Modernisierung durch Recht: Die klassische Modernisierungstheorie in neun Punkten IV

Dieser Eintrag beendet die kleine Reihe, mit der ich die neun Punkte, in denen Samuel Huntington[1] die klassische Modernisierungstheorie zusammengefasst hat, repetiere und fortzuschreibe.

(9) Modernisierung ist Fortschritt. … Auf lange Sicht ist Modernisierung nicht nur unvermeidlich, sondern auch wünschenswert. Kosten und Leiden, besonders in der Anfangsphase, sind hoch. Aber ihre sozialen, politischen und wirtschaftlichen Errungenschaften sind es wert. Auf längere Sicht fördert die Modernisierung die Wohlfahrt kulturell wie materiell. Die Fortschrittsthese, die eine Leistungssteigerung aller Systeme postuliert, an der prinzipiell alle teilhaben sollen, wird entgegengehalten, sie blende die enormen Leiden und Kosten der Modernisierung ebenso aus wie den Umstand, dass der Fortschritt nicht alle erreicht. Im Zusammenhang des Konvergenzthemas ist jedoch eine andere Kritik wichtiger, die Kritik nämlich, hinter der Fortschrittsannahme stecke ein missionarischer Universalismus des Westens. Friedrich Tenbruck spricht von der Vision der »säkularen Ökumene«. Das Konzept der Entwicklungshilfe habe daher, wie alle Fortschrittskonzepte, ein innerweltliches Ziel der Geschichte vor Augen, und münde damit in die Vision einer geschichtslosen Zukunft ein.[1] Tatsächlich wollte Francis Fukuyama 1989 das Ende der Geschichte vorhersagen, denn die Evolution der politischen Ideologien habe mit der weltweiten Ausbreitung der liberalen Demokratie westlichen Musters ihr Endstadium erreicht.[2]

Konvergenz bedeutet aber nicht das Verschwinden von Konflikten und damit das Ende der Geschichte, denn Modernisierung ist ein Prozess, der vielleicht alte Probleme überwindet, aber dafür neue aufwirft und damit auch neue Konfliktfronten aufreißt. Anhänger der Modernisierungstheorie führen die Konflikthaftigkeit des Prozesses nicht in erster Linie auf religiöse und kulturelle Differenzen zurück, sondern auf die Ungleichheiten, die die Modernisierung durch das unterschiedliche Tempo in den verschiedenen Ländern hat aufbrechen lassen.[3]

Ein Grundproblem der Modernisierungstheorie bleibt ihre relative Allgemeinheit. Wenn immer die Tatsachen nicht recht mit der Theorie übereinstimmen wollen, lässt sich die Theorie leicht verändern, so dass sie schwerlich widerlegbar ist. Das ist ein Problem vieler Theorien, dem der einzelne Anwender nur durch den Versuch der Aufrichtigkeit und Konsequenz begegnen kann.

Es ist beabsichtigt, diese Reihe durch eine Erörterung der Konvergenzthese und der daran geübten Kritik fortzusetzen. Im Hintergrund steht natürlich die Frage nach der Konvergenz der Rechtsentwicklung insbesondere auch in den nicht-OECD-Staaten. (Und im Vordergrund steht das Vielfaltsthema des Soziologentags, der demnächst in Bochum stattfindet.)

 


 


[1] A. a. O. (Fn. 1025) S. 27.

[2] Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte, Europäische Rundschau, 1989, Nr. 4, 3-25 (Original in: The National Interest, Summer 1989); vgl. auch Arnold Gehlen, Ende der Geschichte? Zur Lage des Menschen im Posthistoire, in: Oskar Schatz (Hg.): Was wird aus dem Menschen? Analysen und Warnungen prominenter Denker, 1974, 61-75 = Gehlen, Einblicke, 1975, 115-133.

[3] Wolfgang Zapf, Modernisierungstheorie – und die nicht-westliche Welt, in: Thomas Schwinn (Hg.), Die Vielfalt und Einheit der Moderne, 2006, 227-235, S. 234; Thomas Schwinn, Konvergenz, Divergenz oder Hybridisierung?, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 58, 2006, 201-232, S. 214.

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Modernisierung durch Recht: Die klassische Modernisierungstheorie in neun Punkten III

Dieser Eintrag setzt die Postings vom 22. und vom 28. August fort, mit denen ich begonnen habe, die neun Punkte, in denen Samuel Huntington[1] die klassische Modernisierungstheorie zusammengefasst hat, zu repetieren und fortzuschreiben.

(6) Modernisierung vollzieht sich in Phasen. Alle Gesellschaften durchlaufen auf dem Weg zur Moderne unterscheidbare Stadien. … Das hat zur Folge, dass sich Gesellschaften danach vergleichen lassen, wie weit sie auf dem Wege der Modernisierung gekommen sind. Die Identifizierung von Phasen[2] ist heute nicht mehr wichtig, weil für das globale Monitoring Indikatoren entwickelt worden sind, die eine gleitende vergleichende Messung des Modernisierungsgrades gestatten. Wichtig bleibt aber, dass sich nach der klassischen Modernisierungstheorie keine Gesellschaft den Modernisierungsprozess entziehen kann. Allerdings müssen die Nachzügler nicht alle Phasen der Modernisierung ausführlich durchlaufen. In der Startphase werden Forschung und Entwicklung durch Nachahmung ersetzt. Technische Entwicklungen wie Flugzeug, Mobiltelefon und Satellitenkommunikation ersparen zum Teil den langwierigen Aufbau einer Infrastruktur. So haben die Tigerstaaten die Entwicklung von der Exportorientierung zum Massenkonsum im Eiltempo durchlaufen, und andere wie Vietnam, Malaysia und Indonesien machen es ihnen nach.

(7) Modernisierung ist ein Konvergenzprozess. Die traditionalen Gesellschaften sind so verschieden, dass manche sagen, sie hätten nicht mehr gemeinsam als dass sie nicht modern seien. Moderne Gesellschaften dagegen sind sich in vielerlei Hinsicht ähnlich. Modernisierung führt tendenziell zu Konvergenz. Die Konvergenzthese stützte sich zunächst auf einen ökonomischen Determinismus. Sie ging von der Annahme aus, dass Gesellschaften mit dem Übergang von der agrarischen zur industriellen Produktionsweise zunehmend komplexer werden, vergleichbaren Problemen gegenüberstehen und sich schließlich angleichen, indem sie für die auftauchenden Probleme ähnliche Lösungen wählen. Die Konvergenzthese ist das Kernstück der Modernisierungstheorie und sie ist besonders kontrovers. Deshalb muss sie bei Gelegenheit besonders behandelt werden.

(8) Modernisierung ist ein unumkehrbarer Prozess. Es mag vorübergehend Unterbrechungen und gelegentlich partielle Rückfälle geben. Aber als säkularer Trend ist die Modernisierung nicht aufzuhalten. … Das Tempo der Modernisierung ist von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedlich. Aber die Richtung des Wandels ändert sich grundsätzlich nicht. Als Rückschritte auf dem Wege der Modernisierung gelten etwa das Pol Pot-Regime in Kambodscha oder Khomeinis Revolution im Iran. Die Nazidiktatur war sicher eine schlimme Rückentwicklung des politischen Systems, aber nach den Huntington-Kriterien war das System immer noch »modern«. Die Modernisierungstheorie kommt mit dem heimlichen Versprechen, dass solche »Rückfälle« nur temporär seien.



[1] Samuel P. Huntington, The Change to Change. Modernization, Development, and Politics, Comparative Politics 3, 1971, 283-322, S. 288ff. Daran orientiert sich auch Johannes Berger, Was behauptet die Modernisierungstheorie wirklich – und was wird ihr bloß unterstellt?, Leviathan 24, 1996, 45-62.

[2] Ein viel zitiertes Modell stammt von Walt W. Rostow (The Stages of Economic Growth, A Non-Communist Manifesto, 1960, hier zitiert nach der 3. Aufl., Cambridge [England], New York 1990). Es unterscheidet fünf Phasen: Die traditionelle Gesellschaft, eine Übergangsperiode, den Durchbruch zu andauerndem Wachstum, der in England in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts stattfand, in Mitteleuropa und in den USA jedoch erst Jahrzehnte später. Es folgen eine Konsolidierungsperiode und schließlich das Zeitalter des Massenkonsums. Diese Phasen sind aber nicht auf die nachholende Modernisierung zugeschnitten.

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Modernisierung durch Recht: Die klassische Modernisierungstheorie in neun Punkten II

Dieser Eintrag setzt das Posting vom 22. August fort, mit dem ich begonnen habe, die neun Punkte, in denen Samuel Huntington[1] die klassische Modernisierungstheorie zusammengefasst hat, zu repetieren und fortzuschreiben.

(3) Modernisierung ist ein systemischer Prozess. Modernisiert sich ein gesellschaftlicher Bereich, so sind auch andere davon betroffen. Das ist das so genannte Interdependenztheorem, das besagt, dass alle Teilsysteme der Gesellschaft von der Modernisierung ergriffen werden und dass sie sich parallel entwickeln müssen, damit die Gesellschaft insgesamt den Zustand der Modernität erreichen kann. Diese Annahme ist nicht unproblematisch.[2] Sie hängt insbesondere davon ab, wie man den Zustand der Modernität definiert. Es ist wohl richtig, wenn der von Huntington zitierte Daniel Lerner schreibt, die verschiedenen Elemente der Modernisierung würden als zusammengehörig empfunden, weil sie in gewissem Sinne historisch zusammengehörten.«[3] Und tatsächlich werden alle Teilsysteme der Gesellschaft mehr oder weniger von der Modernisierung affiziert. Die Politik wird zum Dienstleister für die Bürger und muss sich auf Transparenz und Mitbestimmung einlassen. Das Rechtssystem muss die Idee der Gleichheit verarbeiten, sich als Infrastruktur für die Wirtschaft und als Steuerungsinstrument für Regierung und Verwaltung bereithalten. Die Modernisierung verändert Erziehung und Bildung, die nunmehr jedermann einschließen. Sport und Kunst folgen mit einigem Abstand nach. Die Medien entwickeln sich zu einem System der Massenkommunikation. Die Religion leistet noch am ehesten Widerstand. Im Vordergrund aller Modernisierungsanalysen steht jedoch die Wirtschaft. Die Wirtschaft ist der Antrieb der Moderne, indem sie sich selbst auf Wachstum programmiert. Für alle Teilsysteme gilt, dass sie durch Modernisierung irgendwie leistungsfähiger werden mit der Konsequenz, dass diese Leistung an Hand von Indikatoren gemessen und verglichen werden kann.

(4) Modernisierung ist ein globaler Prozess. … Das ist in erster Linie die Folge einer Diffusion moderner Ideen und Techniken von Mitteleuropa aus, beruht aber zum Teil auch auf endogenen Entwicklungen nicht-westlicher Gesellschaften. Alle Gesellschaften sind irgendwann einmal traditional gewesen. Heute sind alle Gesellschaften entweder modern oder auf dem Weg in die Moderne. Die Globalität des Modernisierungsprozesses lässt sich nicht mehr in Abrede stellen. Offen bleibt, ob die Globalisierung eine Konsequenz der Moderne bildet – so etwa Anthony Giddens, The Consequences of Modernity, 1990 – oder ob umgekehrt die Globalisierung selbst als Antrieb fortschreitender Modernisierung wirkt – in diesem Sinne etwa Niklas Luhmann und John Meyer. Alle Gesellschaften, die dort noch nicht angekommen sind, befinden sich auf dem Weg in die Moderne. Die Globalisierung macht regionale und vor allem nationale Unterschiede des Entwicklungsstandes manifest und damit die nachholende Modernisierung zur Aufgabe Problem. Zwar liefert die Globalisierung selbst auch Instrumente zu ihrer Unterwanderung, indem sie das globale Konzept der Menschenrechte zur Absicherung regionaler Besonderheiten anbietet. Aber die Menschenrechte enthalten zuallererst das Versprechen, dass sich jeder aus seinen traditionellen Bindungen befreien darf.

(5) Modernisierung ist ein langwieriger Prozess. Während die Modernisierung, was Art und Umfang der gesellschaftlichen Veränderungen betrifft, revolutionäres Ausmaß hat, ist die Modernisierung in ihrem zeitlichen Verlauf ein evolutionärer Prozess. Die westlichen Gesellschaften brauchten Jahrhunderte um sich zu modernisieren. Heute geht es schneller. Aber die Zeit für den Wandel von der traditionellen zur modernen Gesellschaft wird immer noch in Generationen gemessen. Modernisierung verlangt einen Persönlichkeitswandel, der allenfalls im Generationenrhythmus erreichbar ist. Modernisierung wird aber auch dadurch zum Dauerprozess, dass ungewünschte Nebenfolgen auftreten, die repariert werden müssen. Die drei wichtigsten sind der Verlust der sozialen Sicherung durch die Familie, der durch ein öffentliches Sozialsystem ausgeglichen werden muss, die Entstehung neuer Ungleichheiten und die Umweltzerstörung. Die Lösung ist bekanntlich nicht die Rückkehr in ein einfaches Leben, sondern raffiniertere Technik, Zunahme der bürokratischen Regulierung und weiteres Wirtschaftswachstum.



[1] Samuel P. Huntington, The Change to Change. Modernization, Development, and Politics, Comparative Politics 3, 1971, 283-322, S. 288ff. Daran orientiert sich auch Johannes Berger, Was behauptet die Modernisierungstheorie wirklich – und was wird ihr bloß unterstellt?, Leviathan 24, 1996, 45-62.

[2] Bestritten wird es etwa von Eisenstadt (Die Vielfalt der Moderne, 3. Aufl., 2011, S. 11).Vgl. auch Thomas Schwinn, Multiple Modernities: Konkurrierende Thesen und offene Fragen. Ein Literaturbericht in konstruktiver Absicht, Zeitschrift für Soziologie 38, 2009, 454-476, S. 458.

[3] Daniel Lerner, The Passing of Traditional Society, 1958, 438.

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Modernisierung durch Recht: Die klassische Modernisierungstheorie in neun Punkten

Dieser Eintrag schließt an das Posting vom 8. August 2012  an.

Als »klassische« Modernisierungstheorie bezeichnet man nicht die Theorie der Klassiker, sondern deren Fortsetzung vornehmlich durch US-amerikanische Soziologen nach 1950. Politisch etablierte sich nach 1949 der Begriff der Entwicklungshilfe und in der amerikanischen Soziologie die dazu passende zur Modernisierungstheorie. Talcott Parsons lieferte die Großtheorie. Er benannte vier »evolutionäre Universalien«, die einer jeden Gesellschaft überlegene Anpassungsmöglichkeiten geben sollen: eine Verwaltungsbürokratie, einen kapitalistischen Markt, Demokratie und ein universalistisches Rechtssystem.[1] Daniel Lerner[2] und Alex Inkeles[3] übernahmen es, die Modernisierungsthese in vergleichenden Untersuchungen empirisch zu testen. Viele andere Autoren waren beteiligt, und über manche Details wurde gestritten. Aber es gab doch eine große Linie der Übereinstimmung. Samuel P. Huntington hat sie 1971 in neun Punkten zusammengefasst[4], die hier (gekürzt in grober Übersetzung = kursiv) übernommen und fortgeschrieben werden. Davon heute die ersten beiden Punkte:

(1)  Modernisierung ist ein revolutionärer Prozess. Der Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft verändert alle Aspekte des Lebens. Dem ist nichts hinzuzufügen.

(2)   Modernisierung ist ein komplexer Prozess. Er lässt sich nicht auf eine einzige Variable oder Dimension reduzieren. Auf jeden Fall gehören Industrialisierung, Urbanisierung, soziale Mobilisierung, Differenzierung, Säkularisierung, Expansion der Medien, zunehmende Alphabetisierung, Ausbildung und politische Partizipation dazu. Die von Huntington genannten Variablen haben sich zwar in ihrem jeweiligen Gewicht verschoben, sind aber nach wie vor aktuell.

Allerhand Diskussion gibt es über den Gesichtspunkt der politischen Partizipation. Das gilt besonders für die Frage, ob Demokratie eine mehr oder weniger notwendige Begleiterscheinung der Modernisierung sei. Huntington selbst hat das verneint. Er meinte, entscheidend sei weniger die Regierungsform als vielmehr die Effektivität der Regierung. Die USA, Großbritannien und die Sowjetunion hätten ganz unterschiedliche Regierungsformen. Doch in allen drei Ländern könne die Regierung wirklich regieren. Alle drei Länder hätten starke, anpassungsfähige und kohärente politische Institutionen, eine effektive Bürokratie, gut organisierte politische Parteien, ein hohes Ausmaß an politischer Partizipation in öffentlichen Angelegenheiten, wirksame Systeme der zivilen Kontrolle über das Militär, beträchtliche wirtschaftliche Aktivitäten der Regierung und einigermaßen funktionierende Verfahren für die Regierungsnachfolge und zur Kontrolle politischer Konflikte.[5] Angesichts schlagender Beispiele autoritär gelenkter Modernisierung muss man Huntington wohl beipflichten. Alles andere wäre Wunschdenken. Einen kleinen Trost hält die Lipset-These bereit, nach der wachsender Wohlstand demokratische Verhältnisse fördert.[6] Sie scheint empirisch durchaus triftig zu sein.[7] Aber es scheint mir doch eine Fortschreibung der Modernisierungstheorie notwendig zu sein, deren Richtung David E. Apter[8] vorgegeben hat. Nur Demokratie kann dauerhaft den »positiven Pluralismus« gewährleisten, von dem die laufende Selbsterneuerung der Moderne abhängt. Es fällt auf, dass hier und auch sonst in Huntingtons Aufzählung das universalistische Rechtssystem und seine Konkretisierung in der rule of law – um den im Zusammenhang mit der Entwicklungshilfe üblichen Jargon zu übernehmen – nicht genannt werden. Das ist vielleicht ein erster Hinweis auf die Frage nach der Rolle des Rechts im Prozess der nachholenden Modernisierung.

Aufmerksamkeit verdient auch die Säkularisierungsthese. Sie behauptet dreierlei, nämlich erstens die Entzauberung der Welt in dem Sinne, dass religiöse Deutungen nicht länger die Öffentlichkeit dominieren; zweitens Entkirchlichung, d. h. den Rückgang der organisierten Religionsmitgliedschaft, und drittens Privatisierung, also die Trennung von Religion und Politik, so dass religiöse Bekenntnis zur Privatsache wird. Viele halten die Säkularisierungsthese nicht mehr für haltbar, nachdem José Casanova auf die seit den 1980er Jahren zu beobachtende Renaissance der Religionen aufmerksam gemacht hatte.[9] Da diese These hier nicht adäquat erörtert werden kann, sei dazu aus einer neueren Veröffentlichung Casanovas zitiert:

»Ich stelle hiermit nicht die Tatsache in Frage, dass ein radikaler historischer Prozess der Säkularisierung stattgefunden hat …; ebenso wenig bezweifle ich die Tatsache, dass wir in einem säkularen Zeitalter leben. … im Sinne der globalen Expansion eines säkularen Interpretationsrahmens … werden nicht nur die ›säkularen‹ Gesellschaften des Westens, sondern die ganze Welt zunehmend säkular und ›entzaubert‹ in dem Sinn, dass die kosmische Ordnung zunehmend durch die moderne Wissenschaft und Technologie definiert wird, dass die soziale Ordnung zunehmend durch die Verknüpfung von ›demokratischen‹ Staaten, Marktökonomien und medialen Öffentlichkeiten definiert wird, und dass die moderne Ordnung zunehmend durch die Kalkulationen von Rechte besitzenden individuellen Akteuren definiert wird, die Menschenrechte, Freiheitsrechte, Gleichheit und das Streben nach Glück einfordern.«[10]

Im Übrigen sei auf einschlägige Literatur verwiesen, insbesondere auf die Übersichtsartikel von Gabriel[11] und Pollack[12]. Immerhin will ich anmerken, dass die derzeit beobachtete Politisierung des Islam entgegen dem ersten Anschein einen Schritt zur Säkularisierung bedeuten könnte. Im Zusammenhang mit dem Syrienkonflikt war in den letzten Tagen wiederholt von der Organisation islamischer Staaten die Rede. 57 islamische Staaten haben sich in der OIC zusammengeschlossen. Bemerkenswert ist, dass es überhaupt islamische Staaten gibt, denn damit ist das zentrale islamische Dogma verlassen, nach dem es jenseits der Umma, also der Gemeinde mit dem Kalifat, keine weitere Organisation der Gesellschaft geben soll.

 


[1] Talcott Parsons, Evolutionary Universals in Society, American Sociological Review 29, 1964, 339-357/356 (= Evolutionäre Universalien der Moderne, in: Wolfgang Zapf (Hg.), Theorien des sozialen Wandels, 1971, 55-74). Einen Versuch zur Präzisierung unternimmt Johannes Berger, Die Einheit der Moderne, in: Thomas Schwinn (Hg.), Die Vielfalt und Einheit der Moderne, 2006, 201-225, S. 208f.

[2] The Passing of Traditional Society: Modernizing the Middle East, Glencoe, The Free Press, 1958; ders., Artikel »Modernization: Social Aspects« in: International Encyclopedia of the Social Sciences, 1968. Lerner verstand unter Modernisierung gesellschaftliche Veränderungen, die durch Industrialisierung und Verstädterung, durch die Massenmedien und durch politische Partizipation vorangetrieben wurden. Den harten Kern der Modernisierung sah Lerner im Wirtschaftswachstum begleitet von demokratischer Partizipation an der Politik, der Verbreitung säkular-rationaler Normen, in einem Zuwachs an physischer und psychischer Mobilität der Menschen und in einem neuen Persönlichkeitstyp, der sich in fremde Rollen hineinversetzen kann.

[3] Making Men Modern: On the Causes and Consequences of Individual Change in Six Developing Countries, American Journal of Sociology 75, 1969, 208-225; Alex Inkeles/David H. Smith, Becoming Modern. Individual Change in Six Developing Countries, Cambridge/Mass. 1974. Inkeles untersuchte den Einfluss des Modernisierungsprozesses auf die Persönlichkeit und befragte dazu 6000 Probanden in sechs Entwicklungsländern. Er stellte fest, dass eine Reihe von Persönlichkeitszügen, die mit der Modernisierung in Verbindung gebracht werden – Offenheit gegenüber sozialem Wandel, Toleranz, Vertrauen in Wissenschaft und technische Methoden – sich in sechs verschiedenen Gesellschaften parallel entwickelt haben. Und zwar spiegeln die Modernitätsindikatoren recht gut die Schulausbildung und die Erfahrung in der Fabrikarbeit.

[4] Samuel P. Huntington, The Change to Change. Modernization, Development, and Politics, Comparative Politics 3, 1971, 283-322, S. 288ff. Daran orientiert sich auch Johannes Berger, Was behauptet die Modernisierungstheorie wirklich – und was wird ihr bloß unterstellt?, Leviathan 24, 1996, 45-62.

[5] Samuel P. Huntington, Political Order in Changing Societies, New Haven 1968, S. 1. Für Daniel Lerner war die Demokratie nur die »Krönung« der politischen Modernisierung, weil sie eine gewisse Reife des politischen Systems und auch die Bildung moderner Persönlichkeiten voraussetze (The Passing of Traditional Society, 1958, 64). Vgl. auch Ilja Srubar, War der reale Sozialismus modern? Versuch einer strukturellen Bestimmung, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 43, 1991, 415-432. Srubar verneint die Frage, da dem Sozialismus die für die Moderne notwendige Konstellation von privater und öffentlicher Sphäre gefehlt habe. Zur Moderne gehöre nämlich die Differenzierung von privatem Markt und öffentlichem Staat, der mittels einer rationalen Bürokratie vorhersehbares Handeln ermögliche.

[6] Seymour Martin Lipset, Some Social Requisites of Democracy: Economic Development and Political Legitimacy, The American Political Science Review 53, 1959, 69-105; ders., The Social Requisites of Democracy Revisited, American Sociological Review 59, 1994, 1-22.

[7] Wolfgang Merkel, Systemtransformation, 2. Aufl., 2010, 70ff.

[8] David E. Apter, Marginalization, Violence, and Why We Need New Modernization Theories, in: World Social Science Report, Knowledge Divides, Paris 2010, S. 32-37.

[9] José Casanova, Public Religions in the Modern World, Chicago 1994, S. 66. Auf Casanova berufen sich z. B. Bertram Turner/Thomas G. Kirsch, Law and Religion in Permutation of Order: An Introduction, in: dies. (Hg.), Permutations of Order, Religion and Law as Contested Sovereignties, Farnham, Surrey 2009, S. 1-24, S. 2.

[10] José Casanova, Welche Religion braucht der Mensch? Theorien religiösen Wandels im globalen Zeitalter der Kontingenz, in: Bettina Hollstein u. a. (Hg.), Handlung und Erfahrung, Das Erbe von Historismus und Pragmatismus und die Zukunft der Sozialtheorie, 2011, S. 169-189, S. 187.

[11] Karl Gabriel, Jenseits von Säkularisierung und Wiederkehr der Götter, Aus Politik und Zeitgeschichte , 2008, 9-15.

[12] Detlef Pollack, Rekonstruktion statt Dekonstruktion: Für eine Historisierung der Säkularisierungsthese, Zeithistorische Forschungen, Online-Ausgabe, 7, 2010, H. 3. Zur neueren Diskussion etwa noch: Matthias Koenig, Jenseits des Säkularisierungsparadigmas?; Eine Auseinandersetzung mit Charles Taylor, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 63, 649- 673; Christoph Deutschmann, Capitalism, Religion, and the Idea of the Demonic, MPIfG Discussion Paper 2012/2.

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Modernisierung durch Recht II: Der Siegeszug der Moderne

Die moderne Gesellschaft erhielt ihre Prägung durch die sogenannte industrielle Revolution, die alle Strukturen verändert und nicht zuletzt jene Arbeitsteilung oder funktionale Differenzierung hervorgebracht hat, von der bei Durkheim die Rede ist. Vor allem aber hat die Industrialisierung den Reichtum der westlichen Industrienationen begründet und damit das wirtschaftliche Ungleichgewicht verursacht, das sich zwischen den Nationen, zwischen Ost und West, Nord und Süd, seit etwa 250 Jahren entwickelt hat. Die Frage, warum die moderne Industriegesellschaft sich zunächst nur in einem Teil der westlichen Welt entwickelt hat, gibt noch immer Rätsel auf. Fraglos waren naturwissenschaftlich-technische Kenntnisse eine wesentliche Voraussetzung. Aber sie können nicht allein entscheidend gewesen sein. Solche Kenntnisse verbreiten sich schnell und können daher nur zu einem zeitlich begrenzten Vorsprung verholfen haben.
Natürliche Ressourcen, insbesondere Bodenschätze, sind kaum als Ursache oder auch nur als Voraussetzung der Modernisierung anzusehen. Japan besitzt weit weni-ger Bodenschätze als etwa Indonesien, Mexiko oder Russland. Dennoch ist seine Wirtschaft viel stärker gewachsen. Erst recht spricht die Entwicklung der Stadtstaaten Hongkong und Singapur – oder früher Venedigs – dagegen, natürlichen Reichtum als Ursache der wirtschaftlichen Prosperität anzusehen. Auch die verbreitete Vorstellung, der Reichtum der westlichen Welt habe seine Ursache in ausbeuterischer Kolonisation, ist so nicht haltbar. Portugal und Spanien, einst die größten Kolonialmächte, sind in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung erheblich hinter anderen westlichen Nationen zurückgeblieben. Deutschland, Frankreich und Italien erreichten wirtschaftliche Prosperität, bevor sie zu Kolonialmächten wurden. Andere prosperierende Länder wie Norwegen und die Schweiz haben sich nie als Kolonialmächte betätigt. Allenfalls die These, dass der Imperialismus westlicher Industrienationen die Entwicklung anderer Länder behindert habe, lässt sich vertreten. Ebenso wenig kann das allgemeine kulturelle Niveau – wenn es so etwas denn gibt – entscheidend gewesen sein. Man kann dem Europa des 18. Jahrhunderts kaum eine elaboriertere Kultur zuschreiben als etwa dem China der gleichen Zeit. Auch die arabische Kultur war sicherlich in keiner Weise rückständig. Continue reading

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Modernisierung durch Recht: Schwerpunkte der Modernisierungstheorie

Alle soziologische Großtheorie befasst sich letztlich mit der Modernisierung oder der Kritik der Modernisierung. Ich lege hier die Fortschreibung der struktur-funktional orientierten Modernisierungstheorie zugrunde. Sie nimmt ihren Ausgang bei den Klassikern, die den Durchbruch der Modernisierung zum Thema machten. Zu erklären war der Umbruch, der durch die Industrialisierung in England und durch die Französische Revolution ausgelöst wurde. Von den Klassikern wurde Modernisierung negativ bestimmt als Ablösung der traditionalen oder organischen Gesellschaft durch etwas Neues. Neu waren Bewusstsein und Realität größerer Kontrolle des Menschen über seine natürliche und soziale Umgebung mit der Folge, dass Zweckrationalität zur dominierenden Einstellung wurde. Getrieben wurde die Modernisierung durch Wirtschaft, Wissenschaft und Technik.
Der Durchbruch der Moderne war nicht das Ergebnis einer Reform, sondern der ungeplante Prozess der Generierung neuen Wissens, seiner Ausbreitung und Anwendung. Es bleibt keine Wahl, als diesen Prozess als einen solchen der Evolution zu verstehen. Rationalität als Wissensbasis der Moderne bedeutet Fremdbeobachtung, Selbstbeobachtung und Kontingenzbewusstsein, kurz, sie bedeutet Reflexivität mit der Folge permanenter Reformanstrengungen und Widerstandsaktivitäten. Doch auch solches Akteurhandeln lässt sich von außen als evolutionär oder, bescheidener, als eigendynamisch oder funktional veranlasstes Geschehen auffassen. Das ist das Thema der »klassischen« Modernisierungstheorie, von der gleich die Rede sein wird.
Der Durchbruch der Modernisierung löste dort, wo er sich ereignete, einen Prozess des permanenten sozialen Wandels aus. »Was heute modern ist, ist morgen schon veraltet.« [1]Johannes Berger, Die Einheit der Moderne, in: Thomas Schwinn (Hg.), Die Vielfalt und Einheit der Moderne, 2006, 201-225, S. 201. Der Schwerpunkt der wirtschaftlichen Entwicklung verlagerte sich im 20. Jahrhundert von der Industrie auf Dienstleistungen und auf Informationen. Der Übergang zur nachindustriellen Gesellschaft (Daniel Bell) bildet die eigendynamische Fortsetzung der Modernisierung. Das gleiche gilt für die weltweite Intensivierung aller Wirtschafts- und Kommunikationsbeziehungen, die als Globalisierung geläufig ist. Die Modernisierung hat parallel auch das politische System und mit ihm das Recht erfasst. Während die Industrialisierungsphase mit Rationalisierung, Bürokratisierung und Säkularisierung und einer relativ ungebrochenen Autoritätsgläubigkeit einherging, wuchsen in der postindustriellen Gesellschaft das Verlangen nach persönlicher und politischer Selbstbestimmung und die Wertschätzung von Kreativität.
Im letzten Drittel des 20. Jahrhundert haben sich die dysfunktionalen Effekte der Modernisierung immer stärker bemerkbar gemacht. Auf der materiellen Ebene ist es der gewaltige Umweltverbrauch, der dem Wachstum Grenzen zu ziehen scheint. Auf der menschlichen Ebene bewirkt die Modernisierung den Verlust der traditionellen persönlichen Beziehungen und der damit verbundenen sozialen Absicherung. Die Reaktion auf diese nicht intendierten Nebenfolgen ist entweder Widerstand oder eine Selbstkorrektur der Modernisierung unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit. Der Widerstand gegen die Modernisierung hat sich an vielen Stellen formiert, als Widerstand gegen Umweltzerstörung oder gegen kulturelle Einebnung und als Forderung nach sozialer Gerechtigkeit. Er artikuliert sich in wissenschaftlichen Analysen und philosophischen Reflexionen, in gesellschaftlicher Selbstorganisation und in politischen Aktionen. Die Dysfunktionalität der Modernisierung und der Widerstand sind das Thema neuer Modernisierungstheorien, etwa der von Anthony Giddens und Ulrich Beck. [2]Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, 1986; ders., Macht und Gegenmacht im globalisierten Zeitalter. Neue weltpolitische Ökonomie, 2002; Ulrich Beck/ /Wolfgang Bonß … Continue reading Radikaler noch ist These, nach der die Moderne abgeschlossen und durch eine Postmoderne ersetzt worden sei, welche zentrale Merkmale der Moderne wie Rationalität und Fortschritt irreversibel zerlegt habe. Aber die Modernisierung lässt sich anscheinend nicht aufhalten, sondern wird durch Widerstand allenfalls zur Nachbesserung veranlasst. Damit befasst sich die Fortschreibung der Modernisierungstheorie, etwa durch Wolfgang Zapf als Theorie der weitergehenden Modernisierung. [3]Wolfgang Zapf, Modernisierung, Wohlfahrtsentwicklung und Transformation. Soziologische Aufsätze 1987-1994, 1994, S. 184, ferner ders., Die Modernisierungstheorie und unterschiedliche Pfade der … Continue reading
Alle Modernisierung führt nur wieder zu weiterer Modernisierung. [4]Friedrich H. Tenbruck, Der Traum der säkularen Ökumene. Sinn und Grenze der Entwicklungsvision, Annali di Sociologia/Soziologisches Jahrbuch 3, 1987, 11-36, S. 28. Als evolutionärer Vorgang hat sie kein Ziel. Sie begründet einen Prozess des permanenten sozialen Wandels. Einmal in Gang gesetzt, ist die Modernisierung zum Selbstgänger geworden. Sie produziert laufend Innovationen, die sich zwanglos verbreiten und den Wandel antreiben. Ein Ende ist nicht abzusehen. Anders sieht es die Fortschrittsidee, die die Modernisierung seit der französischen Revolution beflügelt hat. Mit ihr wird die Evolution zum Evolutionismus, vom historischen Vorgang zum gesollten Programm. Am Ende steht die Eine Welt, in der alle großen Unterschiede und Spannungen beseitigt sind und mit ihnen die Gründe für Krieg und Ausbeutung.
Die Modernisierungstheorie war und ist heftiger, teilweise polemischer Kritik ausgesetzt. Ihr wurde vorgehalten, sie sei als Instrument des Kalten Krieges zur ideologischen Unterfütterung der Position des Westens entstanden. Ihr wird vorgeworfen, die Vorstellung von einer besseren Gesellschaft europäisch-amerikanischen Musters zum Ziel der Entwicklung zu erheben; im Gewand des Neoliberalismus setze sie nur den Kolonialismus und Imperialismus des 19. Jahrhunderts fort. Als Begleiterscheinungen des wirtschaftlichen Imperialismus werden dann auch Rechtsimperialismus und Kulturimperialismus kritisiert. [5]Repräsentativ für solche Kritik ist Ugo Mattei/Laura Nader, Plunder. When the Rule of Law is Illegal, Malden MA 2008. Dazu meine ausführliche Besprechung auf Rsozblog: Über das Buch »Plunder« … Continue reading
Fraglos wurde und wird die Modernisierungstheorie normativ aufgeladen. Aber zunächst enthält sie die empirische Aussage, dass die Globalisierung als Angleichungsprozess beschrieben werden kann. Die normative und die empirische Behandlung des Modernisierungsthemas sind unlösbar miteinander verschränkt, und dennoch darf eine soziologische Betrachtung, den Versuch unternehmen, die faktische Seite wertfrei zu analysieren.
[Fortsetzung ist beabsichtigt.]

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Johannes Berger, Die Einheit der Moderne, in: Thomas Schwinn (Hg.), Die Vielfalt und Einheit der Moderne, 2006, 201-225, S. 201.
2 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, 1986; ders., Macht und Gegenmacht im globalisierten Zeitalter. Neue weltpolitische Ökonomie, 2002; Ulrich Beck/ /Wolfgang Bonß (Hg.), Die Modernisierung der Moderne, 2001; Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne, 1995; Ulrich Beck/Anthony Giddens/Scott Lash, Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, 1996.
3 Wolfgang Zapf, Modernisierung, Wohlfahrtsentwicklung und Transformation. Soziologische Aufsätze 1987-1994, 1994, S. 184, ferner ders., Die Modernisierungstheorie und unterschiedliche Pfade der Entwicklung, Leviathan 24, 1996, 63-77, S. 67; Modernisierungstheorie – und die nicht-westliche Welt, in: Thomas Schwinn (Hg.), Die Vielfalt und Einheit der Moderne, 2006, 227-235.
4 Friedrich H. Tenbruck, Der Traum der säkularen Ökumene. Sinn und Grenze der Entwicklungsvision, Annali di Sociologia/Soziologisches Jahrbuch 3, 1987, 11-36, S. 28.
5 Repräsentativ für solche Kritik ist Ugo Mattei/Laura Nader, Plunder. When the Rule of Law is Illegal, Malden MA 2008. Dazu meine ausführliche Besprechung auf Rsozblog: Über das Buch »Plunder« von Mattei und Nader.

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Die Governance-Perspektive führt zur Verharmlosung von Gewalt

Die Praxis der politischen Herrschaft, die in vielen Entwicklungsländern zu beobachten ist, wird als neopatrimonial eingeordnet. Darunter versteht man die Aushöhlung formal-rationaler Herrschaft durch informale Herrschaft, die nicht über tradierte Normen, sondern über Personen und Netzwerke vermittelt wird. [1]Eine Bibliographie zum Thema und gehaltvolle Links bietet die Projektseite »Persistenz und Wandel von Neopatrimonialismus in verschiedenen Nicht-OECD-Regionen« des Leibniz-Instituts für Globale … Continue reading Politische Ämter verschaffen den Zugang zu staatlichen Ressourcen und zu den umfangreichen Mitteln, die als Entwicklungshilfe ins Land kommen. Sie geben Gelegenheit zur Einkommensgenerierung durch Korruption bis hin zur »Besteuerung« krimineller Netzwerke, insbesondere des Transithandels mit Drogen. Eine partikularistische Verwendung staatlicher Ressourcen und die Pflege eines Netzwerks durch direkten oder indirekten Austausch führt zu einer Machtkonzentration in den Händen der so genannten Big Men [2]Begriff von Marshall D. Sahlins, Poor Man, Rich Man, Big-Man, Chief: Political Types in Melanesia and Polynesia, Comparative Studies in Society and History 5, 1963, 285-303..
In Afrika hat die »Bigmanity« bisher regelmäßig auch eine Gewaltkomponente. [3]Vgl. dazu die Sammelbände von Jean Comaroff/John Lionel Comaroff (Hg.), Law and Disorder in the Postcolony, Chicago 2006; Georg Klute/Birgit Embaló (Hg.), The Problem of Violence. Local Conflict … Continue reading Traditionale Gesellschaften lösen das Problem der Kontrolle von Gewalt durch Einkommensgenerierung (rent-creation). Hier kontrolliert und nutzt das politische System die Wirtschaft als Einkommensquelle. Wer selbst über ein Gewaltpotential verfügt und dadurch Gewalt unter Kontrolle halten kann, kann sich vorhandene Einkommensquellen sichern, muss allerdings davon so viel verteilen, dass keine Gewalt ausbricht. Die Gesellschaften sind insofern geschlossen, als die Möglichkeiten, sich neu zu organisieren und in wirtschaftlichen Wettbewerb zu treten, begrenzt sind. Damit ist eine wirtschaftliche Expansion ausgeschlossen. Moderne Gesellschaften haben spezifische Institutionen zur Kontrolle von Gewalt. Die Gewaltkontrolle ist nicht an bestimmte Personen gebunden und als Kehrseite entfallen privilegierte Einkommensquellen und daraus entsteht wirtschaftlicher Wettbewerb mit der Folge wirtschaftlichen Wachstums. Das ist in Kürze die institutionenökonomische Erklärung für die Blockade des wirtschaftlichen Wachstums in vielen Entwicklungsländern. [4]Douglass C. North/John Joseph Wallis/Barry R. Weingast, A Conceptual Framework for Interpreting Recorded Human History; Barry R. Weingast, Why Developing Countries Prove so Resistant to the Rule of … Continue reading Staatenbildung als solche genügt daher nicht, um die Modernisierung voranzubringen, solange der Staat nicht verhindern kann, dass Gewalt zur Einkommensgenerierung dient.
Als potentiell gewalttätig galten die akephalen Stammesgesellschaften Afrikas. Potentiell gewalttätig war es auch immer an den vielen Stammes- und Sprachgrenzen. Über die Jahrhunderte hatte sich ein ausbalanciertes System von Kooperation, aber auch von Wettbewerb um Ressourcen ausgebildet, das zwar Gewalt nicht ausschloss, aber insgesamt gesehen doch stabil war. Dieser Gleichgewichtszustand geriet in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch viele bürgerkriegsähnliche Konflikte ins Wanken, als Teile der Bevölkerung bewaffnet wurden, um andere zu vernichten. [5]Für den Sudan Richard Rottenburg/Guma Kunda Komey/Enrico Ille, The Genesis of Recurring Wars in Sudan: Rethinking the Violent Conflicts in the Nuba Mountains/South Kordofan, 2001, S. 26. Dennoch herrscht kein absolutes Chaos. Offiziell installierte Politiker nutzen ihre Rolle als Big Man. Familienclans und Stammeszugehörigkeit verhelfen zu relativem Schutz. Auch NGOs greifen immer wieder ein. Koalitionen und Netzwerke schaffen laufend veränderte Fronten, zwischen denen auch noch ein »normales« Leben möglich bleibt. Aber der Frieden ist immer fragil, eigentlich nur ein Waffenstillstand. Doch auch ohne bürgerkriegsähnliche Zustände ist politische Gewalt in Afrika fast überall noch präsent. [6]Beispiele in Diehards and Democracy: Elites, Inequality and Institutions in African Elections, Briefing Note des Africa Research Institute, London, von April 2012. Je nach Standpunkt des Beobachters wird dieser Zustand als das Ergebnis von Staatsversagen oder als ein alternativer Zustand beschrieben, wie Länder dennoch fortexistieren können. [7]Mats Utas, Introduction: Bigmanity and Network Governance in African Conflicts, in: Mats Utas (Hg.), African Conflicts and Informal Power, Big Men and Networks, London 2012, S. 1-31, S. 4. Klute und Embaló sowie von Throta teilen den letzteren Blick. Sie meinen, es greife zu kurz, die zu beobachtenden Strukturen nur als notdürftigen Ersatz für staatliche Ordnung anzusehen. Neue und wiederbelebte traditionale Formen des Umgangs mit Macht zeigten eine bemerkenswerte Vitalität. Sie sprechen von einer parastaatlichen Heterarchie, die man sich auch als dauerhafte Alternative zu staatlicher Herrschaft vorstellen könne. Nur der sicherheitsvernarrten Nordhälfte des Globus erscheine das Fehlen institutioneller Verlässlichkeit mit Streit und Gewalt als dauernder Begleiterscheinung suspekt. [8]Georg Klute/Birgit Embaló, Introduction: Violence and Local Modes of Conflict Resiolution in Heterarchical Figurations, in: dies. (Hg.), The Problem of Violence. Local Conflict Settlement in … Continue reading Hier, wie auch sonst in der Governance-Literatur, die stolz darauf ist, vielfältige Ordnungsfaktoren »in Räumen begrenzter Staatlichkeit« [9]»Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit« ist der Titel eines Sonderforschungsbereichs an der FU Berlin. Ich beziehe mich auf Tanja A. Börzel/Thomas Risse, Governance Without a State: Can … Continue reading entdeckt zu haben, wird das Gewaltproblem verharmlost. Doch damit nicht genug. Eine heterarchische Ordnung blockiert, jedenfalls nach der institutionenökonomischen Erklärung, die Modernisierung oder, wenn man Modernisierung nicht mag, die Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen und der individuellen Entfaltungsmöglichkeiten. Mindestens Klute und Embaló haben eine merkwürdige Vorstellung von dem Unterschied zwischen Heterarchie und Hierarchie, wenn sie (S. 7) schreiben:

»The assets of the heterarchy concept besome particularly evident when compared to hierarchical representations. … Wheras hierarchies canalise power and privilege to the top, heterarchies distribute privileges and decision-making variably and fluidly. While in hierarchies ranked positions, i. e. domination or subordination, are fixed, ranking in heterarchies can be reversed and hence privileges ever newly distributed. This, we believe, is what the current state of politics in Africa is about.«

Es ist mir nicht klar geworden, welche Hierarchie sie meinen. Nach dem Kontext, in dem es um Länder geht, in denen der Staat abwesend ist und daher nach »non-state legal orders and institutions« gesucht wird, müsste als Hierarchie eigentlich ein funktionierender Staat mit Gewaltmonopol gemeint sein. Diesen Staat kann man in zweierlei Hinsicht als hierarchisch beschreiben, nämlich hinsichtlich des Stufenbaus seiner Rechtsordnung und hinsichtlich der Organisation seiner Bürokratie. Aber wenn es sich um einen demokratischen Rechtsstaat handelt, kann keine Rede davon sein, dass in einem solchen Staat Macht und Privilegien auf eine Spitze hin kanalisiert und die Rangunterschiede festgeschrieben wären, sondern sie sind offen für einen gewaltfreien Wettbewerb. Vor allem aber ist Gewalt kein Mittel der Einkommensgenerierung, so dass ein wirtschaftlicher Leistungswettbewerb möglich wird. Aus der Modernisierungsperspektive bleibt das diffuse, aber permanente Gewaltpotential deshalb ein Problem, von der Perspektive der betroffenen Menschen gar nicht zu reden. Es wäre zynisch, internationale Interventionen, die die Reduzierung der Gewalt zum Ziel haben, für überflüssig zu halten. Die Institutionen, die die nachholende Modernisierung betreiben, haben dieses Ziel nicht aufgegeben. [10]Weiterführende Beiträge zum Thema im Sonderheft »Security Sector Reform and Rule of Law« des Hague Journal on the Rule of Law 4, 2012. Die multilateralen Einrichtungen zur kollektiven Friedenssicherung haben sich seit der Jahrtausendwende in Afrika schneller entwickelt als in anderen Regionen der Welt, und sie sind mit ihren diplomatischen und militärischen Interventionen nicht erfolglos. [11]Briefing Note des Africa Research Institute, London, von May 2010 (No, Mr. President. Mediation and Military Intervention in the African Union.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Eine Bibliographie zum Thema und gehaltvolle Links bietet die Projektseite »Persistenz und Wandel von Neopatrimonialismus in verschiedenen Nicht-OECD-Regionen« des Leibniz-Instituts für Globale und Regionale Studien (GIGA).
2 Begriff von Marshall D. Sahlins, Poor Man, Rich Man, Big-Man, Chief: Political Types in Melanesia and Polynesia, Comparative Studies in Society and History 5, 1963, 285-303.
3 Vgl. dazu die Sammelbände von Jean Comaroff/John Lionel Comaroff (Hg.), Law and Disorder in the Postcolony, Chicago 2006; Georg Klute/Birgit Embaló (Hg.), The Problem of Violence. Local Conflict Settlement in Contemporary Africa, 2011; Mats Utas (Hg.), African Conflicts and Informal Power, Big Men and Networks, London 2012; ferner Richard Rottenburg/Guma Kunda Komey/Enrico Ille, The Genesis of Recurring Wars in Sudan: Rethinking the Violent Conflicts in the Nuba Mountains/South Kordofan, 2001 .
4 Douglass C. North/John Joseph Wallis/Barry R. Weingast, A Conceptual Framework for Interpreting Recorded Human History; Barry R. Weingast, Why Developing Countries Prove so Resistant to the Rule of Law, in: James J. Heckman u. a. (Hg.), Global Perspectives on the Rule of Law, London u. a. 2010, S. 28-51.
5 Für den Sudan Richard Rottenburg/Guma Kunda Komey/Enrico Ille, The Genesis of Recurring Wars in Sudan: Rethinking the Violent Conflicts in the Nuba Mountains/South Kordofan, 2001, S. 26.
6 Beispiele in Diehards and Democracy: Elites, Inequality and Institutions in African Elections, Briefing Note des Africa Research Institute, London, von April 2012.
7 Mats Utas, Introduction: Bigmanity and Network Governance in African Conflicts, in: Mats Utas (Hg.), African Conflicts and Informal Power, Big Men and Networks, London 2012, S. 1-31, S. 4.
8 Georg Klute/Birgit Embaló, Introduction: Violence and Local Modes of Conflict Resiolution in Heterarchical Figurations, in: dies. (Hg.), The Problem of Violence. Local Conflict Settlement in Contemporary Africa, Köln 2011, 1-27, S. 4; Trutz von Throta, The Problem of Violence: Some Theoretical Remarks about ‘Regulative Orders of Violence’, Political Heterarchy, and Dispute Regulation beyond the State, ebd. S. 31-47, S. 34 ff, 44.
9 »Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit« ist der Titel eines Sonderforschungsbereichs an der FU Berlin. Ich beziehe mich auf Tanja A. Börzel/Thomas Risse, Governance Without a State: Can it Work?, Regulation & Governance 4, 2010, 113-134.
10 Weiterführende Beiträge zum Thema im Sonderheft »Security Sector Reform and Rule of Law« des Hague Journal on the Rule of Law 4, 2012.
11 Briefing Note des Africa Research Institute, London, von May 2010 (No, Mr. President. Mediation and Military Intervention in the African Union.

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Der Teufelskreis der Gewalt

Der Historiker Jörg Baberowski hat in einem Interview, das aus Anlass des Erscheinens seines Buches »Verbrannte Erde: Stalins Herrschaft der Gewalt« geführt wurde, einige Sätze formuliert, die ins Stammbuch der Rechtssoziologie gehören:
»Von Frieden geht keine Dynamik aus. … Gewalt erzeugt Anschlusszwänge. Und wenn man einmal entschieden hat, Gewalt gegen andere auszuüben, kommt man in einen Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen gibt – weil Menschen sich wehren, weil die Terrorisierten Rache nehmen könnten und weil zu Ende gebracht werden muss, was einmal in Gang gesetzt worden ist.« [1]»Stalin liebte Höchstleistungen beim Töten«, FamS vom 11. Juli 2012 S. 9.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 »Stalin liebte Höchstleistungen beim Töten«, FamS vom 11. Juli 2012 S. 9.

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Die Rolle des Rechts im Prozess der nachholenden Modernisierung

Derzeit versuche ich mich an einer Abgleichung der »klassischen« soziologischen Modernisierungstheorie mit den Untersuchungen über Law and Development. Dabei sind mir drei Forschungsprojekte aufgefallen, die Rechtssoziologie unter fremdem Namen betreiben.
Das älteste ist das Projekt »States at Work. Public Services and Civil Servants in West Africa: Education and Justice in Benin, Ghana, Mali and Niger« des Instituts für Ethnologie und Afrikastudien an der Universität Mainz. Es lief von 2006 bis 2011. Ein zusammenfassender Projektbericht liegt anscheinend noch nicht vor. Aber die Webseite verweist auf viele interessante Arbeitspapiere und Buchbesprechungen. Hervorzuheben sind besonders:
Gifty Amo Antwi u. a., “They Are not Enlightened”. Wie Staatsbedienstete in Nordghana Differenz zwischen sich und ihren Klienten konstruieren.
Thomas Bierschenk, States at Work in West Africa: Sedimentation, Fragmentation and Normative Double‐Binds, 2010. Von »nachholender Rechtsstaatsentwicklung« spricht Bierschenk in einer ausführlichen Buchbesprechung. [1]Des Bandes von Rolf Kappel/Hans-Werner Tobler/Peter Waldmann (Hg.), Rechtsstaatlichkeit im Zeitalter der Globalisierung, Freiburg im Breisgau 2005. Zu diesem Band gibt es eine handliche … Continue reading

»Persistenz und Wandel von Neopatrimonialismus in verschiedenen Nicht-OECD-Regionen« heißt das von der Volkswagen Stiftung geförderte Projekt des Leibniz-Instituts für Globale und Regionale Studien (GIGA). Ein Forschungsschwerpunkt befasst sich speziell mit Recht und Politik. Das Projekt wird auf den Internetseiten gut beschrieben und es gibt eine Bibliographie sowie viele Hinweise auf eigene und fremde Vorarbeiten, die zum Teil online verfügbar sind.

Das dritte Projekt, das hier zu vermelden ist, steht unter der Regie der Konstanzer Politikwissenschaftlerin Katharina Holzinger und trägt den Titel »Traditionale Governance und moderne Staatlichkeit«. Es wird als Reinhart-Koselleck-Projekt von der DFG mit 1,5 Mill. EUR gefördert. [2]Frau Holzinger ist Sprecherin des Fachkollegiums 111 Sozialwissenschaften der DFG. Bisher gibt es dazu nur eine Presseinformation. Dort liest man:

Weltweit gibt es in vielen Staaten ethnische Bevölkerungsgruppen, die ihr inneres politisches Leben gemäß traditionaler Strukturen organisieren. Knapp 57% der Weltbevölkerung in 63 UN-Mitgliedstaaten leben in Rechtssystemen, in denen indigene Rechte in relevantem Umfang mit der staatlichen Gesetzgebung koexistieren. Gerade in Afrika sind traditionale Institutionen keineswegs strikt von staatlichen Institutionen abgegrenzt. ›Traditionale Institutionen, die sich entlang von Ethnien konstituieren, sind in vielen afrikanischen Ländern noch besonders bedeutend: sowohl in Hinsicht auf ihren Umfang als auch bezogen auf ihre politische Bedeutung. In diesen Staaten koexistieren indigene Formen der Governance mit modernen staatlichen Formen‹, schildert Katharina Holzinger. In vielen Fällen übernehmen solche traditionalen Institutionen staatliche Aufgaben – teils in Konkurrenz zum Staat, teils komplementär oder sogar verschränkt mit dem Staat.

»In einer weltweiten, quantitativen Untersuchung«, so heißt es weiter, soll ermittelt werden, »welche Wechselbeziehung zwischen Staat und traditionaler Governance bestehen und welche Auswirkungen dies auf die demokratische Entwicklung des Staates hat. Mittels acht Länderfallstudien, die sich auf afrikanische Staaten konzentrieren, wird Holzinger ihre weltweiten Analysen vertiefen.« In der Rechtssoziologie würde man nicht von Governance, sondern von Legal Pluralism reden.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Des Bandes von Rolf Kappel/Hans-Werner Tobler/Peter Waldmann (Hg.), Rechtsstaatlichkeit im Zeitalter der Globalisierung, Freiburg im Breisgau 2005. Zu diesem Band gibt es eine handliche Zusammenfassung des Wissenschaftlichen Beirats beim BMZ: Staatsentwicklung und Rechtsstaatlichkeit: Lehren aus der europäischen Geschichte und lateinamerikanischer Erfahrungen 2006.
2 Frau Holzinger ist Sprecherin des Fachkollegiums 111 Sozialwissenschaften der DFG.

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Zur interdisziplinären Verwendung der Netzwerkforschung IV: Und wo bleibt Ostroms Frage?

Die interdisziplinäre Verwendung des Netzwerkskonzepts läuft Gefahr, mehr oder weniger selektiv auf typische Netzwerkeigenschaften zurückzugreifen und sie normativ aufzuladen. Die Variabilität real existierender Netzwerke ist aber so groß, dass die abstrakte Bezugnahme auf das Netzwerkkonzept leicht zur Ideologie gerät. Die Netze, um die es in der Rechtstheorie geht, sind immer heterarchisch. Sie sind locker und in Bewegung. Sie sind flexibel und produktiv. Sie sind in dem Sinne »more social« [1]Powell 1996, 219., dass sie »stärker auf Beziehungen, Ansehen und gegenseitige Interessen angewiesen und weniger durch formale Regeln bestimmt« sind als Organisationen. Diese und andere Eigenschaften von Netzwerken lassen nicht schon aus dem Netzwerkbegriff ableiten, sondern müssen in jedem Einzelfall erst empirisch nachgewiesen werden. Deshalb ist es gefährlich, von Netzwerken an sich zu sprechen.
Die wichtigste Eigenschaft, die Rechtstheoretiker den Netzwerken beilegen, ist Selbstorganisationsfähigkeit. Die Fragestellung ist nicht klar. Ist gemeint, dass Netzwerke sich intern selbst organisieren? Oder liefern sie auch einen Ordnungsüberschuss über die eigenen Grenzen hinaus? Solche Unklarheiten verbinden sich mit einem dicken Defizit. Nirgends finde ich in der postmodernen Rechtstheorie eine Auseinandersetzung mit Ostroms Frage: Warum ist Selbstorganisation in einigen Fällen erfolgreich und in anderen nicht? [2]Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen, 2011, S. 28.
Für die Rechtssoziologie ist es unbefriedigend zu wissen, dass unter bestimmten Bedingungen ein Netzwerk besser funktioniert als ein Unternehmen oder eine Behörde, wenn nicht gleichzeitig die Außenwirkung geklärt wird. Die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg e.V. liefert ein Beispiel für ein gut funktionierendes Netzwerk zur Abwehr des Atommüll-Lagers in Gorleben. Die Tatsache, dass hier die Selbstorganisation in einem Netzwerk erfolgreich war, kann kaum bedeuten, dass deshalb auch Ziele und Außenwirkung des Netzwerks akzeptabel sind. Immerhin entsteht aus der Distanz der Eindruck, dass in Gorleben Nimby gespielt wird.
Es muss nicht immer Nimby sein. Die Selbstorganisation durch Netzwerke schafft vermutlich viele schöne Inseln der Ordnung. Doch was ist mit dem Meer der Unordnung? Da kommt zur Landgewinnung ein deus ex machina. Das »Netzwerk der Netzwerke« wird die Inseln eindeichen.
Der langen Schreibe kurzer Sinn: Wer in interdisziplinärer Absicht von Netzwerken redet, sollte deutlich erkennen lassen, aus welchen Elementen mit welchen zwischen ihnen bestehenden Beziehungen sich diese zusammensetzen. Sonst gerät er in Verdacht der Reticulomanie.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Powell 1996, 219.
2 Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen, 2011, S. 28.

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