Was können wir von der Globalisierung wissen?

Jeder erlebt die Globalisierung. Er hört und sieht Nachrichten aus aller Welt, kauft Mangos aus Brasilien und Wein aus Südafrika, sieht und hört Menschen mit anderer Hautfarbe oder Sprache in der Nachbarschaft, reist freiwillig oder unfreiwillig in ferne Länder oder erfährt, dass die eigene Firma Arbeitskräfte entlassen will, weil sie in Marokko billiger produzieren kann. Wir lesen Zeitung, sehen fern und gugeln und fühlen uns im Großen und Ganzen recht gut über den Zustand der Welt informiert. Aber das ist wohl eine Illusion. So einfach kann man sich kein Bild von der Globalisierung machen. Dazu ist die Welt zu groß und vielfältig. Annähernd sieben Milliarden Menschen leben verteilt auf über 190 Staaten, der größte China mit über einer Milliarde Einwohnern, der kleinste wohl Nauru mit 13.500 Einwohnern. Vor allem aber ist die Welt in Bewegung. Globalisierung ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Politisch und wirtschaftlich und selbst physikalisch ist die Welt in schneller und unvorhersehbarer Entwicklung: 1989 der Zusammenbruch des sozialistischen Ostblocks, 2009 eine weltweite Finanzkrise und 2029 vielleicht eine Klimakatastrophe?
Kann Wissenschaft uns helfen, die Globalisierung besser zu verstehen? Die wissenschaftliche Literatur zum Thema ist inzwischen so gewaltig und sie wächst jeden Tag weiter und die Themenvielfalt ist so groß, dass sie selbst zum Problem geworden ist. Kein Einzelner kann sie mehr übersehen, geschweige denn hinreichend auswerten. Das Bemühen, sich auf das rechtssoziologisch Relevante zu beschränken, macht die Aufgabe kaum einfacher. Wenn man in der Literatur sucht, die sich selbst als rechtssoziologisch zu erkennen gibt, dann ist es, als ob man in einem Aquarium angelt. Viele, und oft die interessanteren Informationen muss man aus dem Meer der soziologischen, ökonomischen und politikwissenschaftlichen Literatur herausfischen. Nach längerem Studium stößt man aber dann doch auf Themen und Thesen, die immer wiederkehren. Deshalb ist der Versuch, eine Art Basisinformation zur Rechtssoziologie der Globalisierung zusammen zu stellen, nicht hoffnungslos.
Wissenschaft kommt mit Theorie und Empirie. An großen Theorien ist kein Mangel. Beim Globalisierungsthema konkurrieren dieselben Theoriefamilien, die auch in der allgemeinen und in der Rechtssoziologie anzutreffen sind. Theorien sind wie Brillen. Sind sie gut angepasst, sieht man mit ihnen schärfer. Aber sie zeigen nichts Neues. Ob das, was man zu sehen glaubt, nicht bloße Einbildung ist, erweist allein Empirie im Sinne kontrollierter Beobachtung.
Für die makrosozialen und vor allem für makroökonomische Daten gibt es eine erstaunliche Anzahl offizieller oder semioffizieller Quellen, die meistens in Gestalt jährlicher Reports und Rankings erscheinen. UNO, Weltbank, Internationaler Währungsfonds, die OECD und zahlreiche INGOs (International Non-Governmental Organizations), »Think Tanks« und Stiftungen offerieren Statistiken und Berichte, die Berichte meistens in Gestalt von Ländervergleichen (Rankings). Die internationalen Berichte vergleichen mit Vorliebe die Wirtschaftsfreundlichkeit, die politische Kultur und die soziale Lage der Bevölkerung eines Landes. Insgesamt gibt es wohl über 200 solcher Berichte. [1]Dazu verweise ich auf frühere Beträge über die von mir so genannte Berichtsforschung: Berichtsforschung als Datenquelle, Berichtsforschung II, Berichtsforschung: Generationsgerechtigkeit statt … Continue reading
Die Beobachtung des Globalisierungsprozesses hat ihre Tücken. Wenn wir empirische Untersuchungen im Nahbereich anstellen, können wir den Kontext einigermaßen übersehen und die Bedeutung der Ergebnisse (hoffentlich) richtig einschätzen.
Ein beliebter Untersuchungsgegenstand der Rechtssoziologie sind Konfliktregelungsverfahren. Ich habe mich selbst mehrfach auf diesem Gebiet betätigt. So habe ich mit meinen Mitarbeitern vor nun schon 30 Jahren untersucht, wie Verfahren am Amtsgericht ablaufen und unter welchen Umständen sie mit einem Vergleich abgeschlossen werden. Zuvor hatte ich fast zehn Jahre lang als Zivilrichter gearbeitet. Die Mitarbeiter waren angehende Juristen und Soziologen. Die Fälle, die wir beobachteten, waren unser Alltagserfahrung nicht völlig fremd. So waren wir uns einigermaßen sicher, ein abgrenzbares Phänomen zutreffend zu erfassen und einzuordnen. Die Leser unserer Veröffentlichung [2]Klaus F. Röhl u. a., Der Vergleich im Zivilprozeß. Untersuchungen an einem großstädtischen Amtsgericht, 1983. (hoffentlich gab es welche) dürften in der Lage gewesen sein, Qualität, Bedeutung oder Bedeutungslosigkeit der Arbeit zu verstehen und zu beurteilen. Ähnliches gilt für spätere Untersuchungen über außergerichtliche Streitregelung durch den sogenannten Schiedsmann. [3]1983/84 gab es ein größeres Projekt, in dem meine Mitarbeiterinnen eine klassische Begleitforschung zu einer Neuerung im zivilrechtlichen Güteverfahren vor dem Schiedsmann, die darin bestand, dass … Continue reading
Wenn ich dagegen heute eine Untersuchung über alternative Konfliktregelung in Mulukukú [4]Letitia M. Saucedo/Raquel Aldana (2007): The Illusion of Transformative Conflict Resolution: Mediating Domestic Violence in Nicaragua., einem Dorf in Nicaragua, lese, dann bin ich ziemlich hilflos, wie ich das Gelesene einordnen soll. Nicht viel anders geht es mir, wenn ich eine Untersuchung über Mediationsverfahren bei Gewalt gegen Frauen in einer Kleinstadt in Hawaii zur Kenntnis nehme. Merry beschreibt, wie sich dort unter dem Einfluss der internationalen Menschenrechts- und Frauenbewegung drei Gruppen gebildet haben, die Gewalt gegen Frauen auf ganz unterschiedliche Weise bekämpfen. [5]Sally Engle Merry, Rights, Religion, and Community: Approaches to Violence Against Women in the Context of Globalization, Law and Society Review, 35, 2001, S. 39–88. Eine feministische Gruppe nutzte ein in den USA entwickelte Umerziehungs- und Trainingsprogramm. Eine christliche Sekte (Pfingstkirche) griff zum Mittel ritueller Heilung und der Austreibung böser Geister verbunden mit Familienberatung. Und eine dritte Gruppe verwendete das auf Hawaii traditionelle Verfahren des H’oponopono. Dazu versammelt sich die Familie, betet und bittet um die Hilfe der Götter, um dann in einen Versöhnungsprozess überzuleiten.
Wir werden mit Beispielen aus Afrika, Lateinamerika, und Osteuropa bombardiert. Oft handelt es sich nur um anekdotische Belege. Es gibt zwar auch viele empirische Untersuchungen, die lege artis mit den Methoden der Sozialwissenschaften durchgeführt wurden. Doch selten oder nie gibt es Replikationen, ohne die man in anderen empirischen Disziplinen kein Ergebnis akzeptieren würde. Was aber für die Einschätzung solcher Untersuchungen noch schwerer wiegt, ist ihre Relativität zu einem weitgehend unbekannten Kontext. Wir können kaum übersehen, ob die Untersuchungsergebnisse für den Problemzusammenhang der Globalisierung typisch und damit verallgemeinerungsfähig sind.
Ökologie, Wachstum und Alterung der Bevölkerung, Weltfinanzkrise, die Versorgung der Menschheit mit Lebensmitteln, Energieversorgung der Zukunft und der Umgang mit einer globalen Klimaveränderung – alle diese Themen geben vor dem Hintergrund globaler Ungleichheit reichlich Konfliktstoff ab. Sie sind auf Mikro-, Meso- und Makroebene miteinander verwoben und spiegeln so die ganze Komplexität unserer modernen Welt. In Konfliktsituationen treffen schon auf der Beschreibungsebene beinahe zwangsläufig unterschiedliche Perspektiven aufeinander. Je nach Kontext und Perspektive der Beteiligten werden andere Gesichtspunkte relevant. Daher ist kaum eine einzig richtige Beschreibung einer Situation zu erwarten.
Noch unsicherer werde ich, wenn ich allgemeine Prognosen, Einschätzungen oder Urteile lese, etwa vom Ende der Geschichte, vom Kampf der Kulturen, vom Rechtsimperialismus der westlichen Welt oder von der Verderblichkeit des neoliberalen Staates. Dabei drängt sich auf, dass viele solcher Einschätzungen von starken Werturteilen getragen werden. Wenn es um die Globalisierung geht, können viele Wissenschaftler ihre Kritik an den Zuständen und ihre politische Meinung nur schwer zurückhalten.
Auch die Rechtssoziologie ist nicht frei von Hintergrundtheorien, die man als ideologisch einordnen könnte. Einige Vorannahmen wird man gerne teilen, so die Wertschätzung von Demokratie und Menschenrechten. Andere dagegen sind nicht unproblematisch. Das gilt besonders für die Vorliebe für einen transnationalen Rechtspluralismus von unten und die damit korrespondierende Abneigung gegen staatliche Regulierung und das Völkerrecht als »klassischen Herrschaftsmodus internationaler Politik« [6]Symptomatisch die kurze Einführung von Andreas Fischer-Lescano/Tanja Hitzel-Cassagnes/Eva Kocher/Ulrich Mückenberger für das Schwerpunktheft »Transnationales Recht der Zeitschrift »Kritische … Continue reading, die in systemtheoretische Vorstellungen von Selbstregulierung verpackt wird.
Dennoch gibt es kleinere oder größere Inseln des Wissens. Gelegentlich kann man sich mit einem rough consensus beruhigen. Aber im Großen und Ganzen zeigt uns die Globalisierungsforschung eigentlich nur, wie wenig wir wissen und wissen können. Eine Spur optimistischer dürfen wir vielleicht werden, wenn wir unsere Fragestellung bescheidener formulieren. Dann geht es nicht mehr um die Globalisierung als solche, sondern nur noch um die aktive oder passive Rolle des Rechts im Globalisierungsprozess.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Dazu verweise ich auf frühere Beträge über die von mir so genannte Berichtsforschung: Berichtsforschung als Datenquelle,
Berichtsforschung II, Berichtsforschung: Generationsgerechtigkeit statt Generationengerechtigkeit — Die Verwestlichung der chinesischen Rechtswissenschaft. Alle Reports und Indices sind mit einer Suchmaschine im Internet leicht zu finden.
2 Klaus F. Röhl u. a., Der Vergleich im Zivilprozeß. Untersuchungen an einem großstädtischen Amtsgericht, 1983.
3 1983/84 gab es ein größeres Projekt, in dem meine Mitarbeiterinnen eine klassische Begleitforschung zu einer Neuerung im zivilrechtlichen Güteverfahren vor dem Schiedsmann, die darin bestand, dass für den Gegner eine Erscheinenspflicht angeordnet war, wenn der Antragsteller sich (freiwillig) an den Schiedsmann gewendet hatte (Röhl (Hg.), Das Güteverfahren vor dem Schiedsmann, 1987). Zuletzt war ich mit 2004 auf diesem Gebiet mit einer Untersuchung über die obligatorische Streitschlichtung vor dem Schiedsmann aktiv (Röhl/Weiß, Die obligatorische Streitschlichtung, 2005). Nunmehr ging es darum, dass prospektive Kläger verpflichtet wurden, sich zunächst eine Gütestelle zu wenden, bevor sie klagen durften.
4 Letitia M. Saucedo/Raquel Aldana (2007): The Illusion of Transformative Conflict Resolution: Mediating Domestic Violence in Nicaragua.
5 Sally Engle Merry, Rights, Religion, and Community: Approaches to Violence Against Women in the Context of Globalization, Law and Society Review, 35, 2001, S. 39–88.
6 Symptomatisch die kurze Einführung von Andreas Fischer-Lescano/Tanja Hitzel-Cassagnes/Eva Kocher/Ulrich Mückenberger für das Schwerpunktheft »Transnationales Recht der Zeitschrift »Kritische Justiz (Heft 1/2010) mit dem Titel »Die Vielfalt transnationaler Rechtskreation ›from below‹ ((Symptomatisch die kurze Einführung von Andreas Fischer-Lescano/Tanja Hitzel-Cassagnes/Eva Kocher/Ulrich Mückenberger für das Schwerpunktheft »Transnationales Recht« der Zeitschrift »Kritische Justiz« (Heft 1/2010) mit dem Titel »Die Vielfalt transnationaler Rechtskreation ›from below‹«.

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Berichtsforschung: Die Hegemonie der westlichen Sozialwissenschaft und der englischen Sprache

Heute habe ich einmal wieder einen neuen Bericht gefunden, nämlich den von der UNESCO und dem International Social Science Council herausgegebenen World Science Report 2010. Der Band trägt den Untertitel »Knowledge Divides«. Gemeint ist die Teilung der Welt in Länder mit mehr oder weniger entwickelter Sozialwissenschaft.

Social scientists produce work of outstanding quality and tremendous practical value, but, as this Report illustrates, social scientific knowledge is often the least developed in those parts of the world where it is most keenly needed – hence this publication’s title, ›Knowledge Divides‹.

Die Beiträge sind durchgehend sehr kurz (drei bis fünf Seiten) und entsprechend zahlreich. Ich habe mich zunächst auf die Kapitel vier (Uneven Internationalization) und fünf (Homogenizing or Pluralizing Social Sciences?) konzentriert und im Übrigen die 430 Seiten daraufhin durchgeblättert, was für die Rechtssoziologie von Interesse sein könnte. Heute will ich nur auf zwei Beiträge aus Kapitel 4 eingehen, nämlich auf

Yves Gingras/Sébastien Mosbah-Natanson, Where are Social Sciences Produced?(S. 149-153)
Ulrich Ammon, The Hegemony of English, S. 154-155.

Die Globalisierung der Kommunikation durch neue Technologien verlangt nach einer globalen Sprache. Als solche hat sich das Englische durchgesetzt. Durch den britischen Kolonialismus erhielt das Englische einen Startvorteil. Amerikanische Wirtschaftsmacht, zwei Weltkriege, in denen England und die USA dominierten, und schließlich der Zusammenbruch des Ostblocks haben die Expansion der englischen Sprache beschleunigt. Das Englische ist zur Sprache der internationalen Wirtschaft, der Wissenschaft, der Computerwelt, des Luftverkehrs und der Unterhaltungsindustrie geworden. Nicht zuletzt ist es auch die Sprache des internationalen Rechts. Es ist die Sprache der Globalisierung schlechthin. Das mittelalterliche Latein als die Lingua Franca seiner Zeit war insofern egalitär, als jeder es erst lernen musste. Das Englische dagegen ist »asymmetrisch« (Ammon). Es ist die Muttersprache nicht nur der Engländer und Amerikaner, sondern auch der meisten Australier und Neuseeländer, vieler Kanadier, Inder und anderer mehr. Sie haben damit einen Heimvorteil, der kaum aufzuholen ist. Es gilt das Prinzip der Vorteilsakkumulation (accumulated advantage; Matthäus-Prinzip).
94 % aller im Social Science Citation Index (SSCI) registrierten Artikel und 85 % der begutachteten sozialwissenschaftlichen Zeitschriften erscheinen in englischer Sprache, ebenso über 75 % der Publikationen, die in der International Bibliography of the Social Sciences verzeichnet sind (Gingras/Mosbah-Natanson S. 151). Die USA produzieren mit jährlich über 10.000 einschlägigen Arbeiten immer noch die Hälfte der sozialwissenschaftlichen Forschung. Dabei ist der relative Anteil der Amerikaner von 61 % im Zeitraum von 1988 bis 1997 auf 52,2 % im Zeitraum von 1998 bis 2007 zurückgegangen. Gestiegen ist aber vor allem der Anteil Europas, und zwar von 29, 1 auf 38 %. Das heißt, wer in den Schwellen- und Entwicklungsländern Sozialwissenschaften betreibt, ist weitgehend darauf angewiesen, für den Stand der Forschung »westliche«, vor allem amerikanische und europäische Literatur zu zitieren, und zwar Literatur in englischer Sprache. Der Informationsfluss der Wissensgesellschaft ist englisch gefärbt. Ammon spricht daher von der Hegemonie des Englischen.
[Fortsetzung folgt – vielleicht.]

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Über das Buch »Plunder« von Mattei und Nader

Heute wird es etwas länger. Aber niemand muss das lesen. Ich schreibe in erster Linie für mich selbst.
Laura Nader braucht nicht vorgestellt zu werden. Ugo Mattei war mir bisher nicht bekannt. Er ist Italiener und heute Professor an der University of California, Hastings College of Law. Er kommt von der International University College of Turin, die sich auf ihrer Internetseite mit großen Namen schmückt und als ein Ort vorstellt:

where global law and economics are critically understood with the help of such scholars like Duncan Kennedy (Harvard), Guido Calabresi (Yale), and Gustavo Zagrebelsky (Former Italian Chief Justice). Nobel Laureate Amartya Sen sits in its advisory board.

Nader und Mattei haben 2008 ein Buch veröffentlicht, das in den USA einige Beachtung gefunden hat, in Deutschland aber kaum rezipiert worden ist:

Plunder: When the Rule of Law is Illegal
Wiley-Blackwell, 2008
296 Seiten; $84.95 (in Deutschland 63,95 EUR)

Wer das Buch nicht zur Hand hat, kann sich bei Youtube ein Vodcast mit einem Vortrag von Laura Nader anhören. Ferner stehen im Internet einschlägige Manuskripte von Ugo Mattei und Nader zur Verfügung. [1]Laura Nader, Controlling Processes – Tracing the Dynamic Components of Power, 1997; Ugo Mattei/Marco de Morpurgo, Global Law and Plunder: The Dark Side of the Rule of Law, 2009. Und hier gibt es auch ein schönes Bild von beiden, wie sie ihr Buch vorstellen.
Auf der Höhe seiner Macht beherrschte das antike Rom fast die ganze damals bekannte Welt. Das römische Recht galt als universales Weltrecht. Doch das römische Reich zerfiel und mit ihm Anwendung und Kenntnis des römischen Rechts. Seit 1100 unterrichtete Irnerius in Bologna wieder römisches Recht, wie es Justinian im Corpus Juris Civilis hatte zusammenstellen lassen. Irnerius und seine Nachfolger, die Glossatoren, lehrten das römische Recht nicht als historische Reminiszenz und auch nicht als das Recht Italiens, sondern als das jus commune, als Weltrecht, das für das ganze Abendland Geltung beanspruchen sollte, soweit nicht besondere lokale Rechte entgegenständen. Sie waren überzeugt von dem inneren Wert des römischen Rechts, das als einziges ein vollständiges und durchgearbeitetes System mit klaren und anwendungsgeeigneten Begriffen anbot und damit nicht bloß als eines unter anderen, sondern als das Recht schlechthin, als ratio scripta, erschien. Der Erfolg war ungeheuer. Aus dem ganzen Abendland zogen die Studenten zu Tausenden nach Italien und ließen sich im römischen Recht ausbilden. In ihre Heimat zurückgekehrt, die politisch in viele kleine Territorien zersplittert war, stießen sie in eine Lücke. Es fehlte ein übergreifendes, einheitliches Recht. Im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts wurde so in Kontinentaleuropa das römische Recht als jus commune, als common roman law, zur universellen Rechtsquelle. Könnte sich eine solche Entwicklung heute wiederholen?
Wenn wir Ugo Mattei und Laura Nader folgen, ist sie längst in vollem Gange. An die Stelle des römischen jus commune ist die amerikanische rule of law getreten, kombiniert mit Ideen von politischer Freiheit, Demokratie, Gleichberechtigung und Menschenrechten. Doch nach Mattei und Nader verbreitet sich dieser Rechtskomplex nicht wegen seiner inneren Überzeugungskraft oder Werthaftigkeit, sondern er dient dem politisch-militärisch-ökonomischen Machtkomplex des Westens, in erster Linie der USA, als Mittel und Rechtfertigung zur Ausbeutung der Welt.
Plunder ist Plünderung oder Ausbeutung. Die These des Buches sagt: Seit Beginn der Kolonialisierung dienten europäische und später europäisch-amerikanische Rechtskonzepte als Instrument und Legitimation für die Ausbeutung der Welt durch die europäischen Kolonialmächte und die USA. Zwar habe sich die Erscheinungsform des Rechts gewandelt, doch das Prinzip sei geblieben: Columbus segelte mit einem Notar an Bord der Santa Maria in die neue Welt, um die neu entdeckten Territorien für Spanien zu reklamieren. Das Konzept der terra nullius diente zur Inbesitznahme von Kolonien. Mehr oder weniger gewaltsam wurde ihnen europäisches Recht oktroyiert, um ihren Widerstand gegen Ausbeutung zu brechen. Auch in moderner Gestalt dient das Recht immer noch dazu, die Schwachen weiter zu schwächen und ihre Ressourcen zu plündern. Zur Rechtfertigung diene das Defizitargument (lack of rule of law): Den Drittländern fehlt ein geeignetes Rechtssystem. Ihnen fehlt es an Entwicklung und Zivilisation, ihnen fehlen die Kapazitäten, um die Reichtümer ihres Landes zu nutzen. Sie haben kein Recht, das diesen Namen verdient, keine Verträge, kein Eigentum. Was da vorhanden ist, ist bloße Sitte, Tradition oder Religion. Ihnen fehlt eine minimale Ausstattung mit Institutionen, die die Entfaltung eines effizienten Marktes möglich macht.
Vorab räumen Nader und Mattei zwei mögliche Angriffspunkte aus: Sie erklären, dass man sicher auch über chinesischen, japanischen, russischen oder islamischen Imperialismus reden könne. Das aber sei jetzt nicht ihr Thema (S. 2). Und sie konzedieren, dass Demokratie und Rechtsstaat auch eine »helle« Seite haben. Aber sie wollen sich auf die Schattenseite konzentrieren, die im Zuge der Globalisierung das westliche Rechtskonzept verdunkelt habe.
Ihre Kritik hat zwei Angriffspunkte. Erstens beanstandet sie, die Entwicklungs- und Transformationshilfe durch Rechtsmodernisierung sei von einer Ideologie der Überlegenheit westlicher Kultur getragen. Zweitens wendet sie sich gegen das neoliberale Konzept der Marktwirtschaft, von dem sich westliche Regierungen und die Bretton-Woods-Institutionen haben leiten lassen. Für die Rechtssoziologie sind diese Kritikpunkte deshalb relevant, weil als Vehikel kultureller Rücksichtslosigkeit und wirtschaftlicher Kolonialisierung rechtliche Formen ausgemacht werden, die zusammenfassend als rule of law gekennzeichnet werden. Mattei und Nader behaupten, dass die USA und andere westliche Staaten durchgehend rechtliche Formen nutzten, um andere Staaten in einen Zustand struktureller Ungleichheit zu versetzen oder darin festzuhalten und dabei mit der Berufung auf die rule of law einen Anschein von Gerechtigkeit und Fairness verbreiteten, der geradezu das Gegenteil von dem verdecke, was er verspreche.
Rule of law, Demokratie und Menschenrechte – so Mattei und Nader – werden zwar nur noch ausnahmsweise mit Gewalt oktroyiert. In der Regel genügten Verhandlungen, wirtschaftlicher Druck und das Geld, das Weltbank und der Internationale Wahrungsfonds auf der Grundlage des Washington Consensus verteilen. An die Stelle der Zivilisierung der Wilden durch christliche Mission seien im Laufe der Zeit »Modernisierung«, wirtschaftliche Entwicklung und Verbreitung von Demokratie getreten. Aber das Ergebnis sei geblieben, nämlich die Stärkung der Starken und die Ausbeutung der Schwachen. Das alles geschehe unter dem in sich unklaren und deshalb so leicht von allen Seiten akzeptierten Konzept der rule of law.
Früher einmal habe die Berufung auf die rule of law dazu gedient, die Privilegien des Adels, des Parlaments und der Juristen gegen Modernisierungsversuche der Monarchie zu verteidigen. Heute sei sie das Rückgrat der Wirtschaftsverfassung; sie sichere das ohnehin ungleich verteilte Eigentum und gestattete intern wie extern die Ausbeutung der Schwachen. Wo immer die Herrschaft des Rechts eine Lücke lasse, seien Eingriffe und Angriffe gerechtfertigt wie die Natoangriffe im früheren Jugoslawien oder die Invasionen im Irak und in Afghanistan. Nach diesem Muster interpretieren Mattei und Nader mehr oder weniger alle Ereignisse der neueren Geschichte; Spanische Konquistadoren missionierten die Maya und Inka gestützt auf das moralische Argument, diese praktizierten Menschenopfer. Auf der Berlin-Konferenz von 1889 wurde Afrika unter den Kolonialmächten aufgeteilt, um die Reste des Sklavenhandels zu beseitigen. Der Opiumkrieg habe dazu gedient habe, Asien für die europäischen Märkte zu öffnen. Aktuellere Beispiele für »plunder« bieten die Verursachung der argentinischen Schuldenkrise von 2002 durch amerikanische Gläubiger, der amerikanische Zugriff auf das Öl im Irak, das Urheberrechtsregime der WTO, die Patentierung von Naturstoffen und traditionellen Verfahren.
Das Konzept des Neokolonialismus sei einfach und raffiniert zugleich. Es brauche weder Krieg noch offene Diskriminierung. Man müsse nur offene Märkte bauen und sie mit der rule of law verkleiden. Als Akteure werden Wall Street, Corporate America, lokale Eliten und die globalen Entwicklungshilfeinstitutionen, in zweiter Linie die großen amerikanischen Banken und Anwaltsfirmen, die sie bedienen, ausgemacht. Entwicklungsländer würden von der Weltbank, dem IMF, USAID und der Europäischen Entwicklungsbank zur Übernahme westlicher Standards mit der Drohung veranlasst worden, andernfalls würden sie vom Weltmarkt ausgeschlossen. Ihr Finanzbedarf zwinge sie, sich dem Regime dieser neuen Weltgesetzgeber zu unterwerfen. Das läuft dann so wie bei der argentinischen Schuldenkrise (S. 37): Zunächst gibt es für ein Land der Dritten Welt (scheinbar) günstige Kredite, die dazu führen, dass die lokalen Eliten an Stelle produktiver Investitionen üppig konsumieren. Wenn das Land dann tief verschuldet ist, setzt der IWF strukturelle Reformen durch, die regelmäßig den starken Großgläubigern zugutekommen, kleine Investoren und die lokale Wirtschaft aber ruinieren. Selbst der Kampf gegen die Frauenbeschneidung und das Tragen der Burkha müssten als moralische Rechtfertigung für die Verbreitung eines wirtschaftsfreundlichen Rechtssystems und damit für die Ausbeutung der Dritten Welt herhalten (S. 25).
Der Neoliberalismus ist für Mattei und Nader eine revolutionäre Idee, in ihrer Potenz durchaus dem Kommunismus vergleichbar. Angriffsziel ist der Wohlfahrtstaat, dem Ineffizienz vorgehalten wird (S. 43). In Zeiten des kalten Krieges hätten auch die kapitalistischen Staaten stets die sozialen Effekte ihrer Politik bedenken müssen, weil sie auf die Legitimität angewiesen waren, die sie daraus bezogen, dass sie im Vergleich zur sozialistischen Alternative als die freundlichere Möglichkeit erschienen. Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten sei die Vergleichsmöglichkeit entfallen, und damit der Zwang zum Wohlfahrtsstaat. So habe der Neoliberalismus sich als der bessere und einzig mögliche Weg etablieren können, und heute trete er mit der Arroganz auf, die für ideologische Monopole typisch sei (S. 46 f.).
Das Rechtssystem, das früher einmal zum Kernbestand nationaler Souveränität gehört habe, werde als technischer, politisch neutraler Normenkomplex begriffen, der nur noch unter dem Aspekt der wirtschaftlichen Effizienz bewertet werden könne.

The law was now neutral and technical. It could be targeted, modified and fixed, directly or indirectly, in the same way in which it is possible to intervene to fix a sewer system or a hospital. (S. 48)

Durch den Eingriff in fremde Rechtssysteme, so als ob es sich um eine rein technische Maßnahme handele wie beim Straßen- oder Krankenhausbau, werde ein altes Tabu gebrochen. Ökonomen dienten dabei als Legitimationshelfer. Das Makrowachstum sei zum einzigen Erfolgsparameter geworden.
Mattei und Nader konzedieren, dass die rule of law gelegentlich die Brutalität der Ausbeutung durch ein »empowerment« schwächerer Akteure begrenzen könne. Aber das ist nicht das Ende ihrer Geschichte. So wie man früher in den Kolonien verhindert habe, dass die Menschen von den ihnen aufgezwungenen westlichen Rechtssystemen profitierten, indem man sie bei Bedarf auf die Anwendung lokalen Rechts verwies, so werde heute die Artikulierung von Protest und die Durchsetzung formal vorhandener Rechte dadurch verhindert, dass die Menschen in alternative Streitregelungsverfahren gedrängt würden (S. 18, 75ff., 224). [2]So schon Laura Nader/Elisabetta Grande, Current Illusions and Delusions About Conflict Management – in Africa and Elsewhere, Law and Social Inquiry 27, 2002, 573-594 (dazu der Kommentar von Neal … Continue reading Wichtiger noch: Die Justiz sei zur »Least Dangerous Branch« (Bickel) stilisiert worden, die sich aller distributiven Aktivitäten zu enthalten habe (140).
Der letztere Gesichtspunkt wird in Kapitel 6 unter der Überschrift »International Imperial Law« ausgebreitet. [3]Im Anhang S. 256 erfährt man, das dieses Kapitel auf einen Aufsatz von Ugo Mattei, A Theory of Imperial Law: a Study on USD Hegemony and the Latin Resistance, Indiana Journal of Global Legal Studies … Continue reading Unter der Führung der USA habe sich die rule of law zu einem System der Festschreibung der Verteilung von Armut und Reichtum entwickelt, wie sie durch die weltweite Ausbeutung entstanden sei. »In this scenario, which we call the imperial rule of law, the perpetrators of plunder are guaranteed by ›reactive institutions‹ (such als courts) against disgorging the ill-gotten profits.« (137) Der Diskurs über Demokratie und die rule of law sei erfolgreich so umfunktioniert worden, dass das Recht eine solidarische Umverteilung des Reichtums delegitimiere und einem lokalen Rechtspluralismus ebenso wie politischer Verantwortung den Boden entziehe (141).
Das amerikanische Rechtsystem sei, verglichen mit anderen westlichen Ländern, im Grund eine Anomalie:

It is the only system with class actions, with civil juries, with unlimited contingency fees, with a fully fledged double set of courts, with graduate law schools – just to offer a few peculiarities. It is almost alone in using punitive damages, in the extensive use of the death penalty, and in granting tremendous political power to the Supreme Court. It is nearly alone in sharing this aspect with Somalia, in not ratifying the International Convention on the Rights of Children. (S. 164)

International habe sich das amerikanische Modell des Parteiprozesses imperialistisch ausgebreitet. Dafür sei in erster Linie das Discovery-Verfahren verantwortlich, dass den Prozess zu einem Marktplatz mache, auf dem nur gewinnen können, wer zuvor investiert habe. Für Streitigkeiten vor internationalen Schiedsgerichten biete sich dieses Verfahren besonders an, weil die Schiedsgerichte gar nicht in der Lage seien, inquisitorische Verfahren zu führen (160). Amerikanische Gerichte hätten sich auch für Klagen von Ausländern und gegen Ausländer als attraktiv erwiesen. Ein Grund sei die Möglichkeit von Sammelklagen und die Zuerkennung von punitive damages. Attraktiv seien amerikanische Gerichte aber auch wegen der Möglichkeit, ein Erfolgshonorar zu vereinbaren, so dass Klagen ohne Kostenrisiko möglich seien. Schließlich seien die amerikanischen Juristen wie niemand sonst durch ihre Erfahrung mit dem zweigeteilten Justizsystem der USA mit dem schwierigen Kollisionsrecht vertraut. Auch für Ausländer biete eine Klage vor amerikanischen Gerichten manchmal die einzige Möglichkeit, ihre Rechte geltend zu machen. Die Gerichte ihrerseits begründeten ihre Zuständigkeit mit einer Lücke im Rechtsschutz des Auslandes, etwa weil es dort keine Sammelklagen gebe. Letztlich sei es die wirtschaftliche Schwerkraft der USA, die ausländische Beklagte zwinge, sich dort vor Gericht zu verteidigen (164 f.). Mit der Bejahung ihrer Zuständigkeit für die Holocaust-Klagen gegen europäische Banken und Versicherungen hätten die amerikanischen Gerichte sich zu Richtern über die Weltgeschichte aufgeschwungen (157).
Schließlich habe das amerikanische Rechtsmodell auch das Völkerrecht erobert (150 ff.) Beginnend mit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen und dann angetrieben von dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen habe sich das Völkerrecht von dem dezentralen System, das auf den Souveränitätsgedanken aufbaute, immer mehr zu einem zentralisierten System entwickelt, das letztlich von den USA beherrscht werde.

The rhetorical device used in the process of repressing deviance and asserting as universal and inevitable Western ways of social organization and economic development, based on individualism and social fragmentation, has been a genuinely legal concept: ›international human rights‹. (S. 150)

Eine Doktrin der durch die internationalen Menschenrechte beschränkten Souveränität diene zur Rechtfertigung von Übergriffen in fremde Länder.
Der Plunder-Vorwurf bleibt nicht auf die Entwicklungshilfe für Drittländer beschränkt. Kapitel 7 enthält eine Generalabrechnung mit der Situation in den USA. Die Wirtschaftsakteure und ihre Spießgesellen in der Politik seien überall am Werk, der American rule of law, soweit sie die Ausbeutung der Bürger bremsen könne, die Zähne zu ziehen. Man kämpfe für ein marktfreundliches Recht, um die rechtliche Verantwortlichkeit der Wirtschaft zu minimieren. Dazu dienten etwa Höchstgrenzen für punitive damages, die Propagierung von alternativer Streitregelung, das Sponsoring der auf Effizienz bedachten ökonomischen Analyse des Rechts, die Besetzung der Gerichte mit konservativen Richtern und nach dem 11. September 2001 eine menschenrechtswidrige Notstandsgesetzgebung. Durch plea bargaining, d. h. durch Verzicht auf ein rechtsstaatliches Verfahren, würden die Gefängnisse mit billigen Arbeitskräften gefüllt. Unübersehbare Skandale wie bei Enron und Worldcom würden als Ausnahmefälle (rotten apples in a basket of good apples, S. 174) dargestellt; die Reaktion mit dem Sarbanes-Oxley-Act sei weitgehend symbolisch und beeindrucke nur die Europäer, die daraufhin ihre eigenen Wirtschaftsskandale amerikanischen Anwälten überließen. So wie in Afrika und anderswo der Krieg das bewährte Mittel sei, mit dem sich ein nicht gewählter Häuptling Anerkennung verschaffe, sei Bush nach der umstrittenen Präsidentschaftswahl von 2000 schnell in den Krieg gezogen. Schließlich werden der war on terror und der Patriot Act als »Plunder of Liberty« gegeißelt.
Im 8. und letzten Kapitel wird noch einmal zusammengefasst und akzentuiert: »Plunder is such a pervasive aspect of the history of global capitalism that the ill-gotten gains that should be disgorged defy imagination.« (199) Von demokratischen Wahlen und von der Justiz sei keine Abhilfe zu erwarten, denn die seien Teil des Problems. Positiv kontrastieren Mattei und Nader das kontinentaleuropäische Wohlfahrtsstaatsmodell mit dem »Rechtsimperialismus« der USA. Der real existierende neoliberale Kapitalismus sei ebenso gescheitert wie der im Ostblock praktizierte Kommunismus. Sie plädieren für eine Art Hybridsystem zwischen beiden, und nachdem sie anfangs die Bemerkung hatten fallen lassen, eigentlich könne nur eine Revolution Abhilfe schaffen, machen sie am Ende doch Vorschläge zu einer Reform in Richtung auf eine lokal verankerte »people’s rule of law«, die vor allem auch »notions of social justice« im Blick behält. Ein Gegengewicht gegen die imperial rule of law sei nur von lokalen Initiativen, von Bürgern und Wissenschaftlern zu erwarten, die auf ihrem Feld für soziale Gerechtigkeit kämpften. Dazu wird eine Reihe von mehr oder weniger erfolgreichen Protest-, Widerstands- und Streikaktionen gegen Enteignungen oder Bauvorhaben, Umweltbeeinträchtigungen oder skandalöse Arbeitsbedingungen aufgezählt.
Im Internet habe ich nur Jubelbesprechungen des Buches gefunden. [4]Rik Pinxten, Journal of Royal Anthropological Institute 2008; David H. Price in Multinational Monitor 30, Jan./Febr. 2009; Pablo Rueda, The Rule of Law and the History of Plunder; Luigi Russi, 2009 … Continue reading Ich hätte das Buch nach der ersten Lektüre eher als glänzend geschriebenes [5]Das gilt nicht nur für die Formulierung des Textes. In einem Anhang S. 240-265 gibt es kapitelweise eingeordnete und kurz kommentierte Lesehinweise, die die Kennerschaft der Autoren zeigen. … Continue reading Pamphlet abgetan, wenn mich nicht die Prominenz Laura Naders daran gehindert hätte.
Für Mattei und Nader bildet die nach 1945 einsetzende Entwicklungshilfe die nahtlose Fortsetzung des alten Kolonialismus, nur mit dem Unterschied, dass an die Stelle harter Gewalt die weiche Hegemonie neoliberaler Wirtschaftspolitik und der amerikanischen rule of law getreten ist. In eine Kritik des Neoliberalismus werden heute, zumal nach der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2009, viele gerne einstimmen, wiewohl man hier mindestens stark differenzieren müsste. Auch die Kritik an der zweiten Amtszeit des Präsidenten Bush ist weit verbreitet. Darauf will ich mich hier nicht einlassen.
Für die Rechtssoziologie bleibt die These interessant, dass die Ausbeutung der Entwicklungs-, Transformations- und Schwellenländer mit einer amerikanisierten rule of law organisiert und legitimiert werde. Nader und Mattei bieten eine lange Reihe historischer und aktueller Beispiele, bei denen man ihnen beipflichten muss, dass hier Plünderung oder Ausbeutung stattfindet und dass das westliche Rechtskonzept dabei mindestens hilfreich war. Es ist wohl auch zutreffend, dass manche Rechtshilfeprojekte Recht als unpolitisches, rein technisches Instrument zur Wirtschaftsförderung einsetzen und die damit verbundenen politischen und sozialen Nebenfolgen und Verteilungswirkungen ausblenden. Insoweit hat die rule of law sicher auch ihre »dunkle Seite«. Der deutschen Diskussion fällt es bisher schwer, diese Seite zu erfassen, weil sie immer noch zu sehr auf den (Gesetzes-)Positivismus fixiert ist. Deshalb ist es wohl doch sinnvoll, das Buch auch hierzulande zur Kenntnis zu nehmen. Allerdings könnte man sich dafür auch mit der sehr viel nüchterneren Darstellung von Tamanaha [6]Brian Z. Tamanaha, The Dark Side of the Relationship between the Rule of Law and Liberalism, 2008. begnügen.
Mattei und Nader vernachlässigen eine Eigenschaft des kapitalistischen Systems, für die sie selbst ein hervorstechendes Beispiel bilden, nämlich seine Fähigkeit zur Selbstreflexion und Selbstkritik. Spätestens mit den Terroranschlägen vom 11. 9. 2001 wurde die Problematik der Entwicklungshilfe zum Teil eines allgemeineren globalisierungskritischen Diskurses. Besonders dem IWF wurde vorgeworfen, er habe mit Brachialgewalt und zum Schaden der betroffenen Länder neoliberale Rezepte durchgesetzt. Als »Klassiker« der Globalisierungskritik gilt Joseph E. Stiglitz. Er argumentiert, die Staaten, die den Rezepten des IWF gefolgt seien, seien nicht reicher, sondern ärmer geworden. Sie litten zudem unter Umweltschäden und dem Verlust der indigenen Kultur. Die wirtschaftlich erfolgreichen asiatischen Staaten dagegen seien ihren eigenen Weg zur Globalisierung der Wirtschaft gegangen. Zunehmend wurde auch kritisiert, dass der Konsens auf die rule of law als Instrument der Entwicklungshilfe nur oberflächlich sei. Innerhalb des neoliberalen Rahmens seien Good Governance und die rule of law instrumentalisiert und prozeduralisiert worden und hätten ihre Verbindung zu Demokratie und Menschenrechten verloren. Als Folge der Globalisierungskritik ist der Washington-Consensus längst beerdigt worden.
»As a result, the focal point for development policy was increasingly provided less by economics than from ideas about the nature of the good state themselves provided by literatures of political science, political economy, ethics, social theory, and law. In particular, ›human rights‹ and the ›rule of law‹ became substantive definitions for development. One should promote human rights not to facilitate development – but as development. The rule of law was not a developmental tool – it was itself a developmental objective. Increasingly, law – understood as a combination of human rights, courts, property rights, formalization of entitlements, prosecution of corruption, and public order – came to define development.« [7]David Kennedy, »The Rule of Law«, Political Choices and Development Common Sense, in: David M. Trubek/Alvaro Santos, The New Law and Economic Development, Cambridge University Press, 2006, 95-173, … Continue reading
Die Selbsterneuerung der amerikanischen Politik durch die Wahl Präsident Obamas haben Mattei und Nader natürlich nicht vorhersehen können. Aber sie hätten doch schon wahrnehmen können, dass sich seit der Jahrtausendwende einiges verändert hat.
Die zentralen Thesen des Buches werden nur plausibel, weil sie auf einer sehr allgemeinen und abstrakten Ebene angesiedelt sind. Auf dieser Ebene lässt sich schwer diskutieren. Alle »Belege« bleiben doch nur Einzelbeispiele. Man könnte sich auf die Suche nach Gegenbeispielen begeben. Sie drängen sich in Asien geradezu auf. Selbst in Afrika hat jedenfalls das Gesundheitswesen unübersehbare Fortschritte gemacht. Doch Beispiele und Gegenbeispiele lassen sich nicht gegeneinander aufrechnen. Das Konzept ist so weit, dass man jedes historische oder politische Ereignis, an dem europäische oder amerikanische Politiker oder Unternehmen beteiligt sind, als Bestätigung interpretieren kann. Mattei und Nader verzichten auf Gegenbeispiele, und das begründet die Unausgewogenheit ihrer Darstellung. Ihr Vorbehalt, die rule of law habe auch eine »helle« Seite, schafft keine ausreichende Abhilfe. Das zeigt sich besonders in Kapitel 6. Es ist sicher zutreffend, dass die Führungsrolle bei der Entwicklung des Rechts nach dem zweiten Weltkrieg von Europa auf die USA übergegangen ist. Das haben auch andere schon bemerkt. [8]Z. B. Máximo Langer, From Legal Transplants to Legal Translations: The Globalization of Plea Bargaining and the Americanization Thesis in Criminal Procedure. Harvard International Law Journal, Vol. … Continue reading Europäische Rechtsphilosophie und Rechtstheorie sind weitgehend durch Ideen des Legal Realism und die verschiedenen Law & Something-Ansätze, allen voran Law & Economy, abgelöst worden. Durchaus zutreffend beschreiben Mattei und Nader, was die amerikanische Art des Umgangs mit dem Recht für die Praxis so attraktiv macht. Und ich zögere auch nicht, mit den beiden Autoren die Neigung amerikanischer Gerichte, großzügig ihre Zuständigkeit in Streitigkeiten mit Auslandsberührung zu bejahen, imperialistisch zu nennen. Dennoch stützt gerade das Kapitel 6, in dem Besonderheiten des amerikanischen Rechts aufgezählt werden, die für dessen Anziehungskraft und Ausbreitung verantwortlich sein könnten, die Hauptthese des Buches kaum. Denn eben diese Besonderheiten wären an sich geeignet, wirtschaftliche Ausbeutung zu bekämpfen. Mattei und Nader erinnern selbst an die sog. Holocaust-Klagen und andere Beispiele, in denen Ausländer vor amerikanischen Gerichten ihr Recht suchen, etwa die Opfer der Bhopal-Katastrophe. Sie halten es aber für ein Unding, das Gerichte im Abstand von 60 Jahren oder Tausenden von Kilometern die Wahrheit finden könnten (S. 156). Ebenso zwiespältig ist die These, amerikanische Rechtsvorstellungen beherrschten heute das Völkerrecht im Sinne von global governance. Mattei und Nader verschweigen nicht, dass die USA selbst sich vielfach von diesem Völkerrecht distanzieren, werfen ihnen aber einen doppelten Standard vor.
Nicht akzeptabel ist die Behauptung, auch die Menschenrechte seien nur ein politisches Täuschungsinstrument. Der universalistische Anspruch der Menschenrechte ist sicher ein Problem. Aber insgesamt gesehen hat der Menschenrechtsdiskurs heute ein eigenes Gewicht gewonnen, mit dem er sich auch gegen die USA richtet. Dabei ist gerade in den Entwicklungsländern wichtig, dass die Relevanz der Menschenrechte nicht unbedingt davon abhängt, dass sie bei einem Gericht eingeklagt werden können.
Schließlich kommt in der Kritik, die Justiz sei in den USA und in den Drittländern ganz und gar zu einer reaktiven Institution geschrumpft worden, wohl doch ein Missverständnis zum Ausdruck. Die Justiz kann prinzipiell immer bloß reaktiv tätig werden. Daher bezieht sie ihre Legitimität. Umverteilung ist und bleibt Aufgabe der Politik. Das schließt nicht aus, dass die Justiz immer wieder kämpferisch in Anspruch genommen wird und mindestens in Randbereichen, die eine unentschlossene Politik offen lässt, in den Verteilungskampf eingreifen kann und muss. Gerade dafür ist die amerikanische Justiz aber wie keine andere gerüstet.
Der zentrale Einwand gegen das Buch liegt jedoch auf einer anderen Ebene. Es gilt längst als ausgemacht, dass die Transplantation westlicher Rechtsvorstellungen und Institutionen in die Transformations- und Entwicklungsländer ist im Großen und Ganzen fehlgeschlagen ist. [9]Ausführlich zusammenfassend Brian Z. Tamanaha, The Primacy of Society and the Failures of Law and Development: Decades of Stubborn Refusal to Learn, 2010. Deshalb konnte sie gar nicht die Wirkung haben, die Mattei und Nader ihr zuschreiben. Wäre die »Rechtsmodernisierung« erfolgreich gewesen, so wären mit einiger Sicherheit auch in anderen gesellschaftlichen Sektoren – Wirtschaft, Gesundheit, Bildung – ähnliche Fortschritte zu verzeichnen gewesen, und zwar nicht auf Grund eines einfachen Kausalzusammenhangs [10]Es wird zwar allgemein angenommen, dass die Rechtsmodernisierung und die wirtschaftliche Entwicklung korrelieren. Der Kausalzusammenhang ist aber offen, dazu der Übersichtsartikel von Stephan … Continue reading, sondern weil die Modernisierung nur im Gleichschritt aller Sektoren gelingt. Gerade von Nader als der großen Rechtsanthropologin hätte man einen Bericht darüber erwartet, wie die Amerikanisierung des Rechts letztlich misslungen ist, weil sie in der Regel nur zu einer äußerlichen Anpassung geführt hat. Heute gibt es zwar in den meisten Staaten geschriebene Verfassungen, gewählte Politiker und Parlamente und eine dem Buchstaben nach unabhängige Justiz, aber oft noch nicht einmal die »dünne« rule of law, die jedenfalls Eigentum, Verträge und die persönliche Sicherheit zuverlässig schützt. Auch in den Entwicklungsländern entwickelt sich Recht, nur vielfach anders als gedacht und gewünscht. David Kennedy spricht von der »extreme interrelatedness of everything with everything in a society« (S. 153), Tamanaha von einem »connectedness of law principle« (S. 15 f.). Diese Einbettung in die umgebende Kultur sorgt dafür, dass der Import von Rechtsinstitutionen entweder scheitert oder die scheinbar selben Institutionen mit einem veränderten Inhalt gefüllt werden. Das ist eigentlich ein Paradethema der Rechtsanthropologie.
Von amerikanischen Politikern und Juristen und den vom amerikanischen Recht geprägten Eliten in aller Welt kann man wohl annehmen, dass sie selbst an die rule of law »glauben«. Mattei und Nader machen den zahllosen Akteuren jedenfalls nicht den Vorwurf, sie hätten die Rechtsmodernisierung in den Entwicklungs- und Transformationsländern zynisch als bloßen Vorwand genutzt. Ihnen wird allenfalls unterstellt, dass sie das größere Bild nicht erkannt hätten. Ein subjektiver Vorwurf trifft die Akteure nur insofern, als sie bei ihrem Handeln von der Überlegenheit der westlichen Kultur ausgegangen seien. Er trifft im Übrigen das Corporate America und seine Helfer. Besonders schlecht kommen dabei neben den Ökonomen die Juristen weg. Vielleicht kann man ihnen bis zu einem gewissen Grade den Vorwurf des Selbstbetrugs mit Legitimationswirkung machen. Die Legitimation der von Mattei und Nader beklagten Ausbeutung reicht aber kaum bis in die Zielländer. Dort begegnet man eher einer merkwürdigen Verkehrung. Das besagt die Lawfare-These der Comaroffs , die den Missbrauch der rule of law in die Dritte Welt selbst hineinverlagert. Lawfare in diesem Sinne ist eine Strategie, politische Inhalte in Rechtsform zu bringen, um ihnen dadurch ein Mäntelchen der Legitimität umzuhängen. Die Comaroffs schildern dazu viele Beispiele, wie Gewalt, die man für Unrecht halten möchte, sorgsam in Rechtsform verpackt wird, so etwa vom Diktator Mugabe in Zimbabwe. Recht, so meinen sie, sei in den früheren Kolonien gewissermaßen zum Fetisch geworden und diene zur Juridifizierung von Politik. Diese Politik ist aber weder die Politik des Westens noch eine verborgene Politik der Ausbeutung.
Schließlich ist auch der Ausblick von Mattei und Nader einseitig. Die von ihnen geforderte Neubewertung der »local dimension« (S. 19) aller Reformen scheint sich heute mehr und mehr durchzusetzen, das jedoch wohl eher mit Rücksicht auf die Pfadabhängigkeit jeder Entwicklung als im Hinblick auf die Erhaltung indigener oder sonst vorhandener Kulturen um ihrer selbst willen. Wer könnte sich anmaßen zu sagen, dass der Zustand eines modernen Landes wie Dänemark, Frankreich oder Kanada besser sei als derjenige eines »unentwickelten« Landes wie Papua Neu-Guinea oder Äthiopien? Doch wer wollte es wagen, den weniger entwickelten Ländern »Errungenschaften« der Moderne wie Gesundheitsversorgung oder Katastrophenhilfe vorzuenthalten. Heute gibt es kein Land mehr auf der Welt, das in dem positiven Sinne primitiv ist, dass es von moderner Zivilisation und Technik unberührt geblieben wäre und auf seine traditionelle Weise weiter leben könnte. Kein Land kann sich aus den »Errungenschaften« der Moderne bloß einzelne Bausteine, seien es Mobiltelefone oder bessere Bildung, herauspicken. Die Modernisierung gibt es nur im Paket, und es stellt sich nur die Frage, was an traditionellem Bestand sich retten und integrieren lässt. Und zur Modernisierung gehört auch Recht, aber sicher keine bloßen Kopien westlicher »Vorbilder«. Aber ganz ohne offizielles Recht und damit ohne einen funktionierenden Staat wird es nicht gehen. Vor ein paar Jahren hieß es auch bei Nader noch:

All the alternative dispute mechanisms in the world will not replace the just rule of law (state or international) in such situation. [11]Laura Nader/Elisabetta Grande, Current Illusions and Delusions About Conflict Management – in Africa and Elsewhere, Law and Social Inquiry 27, 2002, 573-594, 582.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Laura Nader, Controlling Processes – Tracing the Dynamic Components of Power, 1997; Ugo Mattei/Marco de Morpurgo, Global Law and Plunder: The Dark Side of the Rule of Law, 2009.
2 So schon Laura Nader/Elisabetta Grande, Current Illusions and Delusions About Conflict Management – in Africa and Elsewhere, Law and Social Inquiry 27, 2002, 573-594 (dazu der Kommentar von Neal Milner, Illusions and Delusions about Conflict Management-In Africa and Elsewhere, Law and Social Inquiry 27, 2002, 621-629). Als Hintergrundtheorie dient Naders Konzept der erzwungenen Harmonisierung (coercive harmony; Laura Nader, Controlling Processes – Tracing the Dynamic Components of Power, 1997).
3 Im Anhang S. 256 erfährt man, das dieses Kapitel auf einen Aufsatz von Ugo Mattei, A Theory of Imperial Law: a Study on USD Hegemony and the Latin Resistance, Indiana Journal of Global Legal Studies 10, 2003, 383, zurückgeht.
4 Rik Pinxten, Journal of Royal Anthropological Institute 2008; David H. Price in Multinational Monitor 30, Jan./Febr. 2009; Pablo Rueda, The Rule of Law and the History of Plunder; Luigi Russi, 2009 http://www.redroom.com/publishedreviews/plunder-when-rule-law-illegal-0.
5 Das gilt nicht nur für die Formulierung des Textes. In einem Anhang S. 240-265 gibt es kapitelweise eingeordnete und kurz kommentierte Lesehinweise, die die Kennerschaft der Autoren zeigen. Außerdem S. 266-267 eine Liste von einschlägigen Dokumentarfilmen.
6 Brian Z. Tamanaha, The Dark Side of the Relationship between the Rule of Law and Liberalism, 2008.
7 David Kennedy, »The Rule of Law«, Political Choices and Development Common Sense, in: David M. Trubek/Alvaro Santos, The New Law and Economic Development, Cambridge University Press, 2006, 95-173, 156 f.
8 Z. B. Máximo Langer, From Legal Transplants to Legal Translations: The Globalization of Plea Bargaining and the Americanization Thesis in Criminal Procedure. Harvard International Law Journal, Vol. 45, No. 1, 2004.
9 Ausführlich zusammenfassend Brian Z. Tamanaha, The Primacy of Society and the Failures of Law and Development: Decades of Stubborn Refusal to Learn, 2010.
10 Es wird zwar allgemein angenommen, dass die Rechtsmodernisierung und die wirtschaftliche Entwicklung korrelieren. Der Kausalzusammenhang ist aber offen, dazu der Übersichtsartikel von Stephan Haggard/Andrew MacIntyre/Lydia Tiede, The Rule of Law and Economic Development, Annual Review of Political Science 11, 2008, 205-234.
11 Laura Nader/Elisabetta Grande, Current Illusions and Delusions About Conflict Management – in Africa and Elsewhere, Law and Social Inquiry 27, 2002, 573-594, 582.

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Zur Unterscheidung von Öffentlichkeit und Privatheit

Die Zweiteilung von öffentlicher und Privatsphäre entstand im 16. und 17. Jahrhundert mit der Entstehung des modernen Staates. Gegenüber dem Staat, der im Prinzip unbegrenzte Souveränität für sich in Anspruch nahm, bezeichnete die Privatsphäre den Raum, der gegen staatliche Eingriffe immun sein sollte. Als solcher wurden Familie und Wirtschaft und später auch Religion, Kunst und Wissenschaft angesehen. Zwar hatte schon John Locke (1632-1704) die Idee einer staatsfreien Privatsphäre formuliert. Doch erst im 19. Jahrhundert machten sich die Juristen daran, das ganze Recht an dem Begriffspaar öffentlich – privat neu auszurichten. Die Religionsfreiheit war inzwischen überall weitgehend gesichert – in Deutschland paradoxerweise öffentlich-rechtlich, denn Religion ist doch eigentlich die privateste Angelegenheit überhaupt. Das Privatrecht wurde zur Domäne des Eigentums und der Wirtschaftsbeziehungen. Daneben blieben ihm noch die Familienbeziehungen. Dagegen wurde die Gesundheit, für viele eine höchst private Angelegenheit, bald Regelungs­gegenstand des öffentlichen Rechts.
Auch auf der gesellschaftlichen Ebene ist die Unterscheidung einer privaten und einer öffentlichen Sphäre lebendig. Sie bestimmt nicht nur die Organisation des politischen Lebens, sondern ist oder war für wichtige Lebensbereiche der meisten Menschen auch soziale Realität. Sie erleben eine Privatsphäre im Sinne von privacy [1]Louis D. Warren und Samuel D. Brandeis haben 1890 mit einem Artikel »A Right to Privacy« eine juristische Definition gegeben: »The common law secures to each individual the right of determining, … Continue reading, die es gegenüber der Öffentlichkeit zu verteidigen gilt. Öffentlichkeit ist dabei in erster Linie der Kommunikationszusammenhang, der durch die Medien, durch Presse, Rundfunk, Fernsehen und Internet hergestellt wird. »Öffentlichkeit« begründen aber auch neue technische Entwicklungen, mit deren Hilfe Staat und Wirtschaft die Privatsphäre unter Kontrolle bringen. Im feministischen Diskurs wird auch die Erwerbsarbeit zur Öffentlichkeit gerechnet.
In der Rechtssoziologie, insbesondere von Anhängern der Critical Legal Studies und aus feministischer Sicht, wurde im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts die Unterscheidung von öffentlicher und privater Sphäre kritisiert und verworfen. Die »Crits« [2]Karl E. Klare, The Public/Private Distinction in Labor Law, University of Pennsylvania Law Review 130 (1982), 1358–1422; Gerald Turkel, The Public/Private Distinction: Approaches to the Critique of … Continue reading beriefen sich auf Karl Marx und erklärten die Unterscheidung zur Ideologie, die dazu diene, Machtstrukturen und Formen der Ungleichheit zu legitimieren oder gar zu mystifizieren. Von feministischer Seite wurde die Unterscheidung als Form patriarchalischer Dominanz gebrandmarkt. Gegenwärtig kursiert die These, dass die Privatisierung von Staatsaufgaben und die Entwicklung eines transnationalen Rechts die Unterscheidung von öffentlichem und Privatrecht obsolet werden lasse, weil staatliche Verwaltung sich in organisatorische Netzwerk- und Governancestrukturen auflöse.
Auch ohne Rückgriff auf marxistische Konzepte steht die Unterscheidung von Öffentlichkeit und Privatheit unter Ideologieverdacht. Der Verdacht ist begründet, solange die Zuordnung von Akteuren und ihren Handlungen zu der einen oder der anderen Sphäre als mehr oder weniger selbstverständlich erscheint, weil sich mit ihr – zunächst ganz untechnisch gesprochen, aber dann auch im juristischen Sinne – unbedachte Rechte und Pflichten verbinden. Wenn die Familie Privatsache ist, muss man sie, etwa bei der Rollenverteilung zwischen Mann und Frau oder bei der Kindererziehung gewähren lassen. Wenn Sexualität und Schwangerschaft zur Privatsphäre gehören, gibt es keinen Grund, eine Frau zur Austragung ihres Kindes anzuhalten (»Mein Bauch gehört mir.«). Als Ort der Privatheit ist die Familie zugleich der Ort für mancherlei Missbrauch und Gewalt. Die Unterscheidung lässt sich bis in die individuelle Lebensführung hinein verfolgen: Persönliche Karrierewünsche durchkreuzen ein öffentliches Engagement. Soziales Missgeschick wie der Verlust von Arbeitsplatz oder Wohnung werden zur Privatangelegenheit. Nicht zuletzt die Geschlechterordnung wird oder wurde durch den Dualismus von öffentlich und privat bestimmt: Die öffentlichen Felder wurden dem männlichen und die Privatsphäre dem weiblichen Geschlecht zugeordnet. Traditionell gilt wirtschaftliche Betätigung als Privatsache. Aber zur Wirtschaft zählen nicht nur Einzelkaufleute, sondern Gesellschaften bis hin zu den multinationalen Unternehmen. Mit ihrer Zuordnung zur Privatwirtschaft verbindet sich die Freistellung von vielen Pflichten, die öffentliche Akteure treffen. Viele politische Fragen werden daher unter dem Aspekt einer Neubestimmung von Öffentlichkeit und Privatheit ausgetragen. Auch im juristischen Diskurs ist die Unterscheidung verblasst [3]Näher Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, § 52.. Zeitweise ergab sich aus der klaren Zuordnung zu dem einen oder anderen Bereich oft die Lösung einer Rechtsfrage. Scheinbare Überschneidungen wurden durch Ausnahmetatbestände ausgeräumt wie bei der fiskalischen Tätigkeit des Staates oder der öffentlich-rechtlichen des beliehenen Unternehmers. Heute ist die Zuordnung das Problem. Die Benennung eines Sachverhalts als öffentlich oder privat ist selbst nicht länger Argument, sondern nur noch eine nachträgliche Benennung.
Duncan Kennedy [4]The Stages of the Decline of the Public/Private Distinction, University of Pennsylvania Law Review 130 (1982), 1349–1357. hat für das amerikanische Recht kurz und prägnant beschrieben, wie die Unterscheidungskraft der Dichotomie öffentlich-privat verfallen ist. Dazu unterscheidet er sechs Stadien. Das erste findet er schon im 19. Jahrhundert in einem Rechtsstreit, in dem die Bank of the United States die Freigabe von Vermögensgegenständen forderte, die von einem Beamten des Bundesstaates Ohio gepfändet worden waren. Dabei ging es um die Frage, ob der Vollstreckungsbeamte als Private oder als Repräsentant des Staates anzusehen war, denn die Verfassung der USA untersagt es, vor Bundesgerichten gegen einen Staat zu klagen. In zweiter Linie wurde dann auch die Frage akut, ob die Bank eine öffentliche Einrichtung war, bei der gar nicht gepfändet werden durfte. Damit, so Kennedy, sei die Selbstverständlichkeit der Unterscheidung verloren gegangen. Der zweite Schritt kam erst über hundert Jahre später mit der Entwicklung neuer, vermittelnder Begriffe. Nun war von privaten Unternehmen die Rede, die öffentliche Funktionen wahrnehmen und umgekehrt von Behörden, die sich wirtschaftlich betätigen. Dann tauchen, drittens, Argumente auf, die die Unterscheidung anscheinend ganz zusammenbrechen lassen. Man sagt etwa, Eigentum und Vertrag würden letztlich vom Staat garantiert, also könnten sie nicht privat sein, ein Gedanke, der uns aus der Theorie der außervertraglichen Grundlagen des Vertrages vertraut ist [5]Röhl/Röhl a. a. O. § 53.. Auf diesen »Kollaps« der Unterscheidung folgt viertens ein Rettungsversuch. Er besteht darin, aus der Dichotomie von öffentlich und privat ein Kontinuum zu machen (»continuumization«). »The distinction is dead, but it rules us frome the grave.« (S. 1353) Was dann folgt, ist Stereotypisierung: Es werden immer wieder die Standardargumente heruntergebetet, wie sie jedem deutschen Juristen nur allzu gut aus der Zulässigkeitsprüfung im Verwaltungsprozess bekannt sind. Die Entscheidung wird beliebig. Das Endstadium nennt Kennedy Loopification. Die beiden Enden des Kontinuums überschlagen sich. Die Familie erfüllt wichtige öffentliche Aufgaben und sie ist doch ein Arcanum des Privaten. Der Verbraucher folgt seinen höchst privaten Präferenzen, und sein Verhalten ist doch Gegenstand staatlicher Regulierung usw. Man kann die Unterscheidung nicht mehr ernst nehmen. Soweit Kennedy. Aber – so Teubner in einer Diskussionsbemerkung auf der letzten Tagung der Vereinigung für Rechtssoziologie [6]Die Tagung war im doppelten Sinne die letzte, nämlich zeitlich und vor der Umbenennung der Vereinigung –: Jeder dekonstruiert die öffentlich-private Grenze, aber keiner weiß sie zu ersetzen. »Polyzentrisch« taucht die Unterscheidung öffentlich-privat überall wieder auf.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Louis D. Warren und Samuel D. Brandeis haben 1890 mit einem Artikel »A Right to Privacy« eine juristische Definition gegeben: »The common law secures to each individual the right of determining, ordinarily, to what extent his thoughts, sentiments, and emotions shall be communicated to others.« (Harvard Law Review IV, 1890).
2 Karl E. Klare, The Public/Private Distinction in Labor Law, University of Pennsylvania Law Review 130 (1982), 1358–1422; Gerald Turkel, The Public/Private Distinction: Approaches to the Critique of Legal Ideology, Law and Society Review 22 (1988) 801–823.
3 Näher Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, § 52.
4 The Stages of the Decline of the Public/Private Distinction, University of Pennsylvania Law Review 130 (1982), 1349–1357.
5 Röhl/Röhl a. a. O. § 53.
6 Die Tagung war im doppelten Sinne die letzte, nämlich zeitlich und vor der Umbenennung der Vereinigung

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Videothek des Exzellenzclusters »Normative Orders« an der Universität Frankfurt a. M.

Videothek des Exzellenzclusters »Normative Orders« an der Universität Frankfurt a. M.
Das Exzellenzcluster hat eine gehaltvolle Videothek mit den Vorträgen einer Ringvorlesung »Recht ohne Staat« sowie von der ersten und der zweiten Jahreskonferenz des Exzellenzclusters ins Netz gestellt. Darunter sind viele prominente und teilweise auch in der Rechtssoziologie bekannte Redner. Man (ich?) kann die Videos nicht auf Bildschirmgröße einstellen, aber sie sind scharf und der Ton, soweit ich hineingehört habe, ist gut. Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, die Vorträge alle anzuhören. Damit wäre man ein paar Tage beschäftigt. Ich habe nur die Redner- und Themenliste herauskopiert und auch darauf verzichtet, für die einzelnen Videos den Link mitzuteilen. Statt dessen hier der Link für die ganze Seite: http://www.normativeorders.net/de/component/content/article/359. Hier also die Liste:

Mittwoch, 3. Februar 2010
Ringvorlesung “Recht ohne Staat”
Professor Dr. Thomas Duve, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte
Recht ohne Staat: Ein Blick auf die Rechtsgeschichte

Mittwoch, 20. Januar 2010
Ringvorlesung “Recht ohne Staat”
Professor Dr. Dr. h.c. mult. Gunther Teubner, Johann Wolfgang Goethe-Universität und London School of Economics
Verfassungen ohne Staat? Zur Konstitutionalisierung transnationaler Regimes

Mittwoch, 16. Dezember 2009
Ringvorlesung “Recht ohne Staat”
Professor Dr. Dr. Rainer Hofmann, Johann Wolfgang Goethe-Universität
Modernes Investitionsschutzrecht: Ein Beispiel für entstaatlichte Setzung und Durchsetzung von Recht?

Mittwoch, 18. November 2009
Ringvorlesung “Recht ohne Staat”
Professor Dr. Franz von Benda-Beckmann, Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung (Halle)
Recht ohne Staat im Staat: Eine rechtsethnologische Betrachtung

Samstag, 14. November 2009
2. Jahreskonferenz des Exzellenzclusters
Professor Keith Tribe
The Limits of the Market: Walras versus Becker

Panel IV: Ästhetik von Rechtfertigungsnarrativen
Prof. Dr. Martin Seel
Narration und (De-)Legitimation: Der zweite Irak-Krieg im Kino
Prof. Dr. Michael Hampe
Erklärung durch Beschreibung

Freitag, 13. November 2009
2. Jahreskonferenz des Exzellenzclusters
Panel III: Menschenrechte als Rechtsfertigungsnarrative?
Prof. Dr. Günther Frankenberg
Menschenrechte als Rechtsfertigungsnarrative
Professor Robert Howse
Human Rights Discourse in World Trade

Panel II: Rechtfertigungsnarrative in internationalen Verhandlungsprozessen
Prof. Dr. Nicole Deitelhoff
Politische Praxis und politische Analyse. Ein Kommentar
Dr. Gunter Pleuger
Die normativen Wirkungen multilateralen Verhandelns

Panel I: Rechtfertigungsnarrative in Übergangszeiten
Prof. Dr. Hartmut Leppin
Deo auctore. Die Christianisierung kaiserlicher Selbstdarstellung in der Spätantike
Prof. Dr. Hans Kippenberg
Das Thomas-Theorem In der modernen Religionsgeschichte. Zur Differenz zwischen normativen Haltungen und Handlungen

Dienstag, 3. November 2009
Frankfurt Lecture I
Professor Charles Larmore, Brown University
Subjektivität

Montag, 2. November 2009
Frankfurt Lecture I
Professor Charles Larmore, Brown University
Vernunft

Mittwoch, 21. Oktober 2009
Ringvorlesung “Recht ohne Staat”
Prof. Dr. Klaus Dieter Wolf, Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung
Unternehmen als Normunternehmer: Die Einbindung privater Akteure in grenzüberschreitende politische Steuerungsprozesse

Samstag, 15. November 2008
Eröffnungskonferenz des Exzellenzclusters
Panel IV: Transnational Justice, Democracy and Peace
Professor Andrew Hurrell, Oxford
Provincializing Westphalia: The Evolution of International Society as a Global Normative Order

Freitag, 14. November 2008
Eröffnungskonferenz des Exzellenzclusters
Panel III: The Formation of Legal Norms Between Nations
Prof. Dr. Armin von Bogdandy, Heidelberg
Developing the Publicness of Public International Law: Towards a Legal Framework for Global Governance Activities
Panel II: The Historicity of Normative Orders
Professor Immanuel Wallerstein, Yale
In what Normative Order(s) has the World been Living in the Modern World System?
Professor Robert Harms, Yale
Slave Trading, Abolition, and Colonialism as Inter-Linked Normative Orders
Panel I: Conceptions of Normativity
Professor R. Jay Wallace, Berkeley
Conceptions of Normativity: Some Basic Philosophical Issues

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Gemeinschaftsblog »Governance Across Borders«

Am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, wo sich insbesondere Sigrid Quack mit transnationaler Governance und Regulierung befasst, gibt es einen einschlägigen Gemeinschaftsblog »Governance Across Borders« der Forschungsgruppe »Grenzüberschreitende Institutionenbildung«, den ich in meine Blogroll aufgenommen habe.

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Lawfare

Wenn man nach »Lawfare« gugelt, findet man, dass der Begriff 2001 von dem damaligen Oberst im Dienste der amerikanischen Militärjustiz, Charles Dunlap, erfunden wurde. [1]Charles Dunlap, Law and Military Interventions: Preserving Humanitarian Values in 21st Century Conflicts (Carr Center for Human Rights, John F. Kennedy School of Government, Harvard University, … Continue reading Dunlop beginnt seinen Essay von 2001 mit der Frage?:

Is warfare turning into lawfare? In other words, is international law undercutting the ability of the U.S. to conduct effective military interventions? Is it becoming a vehicle to exploit American values in ways that actually increase risks to civilians? In short, is law becoming more of the problem in modern war instead of part of the solution? … One of the most striking features of the Kosovo campaign, in fact, was the remarkably direct role lawyers played in managing combat operations.

Gemeint ist also der Gebrauch von Recht, insbesondere Völkerrecht, in Auseinandersetzungen zwischen Aufständischen, Guerillas oder Terroristen und Staaten mit einem liberalen Rechtssystem. Dabei geht es darum, durch den Auftritt vor nationalen oder internationalen Gerichten mindestens einen moralischen Vorteil gegenüber dem Gegner zu gewinnen. Al Quaida soll in einem Trainingshandbuch (das die Polizei in Manchester/England entdeckt hat) seinen Kämpfern für den Fall der Verhaftung empfohlen haben, sich über Folter und andere Formen menschenrechtswidrigen Missbrauchs zu beklagen. In dieser Verwendung des Wortes spiegelt sich der verbreitete politische Widerstand der USA gegen ein Völkerstrafrecht und internationale Gerichtshöfe.
Eigentlich wollte ich den Ausdruck – ohne seine ihm von Dunlop mitgegebenen Konnotationen – übernehmen, um unter dieser prägnanten Überschrift die juristischen Strategien zu beschreiben, mit denen Opfer, ihre Anwälte und vor allem NGOs versuchen, über Ländergrenzen hinweg Ansprüche durchzusetzen, die auf transnationales Recht gestützt werden, besonders natürlich auf Menschenrechtsverletzungen. In der vergangenen Woche las man wieder unter der Überschrift »Deutsche Konzerne am Pranger der amerikanischen Justiz« [2]FAZ vom 3. 3. 2010 S. 19. Einzelheiten findet man auf der Seite des Business Human Rights Resource Center . über Sammelklagen, mit denen Daimler und Rheinmetall sowie den amerikanischen Konzernen IBM, Ford und General Motors durch Lieferung von Fahrzeugen und Gerät sowie durch Weitergabe von Informationen über Apartheidgegner Verbrechen des Regimes bis hin zur Folter und zu rechtwidrigen Tötungen unterstützt zu haben. Schon seit einigen Jahren streitet man sich vor den Gerichten in New York um die Zulässigkeit der Klagen, die auf das Alien Tort Claims Act von 1789 (ATCA) [3]Auch Alien Tort Statute genannt. Die einzige Bestimmung besagt, dass Jedermann vor amerikanischen District Courts Zivilklagen erheben kann, die auf die Verletzung von Völkerrecht oder … Continue reading gestützt werden. Auf der Rechtssoziologietagung in Bremen Anfang März 2010 war die corporate responsability von multinationalen Unternehmen (TNCs) ein zentrales Thema. Da war auch die Rede davon, dass Klagen gegen die Parent Company einer TNC im Mutterland nicht mehr bloß auf Durchgriffshaftung (piercing the veil), sondern auf eine eigene Verantwortung der Parent Company gestützt werden, die sich aus einer Verletzung firmeneigener codes of conduct oder Richtlinien internationaler standard setting bodies [4]Dazu von Larry Catá Backer, der in Bremen einen Vortrag hielt, Multinational Corporations, Transnational Law: The United Nation’s Norms on the Responsibilities of Transnational Corporations as … Continue reading ergeben (foreign direct liability). Für solche Klagen stehen außer den Menschenrechtsorganisationen, die die Opfer mobilisieren, unternehmerische Anwälte bereit, die sich auf Human-Rights-Angelegenheiten geworfen haben. Bisher waren die auf den ATCA gestützten Klagen allerdings wenig erfolgreich, so dass man nach anderen Rechtsgrundlagen Ausschau hält. [5]Barnali Choudhury, Beyond the Alien Tort Claims Act: Alternative Approaches to Attributing Liability to Corporations for Extraterritorial Abuses. Northwestern Journal of International Law & … Continue reading
»Lawfare« wäre eine schöne Überschrift, um über solche Aktivitäten zu berichten. Doch bevor ich damit begonnen hatte, nach Material zu Lawfare im Sinne von Recht als transnationalem Kampfmittel zu suchen, bin auf das Buch von Jean und John Comaroff über »Law and Disorder in the Postcolony« gestoßen, die ihrerseits von Lawfare reden, den Ausdruck aber in einem wiederum anderen Sinne verwenden. John L. Comaroff hatte die Wortschöpfung schon 2001 etwa zeitgleich und wohl auch unabhängig von Dunlop benutzt. Er erinnerte daran, dass Eingeborene in Südafrika im 19. Jahrhundert

referred to the appurtenances of the law – courts, papers, contracts, agents – as the »English mode of warfare«, um dann fortzufahren: »That ›mode of warfare‹ – or rather lawfare –, the effort to conquer and control indigenous peoples by the coercive use of legal means ….

2007 haben die Comaroffs diesen Ausdruck wieder aufgegriffen. Nun bestimmen sie (S. 30) lawfare als

the resort to legal instruments, to the violence inherent in the law, to commit acts of political coercion, even erasure.

Sie schildern dazu viele Beispiele, wie Gewalt, die man für Unrecht halten möchte, sorgsam in Rechtsform verpackt wird, so etwa vom Diktator Mugabe in Zimbabwe. Recht, so meinen sie, sei in den früheren Kolonien gewissermaßen zum Fetisch geworden und diene zur Juridifizierung von Politik.
Und was mache ich nun mit »Lawfare«?

Nachtrag vom 5. April 2012: In der Heimlichen Juristenzeitung berichtet Katja Gelinsky heute unter der Überschrift »Recht ohne Grenzen« über den aktuellen Stand der Kontroverse über die Reichweite des Alien Tort Claims Act in den USA. Der Artikel ist nur im kostenpflichtigen Archiv der Zeitung zugänglich. Nähere Informationen findet man auf Scotus-Blog. Auch die zahlreichen Amicus-Briefs sind verlinkt, darunter auch derjenige, mit dem sich die deutsche Bundesregierung gegen die extraterritoriale Anwendung des Gesetzes wendet.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Charles Dunlap, Law and Military Interventions: Preserving Humanitarian Values in 21st Century Conflicts (Carr Center for Human Rights, John F. Kennedy School of Government, Harvard University, Working Paper, 2001), verfügbar unter http://www.ksg.harvard.edu/cchrp/Web%20Working%20Papers/Use%20of%20Force/Dunlap2001.pdf. Vgl. auch Dunlap, Lawfare Today: A Perspective, Yale Journal of International Affairs 2008, 146-154. Dunlap selbst schreibt die Wortschöpfung einem Artikel von John Carlson und Neville Yeomans aus dem Jahre 1975 zu.
2 FAZ vom 3. 3. 2010 S. 19. Einzelheiten findet man auf der Seite des Business Human Rights Resource Center .
3 Auch Alien Tort Statute genannt. Die einzige Bestimmung besagt, dass Jedermann vor amerikanischen District Courts Zivilklagen erheben kann, die auf die Verletzung von Völkerrecht oder internationalen Verträgen der Vereinigten Staaten begründet werden.
4 Dazu von Larry Catá Backer, der in Bremen einen Vortrag hielt, Multinational Corporations, Transnational Law: The United Nation’s Norms on the Responsibilities of Transnational Corporations as Harbinger of Corporate Responsibility in International Law, in: Columbia Human Rights Law Review 37 (2005), 101–192, verfügbar unter: http://ssrn.com/abstract=695641.
5 Barnali Choudhury, Beyond the Alien Tort Claims Act: Alternative Approaches to Attributing Liability to Corporations for Extraterritorial Abuses. Northwestern Journal of International Law & Business, Vol. 26, No. 43, 2005, verfügbar unter: http://ssrn.com/abstract=1018207.

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Transnationalisierung der deutschen Rechtswissenschaft

Globalisierung und in ihrer Folge die Transnationalisierung des Rechts sind Thema der Allgemeinen Rechtslehre und ebenso der Rechtssoziologie. Bemerkenswert sind deshalb zwei Internetquellen, in denen sich die Transnationalisierung der deutschen Rechtswissenschaft zeigt.
1. German Law Journal. Review of Developments of German, European & International Law (GLJ). Dieses E-Journal existiert seit 2001 und hat sich seither nicht nur zu einem Vermittler deutschen Rechts für die englischsprachige Welt, sondern auch zu einem wichtigen Forum für die Rechtstheorie im weiteren Sinne entwickelt. In NJW-aktuell 17/2009 S. XVI f. wird es von den Herausgebern, Prof. Dr. Peer Zumbansen, LL.M., Toronto, und Prof. Russell A. Miller, LL.M., Lexington, VA, vorgestellt. Zumbansen wurde bekanntlich auf der Jahrestagung der Vereinigung für Rechtssoziologie in Luzern 2008 der Hoffmann-Riem-Preis verliehen. So ist die Interdisziplinarität des GLJ kein Zufall. Sie zeigt sich zuletzt im Aprilheft, einem Themenheft »The Law of the Network Society. A Tribute to Karl-Heinz Ladeur«.
2. Rechercheplattform zum transnationalen Recht
Seit April 2009 unterhält das Center for Transnational Law (CENTRAL) an der Universität zu Köln diese Rechercheplattform zum transnationalen Recht. Spiritus rector ist Professor Dr. Klaus Peter Berger, LL.M., der an der Universität Köln auch als Direktor des Instituts für Bankrecht fungiert.
Die Plattform besteht aus vier Bereichen.
Principles: Eine Zusammenstellung von über 120 Prinzipien des transnationalen Wirtschaftsrechts, der »Neuen Lex Mercatoria«. Neben dem Text des jeweiligen Prinzips (z.B. »Force majeure«, »hardship«, »venire contra fact Continue reading

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