Im Artikel vom 13. März 2010 hatte ich über die Herkunft und den unterschiedlichen Gebrauch von »Lawfare« berichtet. Ich hatte gehofft, diesen Ausdruck wertneutral zur Kennzeichnung juristischer Strategien verwenden zu können, mit denen Opfer von Menschenrechtsverletzungen, ihre Anwälte und vor allem NGOs versuchen, über Ländergrenzen hinweg Ansprüche durchzusetzen, die auf transnationales Recht gestützt werden, besonders natürlich auf Menschenrechtsverletzungen. Doch daran sah ich mich gehindert, weil der Begriff nach Entstehungsgeschichte und tatsächlicher Verwendung eher dazu dient, die Berufung nichtstaatlicher Akteure auf Menschenrechte gegenüber kriegerisch staatlichen Maßnahmen herabzusetzen. Nicht durchgesetzt hat sich dagegen die Bedeutung, die John L. Comaroff dieser Wortschöpfung beilegen wollte, nämlich die Kennzeichnung des Missbrauchs der Rechtsform zunächst durch die Kolonialmächte und heute durch autoritäre Regime in den Entwicklungsländern.
Vor allem die Auseinandersetzung zwischen Israel und den Palästinensern ist zum Schauplatz von Lawfare in dem Sinne geworden, den Dunlop dem Ausdruck mitgegeben hatte. Als Beispiel dafür gibt es bei SSRN ein ausführliches Manuskript von Michael G. Kearney (Lawfare, Legitimacy, and Resistance: The Weak and the Law, Juni 2010). Kearney spricht von einem Lawfare-Narrativ, das man in Israel aufgebaut habe, um eine drohende Delegitimierung des Kampfes gegen die Hisbollah und die Hamas abzuwehren.
Kategorie: Rechtssoziologie
Begriffssoziologie V: Konstitutionalisierung strukturell
In vielen Texten Teubners und seiner Schule ist von Konstitutionalisierung, Selbstkonstitutionalisierung, Zivilverfassungen oder von »Verfassung ohne Staat« die Rede. [1]Andreas Fischer-Lescano, Globalverfassung, Die Geltungsbegründung der Menschenrechte, 2005; Gunther Teubner, Globale Zivilverfassungen: Alternativen zur staatszentrierten Verfassungstheorie, … Continue reading Dahinter steckt die These von der Ablösung staatszentrierter Verfassungen durch die »Konstitutionalisierung« einer Vielheit von autonomen weltgesellschaftlichen Teilsystemen (societal constitutionalism). Sie knüpft an die Redeweise des Völkerrechts und der Politikwissenschaft an, wenn dort die Verdichtung globaler Rechtsphänomene als Konstitutionalisierung bezeichnet wird. Teubner (2003) bezieht sich zusätzlich auf den amerikanischen Soziologen David Sciulli, der ein Konzept eines »societal constitutionalism« entwickelt hatte. [2]David Sciulli, The Theory of Societal Constitutionalism, Foundations of a Non Marxist Critical Theory, Cambridge 1992. Sciulli hat allerdings etwas anderes im Sinn, nämlich eine Umstellung … Continue reading
Juristisch redet man von der Konstitutionalisierung der Rechtsordnung im Hinblick auf den Vorrang der Verfassung gegenüber allem einfachen Recht, der sich insbesondere in der Drittwirkung der Grundrechte äußert. [3]Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, 413 ff. Dabei bleibt die Verfassung im Staat. Es gibt aber auch in der Rechtswissenschaft die Idee eines vom Nationalstaat abgelösten Konstitutionalismus. So hat Ingolf Pernice in Anlehnung an den von Habermas geprägten Begriff der »postnationalen Konstellation« für das zusammenwachsende Europa eine »postnationale Verfassungstheorie« vorgeschlagen. [4]Ingolf Pernice, Europäisches und Nationales Verfassungsrecht, Vortrag, 2004. Im gleichen Sinne schreiben die Völkerrechtlerin Anne Peters [5]Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 , 2010, 3-63; dies., Grundlage europäischer Konstitutionalisierung: Die Entkopplung von … Continue reading und Neil Walker von der London School of Economics [6]Neil Walker, The Idea of Constitutional Pluralism, Modern Law Review 65, 2002, 317-359, Internetfassung S. 36; ders., Taking Constitutionalism Beyond the State, RECON Online Working Paper 2007/05; … Continue reading Dagegen hält Dieter Grimm die Verwendung des Konstitutionalisierungsbegriffs für verfehlt, weil dieser Begriff durch »Errungenschaften« der klassischen Staatsverfassungen ausgefüllt werde, die im Weltrecht nirgends anzutreffen seien. [7]Dieter Grimm, Gesellschaftlicher Konstitutionalismus: Eine Kompensation für den Bedeutungsschwund der Staatsverfassung?, in: Matthias Herdegen u. a. (Hg.), Staatsrecht und Politik, Festschrift für … Continue reading • [8]Der Verlag Cambridge University Press hat eine neue Zeitschrift mit dem Titel »Global Constitutionalism« angekündigt, die ab 2012 erscheinen soll. Im »Call for Papers« heißt … Continue reading
Den Konstitutionalisierungsbegriff könnte man noch hinnehmen. Besser wäre es, von Verrechtlichung zu sprechen. Missverständlich, ja missbräuchlich ist es jedoch, wenn das Ergebnis von Konstitutionalisierungsprozessen als Verfassung bezeichnet wird, weil mit dem Verfassungsbegriff unlösbar die Konnotation der Staatsverfassung einhergeht, die nicht nur Verwirrung stiftet, sondern auch einen ungerechtfertigten Legitimationstransfer bewirkt. [9]Insofern kritisch auch Armin von Bogdandy/Sergio Dellavalle, Die Lex mercatoria der Systemtheorie, in: Gralf-Peter Calliess u. a. (Hg.), Soziologische Jurisprudenz, Festschrift für Gunther Teubner … Continue reading
Der Vorgang, der von der Systemtheorie als Selbstkonstitutionalisierung beschrieben wird, hat eine strukturelle, eine funktionale und eine empirische Seite. Unter dem Gesichtspunkt der Strukturbildung werden als »verfassungstypische Merkmale« doppelte Reflexivität und »binäre Metacodierung« verlangt. Als verfassungstypische Funktionen einer Selbskonstitutionalisierung werden Autonomiebildung und Selbstbeschränkung gegen sozialschädliche Tendenzen genannt. [10]Selbst-Konstitutionalisierung, 2010, 7. Empirisch werden »Lernpressionen« angeführt, die die Selbstkonstitutionalisierung vorantreiben.
Heute also zur strukturellen Seite der Konstitutionalisierung:
Strukturell ist Selbskonstitutionalisierung mehr als Verrechtlichung. Unterschieden werden drei Stufen der Rechtsbildung: [11]Zuletzt in Selbst-Konstitutionalisierung, 2010, S. 7 f.
Bloße Juridifizierung eines sozialen Bereichs durch Regelbildung für Verhalten und/oder Konfliktregelung (private ordering).
Systembildung durch doppelte Reflexivität oder Hyperzyklus: Es gibt sekundäre Normen, welche die Identifizierung sowie Kompetenz und Verfahren zum Erlass von primären Normen regeln. [12]Für die Unterscheidung von primären und sekundären Regeln verweist Teubner immer wieder auf Herbert L. A. Hart, The Concept of Law, 1961, Oxford: Clarendon, 77 ff.
Konstitutionalisierung durch strukturelle Verknüpfung verschiedener Systeme und binäre Meta-Codierung.
Der Umschlag von bloßer Regelbildung (private ordering) zum Recht erfolgt mit dem Vorgang, den Teubner früher [13]Hyperzyklus in Recht und Organisation. Zum Verhältnis von Selbstbeobachtung, Selbstkonstitution und Autopoiese, in: Hans Haferkamp/Michael Schmid (Hg.), Sinn, Kommunikation und soziale … Continue reading als Hyperzyklus vorstellt hatte. In neueren Veröffentlichungen spricht er schlichter von sekundärer Normierung. Gemeint ist, dass ein sozialer Bereich nicht bloß über Regeln zur Verhaltenssteuerung verfügt, sondern Kriterien entwickelt, nach denen intern entschieden wird, welche Regeln zum System gehören und welche nicht. Wenn dann der Systemcode der Recht/Unrecht-Code ist, handelt es sich eben um Recht.
Gelegentlich entsteht der Eindruck, Konstitutionalisierung werde mit dem Überschreiten dieser Schwelle der Verrechtlichung (= operative Schließung des Systems) gleichgesetzt. Dann wäre der Konstitutionalisierungsbegriff eigentlich überflüssig.
»Die Politik, die Wirtschaft, die Wissenschaft, die Massenmedien konstituieren sich als autonome Sozialsysteme unter anderem dadurch, dass sie sich eine Verfassung geben. Verfassungsprozesse sind ein Fall der ›doppelten Schließung‹ im Sinne von Heinz von Foerster. Sie werden dadurch ausgelöst, dass Sozialsysteme über ihre operative Schließung erster Ordnung hinaus eine Schließung zweiter Ordnung entwickeln, indem sie ihre Operationen reflexiv auf ihre Operationen anwenden. Wissenschaft gewinnt ihre Autonomie erst dann, wenn es gelingt, über die am Wahrheitscode orientierten Erkenntnisoperationen eine zweite Erkenntnisebene einzuziehen, auf der die Erkenntnisoperationen erster Ordnung ihrerseits mit methodischen und erkenntnistheoretischen Operationen auf ihren Wahrheitswert geprüft werden. Die Politik wird dann zu einer autonomen Machtsphäre der Gesellschaft, wenn sie Machtprozesse mit Hilfe von Machtprozessen dirigiert und über Festlegung von Wahlverfahren, Organisationsweisen, Kompetenzen, Gewaltenteilung und Grundrechten eine doppelte Schließung der Machtprozesse herstellt.« [14]Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 20.
Doch wenn man weiter liest, bleibt kein Zweifel, dass nicht jedes autonome Sozialsystem über eine »Verfassung« verfügt, sondern dass Konstitutionalisierung zusätzlich einen »Ultrazyklus« voraussetzt, das heißt eine strukturelle Kopplung zwischen zwei Systemen mit einem binären Meta-Code.
»Auf der Meta-Ebene fungiert der Verfassungscode, denn er unterwirft Entscheidungen, die bereits unter der binären Recht/Unrecht-Codierung gefällt wurden, einer zusätzlichen Prüfung, nämlich ob sie sozialverfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechen. Hier entsteht also die für alle Verfassungen – für politische Staatsverfassungen, für Sozialverfassungen oder für Organisationsverfassungen – typische Hierarchie zwischen einfachem Recht und Verfassungsrecht, ›the law of the laws‹. Dem Rechtscode (rechtmäßig/rechtswidrig) wird der Verfassungscode des jeweiligen Sozialbereichs (verfassungsmäßig/verfassungswidrig) übergeordnet. … Dieser gewiss nicht einfach gebaute Zusammenhang von struktureller Kopplung und ihrer hybriden Meta-Codierung … « [15]Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 26.
In der Tat, dieser Zusammenhang ist nicht einfach gebaut.
Von Luhmann wissen wir: Die strukturelle Kopplung zwischen Recht und Politik wird durch die Verfassung hergestellt, diejenige zwischen Recht und Wirtschaft durch Vertrag und Eigentum. [16]Luhmann, GdG 1997, 782 f.; RdG 1993, 452 ff. Aus dem Ultrazyklus der strukturellen Kopplung entwickelt sich ein »Meta-Code«, der sich dem binären Code der Funktionssysteme überordnet, ohne sie zu einem System höherer Ordnung zusammenzufügen. Der Meta-Code für das Systempaar Politik und Recht lautet verfassungsmäßig/verfassungswidrig.
Folgt man der Konstruktion Teubners, so stellt sich die Frage, welche Systeme und auf welcher Ebene die Systeme verkoppelt werden sollen. Es geht kaum um die Kopplung von Recht und Politik.
»Autokonstitutionelle Regimes zeichnen sich dadurch aus, dass sie reflexive Prozesse des Rechts mit reflexiven Prozessen anderer Sozialbereiche, also gerade nicht nur der Politik, verknüpfen.« [17]Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen, S. 54.
Das politische System ist eher noch weniger globalisiert als das Rechtssystem. Beide leiden auf globaler Ebene wechselseitig kaum unter ihrem Expansionsdrang. In erster Linie geht es darum, dem Expansionsdrang des Wirtschaftssystems Einhalt zu bieten.
Im Verhältnis zwischen Recht und Wirtschaft hatte Luhmann die strukturelle Kopplung nicht in einer Verfassung, sondern in den Institutionen »Eigentum« und »Vertrag« verortet. Die Wirtschaft kann kein Recht setzen. Aber sie kann Verträge schließen und Eigentum schaffen und darüber verfügen, und das Rechtssystem muss diese Operationen als solche akzeptieren. Umgekehrt kann das Recht auf die Wirtschaft Einfluss nehmen, indem es Vertrag und Eigentum nach seinen Maßstäben inhaltlich definiert. Bei Luhmann blieb der Meta-Code für die strukturelle Kopplung von Recht und Wirtschaft offen. Teubner führt als Kopplungsstrukturen zusätzlich Wettbewerb und Geldwährung ein. [18]Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 24. Daneben kennt er auf Subsystemebene auch noch weitere Kopplungen. Für alle soll derselbe Meta-Code gelten:
»Die Differenz verfassungsmäßig/verfassungswidrig entwickelt sich zu einem binären Meta-Code innerhalb der strukturellen Kopplung zwischen Wirtschaft und Recht, der sich sowohl dem Rechtscode als auch dem Wirtschaftscode überordnet.« [19]Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 3.
Für die Verkopplung der territorialen Rechte mit der Wirtschaft wäre dieser Code plausibel, denn über die Drittwirkung der Grundrechte wird auch die Wirtschaft indirekt mit den politischen Grundentscheidungen der Verfassung verkoppelt. Aber das neue Weltrecht, das dem Weltwirtschaftssystem gegenübersteht, verfügt nicht über den Rückhalt einer Verfassung, mit der es Vertrag und Eigentum, Wettbewerb und Geldwährung und weiteren Kopplungen auf globaler Ebene einen sozialverträglichen Inhalt geben könnte. Damit fehlt dem Meta-Code die »Programmierung«, ohne die mit ihm nicht viel anzufangen ist.
Fraglich ist weiter, auf welcher Ebene die Verkopplung der Systeme stattfindet. Der folgende Text deutet in Richtung auf die Verkopplung der gesellschaftlichen Funktionssysteme als solcher, im konkreten Fall von Recht und Wirtschaft:
»… der Endpunkt einer Konstitutionalisierung – sei es in der Politik, sei es in der Wirtschaft, sei es in anderen Sozialbereichen – ist erst dann erreicht, wenn sich ein eigenständiger Verfassungs-Code, eine binäre Meta-Codierung, und zwar innerhalb der strukturellen Kopplung von Recht und betroffenem Sozialsystem, herausbildet, und wenn sich die internen Prozesse der gekoppelten Systeme daran orientieren.« [20]Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 26.
Eine Verkopplung der (Welt-)Funktionssysteme liefe auf eine einheitliche Weltverfassung hinaus. Die Weltgesellschaft, der eine eigene »Gesamtrationalität« zugeschrieben wird [21]Teubner, Globale Zivilverfassungen, 2003, Internetfassung S. 7. , soll sich selbst eine Verfassung geben.
»Wenn es richtig ist, dass die Abwehr von drei Kollisionsgefahren im Zentrum steht – Selbstdestruktion des Systems, Umweltschädigung im weitesten Sinne (Gefährdung der Integrität der sozialen, humanen und natürlichen Umwelten), Gefährdung der Weltgesellschaft – dann ist die zweite Option vorzuziehen. Dies ist die Botschaft eines gesellschaftlichen Konstitutionalismus. Eine globale Verfassungsordnung steht vor der Aufgabe: Wie kann externer Druck auf die Teilsysteme so massiv erzeugt werden, dass in ihren internen Prozessen Selbstbeschränkungen ihrer Handlungsoptionen wirksam werden?« [22]Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 7, 9.
Der Gedanke an eine Weltverfassung wäre, wenn man an die Analogie zur Staatsverfassung denkt, konsequent. Aber er passt nicht zu den zentralen Aussagen der systemtheoretischen Analyse, nach denen das neue Weltrecht polyzentrisch und heterarchisch strukturiert ist. Eine Globalverfassung ist allenfalls der »Endpunkt einer Konstitutionalisierung«. Zunächst muss man die Kandidaten für eine Konstitutionalisierung auf der Ebene der Subsysteme suchen.
Fischer-Lescano und Teubner werden bei den transnationalen Rechtsregimes fündig. Diese verfügen über strukturelle Kopplungen zu anderen »autonomen Sozialbereichen«. [23]Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen, 2006, 53 ff.; für die lex mercatoria schon Teubner, Globale Bukowina, 1996, Internetfassung S. 23. Allerdings lassen sich diese Kopplungen nicht so plakativ benennen wie für die territorial begrenzten Rechtssysteme. Ja, eigentlich werden sie überhaupt nicht benannt, sondern vorausgesetzt und behauptet. Es bleibt offen, wo konkret der Widerpart der Kopplung zu suchen ist. Handelt es sich um ein Funktionssystem als Ganzes oder um ein Subsystem? Offen ist ferner, welche Struktur die Kopplung bewirkt. Schließlich fehlen Angaben zu dem »Programm«, nämlich den Regeln, die darüber entscheiden, wie die Code-Werte zugeteilt werden, was also verfassungsmäßig oder verfassungswidrig ist.
Das jüngste Objekt der Konstitutionalisierung sind die transnationalen Unternehmen (Transnational Corporations = TNC) mit ihren Corporate Codes of Conduct (nicht zu verwechseln mit binären Systemcodes). Auch sie bilden »buchstäblich Verfassungen ohne Staat«. [24]Selbst-Konstitutionalisierung, 2010, 9.
Die Corporate Codes of Conduct werden von Teubner auch als Unternehmensverfassungen bezeichnet. Hier ist der Gebrauch des Verfassungsbegriffs doppelt verfehlt, nicht nur wegen der tendenziösen Konnotation zur Staatsverfassung, sondern auch deshalb, weil die Unternehmensverfassung als Terminus des Gesellschaftsrechts nicht mit einem Corporate Code of Conduct deckungsgleich ist.
TNC sind Organisationen, die man gleichzeitig als Rechtsgebilde und als Wirtschaftsunternehmen betrachten kann. So betrachtet gehören sie als Subsysteme sowohl dem Rechtssystem als auch dem Wirtschaftssystem an. Teubners These besagt, dass der Code of Corporate Conduct die strukturelle Kopplung zwischen dem Unternehmen als Teil des Rechtssystems und dem Unternehmen als Teil des Wirtschaftssystems herstellt. Bei den TNC wird klarer, wer mit wem wodurch verkoppelt ist, nämlich die TNC als Wirtschaftsunternehmen über ihre Codes of Conduct mit dem offiziellen Recht, und zwar hier speziell mit den Richtlinien für die Unternehmensverantwortung, wie sie von UNO, ILO und OECD vorgehalten werden.
Doch mit dem einfachen Ultrazyklus ist es nicht getan. Er wird zusätzlich noch durch eine »ultrazyklische Verknüpfung privater und staatlicher Codes« getoppt. Spätestens hier fällt es schwer, den systemtheoretischen Begriffsfaden festzuhalten, zumal wieder neue Begriffe eingeführt werden, die nicht zum geläufigen Bestand der systemtheoretischen Terminologie gehören: Rechtsräume, Systeme, die im strengen Sinne keine sind, strukturelle Schließungen.
»Es entstehen zwei unabhängige Rechtsräume, ein autonomes privat geordnetes zwingendes Binnenrecht der Unternehmen und ein staatlich geregeltes Ensemble normativer Verhaltensempfehlungen. Die genauere Bestimmung dieser wechselseitig geschlossenen Rechtsräume ist nicht einfach. Jedenfalls handelt es sich nicht um Systeme im strengen Sinne, die sich durch operative Schließung bilden. Ihre Schließung beruht gerade nicht auf der Unterschiedlichkeit ihrer Operationen, denn beide Code-Ordnungen werden durch Rechtsoperationen gebildet. Vielmehr entsteht ihre wechselseitige strukturelle Schließung durch strikte Geltungsbeschränkung auf den jeweiligen Bereich und durch ihre unterschiedliche Qualität als zwingende Normierung und bloße normative Empfehlung.« [25]Selbst-Konstitutionalisierung, 2010, 15 f.
Dann folgt ein Sprung von den Rechtsräumen zu »geschlossenen Netzwerken«. Das eine Netzwerk ist der »Rechtsraum« mit den privaten Codes of Conduct, das andere der »Rechtsraum« der völkerrechtlich basierten Codes. Um ein Netzwerk handelt es sich im ersteren Fall, weil die privaten Codes of Conduct nicht nur für ein Einzelunternehmen formuliert werden, sondern weil sie darüber hinaus für ganze Konzerne mit ihren Auslandsniederlassungen und schließlich für Zulieferunternehmen und Absatzketten gelten; im anderen Fall, weil es zwischen den Corporate Codes von ILO, UNO, OECD und EU Querverbindungen gibt. Und schließlich sind es diese Netzwerke, die strukturell verkoppelt sind.
Zur funktionalen Seite der Konstitutionalisierung vielleicht ein anderes Mal.
Nachtrag vom 22. Juni 2012:
Gunther Teubner lässt nicht locker, wenn es um seine Idee einer staatsunabhängigen Konstitutionalisierung geht. In der Reihe »Suhrkamp Wissenschaft« ist soeben der Band »Verfassungsfragmente: Gesellschaftlicher Konstitutionalismus in der Globalisierung« erschienen. Auf einer Tagung in Montcalieri bei Turin hat er seine Idee diskutieren lassen. Darüber berichtet Maximilian Steinbeis in der heimlichen Juristenzeitung vom 23. Mai 2012 S. N4 unter der Überschrift »Occupy the Law!«.
Anmerkungen
↑1 | Andreas Fischer-Lescano, Globalverfassung, Die Geltungsbegründung der Menschenrechte, 2005; Gunther Teubner, Globale Zivilverfassungen: Alternativen zur staatszentrierten Verfassungstheorie, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 63, 2003, 1-28; ders., Selbst-Konstitutionalisierung transnationaler Unternehmen? Zur Verknüpfung »privater« und »staatlicher« Corporate Codes of Conduct, in: Stefan Grundmann u. a., Unternehmen, Markt und Verantwortung. Festschrift für Klaus Hopt, 2010, 1449-1470; ders., Verfassungen ohne Staat? Zur Konstitutionalisierung transnationaler Regimes, in: Klaus Günther/Stefan Kadelbach (Hg.), Recht ohne Staat 2010, im Erscheinen. |
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↑2 | David Sciulli, The Theory of Societal Constitutionalism, Foundations of a Non Marxist Critical Theory, Cambridge 1992. Sciulli hat allerdings etwas anderes im Sinn, nämlich eine Umstellung soziologischen Denkens von Sozialkontrolle auf Integration. Er setzt seine Hoffnung auf die »collegial form«, wie man sie etwa bei den freien Berufen findet. |
↑3 | Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, 413 ff. |
↑4 | Ingolf Pernice, Europäisches und Nationales Verfassungsrecht, Vortrag, 2004. |
↑5 | Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 , 2010, 3-63; dies., Grundlage europäischer Konstitutionalisierung: Die Entkopplung von Verfassung und Staat. |
↑6 | Neil Walker, The Idea of Constitutional Pluralism, Modern Law Review 65, 2002, 317-359, Internetfassung S. 36; ders., Taking Constitutionalism Beyond the State, RECON Online Working Paper 2007/05; .ders., Multilevel Constitutionalism: Looking Beyond the German Debate, LSE ‘Europe in Question’ Discussion Paper Series, 2009. |
↑7 | Dieter Grimm, Gesellschaftlicher Konstitutionalismus: Eine Kompensation für den Bedeutungsschwund der Staatsverfassung?, in: Matthias Herdegen u. a. (Hg.), Staatsrecht und Politik, Festschrift für Roman Herzog zum 75. Geburtstag, 2009, 67-81. |
↑8 | Der Verlag Cambridge University Press hat eine neue Zeitschrift mit dem Titel »Global Constitutionalism« angekündigt, die ab 2012 erscheinen soll. Im »Call for Papers« heißt es: »Constitutionalism is understood here not as the study of a legal document, but as a reference frame for interdisciplinary research with a particular focus. Constitutionalism in a wide sense is associated with the study of the constitutive elements of legal and political practice that are central for the assessment of its legality or legitimacy. Constitutionalism does not presuppose the existence of a written constitution. It merely presupposes the interplay between social and institutional practices in which claims to legality and, therefore, legitimate authority, and democracy are central. Constitutionalism analyses the role of fundamental norms, the type of actors, and the institutions and procedures through which legal and political decisions are made. In a more narrow modern sense constitutionalism focuses on the basic ideas relating to justice (such as human rights), procedural fairness and participation (e.g. democracy) and the rule of law as they relate to institutional practices and policies in and beyond the state.« In dieser Definition ist alles Gute und Schöne versammelt. |
↑9 | Insofern kritisch auch Armin von Bogdandy/Sergio Dellavalle, Die Lex mercatoria der Systemtheorie, in: Gralf-Peter Calliess u. a. (Hg.), Soziologische Jurisprudenz, Festschrift für Gunther Teubner zum 65. Geburtstag, Berlin 2009, S. 695-715/714. |
↑10 | Selbst-Konstitutionalisierung, 2010, 7. |
↑11 | Zuletzt in Selbst-Konstitutionalisierung, 2010, S. 7 f. |
↑12 | Für die Unterscheidung von primären und sekundären Regeln verweist Teubner immer wieder auf Herbert L. A. Hart, The Concept of Law, 1961, Oxford: Clarendon, 77 ff. |
↑13 | Hyperzyklus in Recht und Organisation. Zum Verhältnis von Selbstbeobachtung, Selbstkonstitution und Autopoiese, in: Hans Haferkamp/Michael Schmid (Hg.), Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung, 1987, 89-128; Recht als autopoietisches System, 1989, 36 ff.; Verrechtlichung – ein ultrazyklisches Geschehen, 1997. |
↑14 | Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 20. |
↑15, ↑20 | Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 26. |
↑16 | Luhmann, GdG 1997, 782 f.; RdG 1993, 452 ff. |
↑17 | Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen, S. 54. |
↑18 | Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 24. |
↑19 | Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 3. |
↑21 | Teubner, Globale Zivilverfassungen, 2003, Internetfassung S. 7. |
↑22 | Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 7, 9. |
↑23 | Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen, 2006, 53 ff.; für die lex mercatoria schon Teubner, Globale Bukowina, 1996, Internetfassung S. 23. |
↑24 | Selbst-Konstitutionalisierung, 2010, 9. |
↑25 | Selbst-Konstitutionalisierung, 2010, 15 f. |
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»Die verbindliche Letztentscheidung wird ersetzt durch die Vielheit von Beobachtungspositionen in der Gesellschaft, die sich wechselseitig rekonstruieren, aneinander anschließen, beeinflussen, beschränken, kontrollieren, zu Neuerungen provozieren, aber eben nicht gemeinsam kollektive Entscheidungen über substantielle Normen fällen.« (S. 66)
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1998 entschied das WTO-Berufungsgremium über die Klage der USA gegen das EU-Importverbot für hormonbehandelte Rindfleischprodukte und setzte der EU ein Ultimatum, um seine Märkte für hormonbehandeltes Fleisch zu öffnen. Gegen diesen Schiedsspruch protestierten eine Reihe von NGOs (die Nord-Süd-politische Initiative, German Watch, das Agrarbündnis, ein Zusammenschluss von 20 Organisationen aus Landwirtschaft, Umwelt-, Natur- und Tierschutz sowie Verbraucher- und Entwicklungspolitik, und das Forum Umwelt & Entwicklung, die Arbeitsplattform von über 40 deutschen Verbänden und Organisationen aus den Bereichen Umwelt und Entwicklung). Sie wiesen auf den dringenden Reformbedarf der WTO hin und forderten die EU-Kommission und den EU-Agrarministerrat auf, das Importverbot auf keinen Fall aufzuheben. Stattdessen solle die EU notfalls Ausgleichszahlungen an die USA in Kauf nehmen und auf eine Reform der WTO-Verträge drängen. Tatsächlich ist die EU dem Schiedsspruch der WTO nicht nachgekommen und wird daher seitdem von den USA legal mit Handelssanktionen belegt. Nunmehr behauptet die EU, mit einer neuen Richtlinie über das Verbot der Verwendung bestimmter Stoffe mit hormonaler bzw. thyreostatischer Wirkung in der tierischen Erzeugung sowohl die Risikobewertung als auch die wissenschaftlichen Nachweise erbracht zu haben, so dass die Strafzölle von den USA und Kanada aufgehoben werden müssten, was wiederum von den USA und Kanada bestritten wird. Die EU hat daher ihrerseits eine Überprüfung ihrer Richtlinie durch die WTO beantragt.
Eine Konfliktlage dieser Art behandeln Fischer-Lescano und Teubner mit dem Streit, den 1997 eine neues Patentgesetz in Brasilien auslöste, indem es die Produktion von Nachahmermedikamenten (sog. Generika) erlaubte unter der Voraussetzung, dass die Gesundheit der Bevölkerung durch eine Epidemie bedroht und die Preise der Medikamente auf dem Weltmarkt zu hoch seien. Juristisch beteiligt waren hier amerikanische Pharmakonzerne als Patentinhaber und die USA, die sich völkerrechtlich auf das Patentrechtsregime der WTO berief. Auf dieser völkerrechtlichen Ebene wurde der Streit am Ende durch Ausnahme und Auslegungsregeln zum TRIPS-Abkommen beigelegt, die Entwicklungsländern in größerem Umfang gestatten, Zwangslizenzen anzuordnen und Generika in Entwicklungsländer ohne eigene Produktionsstätten zu exportieren. Auch hier fällt es nicht schwer, Wirtschaft und Gesundheit als »konfligierende Rationalitäten« zu identifizieren. Fischer-Lescano und Teubner fassen ihre Analyse zusammen:
»Insgesamt zeigen die Maßnahmen, dass das wirtschaftlich geprägte WTO-Regime über die Integration eines gesundheitsbezogenen Prinzips einer Limitierung der eigenen Logik intern zu reformulieren beginnt. Dies stellt einen Kompatibilisierungsmodus dar, der es dem Entscheidungssystem erlaubt, innerhalb der eigenen wirtschaftsrationalen Perspektive eine responsive Außenbeziehung aufzubauen und externe Rationalitäten als Rahmenbedingungen der eigenen Logik zu rekonstruieren. Über einen solchen Re-entry kollidierenden Rechts ins eigene Recht können Systemkollisionen in die quaestio juris übersetzt werden …« [5]Regime-Kollisionen, 2006, 86.
Das ist eine elaborierte Beschreibung der Vorgänge, die die eigentlich interessante Frage ausspart: Warum ist hier der Einbau von Gemeinwohlüberlegungen gelungen, die an vielen Stellen des neuen Weltrechts so sehr vermisst werden? Die Richtung, in der die Antwort zu suchen ist, soll die Figur der Konstitutionalisierung weisen. Dazu vielleicht später.
Anmerkungen
↑1 | Regime-Kollisionen, 2006. |
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↑2 | Belinda Beresford, The Price of Life. Hazel Tau and Others vs GlaxoSmithKline and Boehringer Ingelheim: A Report on the Excessive Pricing Complaint to South’s Africa’s Competition Commission, 2003. |
↑3 | Shalini Randeria, Transnationalisierung des Rechts. Zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure, WZB-Mitteilungen Heft 101, September 2003, 19-22. |
↑4 | Gunther Teubner/Peter Korth, Zwei Arten des Rechtspluralismus: Normkollisionen in der doppelten Fragmentierung der Weltgesellschaft, in: Matthias Kötter/Gunnar Folke Schuppert (Hg.), Normative Pluralität ordnen, 2009, 137-168. |
↑5 | Regime-Kollisionen, 2006, 86. |
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Der Dioxinskandal in der Rechtssoziologie
Nein, in der Rechtssoziologie gibt es keinen Dioxinskandal. Aber man fragt sich doch, was Soziologie und Rechtssoziologie zur Sache zu sagen haben. Mir sind die Wortmeldungen bisher wohl entgangen. Aber mir ist der Artikel »Die sieben Mythen im Dioxinskandal« von Winand von Petersdorff in der FamS vom 21. Januar 2011 S. 29 aufgefallen [1]Er ist im Internet nur für Abonnenten oder gegen 2,00 EUR zugänglich., und zwar deshalb, weil er mit einem soziologischen Theoriebrocken einsetzt: Dem »Mythos«, die industrielle Landwirtschaft sei schuld, hält der Autor entgegen: »Wir haben es mit einem Phänomen der Alltagsökonomie zu tun: der Arbeitsteilung. Die Landwirtschaft ist, wie die Lebensmittelproduktion und die gesamte Wirtschaft, inzwischen höchst arbeitsteilig organisiert, bis zum Endprodukt mischen viele mit. Und manche panschen.« Die öffentliche Diskussion um den Dioxinskandal wird von der Kritik an dem bisherigen System der Selbstkontrolle der Futtermittelindustrie und dem Ruf nach einer verdichteten unmittelbaren Staatskontrolle beherrscht. Die Implementation und Effektivität staatlicher Kontrollen ist jedoch ein Problem. Deshalb liegt es nahe nach Alternativen zu suchen. Viele sehen die Alternative im »Bauern von nebenan« Von Petersdorff bezweifelt – wohl mit gutem Grund –, dass der Bauer von nebenan so viel sicherer sei und meint, »auch Großbetriebe haben gewaltige Anreize, dass ihre Produkte sauber und gesund bleiben. Die Lebensmittelketten werfen sie gnadenlos aus dem Sortiment, ein kleiner Skandal kann das Ende bedeuten.« Und am Ende heißt es zu dem Vorwurf, die kapitalistische Profitgier sei schuld: »Die Gier nach dem schnellen Geld gibt es überall, gleichzeitig können Lebensmittelskandale Betriebe von heute auf morgen ruinieren. Das ist ein echter Anreiz, sauber zu bleiben. … das marktwirtschaftliche System sorgt dafür, dass Übeltäter aus dem Markt fliegen, die belastete Futtermittelfirma ist inzwischen insolvent.« Da denkt man an den guten alten Äquivalenzfunktionalismus. Es klingt plausibel, dass der Markt jedenfalls dann, wenn die Skandalisierung durch die Medien gewährleistet ist, die Panscher bestraft. Aber nicht alles, was plausibel erscheint, muss auch funktionieren. Deshalb ist eine empirische Prüfung angezeigt. Das wäre doch vielleicht ein schönes Dissertationsthema.
Anmerkungen
↑1 | Er ist im Internet nur für Abonnenten oder gegen 2,00 EUR zugänglich. |
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In eigener Sache IV: Wo bleibt die Interaktivität?
Das Web 2.0 kam mit dem Versprechen der Interaktivität. Ich kann nicht wirklich beurteilen, wie es allgemein um die virtuelle Interaktivität im Internet bestellt ist. Es gibt einige Superstars wie Wikipedia [1]Auch bei Wikipedia ist die Aktivität anscheinend nicht ganz befriedigend; dazu Ralf Zosel, Wer macht mit im Web 2.0?, LAWgical, 17. 12. 2008. Facebook oder Bildblog. Aber unter Wissenschaftsblogs habe ich noch keinen gefunden, der wirklich zum Diskussionsforum geworden wäre. (Ich hoffe natürlich jetzt auf Gegenbeispiele.) Bei den sehr viel zahlreicheren Jurablogs (Blawgs) steht es, ausgenommen den Beck-Blog, etwas, aber nicht viel besser. Auch auf den Webseiten der organisierten Rechtssoziologie, die ja gleichfalls zum Mitmachen einladen, kann ich keine nennenswerte Interaktivität beobachten. Der Content wird im Großen und Ganzen vom Webmaster beigebracht.
Ich bin selbst kein sehr aktiver Blog-Leser und schreibe auch keine Kommentare zu anderen Blogs. Aber nach meiner Beobachtung sind die Kommentare auch jenseits der Wissenschaftsblogs kaum so zahlreich, wie die Autoren es sich erhoffen, und ihre Qualität lässt vielfach zu wünschen übrig. Oft handelt es sich um bloße Exklamationen. Am besten funktionieren noch konkrete Hilferufe etwa nach dem Muster: Wie mache ich eingetrocknete Schuhcreme wieder weich? Anscheinend gibt es auf dieser alltagspraktischen Ebene viele hilfsbereite Menschen, die ihr Wissen gerne zur Verfügung stellen.
Insbesondere alles, was das Internet und seine Technik betrifft, erfreut sich regen Interesses. Ein bemerkenswertes Beispiel ist das Weblog mit der irreführenden Adresse http://stadt-bremerhaven.de/. Das Blog hält, was es im Untertitel »Caschy Blog –Software und jede Menge Tipps & Tricks« verspricht. Das Blog hat täglich über 6.000 Besucher, monatlich fast eine Viertelmillion und annähernd eine Million Seitenaufrufe. Und auch jede Menge Kommentare, die sich auch hier allerdings meistens auf Beifallskundgebungen beschränken. Aber auch Internetseiten, die Meinungen außerhalb des Mainstreams verbreiten, etwa die Seiten von Klimaskeptikern oder Islamkritikern, können einige Interaktivität verzeichnen.
Die Internetnutzer haben inzwischen wohl gemerkt, dass das Interaktivitätsversprechen pervertiert worden ist. In Wirklichkeit ist nicht die eigene Meinung gefragt. Gefragt ist vielmehr die unbezahlte Zulieferung von Inhalten, mit denen sich der Seiteninhaber schmücken oder die er gar vermarkten kann.
Anmerkungen
↑1 | Auch bei Wikipedia ist die Aktivität anscheinend nicht ganz befriedigend; dazu Ralf Zosel, Wer macht mit im Web 2.0?, LAWgical, 17. 12. 2008. |
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U.S. Supreme Court als Lachende Justitia
Der U.S. Supreme Court ist das am besten durchforschte Gericht der Welt. Eine neuere Untersuchung von prominenten Autoren geht der Hypothese nach, dass die Anwälte, die in der mündlichen Verhandlung mehr Fragen über sich ergehen lassen müssen als der Gegner, ihren Fall eher verlieren. [1]Epstein, Lee, Landes, William M. and Posner, Richard A., Inferring the Winning Party in the Supreme Court from the Pattern of Questioning at Oral Argument (August 2009). University of Chicago Law … Continue reading Noch wichtiger als die Zahl der Fragen soll der Wortreichtum sein, mit dem die Fragen serviert werden. Das wiederum soll sich aus unterschiedlichen Strategien richterlichen Verhaltens erklären. In einer legalistisch genannten Strategie geht es dem fragenden Richter um die Aufklärung des Sachverhalts. Realistisch wird dagegen eine Strategie genannt, die auf dem Umweg über Fragen an die Anwälte die Richterkollegen beeinflussen will. Diese Strategie ist anscheinend Ersatz dafür, dass unter den Richtern keine intensive Beratung stattfindet. Der Effekt ist erheblich. In 2.952 Fällen gewannen 62 % der Beschwerdeführer. Wenn der Gegner häufiger befragt wurde, erhöhte sich die Quote um 16 %. Wenn umgekehrt Fragen häufiger an den Beschwerdeführer gerichtet wurden, sank dessen Erfolgsquote von 62 auf 50 %, also um 19 %.
Schon vor fünf Jahren gab es wohl eine Studie von J. D. Wexler [2]Laugh Track. The Green Bag. 9.1, 59-61 – habe ich nicht gelesen.. Nun hat Ryan A. Malphurs 60 Verhandlungen am Supreme Court beobachtet, die Tonbänder von 71 mündlichen Verhandlungen abgehört und Protokolle der Verhandlungen aus den Jahren 2006 und 2007 durchgesehen. Es handelt sich um Wortprotokolle, die tatsächlich, ähnlich wie bei uns manche Protokolle aus dem Bundestag, an einschlägigen Stellen »Gelächter« notieren. Malphurs meint am Ende, dass dem Lachen eine bedeutende kommunikative und soziale Funktion zukomme, weil Richter und Anwälte damit die institutionellen, sozialen und intellektuellen Abgrenzungen so in den Griff bekämen, dass jedenfalls für kurze Zeit Gleichheit im Gerichtssaal hergestellt werde. [3]Ryan A. Malphurs, “People Did Sometimes Stick Things in my Underwear”. The Function of Laughter at the U.S. Supreme Court, Communication Law Review, 10, 2010, 48-75.
» The audience’s laughter was dramatic and often returned visitors from their daydreams to the Court’s argument. Laughter also visibly diminished tension between justices and lawyers, commonly relieving heated moments. A brief joke or pun could easily displace building tension, and the justices’ stern appearance would relax in their laughter.«
Der Artikel ist lang, aber die Lektüre teilweise ganz vergnüglich. Zunächst gibt es eine Einführung in die Theorie des Lachens und des Humors. Das ist doch eine echte Bereicherung für die Rechtssoziologie. Es folgt eine kurze Zusammenfassung bisheriger Untersuchungen über die Relevanz der mündlichen Verhandlung für die Entscheidung. So ganz nebenher erfährt man, dass alle Tonaufnahmen und Protokolle der Verhandlungen und die Entscheidungen auf der Webseite http://www.oyez.org/ verfügbar sind.
Und dann wird also aufgelistet, wie oft jeder Richter gelacht hat, worüber und über wen. Es gibt freundliches und bösartiges Lachen, aber anscheinend mehr freundliches. Durch freundliches Lachen werden die Statusunterschiede zwischen Richtern und Anwälten ausgeglichen und man kann damit sogar unverfänglich auf Fehler aufmerksam machen. Doch anscheinend sind es nur die Richter, die Lachen und zum Lachen herausfordern dürfen. Aber das liegt wohl daran, dass die Anwälte ständig wechseln, so dass sich ihr Lachverhalten kaum beobachten lässt. Und was, wenn die Anwälte nicht mitlachen?
Wie dem auch sei: Die Mikrosoziologie des Verfahrens steht vor großen Aufgaben.
Anmerkungen
↑1 | Epstein, Lee, Landes, William M. and Posner, Richard A., Inferring the Winning Party in the Supreme Court from the Pattern of Questioning at Oral Argument (August 2009). University of Chicago Law & Economics, Olin Working Paper No. 466. Bei SSRN: http://ssrn.com/abstract=1414317. |
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↑2 | Laugh Track. The Green Bag. 9.1, 59-61 – habe ich nicht gelesen. |
↑3 | Ryan A. Malphurs, “People Did Sometimes Stick Things in my Underwear”. The Function of Laughter at the U.S. Supreme Court, Communication Law Review, 10, 2010, 48-75. |
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In eigener Sache III: Weiter über Wissenschaftsblogs
Man unterscheidet zwischen Wissenschaftlerblogs und Wissenschaftsblogs. Wissenschaftlerblogs sind solche, in denen Wissenschaftler von ihren persönlichen Erfahrungen im Beruf berichten. Sie kommen der alten Idee des Weblog als persönliches Tagebuch am nächsten. Aber es ist wissenschaftlich doch nur begrenzt relevant, wenn wir etwa von einer Physikerin erfahren, welche Schwierigkeiten es bereitet, nach der frühen Rückkehr an den geliebten Arbeitsplatz weiterhin den Säugling zu stillen. Auch die größere Restmenge der Wissenschaftsblogs kreist thematisch eher um die Wissenschaft herum, als sich ins Zentrum zu begeben. Nicht wenige wenden sich an das allgemeine Publikum und bieten ihm Nachrichten aus der Wissenschaft und über die Wissenschaft. Andere haben sich darauf verlegt, wissenschaftliches Standardwissen, dass an sich keinen Neuigkeits- und damit Nachrichtenwert hat, für das Publikum aufzubereiten. Und dann gibt (oder gab) es noch die Prominentenblogs wie die von Becker und Posner, Dahrendorf und Etzioni.
Wissenschaftsblogs i. e. S. richten sich an die Fachgemeinschaft. Auch das geschieht mit unterschiedlichen Akzenten. Die meisten betätigen sich als Scanner, die aus verschiedenen Medien die neuesten Nachrichten aufsammeln oder auf neue einschlägige Publikationen hinweisen. Blogs, die versuchen, eigene Inhalte anzubieten, sind die Ausnahme. Wissenschaftliche Inhalte lassen sich heute kaum noch im Alleinbetrieb produzieren. Daher handelt es sich bei den wenigen produktiven Blogs fast ausnahmslos um Gemeinschaftsblogs. Anders als in den USA werden sie in Deutschland von Forschungsinstituten betrieben.
Von diesen und anderen Ausnahmen abgesehen ist die große Masse aller Weblogs von ziemlich trauriger Qualität. Nur wenige schaffen es, ansehnliche Inhalte zu präsentieren und einen relevanten Bekanntheitsgrad zu erreichen.
Nach wie vor hat das Internet das Odium des Selbstverlags. Viele Disziplinen sind dazu übergegangen, nur noch Beiträge als »wissenschaftlich« zu akzeptieren, die bestimmte Evaluationsverfahren durchlaufen haben. Für juristische Veröffentlichungen gilt immer noch der traditionelle Verlag als Qualitätsgarantie. Auch wenn man heute gegen einen entsprechenden Druckkostenzuschuss jedes Manuskript veröffentlichen kann, so bildet doch der Zuschuss als solcher immer noch eine Barriere, die eine gewisse Autoselektion zur Folge hat. Kurzum: Das Weblog wird, jedenfalls von der Wissenschaft im deutschsprachigen Raum bisher nicht als adäquates Publikationsmedium akzeptiert. Damit passt zusammen, dass die Universitätsrechenzentren, die den Wissenschaftlern Kapazitäten für ihre statischen Internetseiten zur Verfügung stellen, bisher in der Regel nicht in der Lage oder nicht bereit sind, Weblogs zu hosten. Soweit mir bekannt, wird nur an der FU Berlin das Bloggen der Mitarbeiter aktiv gefördert.
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Begriffssoziologie III: Die bunte Welt der Subsysteme
Die Welt der Subsysteme ist unordentlich und bunt. [1]Dieses Posting setzt die Beiträge vom 25. 11. und vom 22. 12. 2010 fort.
Wenn von autonomen Subsystemen der Gesellschaft die Rede ist, sind meistens die großen Funktionssysteme der Gesamtgesellschaft, also heute, der Weltgesellschaft, gemeint. Als Subsysteme werden aber auch Elemente angesprochen, mit denen eine sekundäre Differenzierung dieser Funktionssysteme beschrieben wird wie im politischen System (nach Luhmann) Politik i. e. S., Verwaltung und Publikum oder im Rechtssystem Justiz, Anwaltschaft und Rechtswissenschaft. Eigentlich müsste man von Subsubsystemen oder Subsystemen 2. Ordnung sprechen.
Bunt ist die Welt der Subsysteme wegen ihrer Diversität: die Wirtschaft oder das Recht, Staaten oder Verträge, Gerichte oder Unternehmen, politische Parteien oder Familien und vieles andere mehr werden als Subsysteme in Anspruch genommen. Die Buntheit resultiert zum Ersten daraus, dass sich die Subsysteme auf verschiedenen Ebenen tummeln. Sie ist zum Zweiten das Resultat unterschiedlicher Differenzierungsprinzipien. Subsysteme können sowohl aus segmentärer wie aus funktionaler Differenzierung entstehen. Ja, eigentlich braucht es gar kein Differenzierungsprinzip: Oft entstehen »ganz ephemere, triviale kurzfristige System/Umwelt-Unterscheidungen ohne weiteren Formzwang … Die Großformen der gesellschaftlichen Teilsysteme schwimmen auf einem Meer ständig neu gebildeter und wieder aufgelöster Kleinsysteme.« [2]Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 812. (Also auf zum Schwimmkurs!) Und zum Dritten: Als Systemtypen kommen Funktionssysteme, Interaktionssysteme und Organisationsysteme in Betracht.
Abstrakt fällt es nicht schwer, Subsysteme zu definieren. Es handelt sich, wie bei allen sozialen Systemen, um eine spezifische Verknüpfung von sozialen Strukturen, die soziale Ereignisse autonom, das heißt entsprechend ihren eigenen Regeln interpretiert und bearbeitet. Über einen eigenen Systemcode verfügen Subsysteme zweiter und niedrigerer Ordnung nicht. Sie nutzen den Systemcode des übergeordneten Funktionssystems, haben für dessen Zuteilung aber ihr eigenes Programm. Und einige dürfen auf den Systemcode anderer Funktionssysteme schielen. [3]Luhmann, GdG 841. Strukturen und Ereignisse können gleichzeitig mehreren Systemen angehören. Gilt das auch für Subsysteme?
Konkret bleibt oft unklar, ob Systeme oder soziale Elemente ohne Systemeigenschaft gemeint sind. Wenn Elemente der Funktionssysteme benannt werden, ist die Rede von sozialen Bereichen, Organisationen, Institutionen, Netzwerken, Projekten, Diskursen, Regimes und anderen mehr. Wenn immer ein Element in systemtheoretischem Zusammenhang als autonom bezeichnet wird, dann ist vermutlich ein echtes System gemeint. Das gleiche gilt, wenn dem Element strukturelle Kopplungen zugeschrieben werden. Deshalb kann man davon ausgehen, dass die globalen Rechtsregimes, die von Fischer-Lescano und Teubner [4]Regime-Kollisionen, 2006. behandelt werden, Systemeigenschaft haben. Selbstverständlich ist das nicht; den Produktionsregimes hat Teubner die Systemeigenschaft abgesprochen [5]Eigensinnige Produktionsregimes: Zur Ko-evolution von Wirtschaft und Recht in den varieties of capitalism, Soziale Systeme 5 ,1999, 7-26, hier zitiert nach der Internetfassung S. 2..
Der Schubladendenker fragt sich, wie die Welt der Subsysteme geordnet ist. Man könnte an eine pyramidenförmige Ordnung mit der Weltgesellschaft an der Spitze denken. Sie »zerfiele« dann in zwölf oder mehr Funktionssysteme (Subsysteme 1. Ordnung). Jedes Funktionssystem wiederum gliederte sich kaskadenförmig in Subsysteme 2., 3. … n. Ordnung. Solchen Modellen begegnet man in betriebswirtschaftlich orientierten Organisationsanalysen. Die Antwort auf die Ausgangsfrage ist dennoch negativ. Im Jargon würde man sagen: Die Subsysteme entwickeln sich »polyzentrisch« und »heterarchisch«.
Der Schubladendenker fragt weiter: Subsysteme sind Elemente eines Systems. Aber sind alle Elemente des Systems Subsysteme oder jedenfalls Elemente von Subsystemen? Oder umgekehrt: Gibt es in der Gesellschaft systemfreie (soziale) Elemente?
Am meisten erfahren wir bei Luhmann über die Systemeigenschaft von Organisationen [6]A. a. O. S. 826 ff.. Danach sind Organisationen »autopoietische Systeme auf der operativen Basis von Entscheidungen … Sie produzieren Entscheidungen aus Entscheidungen und sind in diesem Sinne operativ geschlossene Systeme.« [7]A. a. O. S. 830. Ihre Systemgrenze ist die Mitgliedschaft, und auch die beruht auf einer Entscheidung.
Organisationen brauchen »nicht mit Bezug auf die Einheit des Gesellschaftssystems eingerichtet sein. Sie können ohne gesellschaftlichen ›Systemzwang‹ frei entstehen, und es gibt zahllose Organisationen (man nennt sie oft irreführend ›freiwillige‹ Vereinigungen oder Assoziationen), die sich keinem der gesellschaftlichen Funktionssysteme zuordnen.« [8]A. a. O. S. 840.. Handelt es sich da noch um Subsysteme? Immerhin: »Unbestreitbar bilden sich jedoch, wenn nicht die meisten, so doch die wichtigsten und größten Organisationen innerhalb der Funktionssysteme und übernehmen damit deren Funktionsprimate.« [9]A. a. O. S. 840f. Aber kein Funktionssystem kann komplett zur Organisation werden. »Erziehung gibt es immer auch außerhalb von Schulen und Hochschulen. … Und selbstverständlich werden die Organisationen des Rechtssystems, vor allem die Gerichte, nur dann in Anspruch genommen, wenn außerhalb der Organisation [aber innerhalb des Rechtssystems] stattfindende Kommunikation über Recht und Unrecht dies ratsam erscheinen lässt.« [10]A. a. O. S. 841.
Damit habe ich es hoffentlich bis zum Seepferdchen gebracht und werde nicht mehr im Meer der Subsysteme ertrinken.
Anmerkungen
↑1 | Dieses Posting setzt die Beiträge vom 25. 11. und vom 22. 12. 2010 fort. |
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↑2 | Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 812. |
↑3 | Luhmann, GdG 841. |
↑4 | Regime-Kollisionen, 2006. |
↑5 | Eigensinnige Produktionsregimes: Zur Ko-evolution von Wirtschaft und Recht in den varieties of capitalism, Soziale Systeme 5 ,1999, 7-26, hier zitiert nach der Internetfassung S. 2. |
↑6 | A. a. O. S. 826 ff. |
↑7 | A. a. O. S. 830 |
↑8 | A. a. O. S. 840. |
↑9 | A. a. O. S. 840f. |
↑10 | A. a. O. S. 841. |
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In eigener Sache I: Über Wissenschaftsblogs
Weblogs sind ein Phänomen des Web 2.0. Gegenüber der ersten Generation der eher statischen Webseiten verfügen sie über zwei markante Eigenschaften.
1. Der Betreiber muss die Seite nicht mehr mühsam gestalten. Vielmehr stehen Content-Managementsysteme zur Verfügung, die ein fertiges Design anbieten und die das Eingeben von Inhalten (fast) so einfach machen wie die Textverarbeitung. Im Verein mit kostengünstigen Providern, die die notwendige Rechen- und Speicherkapazität auf ihren Servern günstig, teilweise sogar kostenlos, anbieten, sind Blogs zu einem Publikationsmedium für Jedermann geworden.
2. Der Betreiber eines Blogs kann die Eingabe von Inhalten durch alle Internetnutzer zulassen. Daraus ergibt sich die technische Möglichkeit der Interaktivität, die man vom Web 2.0 erwartet hat.
Weltweit gibt es über 100 Millionen Blog, von denen allerdings nur ein Teil aktiv ist. Darunter sind etwa 500.000 deutschsprachige Blogs. Davon sind vielleicht 200.000 aktiv. International ist das sehr wenig. In den Niederlanden soll es mehr Blogs geben als in Deutschland. [1]Dazu in Spiegel-Online: Warum Deutschland Blog-Hemmung hat. Vgl. auch »marcus« (Beckendahl), Die Deutsche Blogosphäre, 2009. Solche Zahlen sind aber höchst problematisch. [2]Dazu eine Anmerkung von Jan Schmidt, dem Pionier der deutschen Blogging-Forschung, der jetzt im Hans-Bredow-Institut für Medienforschung in Hamburg tätig ist. Schmidt verweist auf die … Continue reading
Man könnte erwarten, dass auch Wissenschaftler in großer Zahl zu Bloggern geworden wären, denn sie verfügen heute alle über die notwendige EDV-Kapazität und Kompetenz und sind notorisch publikationshungrig. Aber sie nutzen diese Chance kaum. Die Zahl der deutschen Wissenschaftsblogs dürfte in der Größenordnung von 2000 zu suchen sein.
Jurablogs (»Blawgs«) gibt es dagegen zu Hauf. Die Gründe liegen auch ohne viel Forschung auf der Hand. Die meisten Blogger sind Rechtsanwälte, die sich von dieser Art der Internetpräsenz Aufmerksamkeit und damit Mandanten erhoffen. Da Blogs als Marketing-Tool konkurrenzlos billig sind, kommt es kaum darauf an, ob sie ihren Zweck erfüllen.
Als Bloggingnovize hatte der Legal McLuhanite anfangs einigen Reflexionsbedarf. Beim Einstieg in das Thema halfen erfahrene Blogger. In der Wissenswerkstatt von Marc Scheloske fand sich eine ganze Serie von Postings über das Wissenschaftsblogging. Hilfreich war auch das Posting »Nische« von Christoph Bächtle, der selbst professionelle Dienste für die Wissenschafts-PR anbietet und dazu die Internetseite »Zeilenwechsel« mit integriertem Weblog betreibt. Beide konstatierten die jedenfalls in Deutschland sehr bescheidene Substanz an Wissenschaftsblogs. Sie wandten sich gegen das geringe Ansehen des Mediums, attestierten ihm große Möglichkeiten und sagten ihm eine erfolgreiche Zukunft voraus. Mit dem Wissenschafts-Café wollte Scheloske die deutschsprachigen Wissenschaftsblogs vernetzen. Die Sammlung sollte alles erfassen, was »irgendwie« Wissenschaft im Munde führt. Bächtle meinte, in die Nische der Wissenschaftsblogs drängten immer mehr publikationswillige Menschen, die sich für Wissenschaftsthemen begeistern könnten. Aber daraus ist nicht viel geworden. Wissenschaftsblogs bewegen sich in Deutschland noch immer unter der Wahrnehmungsschwelle. Man muss sie nicht lesen, um am Wissenschaftsdiskurs teilzunehmen. Bei einem Schnelldurchlauf durch die Szene habe ich keine neuen Kandidaten für meine Blogroll gefunden.
Dennoch hat sich seit meinen Anfängen als Blogger etwas geändert. Das Blogging ist ein ganzes Stück aus der Schmuddelecke, in die man es bis dahin gestellt hatte [3]Hier einige Epitheta, mit denen es zuvor bedacht wurde (nach einer Zusammenstellung von Scheloske): Seichtes Alltagsgewäsch, eitle Selbstdarstellung, Tummelplatz anonymer Heckenschützen, Ort der … Continue reading, herausgekommen. Die FAZ hatte vor etwa zwei Jahren auch im redaktionellen Teil die Blogosphäre entdeckt, den Blogger Hendrik Wieduwilt engagiert und auf einen Schlag gleich zehn verlagseigene Blogs eingerichtet. Der C. H. Beck Verlag hat 2008 mit Ralf Zosel einen Mann aus dem Juristischen Internetprojekt in Saarbrücken eingestellt, der sich mit Jurawiki, als Autor des Blogs Lawgical und mit der Implementation eines juristischen Szenarios in Second Life einen Namen gemacht hatte. [4]Dazu mein Bericht von der Münchener Rechtsvisualisierungstagung 2008. Inzwischen betreibt der Verlag die blühende Beck-Community.
Im Übrigen haben die klassischen Verlage das Wissenschaftsblogging usurpiert. Den Anfang machte, wohl mit Unterstützung des Burda-Verlages, der Blog Iconic Turn. Es folgten Scilogs von Springer/Spektrum der Wissenschaft und Scienceblog von der Seed Media Group [5]Die war mir bisher unbekannt. Wer oder was dahinter steckt und wie sich das Unternehmen finanziert, habe ich so schnell nicht ermitteln können. Die Firma unterhält neben Scienceblog noch ein … Continue reading. Scilog ist ein Portal, das fast 70 Blogs in vier Themengruppen versammelt. Bei Scienceblog sind es, wenn ich richtig gezählt habe, 35 Themenblogs. Academics wird anscheinend von der Wochenzeitung »Die Zeit« getragen und befasst sich vor allem mit Karrierefragen. Aber auch diese Profiblogs blühen eher im Verborgenen. Iconic Turn welkte 2010 mit ganzen zwei Postings dahin, eines davon war die Vorstellung eines neuen, von Burda selbst herausgegebenen Buches. Scheloske ist anscheinend als Redakteur zu Scienceblog gewechselt und hat seine eigene Wissenswerkstatt eingestellt. [6]Letztes Posting im Juli 2010. Ohnehin war die Seite durch allerhand Designmätzchen unlesbar geworden. Ich habe sie aus meiner Blogroll gestrichen. Das Wissenschafts-Café beschränkt sich inzwischen fast ganz auf ein monatliches Blog-Ranking. Delikaterweise erscheinen da vor allem Blogs aus dem Scienceblog-Portal. Auch Scilog betreibt ein Blog-Ranking (und verwendet merkwürdigerweise dasselbe Kaffeebohnenbild »Wissenschaftsblogs Auslese 10« wie Wissenschafts-Café).
Heute nur noch zu einigen Äußerlichkeiten: Das Design vieler Blogs finde ich leseunfreundlich. Das liegt vor allem daran, dass der Bildschirm mit Information überladen wird. Ich hatte gelernt, ein Unterschied des Internet zur herkömmlichen Publikation bestehe darin, dass Inhalte in kleinere Einheiten heruntergebrochen werden, so dass sie auf dem Monitor Platz finden. Doch nur selten findet man auf dem Monitor einen einheitlichen Textblock. Stattdessen wird die Oberfläche vielfach zerstückelt. Eine obere Bildschirmleiste ist unverzichtbar und stört auch nicht. Meistens wird heute ein dreispaltiges Layout verwendet. Auch das ist bis zu einem gewissen Grade noch funktional, denn bei dem Querformat des Bildschirms wären durchgehende Zeilen über die ganze Breite schwerer zu lesen als ein schmalerer Textblock. Aber viele Blogger begnügen sich nicht mit einem sauberen, aus Lesbarkeit getrimmten Textblock, sondern schwelgen in Layout-Mätzchen, die jedenfalls mich als Leser nur abstoßen. Bei einem mehrspaltigen Layout ist es durchaus sinnvoll, die Sidebars auf der einen Seite für eine Übersicht über das Blog selbst (Suchfunktion, Überschriften der jüngsten Beiträge, verwendete Kategorien und »Archiv«) und auf der anderen Seite für Blogroll und Linkliste zu nutzen. Vielfach werden die Sidebars aber so vollgestopft, dass es Überwindung kostet, darin zu suchen. Eine Blogroll und die Linkliste sollten zehn Einträge nicht überschreiten. Ganz schlimm wird es, wenn Anzeigen hinzukommen. Beispiel für ein gelungenes Design ist für mich der schon erwähnte Zeilenwechsel von Bächtle. Aber dahinter steckt ein Kommunikationsprofi. (Fortsetzung folgt.)
Nachtrag vom 23. 2. 2021: Über Wissenschaftsblogs jetzt noch einmal ausführlich mein Beitrag für Barblog Über das (rechtssoziologische) Wissenschaftsblogging.
Anmerkungen
↑1 | Dazu in Spiegel-Online: Warum Deutschland Blog-Hemmung hat. Vgl. auch »marcus« (Beckendahl), Die Deutsche Blogosphäre, 2009. |
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↑2 | Dazu eine Anmerkung von Jan Schmidt, dem Pionier der deutschen Blogging-Forschung, der jetzt im Hans-Bredow-Institut für Medienforschung in Hamburg tätig ist. Schmidt verweist auf die ARD-Online-Studie 2010. |
↑3 | Hier einige Epitheta, mit denen es zuvor bedacht wurde (nach einer Zusammenstellung von Scheloske): Seichtes Alltagsgewäsch, eitle Selbstdarstellung, Tummelplatz anonymer Heckenschützen, Ort der verlorenen Beißhemmung, Bühne für das geistige Prekariat, Debattierclub von anonymen, Ahnungslosen und Denunzianten, Klowände des Internet. |
↑4 | Dazu mein Bericht von der Münchener Rechtsvisualisierungstagung 2008. |
↑5 | Die war mir bisher unbekannt. Wer oder was dahinter steckt und wie sich das Unternehmen finanziert, habe ich so schnell nicht ermitteln können. Die Firma unterhält neben Scienceblog noch ein zweites, ganz naturwissenschaftlich ausgerichtetes Blogportal www.researchblogging.org. Mit www.visualizing.org bietet sie ein Portal für die Visualisierung aller möglichen Themen an, was mich für »Recht anschaulich« interessieren sollte. |
↑6 | Letztes Posting im Juli 2010. Ohnehin war die Seite durch allerhand Designmätzchen unlesbar geworden. Ich habe sie aus meiner Blogroll gestrichen. |
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Wissen in (Inter-)aktion
Vor mir liegt der von Ulrich Dausendschön-Gay, Christine Domke und Sören Ohlhus herausgegebene Sammelband »Wissen in (Inter-)Aktion, Verfahren der Wissensgenerierung in unterschiedlichen Praxisfeldern«, Berlin 2010. Da läge er nicht, wenn ich nicht selbst einen Beitrag beigesteuert hätte. [1](Juristisches) Wissen über Bilder vermitteln, S. 281-311. Darin habe ich noch einmal meine Sicht als Legal McLuhanite zusammengefasst und die Gelegenheit wahrgenommen über die – nicht so recht … Continue reading Der Band ist aus einer Tagung im Zentrum für Interdisziplinäre Forschung in Bielefeld (ZiF) im November 2006 hervorgegangen und teilt die Probleme aller Tagungsbände. Die Tagung war für die Teilnehmer interessant. Aber lesen wird ihre Beiträge wohl kaum jemand. Wer würde dort gar rechtssoziologisch einschlägige Beiträge suchen? Bevor ich den Band im Regal zur letzten Ruhe bringe, will ich drei solcher Beiträge erwähnen mit dem Hinweis, dass nicht viel versäumt, wer sie nicht liest.
Die »Fälle« der Juristen haben es Soziologen, Ethnologen und Linguisten angetan. Die Konstitution des Sachverhalts (oder Konstruktion des Rechtsfalls) ist auch Gegenstand empirischer Forschung gewesen. Insbesondere eine Projektgruppe des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte hat sich auf diesem Gebiet betätigt. (Der arme Universitätsjurist fragt sich, ob den Historikern die Geschichte ausgegangen ist.) Daraus sind verschiedene Veröffentlichungen hervorgegangen, insbesondere ein Sammelband herausgegeben von Jeannette Schmid/Thomas Drosdeck/Detlef Koch: Der Rechtsfall – ein richterliches Konstrukt, Baden-Baden 1997. Der Beitrag von Kent D. Lerch zu dem eingangs genannten Sammelband (S. 225-247) fasst die Ergebnisse der Studie noch einmal zusammen: Wissen oder Willkür? Zur Konstruktion des Rechtsfalls durch den Richter. Eigentlich ging es um ein interessantes und witziges Experiment, das mit einem fiktiven Arzthaftungsfall die vermutlich unterschiedliche Reaktion von 52 Richtern überprüfen sollte. Dazu wurde eine Prozess-Situation hergestellt, in der die Probanden den Fall von Anfang bis Ende durchspielen konnten. Sie konnten einen Verhandlungstermin bestimmen, Parteien, Zeugen und Sachverständige laden, Fragen stellen und Beweis erheben und sollten am Ende ihr Urteil fällen. Das Vorgehen der Richter war durchaus nicht einheitlich und auch ihr Urteil fiel nicht einheitlich aus, die Differenzen waren aber nicht dramatisch. Doch irgendwelche Determinanten, die das Verfahren in eine bestimmte Richtung gelenkt hätten, konnten nicht ausgemacht werden. Auffallend war nur eine Bevorzugung der Anspruchsgrundlage, die die arbeitsökonomisch den geringsten Aufwand verursachte. Da Verfahrens- und Urteilsvarianzen nicht auf systematische Einflüsse zurückgeführt werden konnten, konnte »nur noch der bloße Zufall als Erklärung herangezogen werden«. Im Grund eine schöne Bestätigung der richterlichen Arbeitsweise, insbesondere der sogenannten Relationstechnik.
S. 259-279 folgt ein zweiter Beitrag, der sich mit der Sachverhaltsrekonstruktion im Strafverfahren befasst: Ludger Hoffmann, Wissensgenerierung: der Fall der Strafverhandlung. Er bildet ein Beispiel dafür, wie Soziologen und Linguisten für ihre Mikroanalysen zunächst einen eindrucksvollen Begriffsapparat aufbauen und dann bei der Fallbearbeitung in erster Linie Trivialitäten anhäufen (müssen), um den Beobachtungsgegenstand in den Griff zu bekommen. Man lernt, wenn man es nicht schon weiß, dass es im Strafverfahren nicht um schlichte Tatsachenfeststellung und glatte Subsumtion geht. Aber verallgemeinerungsfähige Aussagen habe ich der Arbeit von Hoffmann nicht entnehmen können.
Der genannte Sammelband enthält – merkwürdigerweise an ganz anderer Stelle – noch einen weiteren Beitrag, der sich ethnographisch mit den Vorgängen im Strafverfahren befasst, und zwar mit »Konstruktion von Glaubwürdigkeit«: Stefan Wolff, Defensives Wissensmanagement im Strafverfahren (S. 71-90). Wir erfahren, dass die Glaubwürdigkeit eines Zeugen keine allgemeine Eigenschaft einer Person oder einer Aussage ist, sondern das Ergebnis voraussetzungsvoller Leistungen der Beteiligten, dass sich im Vollzug der Situation vor Ort ergibt. Auch hier erfährt man nichts aufregend Neues. Die als Frage formulierte These lautet: »Das deutsche Strafverfahren ist einerseits programmatisch auf die Ermittlung von Wahrheit ausgerichtet. Im Hinblick darauf könnte man erwarten, dass dem Gericht an einer möglichst breiten Wissensbasis für seine Entscheidungen gelegen ist. Andererseits fällt auf, dass die Beteiligten keineswegs jedes mögliche wissen in foro zur Kenntnis nehmen, dokumentieren oder berücksichtigen. Dem außen stehenden Beobachter drängt sich sogar gelegentlich der Eindruck auf, hier eine Form von strategischer Ignoranz beobachten zu können.« (S. 72) Was da konkret an Wissen ausgespart bleibt, sind Glaubwürdigkeitsgutachten, die von den Gerichten praktisch nur eingeholt werden, wenn es um Kinder oder Opferzeugen insbesondre bei Sexualdelikten geht. Dass solcher Verzicht kritisch sei, wird aber gar nicht behauptet. Zu unserer Überraschung erfahren wir nur dass »Gerichte die Vergangenheit grundsätzlich nur im Format des vorliegenden Falles [rekonstruieren]. Nur das, was zur Fallkonstruktion und Fallentscheidung nötig ist, wird in Betracht gezogen – mehr nicht.« Deshalb muss niemand diesen Beitrag lesen.
Der kritische Stachel, mit dem die Sozialwissenschaften einmal in der Rechtspraxis herumstocherten, ist anscheinend abgebrochen.
Anmerkungen
↑1 | (Juristisches) Wissen über Bilder vermitteln, S. 281-311. Darin habe ich noch einmal meine Sicht als Legal McLuhanite zusammengefasst und die Gelegenheit wahrgenommen über die – nicht so recht geglückten – Klausurenexperimente im Projekt »Visuelle Rechtskommunikation« zu berichten. |
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