Implizites Wissen II: Kultur

Der Eintrag vom 3. Januar hatte implizit nur das implizite Wissen der Individuen zum Thema. Der Begriff wird jedoch auch für kollektive Wissensbestände verwendet. Ein Beispiel gibt Thomas Vesting in einem Beitrag [1]Thomas Vesting, Ende der Verfassung? Thomas Vesting, Ende der Verfassung? Zur Notwendigkeit der Neubewertung der symbolischen Dimension des Verfassungsrechts, in: Thomas Vesting/Stefan Korioth (Hg.), … Continue reading »Zur Notwendigkeit der Neubewertung der symbolischen Dimension des Verfassungsrechts«. Seine These ist, dass die vielbeschworene Einheit der Verfassung als von Experten gemanagte Rechtsinstitution verlorengegangen sei und nur als eine weitgehend implizite symbolische noch erhalten werden könne. Die symbolische Einheit der Verfassung wird als kollektives Phänomen ganz analog zu der immer prekären postmodernen Identität des Individuums vorgestellt. »Die symbolische Dimension der Verfassung wäre dann als Notwendigkeit eines kollektiv geteilten Glaubens an die ›Einheit‹ der Verfassung zu bestimmen, an die Vorstellung der Verfassung als eines gemeinsamen Bandes das sich artikulieren und in Szene setzen muss.« (S. 81) Für die symbolische Einheit der Verfassung sei zwar die laufende Expertenarbeit unentbehrlich. Aber sie müsse getragen werden von einem überindividuell verankerten Glauben, der durch die »Verfassungspoesie« der Medien verstärkt zu einer impliziten kulturellen Praxis werde. Dabei erweist Vesting sich als Heraklitäer: Es gibt nichts, was man festhalten könnte. Die Identitätsbildung ist das stets vorläufige, schwammige Ergebnis einer ständigen Sinnsuche mit Blick in Vergangenheit und Zukunft. Die Einheit der Verfassung ist nicht bloß eine explizit narrative, sondern steckt unausgesprochen im kollektiven Gedächtnis. »In die Verfassung ist ein auch über die unmittelbare Körperlichkeit der Schrifturkunde hinausgehendes ›symbolisches Kapital‹ eingetragen, das ›mitlaufen‹ muss und das letztlich – als eine Art precommitment, als implizites Wissen – in den Lebensformen einer Gesellschaft einen Widerhall finden muss.« (S. 87). In einer Formulierung Tenbrucks: »Obschon also alle Kultur durch symbolische Bedeutungen konstituiert wird, stecken diese vielfach implizit im Tun und dessen Gegenständen.« [2]Friedrich H. Tenbruck, Die Aufgaben der Kultursoziologie [1979 in KZfSS], Annali di Sociologia 1, 1985, 45-70, S. 49.

Das ist, wie gesagt, nur ein Beispiel. Der Begriff der Kultur ist bekanntlich höchst vielfältig. Oft steht er für das Unausgesprochene oder gar für das Unaussprechliche einer gesellschaftlichen Konstellation. Die Berufung auf eine besondere Kultur oder auch Rechtskultur wird dann zur »salvatorischen Klausel« [3]Tenbruck S. 58., mit der implizites Wissen, das man vermutet, aber nicht greifen kann, gerettet werden soll.



Anmerkungen

Anmerkungen
1 Thomas Vesting, Ende der Verfassung? Thomas Vesting, Ende der Verfassung? Zur Notwendigkeit der Neubewertung der symbolischen Dimension des Verfassungsrechts, in: Thomas Vesting/Stefan Korioth (Hg.), Der Eigenwert des Verfassungsrechts, Tübingen 2011, S. 71-93., in: Thomas Vesting/Stefan Korioth (Hg.), Der Eigenwert des Verfassungsrechts, Tübingen 2011, S. 71-93.
2 Friedrich H. Tenbruck, Die Aufgaben der Kultursoziologie [1979 in KZfSS], Annali di Sociologia 1, 1985, 45-70, S. 49.
3 Tenbruck S. 58.

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Implizites Wissen

Vor kurzem ist ein von Jens Loenhoff herausgegebener Sammelband »Implizites Wissen« erschienen. [1]Jens Loenhoff (Hg.), Implizites Wissen. Epistemologische und handlungstheoretische Perspektiven, Weilerswist: Velbrück 2012, ISBN 978-3-942393-48-5. Auf ein solches Werk habe ich gewartet, denn ich schlage mich schon länger mit dem auf Michael Polanyi [2]Michael Polanyi, Implizites Wissen, 1985. zurückgehenden Begriff herum. Nun erfahre ich von Schützeichel, dass es sich bei dieser Kategorie um einen »Blockbuster gegenwärtiger Diskussion« handelt. [3]»Implizites Wissen« in der Soziologie: Zur Kritik des epistemischen Individualismus«, im angegebenen Band S. 108–128, S. 108).

Der Band beginnt mit einer ausführlichen »Einleitung« des Herausgebers. [4]Volltext der Einleitung im Internet: [http://www.velbrueck-wissenschaft.de/pdf_ausfuehrlich/978-3-942393-48-5.pdf]. Loenhoff ist Anhänger eines »starken« Begriffs des impliziten Wissens. Dieser beruht auf der »fundamentalpraktischen These vom Vorrang impliziten Wissens … dass explizite Überzeugungen nur vor dem Hintergrund praktischer Fertigkeiten verständlich gemacht werden können (S. 12). Dagegen steht ein »schwacher« Begriff impliziten Wissens, der zwar einräumt, »dass Handeln und Erkennen auf einen unbefragten, jenseits aktueller Aufmerksamkeit liegenden und nicht bzw. noch nicht thematisierten Hintergrund verwiesen ist«, der aber grundsätzlich die Explizierbarkeit auch des impliziten Wissens für möglich hält (S. 17). Loenhoff wehrt sich gegen die Annahme, implizites Wissen sei »lediglich noch nicht explizites, gleichsam auf seine Explikation wartendes Wissen« (S. 13). Durch die Lektüre des Beitrags von Hilde Haider und Alexandra Eichler »Implizites Wissen aus der Sicht der Kognitionspsychologie« (S. 244-259) ist mir klar geworden, dass ich wohl schon immer Anhänger des schwachen Begriffs war, aber jetzt erst Loenhoff bei mir durch eine Erwartungsverletzung einen Suchprozess ausgelöst hat (vgl. S. 259), der mich in den Stand setzt, meine impliziten Annahmen über das implizite Wissen explizit zu machen. Sie besagen, dass wohl prinzipiell das Implizite explizierbar ist, aber stets nur punktuell; nie alles zugleich. Damit bleibt mir allerdings auf Grund meiner »epistemologischen Vorentscheidungen« (Loenhoff S. 13 u.) der wahre Status impliziten Wissens verschlossen.

»Die in umgekehrter Richtung entwickelten Überlegungen, wie nämlich explizite Wissensbestände zu impliziten Praktiken werden«, nennt Loenhoff »recht vage« (S. 13). Unklar scheint ihm vor allem das Konzept oder gar »Paradigma« von Verkörperung oder Embodiment. Ja, so ist das nun einmal mit kulturwissenschaftlich imprägnierten Begriffen. Dieser Punkt verdient gelegentlich einen eigenen Eintrag, weil »embodied legal learning« zum Thema der juristischen Ausbildungsdiskussion geworden ist. [5]John Webb, The Body in (E)motion: Thinking through Embodiment in Legal Education, in: Paul Maharg/Caroline Maughan (Hg.), Affect and Legal Education, Ashgate 2011, S. 211–233. Vorläufig mag der Hinweis genügen, dass Hirschauer – auf den Loenhoff in Fn. 21 hinweist, – die möglichen Verwendungsweisen dieses Begriffs ganz schön klargelegt hat. [6]Stefan Hirschauer, Stefan, Körper macht Wissen. Für eine Somatisierung des Wissensbegriffs, in: KarlSiegbert Rehberg (Hg.), Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der … Continue reading Das Problem ist nur, dass kaum jemand sich daran orientiert. Man konzentriert sich auf den »wissenden Körper als Träger von Praktiken« (Hirschauer S. 977) und übersieht dabei – das moniert Loenhoff zu recht –, dass das Repertoire des Körperwissens sich nicht in individuell praktizierbaren skills wie Radfahren oder Klavierspielen erschöpft, sondern auch handlungskoordinierende Symbolik (Grußgesten, Abstandsverhalten – meine Beispiele) einschließt.

Die körperbezogenen Kompetenzen machen nur einen kleinen Teil des impliziten Wissens aus. Der größere Teil besteht aus »präreflexiven Gewissheiten … in Form unhinterfragter lebensweltlicher Selbstverständlichkeiten« (S. 17f.). Sie machen in ihrer Gesamtheit das »kulturelle Vorverständnis« aus, »das die Anschlussfähigkeit sozialer Praktiken sichert«. Wissen ist also, ganz analog zum Vorverständnis einer Texthermeneutik a là Gadamer die Basis einer Hermeneutik der Lebenswelt. Wer das implizite Wissen, und sei es auch nur von Fall zu Fall, für explizierbar hält, hat als Intentionalist nichts verstanden.

Für das Verständnis von Rechtstexten ist die Gebrauchstheorie der Bedeutung wichtig. Sie lässt sich weiter dadurch verfeinern, dass man auf die Unterscheidung von implizitem und explizitem Sprachwissen zurückgeht. »Nicht das Erfassen der Sprecherabsicht, im Hörer bestimmte Wirkungen hervorzurufen, sondern umgekehrt die Erfassung der Bedeutung des sprachlichen Ausdrucks gemäß sozial geteilter Interpretationsroutinen ist es, die dem Hörer ermöglicht, dem Sprecher eine Absicht zuzuschreiben bzw. auf diese zu schließen.« (S. 22) Dem kann man wohl noch zustimmen. Ein falscher Gegensatz wird jedoch mit der »These vom Vorrang der sozialen Praxis de Sprachgemeinschaft vor den ›privaten‹ Intentionen einzelner Sprecher« (S. 16) aufgebaut. Von dieser These heißt es, sie leugne »nicht, dass Handlungen mit Motiven und Zwecksetzungen kontaminiert sind, sondern nur, dass die fokussierte Intentionalität Handlungen und insbesondere das Gelingen von Kommunikation und sozialer Kooperation hinreichend bestimmt«. Keine Frage, dass Kommunikation auf implizitem Wissen aufruht. Aber auch der Sprecher hat an dem impliziten Sprachwissen teil. Daher wird es ihm in aller Regel gelingen, bei den Hörern Interpretationen zu provozieren, die seinen Intentionen entsprechen. Loenhoff [7]Einleitung S. 29 unter Berufung auf Clemens Knobloch, Implizites Sprecher und Hörerwissen in der Konstruktionsgrammatik, S. 198-213. betont, dass »der Vollzug kommunikativer Akte nicht auf geteiltem Wissen basiert, sondern dieses Wissen auf der Grundlage geteilter Aufmerksamkeit, Kooperativität und der Zurechnung von Intentionalität erst erzeugt« werde. Doch der Prozesscharakter von Kommunikation ändert daran grundsätzlich nichts. Wissen verflüchtigt sich nicht in dem Augenblick, in dem es hergestellt wurde, sondern es verfestigt sich durch Wiederholung und Bestätigung. Das ist aus psychologischer Sicht gerade der Witz impliziten Wissens.

Ich habe nicht alle Beiträge des Bandes gründlich gelesen. Deshalb will ich nur zwei hervorheben. Einen habe ich schon erwähnt, nämlich den Beitrag von Heider und Aichler. Er steht fast am Ende des Bandes, und da ist die scheinbar naiv zupackende Weise der Psychologie erfrischend. Ich habe daraus entnommen, dass es jedenfalls im Prinzip möglich ist, implizites Wissen zu explizieren und explizites Wissen durch Übung zu implizieren.

Erwähnenswert ist ferner der Beitrag von Rainer Schützeichel. Er meint, es gehe beim impliziten Wissen eher um ein Syndrom, dem unterschiedliche Phänomene zugeordnet würden (S. 108). Um die Phänomene zu sortieren, verteilt er sie auf vier Traditionslinien, nämlich auf die von Gilbert Ryle, Michael Polanyi, Karl Mannheim sowie auf die phänomenologische Linie von Husserl und Merleau-Ponty. Die ersten drei werden dann näher referiert. Damit liefert Schützeichel eine nützliche Orientierung.

Auch wenn ich nicht mit allem einverstanden bin oder nicht alles verstanden habe, so hat mir der Band doch geholfen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Jens Loenhoff (Hg.), Implizites Wissen. Epistemologische und handlungstheoretische Perspektiven, Weilerswist: Velbrück 2012, ISBN 978-3-942393-48-5.
2 Michael Polanyi, Implizites Wissen, 1985.
3 »Implizites Wissen« in der Soziologie: Zur Kritik des epistemischen Individualismus«, im angegebenen Band S. 108–128, S. 108).
4 Volltext der Einleitung im Internet: [http://www.velbrueck-wissenschaft.de/pdf_ausfuehrlich/978-3-942393-48-5.pdf].
5 John Webb, The Body in (E)motion: Thinking through Embodiment in Legal Education, in: Paul Maharg/Caroline Maughan (Hg.), Affect and Legal Education, Ashgate 2011, S. 211–233.
6 Stefan Hirschauer, Stefan, Körper macht Wissen. Für eine Somatisierung des Wissensbegriffs, in: KarlSiegbert Rehberg (Hg.), Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel, Bd. II, S. 974–984.
7 Einleitung S. 29 unter Berufung auf Clemens Knobloch, Implizites Sprecher und Hörerwissen in der Konstruktionsgrammatik, S. 198-213.

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Huntington über Korruption

Seit Tagen sitze ich über dem Entwurf zu § 78 von Rechtssoziologie-online, der die Korruption behandeln soll. Die Literatur ist unermesslich. Das meiste ist überflüssig. Doch nach und nach kristallisieren sich einige Text heraus, die gehaltvoller sind als die Masse. Einer davon ist Modernization and Corruption von Samuel P. Huntington. Es handelt sich ursprünglich um die S. 59-71 aus Huntingtons Buch »Political Order in Changing Societies, 11. Aufl., New Haven [u.a.] 1976 [1967], der auch separat als Beitrag in dem von Arnold J. Heidenheimer u. a. herausgegebenen Handbuch »Political Corruption« [1]5. Aufl., 1999, 377-388. In beiden Versionen ist der Text im Internet zugänglich. erschienen ist. Huntington führt darin die These aus, ein größeres Maß an Korruption bilde eine unvermeidbare Begleiterscheinung im Modernisierungsprozess:

»Corruption may be more prevalent in some cultures than in others but in most cultures it seems to be most prevalent during the most intense phase of modernization … Impressionistic evidence suggests that its extent correlates reasonably well with rapid social and economic modernization.« (1976, 59)

Der Anwendungsbereich dieser These ist nicht auf die Entwicklungsländer beschränkt. Huntington hat sie auch auf die Modernisierung der USA und Englands im 19. Jahrhundert bezogen. Vier [2]Huntington spricht nur von drei Gründen. Was ich hier unter »drittens« referiere, gehört bei ihm noch zu »Zweitens«, ist aber m. E. ein selbständiger »Grund«. Gründe hat er für seine These angeführt:

Erstens: Im Zuge der Modernisierung ändern sich grundlegende Werte und Einstellungen. Mit dem Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft steigt die Akzeptanz universalistischer und leistungsbezogener Normen. Die Menschen identifizieren sich zunehmend mit ihrem Staat, demgegenüber jeder gleichermaßen verpflichtet ist. Erst aus dieser modernen Sicht kann ein Verhalten, das nach traditionellen Vorstellungen entspricht, als korrupt wahrgenommen werden. Eine Folge ist, dass Verhaltensweisen, die traditionell als selbstverständlich galten, insbesondere Nepotismus, nunmehr verpönt sind.
Zweitens: Ein wichtiger Aspekt dieses Wandels ist die Ausdifferenzierung einer öffentlichen privaten Sphäre. Solange alles »privat« war, war Korruption undenkbar.
Drittens: Mit der Modernisierung kommen neue Quellen für Reichtum und Macht. Dazu gehört auch der Aufbau staatlicher Strukturen, die den Zugriff auf Ressourcen ermöglichen, an denen man sich bereichern kann. Die Reichen versuchen, ihre Ressourcen in politische Macht umzusetzen. Die politisch Mächtigen versuchen, sich zu bereichern.
Viertens: Die zunehmende Verrechtlichung schafft sozusagen erst die opportunity structure für Korruption.

Die erste These, die ich Unvermeidbarkeitsthese nennen will, stützt Huntington durch eine zweite über die Funktionalität von Korruption im Modernisierungsprozess.

Das klingt so abstrakt referiert vielleicht nicht besonders eindrucksvoll, wird aber durch eine ganze Reihe empirisch gehaltvoller und jedenfalls anekdotisch belegter Hypothesen interessant und relevant. Deshalb sollen die konkreten Hypothesen, mit denen Huntington seine abstrakten Thesen unterlegt, jedenfalls angedeutet werden. Über einige kann man ab initio streiten, jede einzelne bedarf der Prüfung und manche dürften im Ergebnis unhaltbar sein. Aber eine solche Sammlung prägnanter Hypothesen in einem relativ so kurzen, klar geschriebenen Text – das mache ihm erst einmal jemand nach.

1)  In den USA ebenso wie in England war das 19. Jahrhundert viel stärker von Korruption geprägt als das 18. und das 20. (S. 59)

2) Korruption in der Modernisierungsphase darf man nicht als individuell abweichendes Verhalten interpretieren. Es geht vielmehr um den Konflikt zwischen neuen und den etablierten Normen. (S. 60)

3) Werden traditionelle Normen in Frage gestellt, so verlieren Normen überhaupt an Legitimität.  (S. 60)

4) Der Konflikt zwischen traditionellen und modernen Normen eröffnet für den Einzelnen Handlungsmöglichkeiten, die weder aus der einen noch aus der anderen Sicht legitimiert sind. (S. 60)

5) Wird Leistungsorientierung zum neuen Standard, so führt das zunächst zu größerer Identifizierung mit der Familie und folglich dem Wunsch, Familieninteressen gegenüber der neuartigen Bedrohung zu schützen. (S. 60)

6) Korruption der Reichen: Gewinnen im Zuge der Modernisierung neue Gruppen Reichtum, so bietet Korruption ihnen einen Zugang zur Politik. (S. 61)

7) Korruption der Armen: Die Massen, die im Zuge der Modernisierung das Wahlrecht erhalten, tauschen ihre Stimme gegen politische Versprechen. (S. 61)

8) Das Ausmaß, in dem die durch Verrechtlichung aufgebaute Opportunity-Structure für Korruption genutzt wird, hängt davon ab, wieweit das Recht von der Bevölkerung akzeptiert ist, wie leicht Verstöße verborgen bleiben und welchen Gewinn sie versprechen. (S. 62)

9) Zoll- und Steuergesetze, Gesetze zur Regulierung des Handels und besonders verbreiteter und profitabler Aktivitäten wie Glückspiel, Prostitution und Drogen sind besonders korruptionsanfällig. (S. 62)

10)  Werden im Zuge der Modernisierung durch politische Entscheidungen und Gesetze bestimmte Gruppen zurückgesetzt, so wehren sie sich durch Korruption. ( S. 62)

11)  Der mit der Modernisierung verbundene Norm- und Wertewandel wird in der Regel zunächst von Studenten, Militärs und anderen (Akademikern?) rezipiert, die im Ausland waren. (S. 60)

12)  Die Protagonisten der Modernisierung in einem Entwicklungsland treiben ihre Norm-und Wertvorstellungen oft auf die Spitze. Ihre Einstellung kommt damit dem Fanatismus gleich, der im Anfangsstadium vieler Revolutionen und mancher Militärregime zu beobachten ist. (S. 62)

13)  Die puritanische Übertreibung neuer Standards führt zur Abwertung und Zurückweisung von Verhandlung und Kompromiss in der Politik und eventuell sogar dahin, dass Politik schlechthin mit Korruption identifiziert wird. (S. 62)

14)  Eliten auf dem Modernisierungspfad sind nationalistisch und betonen die alles überragende Bedeutung des Gemeinwohls. (S. 62)

15)  Die überzogene Antikorruptions-Mentalität hat ähnliche Folgen wie die Korruption selbst: Beide richten sich gegen die Autonomie der Politik. Die Korruption ersetzt politische Ziele durch private Interessen, der Antikorruptionsgestus ersetzt Politik durch Technokratie, die dem Gemeinwohl wenig nützt. (S. 63)

16)  Bei der Ächtung der Korruption geht es manchmal inkonsequent zu. Was gemeint ist zeigt das Beispiel: Zu einem bestimmten Zeitpunkt akzeptierte man in England zwar den Kauf von Botschafterposten, nicht jedoch den Kauf von Adelstiteln, in den USA wiederum zwar den Kauf von Boschafterposten, nicht jedoch den von Richterstellen. (S. 63)

17)  Mit der Korruption steht es sowohl hinsichtlich der Ursachen als auch hinsichtlich der Wirkungen ähnlich wie mit der Gewalt. Beide zeigen eine Schwäche der politischen Institutionen an. (S. 63)

18)  Eine Gesellschaft die zur Korruption neigt, neigt auch zur Gewalttätigkeit. Korruption und Gewalt können sich wechselseitig ersetzen, noch öfter treten sie zusammen auf. (S. 63f.)

19)  Korruption ersetzt ein Verhandlungsergebnis. Gewalt ersetzt einen politischen Konflikt. (S. 64)

20)  Sowohl Gewalt als auch Korruption stellen illegitime Forderungen an das politische System. Korruption führt oft auch zur Erfüllung solcher Forderungen. Gewalt bleibt eher eine unerwiderte Geste des Protests. (S. 64)

21)  Gewalt ist noch schädlicher als Korruption. (S. 64) Wer die Polizei nur besticht, scheint sich immerhin mit deren Existenz abzufinden, anders als derjenige, der die Polizeiwache stürmt. (S. 64)

22)  Korruption kann Gruppen, die sonst vom politischen Verteilungskampf ausgeschlossen wären, zu Vorteilen verhelfen, die verhindern, dass sie sich der Gesellschaft entfremden. Insofern kann Korruption ähnlich wie eine Reform der Erhaltung des politischen Systems dienen und vielleicht sogar eine Revolution abwenden. (S. 64)

23)  Eine in sich homogene vormoderne Gesellschaft entwickelt im Zuge der Modernisierung weniger Korruption als eine Gesellschaft, in der unterschiedliche Traditionen und Werte konkurrieren.

24)  Ist eine vormoderne Gesellschaft durchgehend in Kasten und Klassen geschichtet, entwickelt sie im Zuge der Modernisierung weniger Korruption als eine egalitäre Gesellschaft, weil das System der Schichtung stark normiert zu sein pflegt. Die Modernisierung feudaler Gesellschaften geht daher mit weniger Korruption einher als diejenige von zentralisiert verwalteten. Daher z. B. in Japan weniger Korruption als in China. (S. 64f., 66) [3]In der Sache bestätigt von Susanne Karstedt, Macht, Ungleichheit und Korruption: Strukturelle und Kulturelle Determinanten im Internationalen Vergleich, Kölner Zeitschrift für Soziologie und … Continue reading

25)  Staaten, in denen die Stimmabgabe vor allem entlang von Klassengrenzen erfolgt England, Australien), haben weniger Korruption gezeigt als andere (USA, Kanada). (S. 65)

26)  Eine Regierung, die sich  aus einer Oberklasse mit einem Ehrenkodex rekrutiert, ist weniger bestechlich als eine Regierung aus Aufsteigern. (S. 65)

27)   In einer Gesellschaft, die gute Aufstiegsmöglichkeiten bietet wie in den USA, führt der Weg zur Politik über das Geld. In einer Gesellschaft ohne die Möglichkeit, Vermögen zu erwerben, führt der Weg zum Geld über die Politik.

28)  Die Anwesenheit ausländischer Investoren in einem Entwicklungsland fördert die Korruption, weil diese weniger Skrupel haben, die lokalen Normen zu verletzen, aber auch, weil sie die Wirtschaft soweit im Griff haben, dass die Einheimischen den Weg zum Reichtum über die Politik suchen müssen. (S. 66)

29)  Nur in Ländern mit sehr schwachen Institutionen und fehlenden Aufstiegsmöglichkeiten (Beispiele aus Afrika sowie Mittel- und Südamerika) sind gerade auch die oberen Ränge besonders bestechlich. (S. 67)

30)  Massive Korruption bis hin zu Regierungsspitze führt nicht gleich zur Instabilität des politischen Systems, solange Aufwärtsmobilität über Politik oder Bürokratie möglich bleiben. (S. 67)

31)  Mit fortschreitender Modernisierung konzentriert sich die Korruption auf die unteren Ränge der Verwaltungshierarchie. (S. 68) Schließlich ist die Regierungsspitze weitgehend korruptionsfrei. (68)

32)  Korruption, die durch die Zunahme staatlicher Regulierung veranlasst ist, kann das wirtschaftliche Wachstum stimulieren. Viele Straßen, Bahnen oder Industrieanlagen würden ohne Korruption überhaupt nicht gebaut. »In terms of economic growth, the only thing worse than a society with a rigid, overcentralised, dishonest bureaucracy is one with a rigid, overcentralised, honest bureaucracy.« (S. 69)

33)  Korruption verstärkt oder verfestigt tendenziell eine schwache Staatsbürokratie. (S. 69)

34)  Korruption gibt es erst im Zuge der Modernisierung mit dem Wachsen politischem Bewusstsein und politischer Partizipation. Diese Partizipation zu kanalisieren ist die Aufgabe der politischen Parteien. (S. 70f.)

35)  In den meisten Ländern, die sich modernisieren, ist die Bürokratie im Vergleich zur Organisation der politischen Interessen, insbesondere in den Parteien, überentwickelt.  In diesen Fällen kann es für die Entwicklung des politischen Systems hilfreich sein, wenn die Bürokratie zugunsten der Parteien korrupt ist. Die Begünstigung politischer Parteien ist eine milde Form der Korruption, wenn sie überhaupt diesen Namen verdient. (S. 68)

36)  Starke politische Parteien sind entweder durch Revolution oder durch Begünstigung von oben entstanden. In Entwicklungsländern muss der Staat eine größere Rolle bei der Formierung der Parteien übernehmen (Beispiele Türkei, Mexiko, Südkorea). (S. 70)

37)  Die Korruption in Westafrika hängt zum Teil mit dem Fehlen politischer Parteien zusammen. (S. 70)

Huntington (1927-2008) war mit seinen vielen prägnanten Aussagen alles andere als ein Langweiler. Aber er gilt, nicht zuletzt wegen seiner These vom Clash of Civilizations, als Konservativer, von dem man sich zu distanzieren hat, nicht selten nach dem Motto, dass nicht wahr sein kann, was nicht wahr sein darf. Und so wird heute auch sein Text zum Verhältnis von Modernisierung und Korruption behandelt. Seine These, dass im Zuge der Modernisierung einer Gesellschaft gewisse Formen von Korruption relativ funktional sein könnten, wird dahin missverstanden, er habe behauptet, Korruption könne schlechthin funktional sein. Und das ist politisch natürlich ebenso inkorrekt, wie die andere Kernaussage, dass Entwicklungsländer unvermeidlich korruptionsanfällig seien. Die Unvermeidbarkeitsthese wird kurzerhand als widerlegt abgefertigt. [4]Durch Patrick von Maravic, Korruptionsanalyse als Analyse von Handlungssituationen – ein konzeptioneller Vorschlag, in: Kai Birkholz u. a. (Hg.), Public Management – eine neue Generation in … Continue reading Die Belege, die dazu herangezogen werden, ergeben, liest man dort nach, eher das Gegenteil. Es handelt sich um Montinola/Jackmann [5]Gabriela R. Montinola/Robert W. Jackman, Sources of Corruption: A Cross Country Study, British Journal of Political Science, 32, 2002, 147-170, dort auf S. 148. und Simcha 1983 [6]B. Werner Simcha, New Directions in the Study of Administrative Corruption, Public Administration Review 43, 1983, 146-154, dort ebenfalls auf S. 148.. Simcha setzt sich nicht wirklich mit dieser These auseinander, sondern stellt darauf ab, dass in allen Ländern Korruption an der Tagesordnung sei. Das hatte Huntington nicht in Abrede gestellt. Zu dem unterschiedlichen Niveau von Korruption in verschiedenen Ländern macht Simcha keine Aussage. Montinola/Jackmann befassen sich an der angegebenen Stelle nur mit der Funktionalitätsthese, die sie keineswegs ganz verwerfen. Ihr empirischer Beitrag besteht unter anderem in dem Nachweis, dass die Korruption mit der Zunahme des Bruttosozialprodukts je Einwohner zurückgeht. Das ist viel eher eine Bestätigung der Unvermeidbarkeitsthese.
Viele der Einzelhypothesen sind längst – mit oder ohne Bezug auf Huntington – Gegenstand empirischer Prüfung gewesen. [7]Für einen Überblick über die Forschung vgl. z. B. Lorenzo Pellegrini/Reyer Gerlagh, Causes of Corruption: A Survey of Cross-country Analyses and Extended Results, Economics of Governance 9, 2007, … Continue reading

 

Anmerkungen

Anmerkungen
1 5. Aufl., 1999, 377-388. In beiden Versionen ist der Text im Internet zugänglich.
2 Huntington spricht nur von drei Gründen. Was ich hier unter »drittens« referiere, gehört bei ihm noch zu »Zweitens«, ist aber m. E. ein selbständiger »Grund«.
3 In der Sache bestätigt von Susanne Karstedt, Macht, Ungleichheit und Korruption: Strukturelle und Kulturelle Determinanten im Internationalen Vergleich, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Sonderheft 43, 2003, 384-412.
4 Durch

Patrick von Maravic, Korruptionsanalyse als Analyse von Handlungssituationen – ein konzeptioneller Vorschlag, in: Kai Birkholz u. a. (Hg.), Public Management – eine neue Generation in Wissenschaft und Praxis 2006, 97-126, dort S. 103f.

5 Gabriela R. Montinola/Robert W. Jackman, Sources of Corruption: A Cross Country Study, British Journal of Political Science, 32, 2002, 147-170, dort auf S. 148.
6 B. Werner Simcha, New Directions in the Study of Administrative Corruption, Public Administration Review 43, 1983, 146-154, dort ebenfalls auf S. 148.
7 Für einen Überblick über die Forschung vgl. z. B. Lorenzo Pellegrini/Reyer Gerlagh, Causes of Corruption: A Survey of Cross-country Analyses and Extended Results, Economics of Governance 9, 2007, 245-263.

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Crude Witchcraft

Noch einmal komme ich auf den Sammelband »Crude Domination« zurück, den ich im Eintrag vom 4. 11. 2012 vorgestellt hatte [1]Andrea Behrends/Stephen P. Reyna/Günther Schlee (Hg.), Crude Domination, An Anthropology of Oil, Berghahn Books, New York 2011., nunmehr nach der Lektüre des Beitrags der schwedischen Sozialanthropologin Kajsa Ekholm Friedman (S. 107-131). Er trägt die Überschrift »Elves and Witches: Oil Kleptocrats and the Destruction of Social Order in Congo-Brazzaville«. In dem Beitrag Reynas [2]Ste­phen P. Reyna, Con­sti­tu­ting Domination/Constructing Mons­ters, 132–162. ging es um Gerüchte über Zauberei, bei Ekholm Friedman jetzt um Hexenglauben. Der deutsche Leser fragt sich unwillkürlich, ob die Übersetzung von witchcraft mit Hexerei angesichts der mit dem Ausdruck verbundenen Konnotationen angemessen ist. Aber solche Skrupel wären auch schon gegenüber dem englischen Begriff angezeigt, und man darf sich wohl damit beruhigen, dass auch Anthropologen im Deutschen von Hexerei reden [3]Vgl. Erdmute Alber, Hexerei, Selbstjustiz und Rechtspluralismus in Benin, in: Rolf Kappel u. a. (Hg.), Rechtsstaatlichkeit im Zeitalter der Globalisierung, Freiburg im Breisgau 2005, S. 375-402., zumal eine handliche Alternative nicht verfügbar ist. Von Aberglauben zu reden wäre politisch unkorrekt.

Schon von Reyna konnte man lernen, wie Anthropologen nach dem Vorbild von Evans-Pritchard zwischen Hexerei und Zauberei unterscheiden. Ein Zauberer verwendet Utensilien oder greift selbst handelnd ein wie die menschenfressenden Löwenmänner. Der Hexer dagegen kann durch seine bloße Existenz Kausalverläufe zum Bösen wenden. Aber wichtiger als der Unterschied ist das Gemeinsame in den Beiträgen von Reyna und Ekholm Friedman. Beide zeigen, wie die Menschen angesichts der Verletzungen, die ihnen die ölgetriebene Modernisierung in ihrer Heimat zufügt, mit magischen Vorstellungen reagieren.

Ekholm Friedman will erklären, warum in Afrika, und speziell in Kongo-Brazzaville, häufig Jugendliche der Hexerei beschuldigt werden. Das Phänomen scheint nicht unbedeutend zu sein. Entgegen der Erwartung, dass nach der Berührung mit der Moderne okkulte Vorstellungen und Praktiken an Bedeutung verlieren, scheinen sie im Gegenteil jedenfalls in Afrika, und zwar besonders dort, wo die Menschen unter Bürgerkriegen und anderen humanitären Katastrophen zu leiden haben, eher zuzunehmen. [4]Michel Adam, Magic, Witchcraft and Sorcery in Contemporary Africa, Les Cahiers d’Afrique de l’Est IFRA Nr. 31, 2006; Aleksandra Cimpric, Children Accused of Witchcraft. An Anthropological … Continue reading Auf der Internetseite Modern Ghana wird unter dem 18. Juni 2012 ausführlich und mit Bildern von einer Hexenjagd im nigerianischen Bundesstaat Akwa Ibom berichtet. [5]Dave Emma, Witch Hunting Continues In Akwa Ibom State, As Government Official Backs Witch-Hunters. Ein (wohl schon etwas älteres) Video mit grausamen Bildern von einer Hexenverbrennung findet man … Continue reading ALJAZEERA meldet im November 2012, sei es in Akwa Ibom gesetzlich verboten habe, Kinder der Hexerei zu beschuldigen. Daher ist jeder Versuch, das Phänomen wissenschaftlich zu erklären, willkommen.

Ekholm Friedman stellt in einem ersten Schritt fest, dass Hexerei seit jeher einen zentralen Aspekt afrikanischer Kultur bilde (S. 108). Sie distanziert sich insoweit von der Ansicht, der Okkultismus sei eine neu oder wieder erfundene Tradition [6]So etwa Cimbric S. 1, 5., und damit auch von der These von Peter Geschiere [7]Peter Geschiere, The Modernity of Witchcraft, Politics and the Occult in Postcolonial Africa, Charlottesville [Va.] 1997. Ich hatte nur die »Leseprobe»« bei Google-Books zur Verfügung., Hexenglaube und Zaubereigerüchte seien selbst (nur) ein modernes Phänomen, weil sie als Hilfe zum Umgang mit der Angst bemüht werden, die aus der Begegnung mit der Moderne resultiert. Die aktuellen Ausprägungen im Kongo erklärt Ekholm Friedman jedoch sehr wohl als Reaktion auf die Wunden, die die missglückten Modernisierungsversuche aus der Zeit vor und vor allem nach der Unabhängigkeit gerissen haben. Der Glaube an magische Kräfte habe seine Wurzeln schon in vorkolonialer Religion, nämlich in der Idee, dass Lebenskraft von Gott über die Vorfahren und die politische Hierarchie der Könige und Häuptlinge bis hinunter zum Familienvater fließe. Die Vorstellung, dass bestimmte Menschen, über magische Kräfte verfügten, verbinde sich mit dem Glauben, dass nächtliche Träume nicht weniger real seien als die Tagwelt. Traditionell wurden übernatürliche Fähigkeiten aus der Traumwelt jedoch nur auf ältere Menschen transponiert, denen dann auch im Alltag die Fähigkeit beigelegt wurde, Böses zu tun, durchaus auch mit der Folge, dass sie als Hexer oder Hexen zu Tode gebracht wurden. Neu in den letzten 20 Jahren sei aber, dass jetzt vor allem Jugendliche der Hexerei beschuldigt und entsprechend verfolgt würden. Ekholm Friedman erklärt diese Verschiebung als Folge der Zerstörung der sozialen Ordnung und der allgemeinen Verarmung im nachkolonialen Kongo. Die Familienväter seien nicht länger in der Lage, den life spirit an die jüngere Generation weiter zu geben.

Ähnlich, aber viel ausführlicher hatte Ekholm Friedmann schon den ausufernden Fetischismus um die Wende zum 19. Jahrhundert zwar als konkrete als Reaktion auf die Zerstörung der politischen und damit der gesellschaftlichen Ordnung im Kongo erklärt, zugleich aber die unter Anthropologen anscheinend verbreitete Ansicht zurückgewiesen, Afrika habe vor der Kolonialisierung eigentlich keine eigene Religion gehabt. [8]in: Kajsa Ekholm Friedman/Jonathan Friedman, Modernities, Class, and the Contradictions of Globalization, The Anthropology of Global Systems, Lanham, MD 2008, S. 29-88.

Der mittlere Teil des Artikels (S. 110-121) bildet eine selbständige Abhandlung, die den Niedergang von Kongo-Brazaville seit der Unabhängigkeit im Jahre 1960 schildert. Es ist eine ähnlich traurige Geschichte, wie sie Reyna für den Tschad erzählt hat. Anfangs, also 1960, war Kongo-Brazzaville ein für afrikanische Verhältnisse relativ wohlhabendes und entwickeltes Land, das sogar über eine Exportindustrie verfügte. Der unabhängige Staat war jedoch von Beginn an mehr oder weniger identisch mit einer Klasse von Machthabern, bestehend aus einem hierarchischen Zentrum und umgeben von einer Peripherie schlecht bezahlter Klienten. Die politische Klasse ist (heute) selbst im Weltmaßstab reich, denn sie kontrolliert alle von außerhalb einfließenden Gelder, Einnahmen aus der Erdölförderung ebenso wie Auslandsdarlehen und Entwicklungshilfe. Die enge Kooperation mit den Ölmultis macht sie unabhängig von einer Basis in der Bevölkerung, die weder als Steuerzahler noch als Arbeitskraft gebraucht werden. Das ist der Fluch des Ölreichtums (the resource curse). Von den Öleinnahmen kassiern der Ölminister 5 %, der Präsident 10 % und der Rest dient zur Finanzierung des Staatsapparats, vor allem aber des Militärs. Die weiteren Zutaten sind schnell aufgezählt: Wiederholte, teilweise gewaltsame Umstürze, über zwei Jahrzehnte ein sozialistisches Zwischenspiel, das die Exportorientierung zugunsten einer auf Autarkie gerichteten Abkopplung vom Weltmarkt favorisierte; ein Einparteiensystems, das die mögliche Opposition vereinnahmt. Nach Einführung der Mehrparteiendemokratie auf Drängen vor allem des IMF 1990 wurde alles nur noch schlimmer. Zwar wurde der unersättlich geldgierige Präsident Denis Sassou-Nguesso 1992 abgewählt. Doch durch die Stimmabgabe entlang den ethnischen Zugehörigkeiten verschoben sich die Machtverhältnisse und das Land zerfiel in drei ethnisch geprägte Regionen. Ein neuer Politikertyp tauchte auf, der junge Männer aus der eigenen ethnischen Gruppe als Bodygards und Miliz rekrutierte. 1997 kehrte der vom Ölkonzern Elf (jetzt Total) favorisierte Sassou aus dem Exil zurück. Es folgte ein schrecklicher Bürgerkrieg, indem sich Sassou mit Söldnertruppen und ausländischer Hilfe durchsetzte. Und immer spielten der Ölkonzern und Frankreich irgendwie mit. Das Ergebnis waren die Zerstörung aller sozialen Ordnung, generelle Verarmung, Unsicherheit und Gewalt überall. Das Öl geht langsam zur Neige und Sassou ist (nach einer Wiederwahl für sieben Jahre 2009) immer noch im Amt.

Die Zerstörung der Familien und der (erst in der Kolonialzeit neu gebildeten) Clanstrukturen ließ viele Jugendliche verwahrlosen, so dass sie in Straßengangs eine neue Heimat fanden oder sich leicht von Milizen anwerben ließen. Während früher gelegentlich Kinder ihre Eltern der Hexerei anklagten, waren es nach der Bürgerkriegszeit 1992/93 umgekehrt Kinder, die derart beschuldigt wurden, meistens allerdings nicht die leiblichen Kinder, sondern verwaiste Kinder aus dem Clan, die aus traditioneller Solidarität in die Familie aufgenommen worden waren. Wenn die Fähigkeit der Familie, Lebenskraft zu spenden, versage, würden umgekehrt den Jugendlichen magische Fähigkeiten zur Zerstörung zugesprochen. Und die Betroffenen wehrten sich oft gar nicht dagegen, erlebten sie doch im Traum ihre außerordentlichen Fähigkeiten selbst. Die magischen Kräfte würden als Gegengewicht zu den aus dem Westen importierten Wundern der Technik verstanden. Und so bilde der in vorkolonialer Religion verankerte Glaube an magische Kräfte verbunden mit dem Glauben an die Realität der Traumwelten eine Art kulturellen Widerstandes gegen die westliche Zivilisation und gegen die eigene politische Klasse.

Eigentlich müsste man parallel Rainer Becks Buch über einen letzten Hexenprozesse in Deutschland lesen [9]Rainer Beck, Mäuselmacher, C. H. Beck, München, 2001., der 1717 mit der Exekution von drei »Bettelbuben« endete. Das scheitert bei mir schon daran, dass das Buch 1008 Seiten hat. Aber beim Durchblättern fällt eine Parallele auf: Während im 16. und 17. Jahrhundert der typische Hexenprozess gegen ältere Frauen gerichtet war, wurden zu Beginn des 18. Jahrhundert in Freising und anderswo vagierende Jugendliche zu Opfern. Noch stärker ist allerdings die Diskrepanz zu afrikanischen Verhältnissen. In Europa war die Hexenverfolgung eine von kirchlichen und lokalen Autoritäten minutiös bürokratisch organisierte Angelegenheit. In Afrika bleibt sie eher kollektiver Gewalt überlassen.  Und dennoch drängt sich die Frage nach Vergleichsmöglichkeiten auf. Von den Anthropologen wird sie nicht aufgenommen. Hätten nicht Kajsa Ekholm-Friedman und Jonathan Friedman in der Einleitung zu ihrem Buch von 2008 die soziologische Modernisierungstheorie so rigoros zurückgewiesen, käme man vielleicht auf die Idee, für Afrika von einer unvollendeten Modernisierung zu sprechen. So bleibt der Eindruck, die Gerüchte von Zauber und Gegenzauber und die Suche nach Hexen seien ohnmächtige Reaktionen auf die erzwungene Berührung mit einer dauerhaft fremden Moderne.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Andrea Behrends/Stephen P. Reyna/Günther Schlee (Hg.), Crude Domination, An Anthropology of Oil, Berghahn Books, New York 2011.
2 Ste­phen P. Reyna, Con­sti­tu­ting Domination/Constructing Mons­ters, 132–162.
3 Vgl. Erdmute Alber, Hexerei, Selbstjustiz und Rechtspluralismus in Benin, in: Rolf Kappel u. a. (Hg.), Rechtsstaatlichkeit im Zeitalter der Globalisierung, Freiburg im Breisgau 2005, S. 375-402.
4 Michel Adam, Magic, Witchcraft and Sorcery in Contemporary Africa, Les Cahiers d’Afrique de l’Est IFRA Nr. 31, 2006; Aleksandra Cimpric, Children Accused of Witchcraft. An Anthropological Study of Contemporary Practices in Africa, Unicef Dakar April 2010.
5 Dave Emma, Witch Hunting Continues In Akwa Ibom State, As Government Official Backs Witch-Hunters. Ein (wohl schon etwas älteres) Video mit grausamen Bildern von einer Hexenverbrennung findet man auf der Seite LiveLeak.
6 So etwa Cimbric S. 1, 5.
7 Peter Geschiere, The Modernity of Witchcraft, Politics and the Occult in Postcolonial Africa, Charlottesville [Va.] 1997. Ich hatte nur die »Leseprobe»« bei Google-Books zur Verfügung.
8 in: Kajsa Ekholm Friedman/Jonathan Friedman, Modernities, Class, and the Contradictions of Globalization, The Anthropology of Global Systems, Lanham, MD 2008, S. 29-88.
9 Rainer Beck, Mäuselmacher, C. H. Beck, München, 2001.

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Crude Sorcery

Ethnologen, Sozialanthropologen und die zahlreichen auf Entwicklung und Entwicklungsländer spezialisierten Forschungseinrichtungen [1]Eine ganz unvollständige Aufzählung im Posting vom 14. 7. 2012: Die Rolle des Rechts im Prozess der nachholenden Modernisierung. bieten Informationen beinahe im Überfluss. Man kann nicht alles lesen und als Fachfremder nur schwer verallgemeinern. Vor diesem Problem stehe ich bei der weiteren Lektüre des Sammelbandes »Crude Domination«, den ich in einem Eintrag vom 4. 11. 2012 vorgestellt hatte. Heute habe ich mir die Beiträge der Herausgeber Behrends und Reyna vorgenommen. [2]Reyna und Behrends gehören zu den Gründern des Centre for Research in Anthropology and Human Sciences (CRASH) in N‘Djaména (Tschad).
Der Beitrag der englischen Anthropologen Stephen P. Reyna ist überschrieben »Constituting Domination/Constructing Monsters« (S. 132-162). Er trägt den Untertitel »Imperialism, Cultural Desire and Anti-Beowulfs in the Chadian Petro-state« und ist vollständig bei Google-Books nachzulesen. Reyna will erklären, warum sich in der Ölregion des Tschad Gerüchte verbreitet haben, in der Nacht seien menschenfressende lionmen (Löwenmänner, Menschenlöwen?) unterwegs. Er hat seine Erklärung doppelt verpackt und mit einem bunten Aufkleber versehen.
Als Aufkleber dient die Geschichte von Beowulf, der dem dänischen König Hrothgar im Kampf gegen das Trollmonster Grendel zur Hilfe eilte. Den Grendel spielt in Reynas Geschichte das Konsortium aus Esso, Petronas und Chevron, das in der Doba-Region des Tschad die Ölförderung betreibt. Hrothgar ist wohl die einheimische Bevölkerung, die unter der Kollusion von Ölindustrie und der Staatselite des Tschad zu leiden hat. Die Analogie zum Beowulf besteht darin, dass in der Bevölkerung das Ölkonsortium als Monster wahrgenommen wird, dass über Zauberkräfte verfügt. So entstehen in den Köpfen die lionmen als Beowulfs, die das Ölmonster bekämpfen. Wie so oft, wenn Wissenschaftler Mythologie oder Literatur bemühen, entsteht auch hier nur Schaum.
Die äußere Hülle der Geschichte findet ihren Platz in der der Rubrik »Mogelpackung« der Stiftung Warentest. Als ozeangängiger Container für ein mittelgroßes Postpaket dient der »informale« Imperialismus der USA. Der Container scheint aus »Plunder« von Ugo Mattei und Laura Nader zu stammen. Die innere Hülle, die den Inhalt stoßfest halten soll, ist der Entwurf einer kompletten Gesellschaftstheorie, die als »Struktureller Realismus« daher kommt, als gäbe es keine Soziologie. Die einzige explizite Anleihe ist das Konzept der performativity logic von Judith Butler, ein Konzept, das seinerseits durch seine Soziologievergessenheit auffällt. Im konkreten Fall wäre das Erzählmuster von der Spinne in der Yucca-Palme kaum weniger erklärungskräftig. Man kann die Verpackung getrost entsorgen. Der Inhalt steht für sich.
Die Erklärung für die Lionmen-Gerüchte entfaltet sich in drei Schritten. Im ersten stellt Reyna die Entwicklung des Tschad seit der Unabhängigkeit von Frankreich 1960, das Eindringen der Erdölindustrie und ihre Komplizenschaft mit der Staatselite dar. Diese Entwicklung kam 2003 mit der Aufnahme der Erdölförderung durch »das Konsortium« zu einem gewissen Abschluss. Sie wird von Reyna als Konkurrenzkampf zwischen Frankreich und den USA um die Ausweitung und Festigung ihrer Interessensphären geschildert, in dem Frankreich sich am Ende mit seinem Favoriten Idriss Déby an der Staatspitze durchgesetzt hat, seine Beteiligung an der Ölförderung aber an das Konsortium mit der amerikanischen Esso verlor.
Im zweiten Schritt wird beschrieben, wie sich unter den Bürgerkriegswirren in der Bevölkerung ubiquitäre Angst um Hab und Gut, Leib und Leben aufgebaut hat. Für den sicherheitsbesessenen Westeuropäer, der sich nicht vorstellen kann, wie die Menschen unter den gegebenen Umständen dort leben, ist die Darstellung eindrucksvoll.
Im Anschluss daran will Reyna erklären, wie »das Konsortium« in den Augen der Bevölkerung zum unförmigen Monster wurde, dass für die Übel der Vergangenheit und Gegenwart verantwortlich gemacht wird, obwohl es sich selbst als Wohltäter der Region darstellt. Die Selbstdarstellung [3]Eine Selbstdarstellung des Konsortiums findet man unter http://www.essochad.com/. wird als cloaking abgetan. Irgendwie fehlt dem Leser aber doch eine Würdigung der anfangs hoch gepriesenen Einigung der Weltbank mit Ölindustrie und Regierung von 2001, die Beeinträchtigungen der indigenen Bevölkerung und der Umwelt durch die Ölförderung auszugleichen und einen erheblichen Teil der Öleinnahmen zur Entwicklung des Landes zu verwenden. Es ist bekannt, dass dieser Akkord von der Regierung beiseitegeschoben wurde mit der Folge, dass die Weltbank ausstieg [4]World Bank Statement on Chad-Cameroon Pipeline.. Doch selbst dann, wenn das Konsortium sich weiterhin bemüht haben sollte, Umwelt und Bevölkerung zu schonen und vielleicht sogar zu entwickeln, so hättees die Wunden der Vergangenheit nicht heilen können. Deshalb ist es einleuchtend, dass »das Konsortium« für die Bevölkerung zum Sündenbock wurde. Die Entwicklung des Sündenbocks zum Monster ist die afrikanische Zutat. Dazu deutet Reyna (S. 152) die besondere Weltsicht der Menschen im Tschad an, die neben der sichtbaren eine unsichtbare Welt kennt, in der sich Unerklärliches ereignet. In dieser Welt gibt es Hexen und Zauberer. Zu dem Bestand magischer Vorstellungen gehört auch, dass bestimmte Menschen sich in Löwen verwandeln und ihre Opfer fressen können. Dem Öl-Konsortium, das alle Wunder der Technik zum Einsatz bringt, unter anderem Radarpistolen, mit denen Wachleute die Geschwindigkeit von Autos messen, werden magische Kräfte zugeschrieben. Aus dem Sündenbock wird ein Monster mit Zauberkräften, dessen Mitarbeiter Menschen fressen. Als eine Form der Gegenwehr entsteht die Vorstellung, es seien Löwenmenschen unterwegs, die des Nachts die Zauberer vom Konsortium fräßen. »Those spreading the rumors were … not people who had directly seen the consortium sorcers or the lionmen, but they got the story from somebody who knew. So … Doba Basin people learned: Consortium employee sorcerers ate villagers; villager lionmen ate consortium employees.« (S. 157)
Der fachfremde Leser kann diese Erklärung nachvollziehen. Aber seine Fragen sind damit nicht beantwortet. Er möchte Genaueres über die Verbreitung und Relevanz der Zauber-Gerüchte wissen. In der Einleitung hatte Reyna mitgeteilt, dass er von dem Löwenmann-Gerücht 2003 in einem Gespräch mit seinem Fahrer erfahren habe. 2002/2003 und 2007 hat Reyna in Interviews von Menschen aus allen Bevölkerungsschichten, ausgenommen einige höhere Beamte, stark negative Urteile über das Konsortium gehört. Ob und wie häufig ihm dabei auch das Löwenmann-Gerücht begegnet ist, sagt er nicht. Der Leser wüsste auch gerne, ob das Löwenmann-Gerücht mehr ist als ein kleines Trostpflaster, insbesondere, ob es eine Basis für realen Widerstand bildet. Der Leser hätte aber auch gerne mehr über die afrikanischen Eliten erfahren. Anscheinend interessieren sich die Anthropologen wenig für diese Eliten oder sie finden keinen Zugang. Wie kann es angehen, dass nach über 50 Jahren Unabhängigkeit der Tschad immer noch und immer wieder als failed state erscheint? Die Erklärung aus der kolonialen Vergangenheit oder – bei Peyna – als Produkt eines ressourcengierigen US-Kapitalismus ist einfach zu simpel, um Gehör zu finden. Da argumentiert die Mitherausgeberin Andrea Behrends sehr viel differenzierter.
Ihr Beitrag ist überschrieben »Fighting for Oil When Tere is No Oil Yet. The Darfour Chad Border« (S. 81-106). Behrends präsentiert die ganze Vielfalt der lokalen nationalen und internationalen Akteure, die an den offenen und latenten Bürgerkriegszuständen beteiligt sind, und ihre mutmaßlichen Interessen und Beweggründe. Sie probiert verschiedene Thesen, die zur Erklärung des Geschehens angeboten werden, so diejenige von Collier und Höffler, dass die Bürgerkriege direkt durch Öleinnahmen geschürt werden [5]Paul Collier/Anke Hoeff­ler, Greed and Grie­vance in Civil War, Oxford Eco­no­mic Papers 56, 2004, 563–595 (hier zitiert nach einer im Inter­net ver­füg­ba­ren Fas­sung von 2002)., oder die Annahme von Michael Ross [6]Im Internet verfügbar »Natural Resources and Civil War: An Overview« (2003)., dass Ressourcen, die wie das Öl ortsfest sind und nur mit großen Investitionen mobilisiert werden können, separatistische Konflikte, oft entlang ethnischer Trennlinien, befördern. Und sie prüft natürlich die These vom Fluch des Öls, wie sie von Terry L. Karl [7]Sein Buch von 1997 (The Perils of Petroleum: Reflections on the Paradox of Plenty) habe ich nicht zur Verfügung. Im Internet zugänglich ist jedoch von Karl das Working Paper »Oil-led Development: … Continue reading formuliert wurde. Behrends findet keine der angebotenen Theorien für sich genommen ausreichend und differenziert zwischen den Verhältnissen im Tschad und in Darfour. Die Details sind so komplex, dass ein kurzes Referat sie verstümmeln müsste. Bei Google-Books kann man Behrends‘ Beitrag jedenfalls zum größeren Teil nachlesen, besser als gar nicht.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Eine ganz unvollständige Aufzählung im Posting vom 14. 7. 2012: Die Rolle des Rechts im Prozess der nachholenden Modernisierung.
2 Reyna und Behrends gehören zu den Gründern des Centre for Research in Anthropology and Human Sciences (CRASH) in N‘Djaména (Tschad).
3 Eine Selbstdarstellung des Konsortiums findet man unter http://www.essochad.com/.
4 World Bank Statement on Chad-Cameroon Pipeline.
5 Paul Collier/Anke Hoeff­ler, Greed and Grie­vance in Civil War, Oxford Eco­no­mic Papers 56, 2004, 563–595 (hier zitiert nach einer im Inter­net ver­füg­ba­ren Fas­sung von 2002).
6 Im Internet verfügbar »Natural Resources and Civil War: An Overview« (2003).
7 Sein Buch von 1997 (The Perils of Petroleum: Reflections on the Paradox of Plenty) habe ich nicht zur Verfügung. Im Internet zugänglich ist jedoch von Karl das Working Paper »Oil-led Development: Social, Political and Economic Consequences« (2009) sowie von Ian Gary und Terry L. Karl »Bottom of the Barrel: Africa’s Oil Boom and the Poor« 2003.

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Wie Modernisierung auf Erdöl ausrutscht: »Crude Domination«

Will man sich nicht mit Zeitungsleserwissen zufrieden geben, so bieten Ethnologen, Anthropologen und die zahlreichen auf Entwicklung und Entwicklungsländer spezialisierten Forschungseinrichtungen [1]Eine ganz unvollständige Aufzählung im Posting vom 14. 7. 2012: Die Rolle des Rechts im Prozess der nachholenden Modernisierung. Informationen beinahe im Überfluss, so dass man Schwierigkeiten hat, aus der Fülle des Gebotenen das relevante Wissen herauszuziehen. Man kann nicht alles lesen und als Fachfremder nur schwer Verallgemeinerungen treffen. Doch von Zeit zu Zeit finden sich Perlen, die andere Quellen überstrahlen und vielleicht auch ersetzen können. Eine solche Perle will ich hier vorstellen, nämlich den von Andrea Behrends, Stephen P. Reyna und Günther Schlee herausgegebenen Band »Crude Domination«. [2]Berghahn Books, New York, 2011, ISBN 9780857452559.
Der Band ist bemerkenswert, weil er das übliche ethnologisch-anthropologische Klein-Klein hinter sich lässt. Er liest sich wie eine Analyse negativer Governance. Wer von Governance redet [3]Wie z. B. Julia Eckert/Andrea Behrends/Andreas Dafinger, Governance – and the State: An Anthropological Approach. – das geschieht in diesem Buch nicht –, will analysieren, wie verschiedene Ebenen und Akteure an der Herstellung gesellschaftlicher Ordnung beteiligt sind. In der Regel werden vier Ebenen unterschieden, die lokale, die regionale, die staatlich-nationale und die globale (S. 23). Als Akteure werden genannt Individuen mit ihren Familien und Clans, ethnische Gruppen, lokale, regionale und staatliche Funktionäre und Behörden, Militär, Polizei, Rebellengruppen, auf allen Ebenen auch NGOs und Wirtschaftsunternehmen und schließlich die offiziellen Global Player wie Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IMF). »Crude Domination« konzentriert den Blick auf das Erdöl, oder vielmehr darauf, was Ölvorräte und Ölförderung in den Entwicklungs- und Transformationsländern angerichtet haben. Es geht um den Fluch des Ölreichtums (the oil’s crazy curse). Das Öl, das doch eigentlich Wohlstand und Entwicklung bringen könnte, hat in den sog. Petrostaaten vielfach zu einer verheerenden Kombination von Stillstand und Verarmung der Massen, zu oft gewaltsamen Konflikten und nicht selten zu autoritären Regimen geführt (S. 19).
Für den Fachfremden ist der wichtigste Abschnitt des Buches die Einleitung von Andrea Behrends und Stephen P. Reyna. [4]The Crazy Curse and Crude Domination, S. 3-29. Über das eingangs angedeutete Weltkrisenszenario – der Ölverbrauch steige, aber Hubbard’s Peak sei überschritten; Ersatztechnologien seien technisch und ökonomisch nicht verfügbar; so steuere die Welt auf eine lange und tiefe Depression zu, in der sie zusätzlich vom Klimawandel gebeutelt werde – lässt sich trefflich streiten, ebenso wie über den Schluss, die Zukunft der Welt hänge am Öl und wie die Menschheit davon Gebrauch mache (S. 4f.). Aber es nimmt für die Autoren ein, dass sie zunächst feststellen, der Beitrag ihres eigenen Faches, der Anthropologie, sei begrenzt; andere Sozialwissenschaften hätten schon mehr zum Thema gesagt, und dass sie dazu die wichtigsten Thesen aus Ökonomie und Politikwissenschaft referieren. Ökonomen kennen die aversen Effekte von Ressourcenreichtum, dessen Geldfluss Handel und produzierendes Gewerbe fortspült. Eine moderne Erscheinungsform ist als holländische Krankheit (dutch disease) bekannt, wenn Exportüberschüsse, wie sie in den Niederlanden nach der Entdeckung von Gasvorkommen entstanden, einen Importboom zur Folge haben, unter dem die einheimische Produktion leidet. Rohstoffvorkommen verleiten zur unproduktiven Rentensuche (rent-seeking [5]Der Begriff wurde von Anne O. Krueger geprägt. (The Political Economy of the Rent-Seeking Society, The American Economic Review 64, 1974, 291-303. Dazu Uwe Mummert, Freihandel als Schlüssel zur … Continue reading). Sie verbindet sich mit dem in der Politikwissenschaft als Neo-Patrimonialismus bekannten Phänomen. Wichtig auch, dass die Autoren die Pfadabhängigkeit der Entwicklung betonen (S. 7). Eingeführt wird auch das Greed-Modell [6]Paul Collier/Anke Hoeffler, Greed and Grievance in Civil War, Oxford Economic Papers 56, 2004, 563-595 (hier zitiert nach einer im Internet verfügbaren Fassung von 2002). zur Erklärung von Bürgerkriegen, von dem Behrends später (S. 84f., 95) zurückhaltenden Gebrauch macht. Es stellt darauf ab, dass in den Entwicklungsländern weniger das Leiden der Bevölkerung zur offenen Rebellion führt als vielmehr die Möglichkeiten zur Rekrutierung und Finanzierung einer Rebellenarmee, die manche Akteure, um sich ihren Teil etwa des Ölreichtums zu sichern.
Der Fluch des Öls verfolgt die afrikanischen Staaten schlimmer als Lateinamerika und Russland. Aber selbst Norwegen hat es nicht ganz geschafft, die holländische Krankheit zu vermeiden. [7]Jonathan Friedman, Oiling the Race to the Bottom, in dem hier besprochenen Band S. 30-45, S. 33. In Lateinamerika scheint sich immerhin, insbesondere unter der indigenen Bevölkerung, eine gewisse Protestkultur herausgebildet zu haben. In Afrika scheint sie zu fehlen. Zwei Beiträge des Bandes berichten davon, wie dort magische Vorstellungen, die sich in Hexereivorwürfen äußern, als kleines Ventil dienen.
Klar, dass die Autoren den besonderen Beitrag herausstellen, den die Anthropologie zum Thema leistet. Er besteht darin, dort zu beobachten, wo die Menschen sind. Dazu gehören die lokalen Kontexte. [8]Dazu aus der Sicht der Ethnologie Johanna Pfaff-Czarnecka, Lokale Identitäten, Lokalismus und globale Horizonte (Vortragsmanuskript, 2003). Dort zeigt sich auch, wie tradierte Kultur den Lauf der Dinge beeinflusst. (S. 11) Alle reden davon, dass Globalisierung auch in Transaktionen, die oberflächlich betrachtet lokaler Natur sind, zu spüren ist. Globalisierungsromantiker sprechen von einer Vermischung oder Hybridisierung [9]Vgl. dazu den Eintrag über »Zur Hybridisierung der Kulturen« vom 15. 10. 2012., die etwas Neues entstehen lässt, in der die Ursprünge aufgehoben werden. Aus der Sicht von »Crude Domination« ist das eine böse Verharmlosung. Der Kampf um das Öl hat wenige Gewinner und viele Verlierer. Der Kampf um das Öl ist ein Nullsummenspiel und damit ein Machtkampf, der in Lateinamerika eher auf der politischen Ebene entschieden wird und in Afrika eher durch Gewalt. Im einen Fall könnte man von einer politischen Rente, im anderen von einer Gewaltrente sprechen. In jedem Fall – das ist das Ziel des Buches – geht es darum, die Strukturen zu beschreiben, in denen sich der Kampf um das Öl abspielt.
Auf das Einleitungskapitel von Behrends und Reyna folgt ein weiteres, in dem Jonathan Friedman, ein Grandseigneur der Anthropologie, unter der Überschrift »Oiling the Race to the Bottom« (S. 30-45) betont, dass von einem Ressourcen- oder Öl-Determinismus keine Rede sein könne; dass zeige die unterschiedliche Entwicklung in Lateinamerika und Afrika, in Russland/Sibirien und Tschetschenien und schließlich Norwegen. Im Übrigen kann ich mit dieser zweiten Einleitung, die etwas gedankenflüchtig das Thema in den Zusammenhang des Globalisierungsdiskurses stellt, wenig anfangen. Im mittleren Teil des Buches folgen drei Kapitel mit vier Beiträgen über Afrika, drei Beiträgen über Lateinamerika und zwei Beiträgen zu Russland. Über einige werde ich vielleicht in einem späteren Eintrag noch berichten. Behrends und Reyna haben diese Beiträge informativ zusammengefasst (S. 13-19).
In einem kurzen Nachwort präzisiert der Mitherausgeber Günther Schlee noch einmal den Zusammenhang, oder vielmehr umgekehrt, die bloß indirekte Verbindung zwischen dem Öl und der Entwicklung von Konflikten: Ebenso wenig wie Ethnizität lasse sich das Öl (oder andere Ressourcen) als »Ursache« von Konflikten identifizieren, denn solche Gegebenheiten kämen regelmäßig erst ins Spiel, wenn sich bereits Konfliktlinien formiert hätten. Das Zusammenspiel mit dem Öl ist das faszinierende Thema dieses Bandes.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Eine ganz unvollständige Aufzählung im Posting vom 14. 7. 2012: Die Rolle des Rechts im Prozess der nachholenden Modernisierung.
2 Berghahn Books, New York, 2011, ISBN 9780857452559.
3 Wie z. B. Julia Eckert/Andrea Behrends/Andreas Dafinger, Governance – and the State: An Anthropological Approach.
4 The Crazy Curse and Crude Domination, S. 3-29.
5 Der Begriff wurde von Anne O. Krueger geprägt. (The Political Economy of the Rent-Seeking Society, The American Economic Review 64, 1974, 291-303. Dazu Uwe Mummert, Freihandel als Schlüssel zur Entwicklung. Rent-seeking als Hindernis, E. +Z. – Entwicklung und Zusammenarbeit Nr. 9, September 2001, S. 268-270.
6 Paul Collier/Anke Hoeffler, Greed and Grievance in Civil War, Oxford Economic Papers 56, 2004, 563-595 (hier zitiert nach einer im Internet verfügbaren Fassung von 2002).
7 Jonathan Friedman, Oiling the Race to the Bottom, in dem hier besprochenen Band S. 30-45, S. 33.
8 Dazu aus der Sicht der Ethnologie Johanna Pfaff-Czarnecka, Lokale Identitäten, Lokalismus und globale Horizonte (Vortragsmanuskript, 2003).
9 Vgl. dazu den Eintrag über »Zur Hybridisierung der Kulturen« vom 15. 10. 2012.

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Die Einfalt der Vielfalt: Von der organischen zur normativen Solidarität

Vielfalt oder Pluralität ist zum Standard der Modernität geworden. Auf dem Soziologentag, der zur Zeit in Bochum stattfindet, wird die Anschlussfrage gestellt, was die Vielfalt der Gesellschaft zusammenhält.

»Während die – von Vielen als wachsend wahrgenommene – Pluralität sozialer Lebensäußerungen und -formen also einerseits als Bedrohung des ›sozialen Bands‹ thematisiert wird, erscheint sie andererseits geradezu als Voraussetzung und grundlegender Mechanismus der Stiftung (neuer) sozialer Bindungen.« (Programm S. 14)

Es geht um nichts weniger als um Nachfolgekandidaten für die von Durkheim so genannte organische Solidarität.

Der faktische Pluralismus, der nicht zuletzt als Folge der Globalisierung überall zu beobachten ist, kann je nach dem Zustand der Gesellschaft der Modernisierung einen weiteren Schub geben und zu Wohlstand und Reichtum führen oder er kann die Entwicklung blockieren und Konflikt und Selbstzerstörung hervorbringen. Die unterschiedlichen Gesellschaftszustände lassen sich als positiver und negativer Pluralismus kennzeichnen.

Die Vielfalt, wie sie als Melange aus der Globalisierung und ihren Rückkopplungsprozessen entsteht, ist für moderne Gesellschaften zwar eine laufende Quelle von Querelen, etwa um die Grenzen der Zuwanderung oder den Raum, den man einer importierten Religionspraxis geben soll. Aber davon wird eine moderne Gesellschaft nicht zerissen, sondern eher bereichert. Das gilt auch für die durch das Abstreifen von Traditionen möglich gewordene Vielfalt der Familienformen einschließlich solcher, in denen traditionell unterdrückte sexuelle Orientierungen zu ihrem Recht kommen. Moderne Gesellschaften sind in der Lage, einen positiven Pluralismus zu leben. Besonders in den Entwicklungs- und Transformationsländern zeigt sich der faktische aber als negativer Pluralismus. Im Schatten der unvollständigen Modernisierung gibt es viele destruktive Konflikte.

Von negativem Pluralismus ist die Rede, wo die Sicherung der Vielfalt gegen Selbstzerstörung nicht gewährleistet ist. Unter den Bedingungen der Globalisierung ist dieser Zustand vor allem bei den Modernisierungsverlierern anzutreffen. Sie machen über die Hälfte der Weltbevölkerung aus. Modernisierungsverlierer gibt es auch in modernisierten Gesellschaften. Aber dort wird jedenfalls soweit für sie gesorgt, dass ein offener und destruktiver Konflikt vermieden wird. Die große Masse Modernisierungsverlierer konzentriert sich jedoch in den Entwicklungs- und Transformationsländern, wo sie auf sich selbst angewiesen sind.

Die Modernisierungsverlierer sind nicht einfach nur arm, sondern sie sind in gewisserweise funktionslos geworden, weil sie im Zuge der Modernisierung ihre überkommene Existenzgrundlage verloren, im modernen Wirtschaftsprozess aber keinen neuen Platz gefunden haben. Sie zahlen als Preis der Modernisierung mit einer Relativierung ihrer Kultur und dem Verlust gewachsener Identitäten. An vielen Plätzen hat die Veränderung der natürlichen Umwelt durch die Ausbreitung von Infrastruktur und Technik und oft auch durch Umweltzerstörung ihnen ihre natürlichen Lebensgrundlagen genommen. Unter den so Marginalisierten provoziert die Globalisierung lokale und partikulare Gegenbewegungen, die gerade in ihrer Gegnerschaft zu den globalisierenden Tendenzen neue soziale Identitäten hervorbringen. Sie suchen ihr Heil in religiösen oder ethnischen, rassischen oder ideologischen Zugehörigkeiten. Konsequenz sind gesellschaftliche Spaltungen und Konfrontationen, die den negativen Pluralismus ausmachen.

»Negative pluralism refers to any totalizing affiliation which results in the transformation of interests into principle and results in cleavage politics and increasingly differentiated societies. An example of such totalizing affiliations is race. Another is religion.« (David E. Apter, The Political Kingdom in Uganda, A Study of Bureaucratic Nationalism, 3. Aufl., London [u.a.] 1997, Fn. 85 auf S. LXXV)

Diese Definition lässt sich leicht in die bekannte Unterscheidung zwischen Wertkonflikt und Interessenkonflikt übersetzen. In einer modernen Gesellschaft ist die gesellschaftlich organisierte Interessenwahrnehmung selbstverständlich. Die Modernisierungsverlierer suchen ihre Zuflucht aber nicht in Interessenverbänden, sondern in traditionellen oder neotraditionellen Formationen, die Werte über Interessen stellen, indem sie deren religiöse, ethnische oder rassische Basis zu einem kompromissfeindlichen Prinzip steigern.

Als moralisches und als rechtsphilosophisches Problem ist die Frage nach den Grenzen des Pluralismus altbekannt. Es genügt hier, an das Problem der Selbstdestruktion der Toleranz oder der Demokratie zu erinnern. Die Philosophen wissen auch Rat, etwa John Rawls mit Forderung nach einem »overlapping consensus«[1]. Aber Philosophie hält keine Gesellschaft zusammen. In der Realität gibt keine durchschlagende Lösung. Man kann nur beobachten, dass in einem Teil der Welt die Gesellschaft an der neuen Vielfalt nicht zerbricht, sondern mehr oder weniger gut integriert bleibt, während in vielen anderen Teilen aus der Vielfalt Konfliktlinien wachsen.

Will man diese Beobachtung theoretisieren, so bieten sich die Überlegungen der Meyer-Schule an. Den Zusammenhalt garantiert die Institutionalisierung eines positiven Pluralismus, wenn und soweit sie gelingt. Die Antwort ist allerdings auch beinahe trivial. Immerhin impliziert sie dreierlei. Erstens: Es geht um eine soziologische Frage, nicht um ein moralisches oder philosophisches Problem. Zweitens: Anscheinend begegnet die Institutionaliserung des Pluralismus auf der Ebene der Weltkultur geringeren Widerständen und ist dort weiter fortgeschritten als in nationalen und regionalen Gesellschaften. Drittens: Die nationale und regionale Institutionalisierung eines positiven Pluralismus korreliert positiv mit den Indikatoren, die für Modernisierung stehen.

Positiver Pluralismus beruht auf der Wertschätzung von Diversität als (materielle und ideelle) Bereichung und als Quelle laufender Innovation. Er ist eingebettet in einen institutionellen Rahmen, der einer konflikthaften Selbstzerstörung vorbeugt. Moralisch gehört dazu das Toleranzgebot und politisch Formen der Partizipation, wie sie in Demokratie und Rechtsstaat vorgesehen sind.

Auf der Ebene der Weltkultur ist der positive Pluralismus fest institutionalisiert. Dafür stehen, ganz abgesehen von den Achtungsansprüchen und Antidiskriminierungsregeln der Menschenrechtserklärung die UNESCO-Konvention über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen und die United Nations Declaration on the Rights of Indigenous Peoples von 2007. Man kann verfolgen, wie der Imperativ kultureller und religiöser Pluralität und als seine Kehrseite Diskriminierungsverbote in zahllosen nationalen und internationalen Dokumenten und Traktaten instututionalisiert ist. Repräsentativ ist wohl der UNESCO World Report, Investing in Cultural Diversity and Dialogue, 2009 [2000]. Man könnte diese Institutionalisierung eines positiven Pluralismus in der Weltkultur als normative Solidarität benennen, um dann nach der Reichweite der normativen Solidarität zu fragen.

Die Programmautoren der DGS haben die »die ›klassische‹ (Parsonssche) Sichtweise, soziale Kohäsion werde vor allem durch normative Integration gesichert« auf das Altenteil geschickt (Programm S. 18). Damit liegen sie falsch. Sicher gibt es unterhalb der normativen Ebene unzählige Konstellationen, in denen sich organische Solidarität bewährt, weil Vielfalt vielerlei Arbeitsteilung und Austausch nach sich zieht. Aber ohne den großen normativen Rahmen, ohne den institutionalisierten Imperativ der Diversität und Toleranz, gibt es in größeren Gesellschaften keinen positiven Pluralismus.

Literatur: David E. Apter, Globalisation and the Politics of Negative Pluralism, International Social Science Journal 59, 2008, 255-268; ders., Marginalization, Violence, and Why We Need New Modernization Theories, in: World Social Science Report, Paris 2010, S. 32-37.



[1] Dazu Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 300f.

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Isomorphie der Institutionen und die Entkoppelung von Recht und Realität

Um die Serie über die Modernisierungstheorie endlich mit der »Einfalt der Vielfalt« zu Ende zu bringen, brauche ich als Baustein noch die Weltkulturtheorie. Auf den ersten Blick liest sie sich wie eine Bestätigung der Konvergenztheorie. Auf den zweiten Blick sieht die Welt dann aber doch ganz anders aus.

Die »Isomorphie der Institutionen« ist ein Begriff aus der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie. Heute beobachtet man mehr oder weniger überall auf der Welt eine lange Reihe von rechtlich geprägten Institutionen, die einander mindestens der äußeren Form nach ähnlich sind. Die wichtigste Konvergenz dieser Art ist die Aufteilung der Welt in Nationalstaaten nach dem zweiten Weltkrieg. Fast alle Staaten haben geschriebene Verfassungen[1] angenommen, politische Wahlen eingeführt, Parlamente installiert, die förmliche Gesetze erlassen, und offizielle Gerichte für die Entscheidung von Streitigkeiten eingerichtet. Mehr oder weniger überall gibt es Universitäten mit juristischen Fakultäten, eine Anwaltschaft, Gefängnisse und Polizei.

Diese Gleichförmigkeit hat fraglos etwas mit Modernisierung und Globalisierung zu tun. Für die genauere Bestimmung des Zusammenhangs sind verschiedene Erklärungen geläufig. Die schlichteste läuft auf bloße Nachahmung hinaus. Funktionale Erklärungen verstehen die jeweils gewählten institutionellen Arrangements als Lösung praktischer Probleme. Das ist wohl die heimliche Theorie der Entwicklungshilfe, wenn sie darauf abstellt, dass die rule of law notwendige Bedingung für wirtschaftlichen und humanitären Fortschritt sei. Es lässt sich auch (hoffentlich) nicht ganz ausschließen, dass westliche Ideen von Rechtsstaat und Demokratie, Bildung und Daseinsvorsorge auf Grund ihrer Überzeugungskraft gewirkt haben. In der Rechtssoziologie ist von imposition of law die Rede, wenn machtüberlegene Länder anderen ihr Rechtsmodell aufdrängen. Eine anspruchsvollere Theorie, die alle diese Erklärungen bis zu einem gewissen Grade in sich aufnehmen kann, bietet die Meyer-Schule in Stanford. Sie erklärt die weltweite Gleichförmigkeit der Institutionen nicht primär aus Diffusions-, Planungs- oder Nachahmungsprozessen, sondern aus einer vorgängigen globalen Weltkultur (world polity), welche die institutionelle Umgebung aller Akteure, seien sie Individuen, Organisationen oder Staaten, prägt.

Der Forschergruppe des »Stanford Center for Research in Development in Teaching« um John W. Meyer war aufgefallen, dass Bildungseinrichtungen – gegliederte Schulsysteme, Universitäten, typisierte Abschlüsse usw. – sich jedenfalls äußerlich weltweit ähnlich geworden waren. Auf der Suche nach einer Erklärung stellten sie zunächst fest, dass Organisationen – und zwar nicht nur Schulen und Universitäten – in ihrer konkreten Ausgestaltung den Anforderungen ihrer institutionellen Umgebung folgen, um sich damit Legitimität und Ressourcen zu verschaffen. Die institutionelle Umgebung von Organisationen besteht aus verfestigten Komplexen von Normen, Erwartungen und Leitbildern. Eine Schule, als Organisation betrachtet, entspricht also dem, was man allgemein von einer Schule erwartet und was überwiegend auch in Gesetzen festgeschrieben ist. Das ist an sich beinahe trivial. Neu war aber die These, mit der die Ähnlichkeit von Institutionen über Ländergrenzen hinweg erklärt wurde, die These nämlich, dass die institutionelle Umgebung von Organisationen von einer einheitlichen world polity geprägt werde. Kern dieser Weltkultur ist instrumentelle Rationalität, »die Strukturierung des täglichen Lebens entlang von standardisierten unpersönlichen Regeln, die die soziale Ordnung auf unpersönliche Zwecke hin ausrichten. Im Zuge von Rationalisierungsprozessen konstituiert sich Autorität ausdrücklich als formale und zunehmend bürokratisierte Rechtsordnung; Tauschprozesse richten sich an Regeln der rationalen Kalkulation und Buchführung sowie an Regeln zur Konstitution von Märkten aus und beinhalten weitergehende Prozesse wie Monetarisierung, Kommerzialisierung und bürokratische Planung.«[2]. Im Ursprung ist die globale Weltkultur aber religiösen, und hier wiederum vornehmlich christlichen Ursprungs.

Die institutionellen Regeln, die diese Rationalisierung vorantreiben, »liegen auf einer sehr allgemeinen (jetzt oft globalen) Ebene …«. Sie leiten sich aus einer »herrschenden universalistischen historischen Kultur« ab. Aus den »transzendenten Gottheiten (Jehova, Gott, Allah)« sind »transzendentale Begriffe« geworden: Gleichheit, Freiheit, Rechte, Fortschritt. Sie gelten in jeder modernen oder sich modernisierenden Gesellschaft mit der Folge, »dass die konkreten institutionellen Ziele und Definitionen in der Praxis fast überall auffallend ähnlich sind« … »Zum Beispiel pflegen Lehrer unterschiedliche Unterrichtsstile, Unternehmen unterschiedliche Managementmethoden und staatliche Regime unterschiedliche ideologische Standpunkte – aber alles innerhalb der konstitutiven Festlegung dessen, was ein Lehrer, ein Wirtschaftsunternehmen oder ein Nationalstaat überhaupt ist.«.

Bezogen auf den Nationalstaat heißt es etwa:

»Nationalstaaten sind das Produkt von außen kommender, universalistischer und rationalisierter kultureller Modelle und werden von diesen als letztlich ähnliche Akteure konstituiert und konstruiert. Dies führt zu einem hohen Grad an Isomorphie und isomorphem Wandel zwischen Nationalstaaten, ebenso wie zu einem hohen Grad von Diffusion zwischen verschiedenen Nationalstaaten einerseits und zwischen den Zentren des globalen Diskurses und einzelnen Nationalstaaten andererseits.« (Meyer 2005, 158f.)

Im Detail ist die Herleitung der world polity natürlich viel komplexer. Darauf und damit auch auf Zustimmung oder Ablehnung will ich mich hier nicht einlassen. Unbestreitbar scheint jedenfalls die weltweit zu beobachtende Isomorphie der Institutionen zu sein. Gäbe es noch eine unberührte Insel – so Meyer – , dann würden die internationalen Organisationen von den Vereinten Nationen bis Attac, von der Weltbank bis Greenpeace sie schnell in einen Nationalstaat mit Gewaltenteilung, Behörden und Instanzen, Minderheitenschutz, Schulen und Religionsfreiheit verwandeln. Wer Mitglied der UNO werden und an der Entwicklungshilfe der Weltbank und anderer Einrichtungen teilhaben will, kann dies nur als Nationalstaat tun mit einer Regierung an der Spitze, die in ihrer Organisation die westlichen Bürokratiemuster spiegelt. Der Staat muss mindestens pro forma Resolutionen und Leitlinien zu Menschenrechten oder Umweltschutz usw. akzeptieren. Ein Heer von Beratern, »interesselosen« Wissenschaftlern und Experten, IGOs und INGOs tritt in Aktion und sorgt für die Diffusion westlicher Normen und Institutionen.

Für die Rechtssoziologie ist besonders ein dritter Argumentationsstrang interessant, der 1977 von Meyer und Rowan eingeführt worden ist. Ihre These war, dass Organisationen aller Art sich nach außen formal und rational geben, dass sie intern aber nicht, wie es das Gebot der Rationalität eigentlich fordert, bürokratisch mit Weisung und Kontrolle arbeiten, sondern sich von der Formalität abkoppeln (decoupling) und mit informellen Vertrauensbeziehungen arbeiten. Isomorphie der Institutionen heißt deshalb nicht, dass die Organisationen überall gleich sind, sondern dass sie äußerlich einem übergeordneten Rationalitätsimperativ entsprechen. Dieses Formalitätsgebot sei der Mythos, der den Organisationen helfe, in ihrer Umgebung zu überleben, indem er ihnen Legitimität verschaffe und zu Ressourcen verhelfe.

Die Differenz zwischen der formalen Struktur von Organisationen und ihrem praktischen Funktionieren ist ein alter Hut der Organisationsforschung. Auch die Idee, dass Organisationen sich unter gleichen Umweltbedingungen einander angleichen, war in der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie nicht neu. Neu war aber die Verortung dieser Umweltbedingungen auf der abgehobenen Ebene der world polity und damit verbunden die Radikalisierung der Differenz zwischen Formalstruktur und Realität von Institutionen: Bis zu einem gewissen Grade ist die globale Isomorphie bloßer Schein. Staaten und Institutionen passen sich äußerlich den globalen »Vorgaben« an, setzen sie aber nur formal oder symbolisch um und füllen sie mit eigenen Inhalten. Oft besteht nur eine sehr äußerliche Ähnlichkeit der Institutionen, die tatsächlich von Land zu Land und teilweise von Ort zu Ort ganz unterschiedlich funktionieren. Historisch betrachtet sind sich die Länder der Welt ähnlicher geworden, und zwar die Rechtssysteme sogar noch stärker als die Kulturen. Diese Konvergenz bedeutet aber keine Homogenität. Homogenität scheitert an der Differenz zwischen Rechtsanspruch und Rechtswirklichkeit, die überall unterschiedlich ausfällt, und an der kulturellen Färbung, die die Institutionen in ihrer Umgebung jeweils annehmen.

Literatur: John W. Meyer u. a., Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, 2005 (Übersetzung von acht Aufsätzen von Meyer und Koautoren, die zwischen 1997 und 2001 veröffentlicht wurden; eine Rezension des Bandes von Michael Hölscher in der Online-Zeitschrift H-Soz-u-Kult 19. 5. 2006); John W. Meyer/John Boli-Bennett/Chase-Dunn Christopher, Convergence and Divergence in Development, Annual Review of Sociology 1, 1975, 223-246. John W. Meyer/Brian Rowan, Institutionalized Organizations: Formal Structure as Myth and Ceremony, American Journal of Sociology 83, 1977, 340-363.


[1] Zur globalen Konvergenz von Verfassungen David S. Law/Mila Versteeg, The Evolution and Ideology of Global Constitutionalism, 2010, http://ssrn.com/abstract=1643628, auch in California Law Review, Vol. 99, 2011,1163-1253. Die Autoren versuchen ein Ranking aller erreichbaren Verfassungen, allerdings nur unter dem Aspekt subjektiver Individualrechte.

[2] Zitate aus John W. Meyer u. a., Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, 2005, S. 32, 34, 37, 40.

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