grimm die Verwendung des Konstitutionalisierungsbegriffs für verfehlt, weil dieser Begriff durch »Errungenschaften« der klassischen Staatsverfassungen ausgefüllt werde, die im Weltrecht nirgends anzutreffen seien. [7]Dieter Grimm, Gesellschaftlicher Konstitutionalismus: Eine Kompensation für den Bedeutungsschwund der Staatsverfassung?, in: Matthias Herdegen u. a. (Hg.), Staatsrecht und Politik, Festschrift für … Continue reading[8]Der Verlag Cambridge University Press hat eine neue Zeitschrift mit dem Titel »Global Constitutionalism« angekündigt, die ab 2012 erscheinen soll. Im »Call for Papers« heißt … Continue reading
Den Konstitutionalisierungsbegriff könnte man noch hinnehmen. Besser wäre es, von Verrechtlichung zu sprechen. Missverständlich, ja missbräuchlich ist es jedoch, wenn das Ergebnis von Konstitutionalisierungsprozessen als Verfassung bezeichnet wird, weil mit dem Verfassungsbegriff unlösbar die Konnotation der Staatsverfassung einhergeht, die nicht nur Verwirrung stiftet, sondern auch einen ungerechtfertigten Legitimationstransfer bewirkt. [9]Insofern kritisch auch Armin von Bogdandy/Sergio Dellavalle, Die Lex mercatoria der Systemtheorie, in: Gralf-Peter Calliess u. a. (Hg.), Soziologische Jurisprudenz, Festschrift für Gunther Teubner … Continue reading
Der Vorgang, der von der Systemtheorie als Selbstkonstitutionalisierung beschrieben wird, hat eine strukturelle, eine funktionale und eine empirische Seite. Unter dem Gesichtspunkt der Strukturbildung werden als »verfassungstypische Merkmale« doppelte Reflexivität und »binäre Metacodierung« verlangt. Als verfassungstypische Funktionen einer Selbskonstitutionalisierung werden Autonomiebildung und Selbstbeschränkung gegen sozialschädliche Tendenzen genannt. [10]Selbst-Konstitutionalisierung, 2010, 7. Empirisch werden »Lernpressionen« angeführt, die die Selbstkonstitutionalisierung vorantreiben.
Heute also zur strukturellen Seite der Konstitutionalisierung:
Strukturell ist Selbskonstitutionalisierung mehr als Verrechtlichung. Unterschieden werden drei Stufen der Rechtsbildung: [11]Zuletzt in Selbst-Konstitutionalisierung, 2010, S. 7 f.
Bloße Juridifizierung eines sozialen Bereichs durch Regelbildung für Verhalten und/oder Konfliktregelung (private ordering).
Systembildung durch doppelte Reflexivität oder Hyperzyklus: Es gibt sekundäre Normen, welche die Identifizierung sowie Kompetenz und Verfahren zum Erlass von primären Normen regeln. [12]Für die Unterscheidung von primären und sekundären Regeln verweist Teubner immer wieder auf Herbert L. A. Hart, The Concept of Law, 1961, Oxford: Clarendon, 77 ff.
Konstitutionalisierung durch strukturelle Verknüpfung verschiedener Systeme und binäre Meta-Codierung.
Der Umschlag von bloßer Regelbildung (private ordering) zum Recht erfolgt mit dem Vorgang, den Teubner früher [13]Hyperzyklus in Recht und Organisation. Zum Verhältnis von Selbstbeobachtung, Selbstkonstitution und Autopoiese, in: Hans Haferkamp/Michael Schmid (Hg.), Sinn, Kommunikation und soziale … Continue reading als Hyperzyklus vorstellt hatte. In neueren Veröffentlichungen spricht er schlichter von sekundärer Normierung. Gemeint ist, dass ein sozialer Bereich nicht bloß über Regeln zur Verhaltenssteuerung verfügt, sondern Kriterien entwickelt, nach denen intern entschieden wird, welche Regeln zum System gehören und welche nicht. Wenn dann der Systemcode der Recht/Unrecht-Code ist, handelt es sich eben um Recht.
Gelegentlich entsteht der Eindruck, Konstitutionalisierung werde mit dem Überschreiten dieser Schwelle der Verrechtlichung (= operative Schließung des Systems) gleichgesetzt. Dann wäre der Konstitutionalisierungsbegriff eigentlich überflüssig.
»Die Politik, die Wirtschaft, die Wissenschaft, die Massenmedien konstituieren sich als autonome Sozialsysteme unter anderem dadurch, dass sie sich eine Verfassung geben. Verfassungsprozesse sind ein Fall der ›doppelten Schließung‹ im Sinne von Heinz von Foerster. Sie werden dadurch ausgelöst, dass Sozialsysteme über ihre operative Schließung erster Ordnung hinaus eine Schließung zweiter Ordnung entwickeln, indem sie ihre Operationen reflexiv auf ihre Operationen anwenden. Wissenschaft gewinnt ihre Autonomie erst dann, wenn es gelingt, über die am Wahrheitscode orientierten Erkenntnisoperationen eine zweite Erkenntnisebene einzuziehen, auf der die Erkenntnisoperationen erster Ordnung ihrerseits mit methodischen und erkenntnistheoretischen Operationen auf ihren Wahrheitswert geprüft werden. Die Politik wird dann zu einer autonomen Machtsphäre der Gesellschaft, wenn sie Machtprozesse mit Hilfe von Machtprozessen dirigiert und über Festlegung von Wahlverfahren, Organisationsweisen, Kompetenzen, Gewaltenteilung und Grundrechten eine doppelte Schließung der Machtprozesse herstellt.« [14]Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 20.
Doch wenn man weiter liest, bleibt kein Zweifel, dass nicht jedes autonome Sozialsystem über eine »Verfassung« verfügt, sondern dass Konstitutionalisierung zusätzlich einen »Ultrazyklus« voraussetzt, das heißt eine strukturelle Kopplung zwischen zwei Systemen mit einem binären Meta-Code.
»Auf der Meta-Ebene fungiert der Verfassungscode, denn er unterwirft Entscheidungen, die bereits unter der binären Recht/Unrecht-Codierung gefällt wurden, einer zusätzlichen Prüfung, nämlich ob sie sozialverfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechen. Hier entsteht also die für alle Verfassungen – für politische Staatsverfassungen, für Sozialverfassungen oder für Organisationsverfassungen – typische Hierarchie zwischen einfachem Recht und Verfassungsrecht, ›the law of the laws‹. Dem Rechtscode (rechtmäßig/rechtswidrig) wird der Verfassungscode des jeweiligen Sozialbereichs (verfassungsmäßig/verfassungswidrig) übergeordnet. … Dieser gewiss nicht einfach gebaute Zusammenhang von struktureller Kopplung und ihrer hybriden Meta-Codierung … « [15]Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 26.
In der Tat, dieser Zusammenhang ist nicht einfach gebaut.
Von Luhmann wissen wir: Die strukturelle Kopplung zwischen Recht und Politik wird durch die Verfassung hergestellt, diejenige zwischen Recht und Wirtschaft durch Vertrag und Eigentum. [16]Luhmann, GdG 1997, 782 f.; RdG 1993, 452 ff. Aus dem Ultrazyklus der strukturellen Kopplung entwickelt sich ein »Meta-Code«, der sich dem binären Code der Funktionssysteme überordnet, ohne sie zu einem System höherer Ordnung zusammenzufügen. Der Meta-Code für das Systempaar Politik und Recht lautet verfassungsmäßig/verfassungswidrig.
Folgt man der Konstruktion Teubners, so stellt sich die Frage, welche Systeme und auf welcher Ebene die Systeme verkoppelt werden sollen. Es geht kaum um die Kopplung von Recht und Politik.
»Autokonstitutionelle Regimes zeichnen sich dadurch aus, dass sie reflexive Prozesse des Rechts mit reflexiven Prozessen anderer Sozialbereiche, also gerade nicht nur der Politik, verknüpfen.« [17]Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen, S. 54.
Das politische System ist eher noch weniger globalisiert als das Rechtssystem. Beide leiden auf globaler Ebene wechselseitig kaum unter ihrem Expansionsdrang. In erster Linie geht es darum, dem Expansionsdrang des Wirtschaftssystems Einhalt zu bieten.
Im Verhältnis zwischen Recht und Wirtschaft hatte Luhmann die strukturelle Kopplung nicht in einer Verfassung, sondern in den Institutionen »Eigentum« und »Vertrag« verortet. Die Wirtschaft kann kein Recht setzen. Aber sie kann Verträge schließen und Eigentum schaffen und darüber verfügen, und das Rechtssystem muss diese Operationen als solche akzeptieren. Umgekehrt kann das Recht auf die Wirtschaft Einfluss nehmen, indem es Vertrag und Eigentum nach seinen Maßstäben inhaltlich definiert. Bei Luhmann blieb der Meta-Code für die strukturelle Kopplung von Recht und Wirtschaft offen. Teubner führt als Kopplungsstrukturen zusätzlich Wettbewerb und Geldwährung ein. [18]Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 24. Daneben kennt er auf Subsystemebene auch noch weitere Kopplungen. Für alle soll derselbe Meta-Code gelten:
»Die Differenz verfassungsmäßig/verfassungswidrig entwickelt sich zu einem binären Meta-Code innerhalb der strukturellen Kopplung zwischen Wirtschaft und Recht, der sich sowohl dem Rechtscode als auch dem Wirtschaftscode überordnet.« [19]Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 3.
Für die Verkopplung der territorialen Rechte mit der Wirtschaft wäre dieser Code plausibel, denn über die Drittwirkung der Grundrechte wird auch die Wirtschaft indirekt mit den politischen Grundentscheidungen der Verfassung verkoppelt. Aber das neue Weltrecht, das dem Weltwirtschaftssystem gegenübersteht, verfügt nicht über den Rückhalt einer Verfassung, mit der es Vertrag und Eigentum, Wettbewerb und Geldwährung und weiteren Kopplungen auf globaler Ebene einen sozialverträglichen Inhalt geben könnte. Damit fehlt dem Meta-Code die »Programmierung«, ohne die mit ihm nicht viel anzufangen ist.
Fraglich ist weiter, auf welcher Ebene die Verkopplung der Systeme stattfindet. Der folgende Text deutet in Richtung auf die Verkopplung der gesellschaftlichen Funktionssysteme als solcher, im konkreten Fall von Recht und Wirtschaft:
»… der Endpunkt einer Konstitutionalisierung – sei es in der Politik, sei es in der Wirtschaft, sei es in anderen Sozialbereichen – ist erst dann erreicht, wenn sich ein eigenständiger Verfassungs-Code, eine binäre Meta-Codierung, und zwar innerhalb der strukturellen Kopplung von Recht und betroffenem Sozialsystem, herausbildet, und wenn sich die internen Prozesse der gekoppelten Systeme daran orientieren.« [20]Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 26.
Eine Verkopplung der (Welt-)Funktionssysteme liefe auf eine einheitliche Weltverfassung hinaus. Die Weltgesellschaft, der eine eigene »Gesamtrationalität« zugeschrieben wird [21]Teubner, Globale Zivilverfassungen, 2003, Internetfassung S. 7. , soll sich selbst eine Verfassung geben.
»Wenn es richtig ist, dass die Abwehr von drei Kollisionsgefahren im Zentrum steht – Selbstdestruktion des Systems, Umweltschädigung im weitesten Sinne (Gefährdung der Integrität der sozialen, humanen und natürlichen Umwelten), Gefährdung der Weltgesellschaft – dann ist die zweite Option vorzuziehen. Dies ist die Botschaft eines gesellschaftlichen Konstitutionalismus. Eine globale Verfassungsordnung steht vor der Aufgabe: Wie kann externer Druck auf die Teilsysteme so massiv erzeugt werden, dass in ihren internen Prozessen Selbstbeschränkungen ihrer Handlungsoptionen wirksam werden?« [22]Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 7, 9.
Der Gedanke an eine Weltverfassung wäre, wenn man an die Analogie zur Staatsverfassung denkt, konsequent. Aber er passt nicht zu den zentralen Aussagen der systemtheoretischen Analyse, nach denen das neue Weltrecht polyzentrisch und heterarchisch strukturiert ist. Eine Globalverfassung ist allenfalls der »Endpunkt einer Konstitutionalisierung«. Zunächst muss man die Kandidaten für eine Konstitutionalisierung auf der Ebene der Subsysteme suchen.
Fischer-Lescano und Teubner werden bei den transnationalen Rechtsregimes fündig. Diese verfügen über strukturelle Kopplungen zu anderen »autonomen Sozialbereichen«. [23]Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen, 2006, 53 ff.; für die lex mercatoria schon Teubner, Globale Bukowina, 1996, Internetfassung S. 23. Allerdings lassen sich diese Kopplungen nicht so plakativ benennen wie für die territorial begrenzten Rechtssysteme. Ja, eigentlich werden sie überhaupt nicht benannt, sondern vorausgesetzt und behauptet. Es bleibt offen, wo konkret der Widerpart der Kopplung zu suchen ist. Handelt es sich um ein Funktionssystem als Ganzes oder um ein Subsystem? Offen ist ferner, welche Struktur die Kopplung bewirkt. Schließlich fehlen Angaben zu dem »Programm«, nämlich den Regeln, die darüber entscheiden, wie die Code-Werte zugeteilt werden, was also verfassungsmäßig oder verfassungswidrig ist.
Das jüngste Objekt der Konstitutionalisierung sind die transnationalen Unternehmen (Transnational Corporations = TNC) mit ihren Corporate Codes of Conduct (nicht zu verwechseln mit binären Systemcodes). Auch sie bilden »buchstäblich Verfassungen ohne Staat«. [24]Selbst-Konstitutionalisierung, 2010, 9.
Die Corporate Codes of Conduct werden von Teubner auch als Unternehmensverfassungen bezeichnet. Hier ist der Gebrauch des Verfassungsbegriffs doppelt verfehlt, nicht nur wegen der tendenziösen Konnotation zur Staatsverfassung, sondern auch deshalb, weil die Unternehmensverfassung als Terminus des Gesellschaftsrechts nicht mit einem Corporate Code of Conduct deckungsgleich ist.
TNC sind Organisationen, die man gleichzeitig als Rechtsgebilde und als Wirtschaftsunternehmen betrachten kann. So betrachtet gehören sie als Subsysteme sowohl dem Rechtssystem als auch dem Wirtschaftssystem an. Teubners These besagt, dass der Code of Corporate Conduct die strukturelle Kopplung zwischen dem Unternehmen als Teil des Rechtssystems und dem Unternehmen als Teil des Wirtschaftssystems herstellt. Bei den TNC wird klarer, wer mit wem wodurch verkoppelt ist, nämlich die TNC als Wirtschaftsunternehmen über ihre Codes of Conduct mit dem offiziellen Recht, und zwar hier speziell mit den Richtlinien für die Unternehmensverantwortung, wie sie von UNO, ILO und OECD vorgehalten werden.
Doch mit dem einfachen Ultrazyklus ist es nicht getan. Er wird zusätzlich noch durch eine »ultrazyklische Verknüpfung privater und staatlicher Codes« getoppt. Spätestens hier fällt es schwer, den systemtheoretischen Begriffsfaden festzuhalten, zumal wieder neue Begriffe eingeführt werden, die nicht zum geläufigen Bestand der systemtheoretischen Terminologie gehören: Rechtsräume, Systeme, die im strengen Sinne keine sind, strukturelle Schließungen.
»Es entstehen zwei unabhängige Rechtsräume, ein autonomes privat geordnetes zwingendes Binnenrecht der Unternehmen und ein staatlich geregeltes Ensemble normativer Verhaltensempfehlungen. Die genauere Bestimmung dieser wechselseitig geschlossenen Rechtsräume ist nicht einfach. Jedenfalls handelt es sich nicht um Systeme im strengen Sinne, die sich durch operative Schließung bilden. Ihre Schließung beruht gerade nicht auf der Unterschiedlichkeit ihrer Operationen, denn beide Code-Ordnungen werden durch Rechtsoperationen gebildet. Vielmehr entsteht ihre wechselseitige strukturelle Schließung durch strikte Geltungsbeschränkung auf den jeweiligen Bereich und durch ihre unterschiedliche Qualität als zwingende Normierung und bloße normative Empfehlung.« [25]Selbst-Konstitutionalisierung, 2010, 15 f.
Dann folgt ein Sprung von den Rechtsräumen zu »geschlossenen Netzwerken«. Das eine Netzwerk ist der »Rechtsraum« mit den privaten Codes of Conduct, das andere der »Rechtsraum« der völkerrechtlich basierten Codes. Um ein Netzwerk handelt es sich im ersteren Fall, weil die privaten Codes of Conduct nicht nur für ein Einzelunternehmen formuliert werden, sondern weil sie darüber hinaus für ganze Konzerne mit ihren Auslandsniederlassungen und schließlich für Zulieferunternehmen und Absatzketten gelten; im anderen Fall, weil es zwischen den Corporate Codes von ILO, UNO, OECD und EU Querverbindungen gibt. Und schließlich sind es diese Netzwerke, die strukturell verkoppelt sind.
Zur funktionalen Seite der Konstitutionalisierung vielleicht ein anderes Mal.
Nachtrag vom 22. Juni 2012:
Gunther Teubner lässt nicht locker, wenn es um seine Idee einer staatsunabhängigen Konstitutionalisierung geht. In der Reihe »Suhrkamp Wissenschaft« ist soeben der Band »Verfassungsfragmente: Gesellschaftlicher Konstitutionalismus in der Globalisierung« erschienen. Auf einer Tagung in Montcalieri bei Turin hat er seine Idee diskutieren lassen. Darüber berichtet Maximilian Steinbeis in der heimlichen Juristenzeitung vom 23. Mai 2012 S. N4 unter der Überschrift »Occupy the Law!«.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Andreas Fischer-Lescano, Globalverfassung, Die Geltungsbegründung der Menschenrechte, 2005; Gunther Teubner, Globale Zivilverfassungen: Alternativen zur staatszentrierten Verfassungstheorie, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 63, 2003, 1-28; ders., Selbst-Konstitutionalisierung transnationaler Unternehmen? Zur Verknüpfung »privater« und »staatlicher« Corporate Codes of Conduct, in: Stefan Grundmann u. a., Unternehmen, Markt und Verantwortung. Festschrift für Klaus Hopt, 2010, 1449-1470; ders., Verfassungen ohne Staat? Zur Konstitutionalisierung transnationaler Regimes, in: Klaus Günther/Stefan Kadelbach (Hg.), Recht ohne Staat 2010, im Erscheinen.
2 David Sciulli, The Theory of Societal Constitutionalism, Foundations of a Non Marxist Critical Theory, Cambridge 1992. Sciulli hat allerdings etwas anderes im Sinn, nämlich eine Umstellung soziologischen Denkens von Sozialkontrolle auf Integration. Er setzt seine Hoffnung auf die »collegial form«, wie man sie etwa bei den freien Berufen findet.
3 Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, 413 ff.
4 Ingolf Pernice, Europäisches und Nationales Verfassungsrecht, Vortrag, 2004.
5 Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 , 2010, 3-63; dies., Grundlage europäischer Konstitutionalisierung: Die Entkopplung von Verfassung und Staat.
6 Neil Walker, The Idea of Constitutional Pluralism, Modern Law Review 65, 2002, 317-359, Internetfassung S. 36; ders., Taking Constitutionalism Beyond the State, RECON Online Working Paper 2007/05; .ders., Multilevel Constitutionalism: Looking Beyond the German Debate, LSE ‘Europe in Question’ Discussion Paper Series, 2009.
7 Dieter Grimm, Gesellschaftlicher Konstitutionalismus: Eine Kompensation für den Bedeutungsschwund der Staatsverfassung?, in: Matthias Herdegen u. a. (Hg.), Staatsrecht und Politik, Festschrift für Roman Herzog zum 75. Geburtstag, 2009, 67-81.
8 Der Verlag Cambridge University Press hat eine neue Zeitschrift mit dem Titel »Global Constitutionalism« angekündigt, die ab 2012 erscheinen soll. Im »Call for Papers« heißt es:
»Constitutionalism is understood here not as the study of a legal document, but as a reference frame for interdisciplinary research with a particular focus. Constitutionalism in a wide sense is associated with the study of the constitutive elements of legal and political practice that are central for the assessment of its legality or legitimacy. Constitutionalism does not presuppose the existence of a written constitution. It merely presupposes the interplay between social and institutional practices in which claims to legality and, therefore, legitimate authority, and democracy are central. Constitutionalism analyses the role of fundamental norms, the type of actors, and the institutions and procedures through which legal and political decisions are made. In a more narrow modern sense constitutionalism focuses on the basic ideas relating to justice (such as human rights), procedural fairness and participation (e.g. democracy) and the rule of law as they relate to institutional practices and policies in and beyond the state.«
In dieser Definition ist alles Gute und Schöne versammelt.
9 Insofern kritisch auch Armin von Bogdandy/Sergio Dellavalle, Die Lex mercatoria der Systemtheorie, in: Gralf-Peter Calliess u. a. (Hg.), Soziologische Jurisprudenz, Festschrift für Gunther Teubner zum 65. Geburtstag, Berlin 2009, S. 695-715/714.
10 Selbst-Konstitutionalisierung, 2010, 7.
11 Zuletzt in Selbst-Konstitutionalisierung, 2010, S. 7 f.
12 Für die Unterscheidung von primären und sekundären Regeln verweist Teubner immer wieder auf Herbert L. A. Hart, The Concept of Law, 1961, Oxford: Clarendon, 77 ff.
13 Hyperzyklus in Recht und Organisation. Zum Verhältnis von Selbstbeobachtung, Selbstkonstitution und Autopoiese, in: Hans Haferkamp/Michael Schmid (Hg.), Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung, 1987, 89-128; Recht als autopoietisches System, 1989, 36 ff.; Verrechtlichung – ein ultrazyklisches Geschehen, 1997.
14 Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 20.
15, 20 Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 26.
16 Luhmann, GdG 1997, 782 f.; RdG 1993, 452 ff.
17 Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen, S. 54.
18 Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 24.
19 Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 3.
21 Teubner, Globale Zivilverfassungen, 2003, Internetfassung S. 7.
22 Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 7, 9.
23 Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen, 2006, 53 ff.; für die lex mercatoria schon Teubner, Globale Bukowina, 1996, Internetfassung S. 23.
24 Selbst-Konstitutionalisierung, 2010, 9.
25 Selbst-Konstitutionalisierung, 2010, 15 f.

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Begriffssoziologie IV: Der Schauplatz der Regime-Kollisionen

Die von den Funktionssystemen der Gesellschaft geprägten Konfliktlagen spiegeln sich im Rechtssystem als »Regime-Kollisionen«. Wo konkret kommen die Konflikte an die Oberfläche? Wo werden sie ausgetragen? Fischer-Lescano und Teubner [1]Regime-Kollisionen, 2006. geben im zweiten Teil ihres Buches sechs Beispiele, die sie ausführlich und anschaulich darstellen. Das geschieht allerdings nicht mit dem Ziel einer soziologischen Analyse, sondern um (normative) Vorschläge für ein Kollisionsrecht zu machen, das den Anforderungen des Weltrechtssystems Rechnung trägt. Vom Inhalt her sind diese Vorschläge beachtlich. An wen sie sich richten und wie sie sich durchsetzen sollen, bleibt dagegen vage:
»Die verbindliche Letztentscheidung wird ersetzt durch die Vielheit von Beobachtungspositionen in der Gesellschaft, die sich wechselseitig rekonstruieren, aneinander anschließen, beeinflussen, beschränken, kontrollieren, zu Neuerungen provozieren, aber eben nicht gemeinsam kollektive Entscheidungen über substantielle Normen fällen.« (S. 66)
Man fragt sich, ob der (system-)theoretische Aufwand dafür notwendig war. Immerhin verhilft er dazu, die auftretenden Kollisionslagen aus drei verschiedenen Perspektiven (»Lesarten«) zu betrachten. Die erste Perspektive ist die juristische, die zweite die politische und die dritte betrifft den »Rationalitätenkonflikt«. Zu kurz kommt dabei, obwohl immer wieder erwähnt, der gesellschaftliche Druck durch die Akteure der Zivilgesellschaft und die Medien. Zu kurz kommt aber auch die »Eigenrationalität« der Nationalstaaten.
Der äußere Schauplatz der Konflikte zeigt sich aus der juristischen oder der politischen Perspektive. Rechtssoziologie setzt am besten bei der juristischen Perspektive an. Sonst läuft sie Gefahr, zur Politikwissenschaft zu werden.
Die Rede von den »Regime-Kollisionen« ist insofern irreführend, als die vielen transnationalen Rechtsregimes nur selten untereinander in Konflikt geraten. Beispiele für Kollisionen zwischen Privatregimes untereinander sind nicht zu finden. Die Privatregimes geraten am ehesten mit nationalen Rechten in Konflikt. Aus einer Pressemeldung vom 18. 2. 2008:
»Der Weltfußballverband Fifa hat Spanien mit dem Ausschluss von der Europameisterschaft und der Champions League gedroht. Wenn die Madrider Regierung ihre Einflussnahme auf den Fußball nicht stoppe, werde der spanische Verband RFEF aus dem Weltverband ausgeschlossen, sagte Fifa-Präsident Joseph Blatter in der spanischen Hauptstadt. Dies hätte zur Folge, dass Spanien nicht an der EM in Österreich und der Schweiz teilnehmen könnte und die spanischen Vereine aus der Champions League und dem Uefa-Pokal ausgeschlossen würden.
Der Anlass der Drohung Blatters ist eine Anordnung der spanischen Regierung, wonach alle Sportverbände, die sich nicht für die Olympischen Spiele in Peking qualifiziert haben, vor dem Sommer eine neue Führung wählen sollen. Dies gilt auch für den Fußballverband. Die Fifa könne notfalls innerhalb von sechs Stunden den Ausschluss Spaniens beschließen, warnte Blatter. ›Wir haben da mehr Macht als die Vereinten Nationen.‹ «
Der wichtigste Austragungsort sind nach wie vor die Gerichte der territorialen Rechtssysteme, zu denen inzwischen auch die EU zählt. Wenn es hart auf hart geht, müssen sich die Privatregimes dem offiziellen Recht beugen. So hat der Europäische Gerichtshof durch sein Bosman-Urteil das Transfersystem des Profifußballs und sog. Ausländerklauseln wegen Unvereinbarkeit mit dem Freizügigkeitsgrundrecht gekippt. Bemerkenswert ist daran, dass der Konflikt nicht auf die »Eigenlogik« des Sportsystems zurückgeht, sondern erst die Ökonomisierung des Sportbetriebs Kollisionen mit Grundrechten und auch mit dem Wettbewerbsrecht auslöst.
Ein Beispiel, in dem ein Nationalstaat, unterstützt von gesellschaftlichen Gruppen sich im Interesse des Gesundheitssystems gegen das Wirtschaftssystem stark gemacht hat, bildet der Fall Hazel Tau vs. Glaxo and Boehringer. [2]Belinda Beresford, The Price of Life. Hazel Tau and Others vs GlaxoSmithKline and Boehringer Ingelheim: A Report on the Excessive Pricing Complaint to South’s Africa’s Competition Commission, … Continue reading
Die weltweite Aids-Epidemie traf in den 1990er Jahren besonders die Entwicklungsländer, weil sie keine wirksame Prävention organisieren konnten und die von den großen Pharmakonzernen angebotenen Medikamente für die Erkrankten unerschwinglich waren. In Hazel Tau vs. Glaxo and Boehringer machten die Kläger geltend, dass die Beklagten die Preise übermäßig hoch angesetzt hätten, so dass den Kranken der Zugang zu diesen Medikamenten verschlossen sei. Gefordert wurde ein Verbot überhöhter Preise, die Feststellung, dass alle Kranken, die wegen der hohen Preise keine Medikamente erhalten konnten, Schadensersatzansprüche hätten, und die Festsetzung einer Strafe gegen die Unternehmen. Am Ende einigten sich die Parteien über die Erteilung einer Produktionslizenz an südafrikanische Unternehmen.
Häufig wählen zivilgesellschaftliche Gruppen nationale Gerichte, um das Wirtschaftssystem zurückzudrängen, und nicht selten sind sie dabei erfolgreich, so auch im bekannten Neem-Baum Fall [3]Shalini Randeria, Transnationalisierung des Rechts. Zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure, WZB-Mitteilungen Heft 101, September 2003, 19-22..
Ein Netzwerk von NGOs aus Indien, Europa und Nordamerika klagte erfolgreich gegen den amerikanischen Chemiekonzern W. R. Grace und das US-Landwirtschaftsministerium wegen »Biopiraterie«. Das Patent des Schädlingsbekämpfungsmittels aus dem Öl von Samen des indischen Neem-Baums wurde schließlich durch das Europäische Patentamt in München wegen fehlender Neuheit widerrufen. Das allerdings nicht, weil ein aus Indien als Zeuge herbeigerufener Bauer das Gericht davon überzeugt hätte, dass das patentierte Verfahren zum traditionellen Wissen seiner Landsleute gehörte, und auch nicht, weil dem Chemiekonzern »Biopiraterie« und »intellektueller Kolonialismus« vorgeworfen wurde. Das Gericht stützte sich vielmehr auf die Aussage eines indischen Fabrikanten, dessen Firma seit 1995 dasselbe Produkt in einem ähnlichen Verfahren in Indien herstellte.
Wenn der weltweite Patentschutz angestammte Kulturtechniken in die Illegalität abdrängt, ist der »Rationalitätenkonflikt« nicht so einfach zu erkennen. Daher haben Teubner und Korth noch eine extrasystemische zweite Fragmentierung des Weltrechts eingeführt, nämlich diejenige »zwischen dem formalen Recht der Moderne und den gesellschaftlich eingebetteten Rechtsordnungen indigener Gesellschaften«. [4]Gunther Teubner/Peter Korth, Zwei Arten des Rechtspluralismus: Normkollisionen in der doppelten Fragmentierung der Weltgesellschaft, in: Matthias Kötter/Gunnar Folke Schuppert (Hg.), Normative … Continue reading
Konflikte entstehen auch zwischen den völkerrechtlich installierten Regimes auf der einen Seite und Staaten oder – in dem folgenden Beispiel – der EU auf der anderen.
1998 entschied das WTO-Berufungsgremium über die Klage der USA gegen das EU-Importverbot für hormonbehandelte Rindfleischprodukte und setzte der EU ein Ultimatum, um seine Märkte für hormonbehandeltes Fleisch zu öffnen. Gegen diesen Schiedsspruch protestierten eine Reihe von NGOs (die Nord-Süd-politische Initiative, German Watch, das Agrarbündnis, ein Zusammenschluss von 20 Organisationen aus Landwirtschaft, Umwelt-, Natur- und Tierschutz sowie Verbraucher- und Entwicklungspolitik, und das Forum Umwelt & Entwicklung, die Arbeitsplattform von über 40 deutschen Verbänden und Organisationen aus den Bereichen Umwelt und Entwicklung). Sie wiesen auf den dringenden Reformbedarf der WTO hin und forderten die EU-Kommission und den EU-Agrarministerrat auf, das Importverbot auf keinen Fall aufzuheben. Stattdessen solle die EU notfalls Ausgleichszahlungen an die USA in Kauf nehmen und auf eine Reform der WTO-Verträge drängen. Tatsächlich ist die EU dem Schiedsspruch der WTO nicht nachgekommen und wird daher seitdem von den USA legal mit Handelssanktionen belegt. Nunmehr behauptet die EU, mit einer neuen Richtlinie über das Verbot der Verwendung bestimmter Stoffe mit hormonaler bzw. thyreostatischer Wirkung in der tierischen Erzeugung sowohl die Risikobewertung als auch die wissenschaftlichen Nachweise erbracht zu haben, so dass die Strafzölle von den USA und Kanada aufgehoben werden müssten, was wiederum von den USA und Kanada bestritten wird. Die EU hat daher ihrerseits eine Überprüfung ihrer Richtlinie durch die WTO beantragt.
Eine Konfliktlage dieser Art behandeln Fischer-Lescano und Teubner mit dem Streit, den 1997 eine neues Patentgesetz in Brasilien auslöste, indem es die Produktion von Nachahmermedikamenten (sog. Generika) erlaubte unter der Voraussetzung, dass die Gesundheit der Bevölkerung durch eine Epidemie bedroht und die Preise der Medikamente auf dem Weltmarkt zu hoch seien. Juristisch beteiligt waren hier amerikanische Pharmakonzerne als Patentinhaber und die USA, die sich völkerrechtlich auf das Patentrechtsregime der WTO berief. Auf dieser völkerrechtlichen Ebene wurde der Streit am Ende durch Ausnahme und Auslegungsregeln zum TRIPS-Abkommen beigelegt, die Entwicklungsländern in größerem Umfang gestatten, Zwangslizenzen anzuordnen und Generika in Entwicklungsländer ohne eigene Produktionsstätten zu exportieren. Auch hier fällt es nicht schwer, Wirtschaft und Gesundheit als »konfligierende Rationalitäten« zu identifizieren. Fischer-Lescano und Teubner fassen ihre Analyse zusammen:
»Insgesamt zeigen die Maßnahmen, dass das wirtschaftlich geprägte WTO-Regime über die Integration eines gesundheitsbezogenen Prinzips einer Limitierung der eigenen Logik intern zu reformulieren beginnt. Dies stellt einen Kompatibilisierungsmodus dar, der es dem Entscheidungssystem erlaubt, innerhalb der eigenen wirtschaftsrationalen Perspektive eine responsive Außenbeziehung aufzubauen und externe Rationalitäten als Rahmenbedingungen der eigenen Logik zu rekonstruieren. Über einen solchen Re-entry kollidierenden Rechts ins eigene Recht können Systemkollisionen in die quaestio juris übersetzt werden …« [5]Regime-Kollisionen, 2006, 86.
Das ist eine elaborierte Beschreibung der Vorgänge, die die eigentlich interessante Frage ausspart: Warum ist hier der Einbau von Gemeinwohlüberlegungen gelungen, die an vielen Stellen des neuen Weltrechts so sehr vermisst werden? Die Richtung, in der die Antwort zu suchen ist, soll die Figur der Konstitutionalisierung weisen. Dazu vielleicht später.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Regime-Kollisionen, 2006.
2 Belinda Beresford, The Price of Life. Hazel Tau and Others vs GlaxoSmithKline and Boehringer Ingelheim: A Report on the Excessive Pricing Complaint to South’s Africa’s Competition Commission, 2003.
3 Shalini Randeria, Transnationalisierung des Rechts. Zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure, WZB-Mitteilungen Heft 101, September 2003, 19-22.
4 Gunther Teubner/Peter Korth, Zwei Arten des Rechtspluralismus: Normkollisionen in der doppelten Fragmentierung der Weltgesellschaft, in: Matthias Kötter/Gunnar Folke Schuppert (Hg.), Normative Pluralität ordnen, 2009, 137-168.
5 Regime-Kollisionen, 2006, 86.

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Begriffssoziologie I: Fragmentierung

In mancher Hinsicht erinnert die Systemtheorie Luhmanns und der Teubner-Schule an die alte Begriffsjurisprudenz. Sie baut sich ein Netz von Begriffen, die aufeinander abgestimmt sind und mit dem »System« an der Spitze eine Pyramide bilden. Die Pyramide ist eindrucksvoll und sie scheint standfest zu sein. Doch angesichts der Größe des Bauwerks und der vielen Baumeister kann es nicht ausbleiben, dass man gelegentlich auf Bausteine trifft, die nicht in das System zu passen scheinen, so der Begriff der Fragmentierung. In letzter Zeit bin ich im Feuilleton häufiger auf diesen Begriff gestoßen. Da steht er dann ohne rechte Abgrenzung neben Differenzierung und Pluralisierung. Fragmentierung ist aber auch zum Terminus der Systemtheorie geworden, insbesondere in den Arbeiten von Teubner und Fischer-Lescano zur Globalisierung des Rechts. Sein Stellenwert ist mir noch nicht ganz klar geworden. Auskunft ist aus ihrem gemeinsamen Buch von 2006 zu erwarten, das den Ausdruck schon im Titel trägt. [1]Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, Regime-Kollisionen, Zur Fragmentierung des globalen Rechts, Frankfurt a.M. 2006. Zwar kommt »Fragmentierung« im Stichwortregister des Buches gar nicht vor. Aber im Text wird der Begriff laufend verwendet.
Auf den ersten Blick ist Fragmentierung ein deskriptiver oder Beobachtungsbegriff. Er bezeichnet etwas Unzusammenhängendes oder gar Auseinandergefallenes. Auch als deskriptiven Begriff kann man ihn nicht ohne ein theoretisches Vorverständnis verwenden. Man braucht also eine Vorstellung, was denn eigentlich der Zusammenhang oder das Ganze sein könnte. Das gilt zwar für alle deskriptiven Begriffe. Aber oft ist dieses Vorverständnis so selbstverständlich, dass es nicht explizit gemacht zu werden braucht. In diesem Sinne ist deskriptiv von der Fragmentierung des Völkerrechts die Rede. Gemeint ist, dass das Völkerrecht sich in einer Vielzahl von unzusammenhängenden Bruchstücken erschöpft. Im Hinterkopf hat man dabei die Vorstellung, das Völkerrecht könnte nach dem Muster des staatlichen Rechts ein flächendeckendes System bilden.
An die deskriptive Begriffsverwendung der Völkerrechtler knüpfen Fischer-Lescano und Teubner an, wenn sie die »Fragmentierung des globalen Rechts« behandeln. Abgelesen wird sie an der »beeindruckenden Zahl von 125 internationalen Institutionen, in denen unabhängige Spruchkörper verfahrensabschließende Rechtsentscheidungen treffen«. [2]2006, 8. Im Titel der Kurzfassung ihrer Arbeit [3]Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, Fragmentierung des Weltrechts: Vernetzung globaler Regimes statt etatistischer Rechtseinheit, in: Mathias Albert/Rudolf Stichweh (Hg.), Weltstaat und … Continue reading wird auch das Gegenstück der Fragmentierung genannt, nämlich die »etatistische Rechtseinheit«. Fischer-Lescano und Teubner wollen aber sicher keine bloße Deskription anbieten, sondern eine elaborierte theoretische Analyse von eigenen und fremden Beobachtungen.

»Besonders systemtheoretische Konzepte einer funktional differenzierten Weltgesellschaft … [profilieren] das Verständnis einer polyzentrischen Globalisierung, das die Rechtsfragmentierung in einem neuen Licht erscheinen lässt.« [4]2006, 25.

Ihre These lautet:

»Die Rechtsfragmentierung ist nur ein Epiphänomen der tiefergehenden vieldimensionalen Fragmentierung der Weltgesellschaft selbst.« [5]2006, 24.

Die Fragmentierung des Rechts wird also auf die Fragmentierung der Weltgesellschaft zurückgeführt. Das wäre einleuchtend, wenn die Fragmentierung der Weltgesellschaft ebenso beobachtend beschrieben würde wie die Fragmentierung des Rechts. Das ist aber nicht der Fall:

»Die Fragmentierung der Weltgesellschaft« ist eine doppelte, nämlich »in funktional differenzierte globale Sektoren und in eine Vielzahl globaler Kulturen.« [6]2001, 6.

Der »kulturelle Polyzentrismus« der Regionalkulturen passt nicht recht in das Begriffsgerüst der Systemtheorie. Kulturelle Vielfalt wird in der Regel nicht als Fragmentierung, sondern als pluralistisch apostrophiert. Etwas ausführlicher erläutert Teubner sein Fragmentierungskonzept im Zusammenhang mit der Gerechtigkeitsdiskussion: [7]Gunther Teubner, Selbstsubversive Gerechtigkeit: Kontingenz- oder Transzendenzformel des Rechts?, Zeitschrift für Rechtssoziologie 29, 2008, 9-36, S. 12. Von Durkheim über Weber, Adorno und Wittgenstein bis hin zu Foucault und Lyotard ist soziologische Analyse immer Analyse von gesellschaftlicher Fragmentierung, wenn irgendwelche schwer vereinbaren oder gar konfliktträchtigen Gegensätze thematisiert werden. Dabei erhält das Phänomen als »Polykontexturalität« noch einen anderen Namen. Damit wird »Fragmentierung« zur kritischen Version sozialer Differenzierung. Zurück zur doppelten Fragmentierung der Weltgesellschaft. Sieht man genauer hin, entspricht der zweiten Fragmentierung in unterschiedliche Regionalkulturen auch eine zusätzliche Fragmentierung des Weltrechts, nämlich diejenige »zwischen dem formalen Recht der Moderne und den gesellschaftlich eingebetteten Rechtsordnungen indigener Gesellschaften«. [8]Gunther Teubner/Korth, Peter, Zwei Arten des Rechtspluralismus: Normkollisionen in der doppelten Fragmentierung der Weltgesellschaft, in: Matthias Kötter/Gunnar Folke Schuppert (Hg.), Normative … Continue reading
Auf die Systemtheorie verweist die Rede von den funktional differenzierten globalen Sektoren, denn mit diesen Sektoren sind die Funktionssysteme der Weltgesellschaft gemeint. Solche Funktionssysteme lassen sich aber nicht einfach beobachten wie reale Gegenstände – und ein realer Gegenstand ist auch das Recht in seiner Fragmentierung.
Systemtheoretische Texte zeigen oft eine gewisse Zwittrigkeit, weil aus den Formulierungen nicht immer klar wird, ob mit dem »System« ein realer Gegenstand gemeint ist oder ob das »System« nur ein Modell oder eine Abstraktion bildet. Eigentlich kann nur das letztere der Fall sein. Andernfalls müsste man jeden realen Gegenstand exklusiv einem bestimmten System zuordnen können. Das funktioniert selbst dann nicht, wenn man nur Kommunikationen als reale Gegenstände zulässt. Ihre Zuordnung erfolgt über den Sinn, und der ist oft mehrdeutig. Vielleicht werden indigene Systemtheoretiker diese Alternative zurückweisen. Aber damit irritieren sie ihre Umwelt, so wie Teubner und Fischer-Lescano mich irritiert haben, indem sie in Bezug auf soziale Systeme in gleicher Weise von Fragmentierung reden wie im Hinblick auf konkrete Rechtsphänomene.
Was da fragmentiert ist, kann nicht das Rechtssystem als solches sein, denn das ist per definitionem, nämlich durch die Ausrichtung auf seinen einzigartigen binären Code, ein und dasselbe. Eine Fragmentierung kann nur die Strukturen des Systems betreffen. Sie lässt sich vielleicht an den Organisationen ablesen, die sich innerhalb des Rechtssystems zum Vollzug seiner Operationen und zur Implementation seines Funktionsprimats bilden. [9]Vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 841. Organisationen des Rechtssystems sind vor allem die Gerichte. Organisationen sind ihrerseits Systeme. [10]Ebenda 826 ff. Auch was diese Subsysteme betrifft, changieren systemtheoretische Texte hinsichtlich der Frage, ob die Organisation als »Typus sozialer Systeme« [11]Ebenda S. 826. gemeint ist, oder ob es um konkrete Organisationen geht. Auf der Ebene der Subsysteme ist die begriffliche Unschärfe allerdings seltener schädlich, weil meistens die Art der gemeinten Organisationen soweit spezifiziert wird, dass der theoretische Begriff sich ohne weitere Operationalisierung als Beobachtungsbegriff eignet.
Auf Weltebene wird für Fischer-Lescano und Teubner die Systemdifferenzierung zur Erscheinungsform der Fragmentierung. Fragmentiert ist die Weltgesellschaft allein schon deshalb, weil sie in sich die bekannten Funktionssysteme ausbildet. Eigentlich war es bisher nicht üblich, die Gliederung der Gesellschaft in Funktionssysteme als Fragmentierung zu bezeichnen. Gebräuchlich war stattdessen der Begriff der Differenzierung. Die Erinnerung an die Begriffsjurisprudenz legt die Frage nahe, ob wir es hier mit dem sogenannten Inversionsverfahren [12]Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, 71. zu tun haben. Der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen, denn mit der Auswechslung der Begriffe ändern sich ohne Ankündigung auch die Inhalte. Die geschlossenen Funktionssysteme der Weltgesellschaft zeichnen sich nämlich durch Eigenrationalitätsmaximierung und Expansionsdrang aus.

»Durch ihre operative Schließung erzeugen die globalen Funktionssysteme eigene Freiheitsgrade für eine extreme Steigerung ihrer je eigenen Rationalität, die sie ohne Rücksicht auf ihre natürlichen und humanen Umwelten ausschöpfen. Sie tun dies, so lange es geht, also so lange ihre Umwelten dies noch tolerieren.« [13]2006, 27.

Es wird also unterstellt, dass die Funktionssysteme notwendig expansiv und damit aggressiv sind. Der Expansionsdrang der Systeme ist die Ursache aller Fragmentierung.

»… die fragmentierten operativ geschlossenen Funktionssysteme der Weltgesellschaft [setzen] in ihrem Expansionsdrang die eigentlichen Ursachen für die Probleme der Weltgesellschaft und sie bedienen sich zugleich des Weltrechts zur normativen Absicherung ihrer hochgezüchteten Bereichslogiken. Die Rechtsfragmentierung resultiert also letztlich aus der Eigenrationalitätsmaximierung unterschiedlicher Sozialsysteme.« [14]2006, 28 f.

Das ist aber alles andere als selbstverständlich. [15]Die Autoren berufen sich (S. 28 Fn. 15) dafür auf Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 1088 ff. Die Fundstelle ist aber nicht ergiebig. S. 802 redet Luhmann von den Folgeproblemen der … Continue reading Selbstverständlich ist weder, dass Eigenrationalitätsmaximierung mit Expansionsdrang einhergeht. Noch ist selbstverständlich, dass alle Funktionssysteme Expansionsdrang zeigen. Die eigentlich interessante Frage, welche Funktionssysteme gerade expandieren und welche vielleicht auf dem Rückzug sind, wird damit ausgespart. Die Antwort müsste aus Beobachtungen realer Gegenstände abgeleitet werden. Tatsächlich werden aber umgekehrt aus postulierten Eigenschaften der Systeme (Eigenrationalitätsmaximierung + Expansionsdrang = Fragmentierung) reale Konsequenzen abgeleitet, nämlich die unvermeidliche Fragmentierung des Rechts. Das darf man wohl Begriffssoziologie nennen.

Nachtrag Mai 2011: In seiner Eröffnungsrede zum DGS-Kongress 2010 in Frankfurt a. M. findet Soeffner »eine ganze Reihe gegenwärtig beliebter Begriffsschimären« und meint, in Anlehnung an Mephisto ließe sich sagen: »Es glaubt der Mensch, wenn er Begriffe hört, es müsse sich die Welt nach dem Begriffe richten.« [16]Hans-Georg Soeffner, Die Zukunft der Soziologie, 35. Kongresses der DGS in Frankfurt am Main am 11. Oktober 2010, Soziologie 40, 2011, 137-150, S. 144. Auf der nächsten Seite folgt die schöne Formulierung vom »Begriffsprekariat, in dem wir uns bewegen«. Soeffners Beispiele sind allerdings andere als die Begrifflichkeiten der Systemtheorie.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, Regime-Kollisionen, Zur Fragmentierung des globalen Rechts, Frankfurt a.M. 2006.
2 2006, 8.
3 Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, Fragmentierung des Weltrechts: Vernetzung globaler Regimes statt etatistischer Rechtseinheit, in: Mathias Albert/Rudolf Stichweh (Hg.), Weltstaat und Weltstaatlichkeit, Beobachtungen globaler politischer Strukturbildung, Wiesbaden 2007, 37-61, hier zitiert nach der Internetfassung.
4 2006, 25.
5 2006, 24.
6 2001, 6.
7 Gunther Teubner, Selbstsubversive Gerechtigkeit: Kontingenz- oder Transzendenzformel des Rechts?, Zeitschrift für Rechtssoziologie 29, 2008, 9-36, S. 12.
8 Gunther Teubner/Korth, Peter, Zwei Arten des Rechtspluralismus: Normkollisionen in der doppelten Fragmentierung der Weltgesellschaft, in: Matthias Kötter/Gunnar Folke Schuppert (Hg.), Normative Pluralität ordnen, Baden-Baden 2009, S. 137-168.
9 Vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 841.
10 Ebenda 826 ff.
11 Ebenda S. 826.
12 Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, 71.
13 2006, 27.
14 2006, 28 f.
15 Die Autoren berufen sich (S. 28 Fn. 15) dafür auf Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 1088 ff. Die Fundstelle ist aber nicht ergiebig. S. 802 redet Luhmann von den Folgeproblemen der funktionalen Differenzierung. Die sind in der Tat erheblich, begründen aber keinen Expansionsdrang.
16 Hans-Georg Soeffner, Die Zukunft der Soziologie, 35. Kongresses der DGS in Frankfurt am Main am 11. Oktober 2010, Soziologie 40, 2011, 137-150, S. 144.

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