Zur Legalisierung von Cannabis

Drei Dinge kamen zusammen und sind Anlass für diese Stellungnahme:
1. Es gibt interessante neue Literatur zur Geschichte der Prohibition in den USA. [1]Mark Lawrence Schrad, The Political Power of Bad Ideas. Networks, Institutions, and the Global Prohibition Wave, Oxford 2010. Das in diesem Zusammenhang wichtige Kapitel findet man auch unter dem … Continue reading
2. Der neue von der SPD gestellte Justizminister in Düsseldorf, Kuschaty, will die Toleranzgrenze für den straffreien Besitz von Haschisch und Marihuana auf zehn Gramm anheben.
3. Eine freundlicher Mitmensch hatte mir zum Geburtstag ein Jahresabonnement des Wirtschaftsmagazins »brand eins« geschenkt (das ich sonst kaum zur Kenntnis genommen hätte). Dort findet sich im Septemberheft (S. 12 f.) ein Artikel von Harald Willenbrock mit dem Titel »Weshalb ist Alkohol hierzulande erlaubt, Haschisch jedoch verboten?« Darin stellt Willenbrock die schädlichen Wirkungen von Alkohol-, Nikotin- und Cannabiskonsum gegenüber, erwähnt die Kosten des aussichtslosen Kampfes zur Durchsetzung des Cannabisverbots und verweist auf Bestrebungen zur Liberalisierung in Kalifornien und Dänemark.
In der »Rechtssoziologie« von 1987 hatte ich an Hand der damals verfügbaren Literatur über das Scheitern der Prohibition in den USA berichtet (S. 253 f.). Der Abschnitt beginnt:

Ein Lehrstück für die Grenzen des Rechts bei der unmittelbaren Einwirkung auf individuelles Verhalten bildet die Geschichte der Prohibition in den USA zwischen 1920 und 1932.

Als »Lehre« hatte ich damals zwei Dinge im Auge, nämlich erstens das Phänomen, dass Lebensbereiche wie der Umgang mit Alkohol und Rauschmitteln dem Modell rationalen Verhaltens im Sinne von rational choice weniger zugänglich sind als andere, und zweitens, dass die Verbotspolitik ihrerseits nicht als rational im Sinne instrumentellen Handelns gelten darf, sondern den symbolischen Ausdruck moralischer Überzeugungen bildet. Heute ist es an der Zeit, auch die politisch praktische Lehre zu ziehen, die ich damals nicht gewagt habe. Sie kann nur lauten, dass weiche Drogen legalisiert werden sollten.
Drogen schaden der Gesundheit und sind allein in Deutschland jährlich für über 200.000 Menschen tödlich. Sie sind mindestens deshalb auch wirtschaftlich schädlich, und sie sind sozial bedenklich, weil sie Lebensläufe und soziale Beziehungen zerstören können. Es gibt auf den ersten Blick also allen Grund, Drogen zu verbieten, wie es in Deutschland durch das Betäubungsmittelgesetz geschieht. Es gibt aber drei prinzipielle Probleme. Das erste ist die Ungleichbehandlung verschiedener Drogen, das zweite die Nebenwirkungen des rechtlichen Verbots und vor allem der Strafverfolgung. Das dritte Problem liegt auf der normativen Ebene: Wieweit darf der Staat die Individuen vor Selbstschädigung schützen? Wieweit muss er mit Rücksicht auf Drittinteressen eingreifen?
Die Ungleichbehandlung wird deutlich, wenn man die schädlichen Wirkungen der verschiedenen Drogen nebeneinander stellt. Verboten sind in Deutschland (und in den meisten anderen Ländern) Opiate und Heroin, Amphetamine, Kokain und Haschisch/Marihuana. Erlaubt dagegen sind Alkohol und Nikotin. Die wichtigsten Vergleichskandidaten sind Cannabis einerseits sowie Alkohol und Nikotin andererseits.
Man darf die Cannabiswirkungen nicht verharmlosen. Willenbrock verweist dazu auf eine Metastudie der australischen Wissenschaftler Wayne Hall und Louisa Degenhardt aus dem Jahr 2009 [2]Adverse Health Effects of Non Medical Cannabis Use, The Lancet 374, 2009, 1383-1391.. Die individuellen Wirkungen sind anders, aber sicher nicht leichter als die von Alkohol und Nikotin. Ich zitiere aus einer Zusammenfassung des genannten Artikels:

Die wahrscheinlichsten unerwünschten Folgen des Cannabiskonsums sind ein Abhängigkeitssyndrom, ein erhöhtes Risiko für Verkehrsunfälle, gestörte Atemwegsfunktionen, Herzkreislauferkrankungen und nachteilige Effekte des regelmäßigen Konsums auf die psychosoziale Entwicklung der Heranwachsenden und die psychische Gesundheit.

Etwa neun Prozent der Personen, die jemals Cannabis konsumiert haben, sollen davon abhängig werden. Auch psychotische Störungen werden beobachtet. Wichtiger aber scheint mir: Die kumulativen Wirkungen von Cannabis sind um die Größenordnung zehn niedriger als die von Alkohol und Nikotin. Immerhin scheint das individuelle Risiko bei regelmäßigem Cannabiskonsum doch größer zu sein als bei Alkohol. Ich zitiere noch einmal aus derselben Quelle:

Die Autoren stellen fest, dass die Belastung der öffentlichen Gesundheit durch Cannabiskonsum im Vergleich zu Alkohol, Tabak und anderen illegalen Drogen noch relativ gering sei. Eine kürzlich erfolgte australische Studie schätzte, dass der Cannabiskonsum nur zu 0,2 Prozent zur Gesamtbelastung durch Krankheiten beitrage, und dass in einem Land, in dem höchste Cannabiskonsum-Raten verzeichnet werden. Cannabis wird für zehn Prozent der Belastungen verantwortlich gemacht, die durch alle illegalen Drogen entstehen (darunter Heroin, Kokain und Amphetamine). Außerdem werden zehn Prozent der Krankheitsbelastungen durch Alkohol (2,3 Prozent), jedoch nur 2,5 Prozent der Belastungen durch Tabak (7,8 Prozent) dem Cannabis angelastet.

Alkoholgenuss, so zitiert Willenbrock Mechthild Dyckmans, die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, gehöre nun einmal zur Kultur und sei »aus unserem gesellschaftlichen Leben nicht mehr wegzudenken«, die Freigabe von Cannabis sei dagegen für die Bundesregierung tabu. Willenbrock kommt zu dem Schluss:

»Man muss kein Quartalskiffer sein [3]Ich habe es nie probiert., um die Kriminalisierung von Cannabis für kontraproduktiv, kostspielig und verlogen zu halten.«

Dagegen finde ich keine Argumente, sondern nur die Erklärung, dass hier nach wie vor im Hintergrund ein Wertkonflikt ausgetragen wird, bei dem Cannabis nur als Symbol für eine bestimmte Weltsicht steht. [4]Ich wäre allerdings sehr vorsichtig, diese Argumentation auf die sog. Harten Drogen zu übertragen. Hier passt noch weitgehend die alte Schablone von links und rechts. Symbol des Symbols ist hier der frühere Richter und heutige Bundestagsabgeordnete der Linken Wolfgang Nešković, der als Vorsitzender Richter am Landgericht Lübeck 1992 dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorlegte, ob die Kriminalisierung des Besitzes von Cannabisprodukten im Hinblick auf die Legalität des viel gefährlicheren Alkohols nicht gegen den Gleichheitssatz verstoße. Der Vorlagebeschluss hat damals die Gefährlichkeit von Cannabis aus heutiger Sicht verharmlost. Und dennoch bleibt der Vergleich mit dem Alkohol triftig. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Cannabis-Beschluss (E 90, 145) letztlich einen Verfassungsverstoß verneint, weil die Möglichkeit bestehe, in Bagatellfällen durch das Absehen von Strafe (§ 29 Abs. 5 BtMG) oder Strafverfolgung (§§ 153 ff StPO, § 31a BtMG) dem Verdikt der Unverhältnismäßigkeit auszuweichen. Es erscheint wenig aussichtsreich, erneut verfassungsrechtlich gegen die Kriminalisierung von Cannabis zu argumentieren.
Warum hat sich das Cannabisverbot nicht von selbst erledigt wie einst die Alkoholprohibition? Immerhin hatte John Kaplan 1971 von einer »New Prohibition« gesprochen [5]John Kaplan 1971, Marihuana: The New Prohibition, New York 1971. gesprochen, um auszudrücken, dass das Recht mit der Kriminalisierung von Marihuana wieder auf dem zur Erfolglosigkeit verurteilten Weg sei, ein Verhalten, dessen Schädlichkeit nicht klar erwiesen sei und das von weiten Kreisen der Bevölkerung gebilligt oder gar praktiziert werde, aus moralischen Gründen zu verbieten. Der Grund liegt wohl darin, dass bei der Zahl der Cannabiskonsumenten die kritische Masse nicht erreicht wird. Die Zahl der Alkoholkonsumenten und damit Interessenten liegt mindestens um den Faktor 30 höher. [6] Zahlen im Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung 2009. Denkbar wäre das ja, dass man die Wirtschaft ankurbeln möchte, indem man die Nachfrage nach Gesundheitsdienstleistungen erhöht. Ich halte die Politik aber nicht für so zynisch ist, dass sie den volkwirtschaftlichen Schaden des Alkoholkonsums, der vor allem aus Gesundheitskosten und Arbeitsausfall resultiert und der in der Größenordnung von 20 Milliarden zu suchen ist, gegen die wirtschaftliche Bedeutung der Spirituosenindustrie aufrechnet.
Es geschehen manchmal Zeichen und Wunder. Wer hätte vor zwanzig Jahren gedacht, dass es gelingen würde, das Rauchen in der Öffentlichkeit soweit zurückzudrängen? Mit dem Bundesverfassungsgericht würde ich das »Recht auf Rausch« verneinen. Umgekehrt wäre es illiberaler Paternalismus, Alkohol und Nikotin von Staats wegen zu verbieten. Aber eine Prävention gegen Alkohol- ebenso wie gegen Nikotinmissbrauch ist nicht nur unbedenklich, sondern angezeigt. Es sieht so aus, als ob nun auch der Alkohol in die Defensive gerät. Vielleicht lesen wir bald auf jeder Flasche »Alkohol schadet der Gesundheit! Alkohol kann tödlich sein.« Da wäre es doch naheliegend, dass die Spirituosenindustrie sich für die Freigabe von Cannabis stark macht. Dann hätte die Sache vielleicht auch im politischen Raum eine Chance. Die Mittel für die notwendige Prävention – die auch jetzt schon aufgewendet werden –, lassen sich aus einer Cannabissteuer erzielen. Non olet.
Nachtrag vom 26. 9. 2010: In der FamS schreibt heute Paul Nicolas Hinz einen ganz interessanten Artikel »Trinker und Raucher kosten die Gesellschaft 60 Milliarden Euro«. [7]Der Artikel ist Online nur für Abonnenten zugänglich. Er bezieht sich dabei auf den Hamburger Rechtsökonomen Michael Adams. Auf dessen Homepage ist dazu nichts Aktuelles zu finden. Interessant scheint mir aber immer noch ein älterer Aufsatz zu der Frage »Wie zerstört man den Markt für Rauschgifte?«. Auch wenn er eigentlich die harten Drogen betrifft, wäre doch daraus für Cannabis-Produkte zu lernen, dass Freigabe nicht völlige Freigabe bedeuten kann, sondern kontrolliert nur soweit gehen sollte, dass der illegale Markt austrocknet.
Nachtrag vom 27. 10. 2010: Rein zufällig hatte ich gerade einen älteren Artikel von Sebastian Scheerer aufgeschlagen: The New Dutch and German Drug Laws: Social and Political Conditions for Criminalization and Decriminalization, Law and Society Review 12, 1978, 585-606. Ende der 1960er Jahre verbreitete sich in den Niederlanden und etwas später auch in der Bundesrepublik der Gebrauch von Cannabis und dann auch von Heroin, so dass von einer Rauschgiftwelle die Rede war. Beide Länder reagierten mit einer Reform ihrer Betäubungsmittelgesetze, die Bundesrepublik mit einer generellen Verschärfung, die Niederlande mit einer Verschärfung nur für den organisierten Rauschgifthandel, dagegen mit einer Milderungen der Sanktionen für bloße Konsumenten und in der Folgezeit der de facto Duldung des Konsums. Scheerer nimmt diese Gesetzgebung als Beispiel zum Test allgemeinerer Theorien über die Ursachen von Kriminalisierung und Dekriminalisierung. Scheerer beschreibt, wie die Dekriminalisierung des Drogenkonsums in den Niederlanden von politischen Machteliten gegen die öffentliche Meinung betrieben wurde.

Criminal legislation “from above” is directed not by public opinion but by the powerful. In legal democratic societies the powerful are organized social groups and the bureaucratic apparatus of government. It is their perception that determines where legislative action is needed. When they articulate their legislative interests the articulation alone is sufficient to create a political vacuum or a “policy deficit”, which every government must fill with some activity if it has not completely lost interest in remaining in power. These groups exercise a high degree of control over the political process. They are seldom progressive and often morally conservative. But if public opinion is punitive and repressive, the morally conservative masters of policy deficits are the only ones who can successfully decriminalize. The remarkable thing is that they do so.

Das ist natürlich kein Automatismus. Es kommt immer auf die Randbedingungen an. In Deutschland waren Polizei und vor allem Ärzteschaft gegen eine Entkriminalisierung. Für die Niederlande verweist Scheerer auf das als Versäulung der Gesellschaft bekannte Phänomen und die daraus folgende spezifische Toleranzhaltung. Da hat sich anscheinend in der Zwischenzeit etwas geändert.
Nachtrag: Die Kalifornier haben am 2. November 2010 die Proposition 19 zur Legalisierung von Cannabis abgelehnt. Ohnehin hätte wohl Kalifornien als Bundesstaat gar keine ausreichende Gesetzgebungskompetenz gehabt, um Anbau, Besitz und Verbrauch von Marihuana wie beabsichtigt straffrei zu stellen. Dazu in der heimlichen Juristenzeitung vom 2. November S. 20 der Artikel von Roland Lindner: Mit Marihuana gegen die Haushaltskrise.
Nachtrag vom 4. 2. 2011: Die Studie »Alkoholkonsum Jugendlicher und junger Erwachsener in Deutschland 2010« steht unter http://www.bzga.de >Forschung > Studien/Untersuchungen > Studien zum Download bereit.
Nachtrag vom 11. 3. 2011: Nach einer neuen Pressemitteilung soll eine neue Studie der University of New South Wales, Sydney, belegen, dass der Genuss von Cannabis den Ausbruch psychischer Erkrankungen in den entscheidenden Jahren der Gehirnentwicklung um bis zu 2,7 Jahren beschleunigen kann.
Nachtrag vom 19. 11. 2020: Drogen-Trip ins Krankenhaus – Ulmer Studie zeigt starke Zunahme von Cannabis-Psychosen: Seit 2011 hat sich am Universitätsklinikum Ulm die Zahl der Psychiatriepatienten mit Cannabis-Psychose vervielfacht. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III. Mögliche Ursache ist der hohe THC-Wert von hochpotenten Neuzüchtungen sowie von synthetischen Cannabis-Produkten. Ein weiterer Grund könnte die ab 2017 geltende gesetzliche Zulassung von medizinischem Cannabis sein: Maximilian Gahr/Julia Ziller/Ferdinand Keller/Carlos Schönfeldt-Lecuona, Increasing Proportion of Cannabinoid-Associated Psychotic Disorders: Results of a Single-Center Analysis of Treatment Data From 2011 to 2019, Journal of Clinical Psychopharmacology 40, 2020, 642-645.
Nachtrag vom 5. 3. 2021: Einer von zehn Konsumenten entwickelt eine Cannabiskonsumstörung. Das ist der Tenor eines Übersichtsartikels, der soeben in dem des britischen Wissenschafts-Magazins Nature veröffentlicht wurde (Cannabis Use and Cannabis Use Disorder, Nat Rev Dis Primers 7, 17, 2021, https://doi.org/10.1038/s41572-021-00256-3).

Aus der Pressemitteilung des Universitätsklinikums München, wo die Mitautorin Eva Hoch tätig ist:

»Nach Angaben der Vereinten Nationen nutzen etwa 193 Millionen Menschen pro Jahr Cannabis, das aus der Hanfpflanze gewonnen wird. Und anderem mit diesen Konsequenzen: Neben dem kurzfristigen, berauschenden Gefühl verringert Cannabis die Aufmerksamkeit und schränkt die Psychomotorik ein, das Risiko für Arbeits- und Verkehrsunfälle steigt. Zudem kann bei genetischer Vorbelastung schon einmaliger Konsum eine Psychose auslösen, das Risiko für psychische Störungen ist ebenfalls erhöht.

Teenager, die Cannabis konsumieren, haben häufiger Schulprobleme, brechen ihre Ausbildung öfter ab. Einer von zehn Konsumenten entwickelt eine Cannabiskonsumstörung. Aber nicht jeder hat das gleiche Risiko dafür. ›Neben einer genetischen Vulnerabilität gibt es verschiedene psychische und soziale Risikofaktoren. Ob sich aus dem Cannabiskonsum eine Abhängigkeit entwickelt, hängt auch davon ab, wie intensiv man vor dem 16. Lebensjahr konsumiert‹, erklärt PD Dr. Hoch. ›Besonders in der Pubertät bis hin zum jungen Erwachsenenalter verändert Cannabis die Struktur und die Funktion des Gehirns.«

Seit den Hippie-Zeiten in den 1970er Jahren hat sich die Droge stark verändert. In den letzten zehn Jahren hat sich der psychoaktive Hauptwirkstoff in der Hanfpflanze, das Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC), durch spezielle Züchtungen fast verdoppelt. Das nicht-berauschende Cannabidiol (CBD), dem schützende Eigenschaften zugeschrieben werden, ist oftmals nicht mehr in der Droge vorhanden. Die Pflanze enthält nach heutigem Kenntnisstand mindestens 150 Cannabinoide, die wenigsten davon sind erforscht.«

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Mark Lawrence Schrad, The Political Power of Bad Ideas. Networks, Institutions, and the Global Prohibition Wave, Oxford 2010. Das in diesem Zusammenhang wichtige Kapitel findet man auch unter dem Titel »The Transnational Temperance Community« in: Marie-Laure Djelic/Sigrid Quack (Hg.), Transnational Communities, Cambridge 2010, S. 255–281.
2 Adverse Health Effects of Non Medical Cannabis Use, The Lancet 374, 2009, 1383-1391.
3 Ich habe es nie probiert.
4 Ich wäre allerdings sehr vorsichtig, diese Argumentation auf die sog. Harten Drogen zu übertragen.
5 John Kaplan 1971, Marihuana: The New Prohibition, New York 1971.
6 Zahlen im Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung 2009.
7 Der Artikel ist Online nur für Abonnenten zugänglich.

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Über das Buch »Plunder« von Mattei und Nader

Heute wird es etwas länger. Aber niemand muss das lesen. Ich schreibe in erster Linie für mich selbst.
Laura Nader braucht nicht vorgestellt zu werden. Ugo Mattei war mir bisher nicht bekannt. Er ist Italiener und heute Professor an der University of California, Hastings College of Law. Er kommt von der International University College of Turin, die sich auf ihrer Internetseite mit großen Namen schmückt und als ein Ort vorstellt:

where global law and economics are critically understood with the help of such scholars like Duncan Kennedy (Harvard), Guido Calabresi (Yale), and Gustavo Zagrebelsky (Former Italian Chief Justice). Nobel Laureate Amartya Sen sits in its advisory board.

Nader und Mattei haben 2008 ein Buch veröffentlicht, das in den USA einige Beachtung gefunden hat, in Deutschland aber kaum rezipiert worden ist:

Plunder: When the Rule of Law is Illegal
Wiley-Blackwell, 2008
296 Seiten; $84.95 (in Deutschland 63,95 EUR)

Wer das Buch nicht zur Hand hat, kann sich bei Youtube ein Vodcast mit einem Vortrag von Laura Nader anhören. Ferner stehen im Internet einschlägige Manuskripte von Ugo Mattei und Nader zur Verfügung. [1]Laura Nader, Controlling Processes – Tracing the Dynamic Components of Power, 1997; Ugo Mattei/Marco de Morpurgo, Global Law and Plunder: The Dark Side of the Rule of Law, 2009. Und hier gibt es auch ein schönes Bild von beiden, wie sie ihr Buch vorstellen.
Auf der Höhe seiner Macht beherrschte das antike Rom fast die ganze damals bekannte Welt. Das römische Recht galt als universales Weltrecht. Doch das römische Reich zerfiel und mit ihm Anwendung und Kenntnis des römischen Rechts. Seit 1100 unterrichtete Irnerius in Bologna wieder römisches Recht, wie es Justinian im Corpus Juris Civilis hatte zusammenstellen lassen. Irnerius und seine Nachfolger, die Glossatoren, lehrten das römische Recht nicht als historische Reminiszenz und auch nicht als das Recht Italiens, sondern als das jus commune, als Weltrecht, das für das ganze Abendland Geltung beanspruchen sollte, soweit nicht besondere lokale Rechte entgegenständen. Sie waren überzeugt von dem inneren Wert des römischen Rechts, das als einziges ein vollständiges und durchgearbeitetes System mit klaren und anwendungsgeeigneten Begriffen anbot und damit nicht bloß als eines unter anderen, sondern als das Recht schlechthin, als ratio scripta, erschien. Der Erfolg war ungeheuer. Aus dem ganzen Abendland zogen die Studenten zu Tausenden nach Italien und ließen sich im römischen Recht ausbilden. In ihre Heimat zurückgekehrt, die politisch in viele kleine Territorien zersplittert war, stießen sie in eine Lücke. Es fehlte ein übergreifendes, einheitliches Recht. Im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts wurde so in Kontinentaleuropa das römische Recht als jus commune, als common roman law, zur universellen Rechtsquelle. Könnte sich eine solche Entwicklung heute wiederholen?
Wenn wir Ugo Mattei und Laura Nader folgen, ist sie längst in vollem Gange. An die Stelle des römischen jus commune ist die amerikanische rule of law getreten, kombiniert mit Ideen von politischer Freiheit, Demokratie, Gleichberechtigung und Menschenrechten. Doch nach Mattei und Nader verbreitet sich dieser Rechtskomplex nicht wegen seiner inneren Überzeugungskraft oder Werthaftigkeit, sondern er dient dem politisch-militärisch-ökonomischen Machtkomplex des Westens, in erster Linie der USA, als Mittel und Rechtfertigung zur Ausbeutung der Welt.
Plunder ist Plünderung oder Ausbeutung. Die These des Buches sagt: Seit Beginn der Kolonialisierung dienten europäische und später europäisch-amerikanische Rechtskonzepte als Instrument und Legitimation für die Ausbeutung der Welt durch die europäischen Kolonialmächte und die USA. Zwar habe sich die Erscheinungsform des Rechts gewandelt, doch das Prinzip sei geblieben: Columbus segelte mit einem Notar an Bord der Santa Maria in die neue Welt, um die neu entdeckten Territorien für Spanien zu reklamieren. Das Konzept der terra nullius diente zur Inbesitznahme von Kolonien. Mehr oder weniger gewaltsam wurde ihnen europäisches Recht oktroyiert, um ihren Widerstand gegen Ausbeutung zu brechen. Auch in moderner Gestalt dient das Recht immer noch dazu, die Schwachen weiter zu schwächen und ihre Ressourcen zu plündern. Zur Rechtfertigung diene das Defizitargument (lack of rule of law): Den Drittländern fehlt ein geeignetes Rechtssystem. Ihnen fehlt es an Entwicklung und Zivilisation, ihnen fehlen die Kapazitäten, um die Reichtümer ihres Landes zu nutzen. Sie haben kein Recht, das diesen Namen verdient, keine Verträge, kein Eigentum. Was da vorhanden ist, ist bloße Sitte, Tradition oder Religion. Ihnen fehlt eine minimale Ausstattung mit Institutionen, die die Entfaltung eines effizienten Marktes möglich macht.
Vorab räumen Nader und Mattei zwei mögliche Angriffspunkte aus: Sie erklären, dass man sicher auch über chinesischen, japanischen, russischen oder islamischen Imperialismus reden könne. Das aber sei jetzt nicht ihr Thema (S. 2). Und sie konzedieren, dass Demokratie und Rechtsstaat auch eine »helle« Seite haben. Aber sie wollen sich auf die Schattenseite konzentrieren, die im Zuge der Globalisierung das westliche Rechtskonzept verdunkelt habe.
Ihre Kritik hat zwei Angriffspunkte. Erstens beanstandet sie, die Entwicklungs- und Transformationshilfe durch Rechtsmodernisierung sei von einer Ideologie der Überlegenheit westlicher Kultur getragen. Zweitens wendet sie sich gegen das neoliberale Konzept der Marktwirtschaft, von dem sich westliche Regierungen und die Bretton-Woods-Institutionen haben leiten lassen. Für die Rechtssoziologie sind diese Kritikpunkte deshalb relevant, weil als Vehikel kultureller Rücksichtslosigkeit und wirtschaftlicher Kolonialisierung rechtliche Formen ausgemacht werden, die zusammenfassend als rule of law gekennzeichnet werden. Mattei und Nader behaupten, dass die USA und andere westliche Staaten durchgehend rechtliche Formen nutzten, um andere Staaten in einen Zustand struktureller Ungleichheit zu versetzen oder darin festzuhalten und dabei mit der Berufung auf die rule of law einen Anschein von Gerechtigkeit und Fairness verbreiteten, der geradezu das Gegenteil von dem verdecke, was er verspreche.
Rule of law, Demokratie und Menschenrechte – so Mattei und Nader – werden zwar nur noch ausnahmsweise mit Gewalt oktroyiert. In der Regel genügten Verhandlungen, wirtschaftlicher Druck und das Geld, das Weltbank und der Internationale Wahrungsfonds auf der Grundlage des Washington Consensus verteilen. An die Stelle der Zivilisierung der Wilden durch christliche Mission seien im Laufe der Zeit »Modernisierung«, wirtschaftliche Entwicklung und Verbreitung von Demokratie getreten. Aber das Ergebnis sei geblieben, nämlich die Stärkung der Starken und die Ausbeutung der Schwachen. Das alles geschehe unter dem in sich unklaren und deshalb so leicht von allen Seiten akzeptierten Konzept der rule of law.
Früher einmal habe die Berufung auf die rule of law dazu gedient, die Privilegien des Adels, des Parlaments und der Juristen gegen Modernisierungsversuche der Monarchie zu verteidigen. Heute sei sie das Rückgrat der Wirtschaftsverfassung; sie sichere das ohnehin ungleich verteilte Eigentum und gestattete intern wie extern die Ausbeutung der Schwachen. Wo immer die Herrschaft des Rechts eine Lücke lasse, seien Eingriffe und Angriffe gerechtfertigt wie die Natoangriffe im früheren Jugoslawien oder die Invasionen im Irak und in Afghanistan. Nach diesem Muster interpretieren Mattei und Nader mehr oder weniger alle Ereignisse der neueren Geschichte; Spanische Konquistadoren missionierten die Maya und Inka gestützt auf das moralische Argument, diese praktizierten Menschenopfer. Auf der Berlin-Konferenz von 1889 wurde Afrika unter den Kolonialmächten aufgeteilt, um die Reste des Sklavenhandels zu beseitigen. Der Opiumkrieg habe dazu gedient habe, Asien für die europäischen Märkte zu öffnen. Aktuellere Beispiele für »plunder« bieten die Verursachung der argentinischen Schuldenkrise von 2002 durch amerikanische Gläubiger, der amerikanische Zugriff auf das Öl im Irak, das Urheberrechtsregime der WTO, die Patentierung von Naturstoffen und traditionellen Verfahren.
Das Konzept des Neokolonialismus sei einfach und raffiniert zugleich. Es brauche weder Krieg noch offene Diskriminierung. Man müsse nur offene Märkte bauen und sie mit der rule of law verkleiden. Als Akteure werden Wall Street, Corporate America, lokale Eliten und die globalen Entwicklungshilfeinstitutionen, in zweiter Linie die großen amerikanischen Banken und Anwaltsfirmen, die sie bedienen, ausgemacht. Entwicklungsländer würden von der Weltbank, dem IMF, USAID und der Europäischen Entwicklungsbank zur Übernahme westlicher Standards mit der Drohung veranlasst worden, andernfalls würden sie vom Weltmarkt ausgeschlossen. Ihr Finanzbedarf zwinge sie, sich dem Regime dieser neuen Weltgesetzgeber zu unterwerfen. Das läuft dann so wie bei der argentinischen Schuldenkrise (S. 37): Zunächst gibt es für ein Land der Dritten Welt (scheinbar) günstige Kredite, die dazu führen, dass die lokalen Eliten an Stelle produktiver Investitionen üppig konsumieren. Wenn das Land dann tief verschuldet ist, setzt der IWF strukturelle Reformen durch, die regelmäßig den starken Großgläubigern zugutekommen, kleine Investoren und die lokale Wirtschaft aber ruinieren. Selbst der Kampf gegen die Frauenbeschneidung und das Tragen der Burkha müssten als moralische Rechtfertigung für die Verbreitung eines wirtschaftsfreundlichen Rechtssystems und damit für die Ausbeutung der Dritten Welt herhalten (S. 25).
Der Neoliberalismus ist für Mattei und Nader eine revolutionäre Idee, in ihrer Potenz durchaus dem Kommunismus vergleichbar. Angriffsziel ist der Wohlfahrtstaat, dem Ineffizienz vorgehalten wird (S. 43). In Zeiten des kalten Krieges hätten auch die kapitalistischen Staaten stets die sozialen Effekte ihrer Politik bedenken müssen, weil sie auf die Legitimität angewiesen waren, die sie daraus bezogen, dass sie im Vergleich zur sozialistischen Alternative als die freundlichere Möglichkeit erschienen. Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten sei die Vergleichsmöglichkeit entfallen, und damit der Zwang zum Wohlfahrtsstaat. So habe der Neoliberalismus sich als der bessere und einzig mögliche Weg etablieren können, und heute trete er mit der Arroganz auf, die für ideologische Monopole typisch sei (S. 46 f.).
Das Rechtssystem, das früher einmal zum Kernbestand nationaler Souveränität gehört habe, werde als technischer, politisch neutraler Normenkomplex begriffen, der nur noch unter dem Aspekt der wirtschaftlichen Effizienz bewertet werden könne.

The law was now neutral and technical. It could be targeted, modified and fixed, directly or indirectly, in the same way in which it is possible to intervene to fix a sewer system or a hospital. (S. 48)

Durch den Eingriff in fremde Rechtssysteme, so als ob es sich um eine rein technische Maßnahme handele wie beim Straßen- oder Krankenhausbau, werde ein altes Tabu gebrochen. Ökonomen dienten dabei als Legitimationshelfer. Das Makrowachstum sei zum einzigen Erfolgsparameter geworden.
Mattei und Nader konzedieren, dass die rule of law gelegentlich die Brutalität der Ausbeutung durch ein »empowerment« schwächerer Akteure begrenzen könne. Aber das ist nicht das Ende ihrer Geschichte. So wie man früher in den Kolonien verhindert habe, dass die Menschen von den ihnen aufgezwungenen westlichen Rechtssystemen profitierten, indem man sie bei Bedarf auf die Anwendung lokalen Rechts verwies, so werde heute die Artikulierung von Protest und die Durchsetzung formal vorhandener Rechte dadurch verhindert, dass die Menschen in alternative Streitregelungsverfahren gedrängt würden (S. 18, 75ff., 224). [2]So schon Laura Nader/Elisabetta Grande, Current Illusions and Delusions About Conflict Management – in Africa and Elsewhere, Law and Social Inquiry 27, 2002, 573-594 (dazu der Kommentar von Neal … Continue reading Wichtiger noch: Die Justiz sei zur »Least Dangerous Branch« (Bickel) stilisiert worden, die sich aller distributiven Aktivitäten zu enthalten habe (140).
Der letztere Gesichtspunkt wird in Kapitel 6 unter der Überschrift »International Imperial Law« ausgebreitet. [3]Im Anhang S. 256 erfährt man, das dieses Kapitel auf einen Aufsatz von Ugo Mattei, A Theory of Imperial Law: a Study on USD Hegemony and the Latin Resistance, Indiana Journal of Global Legal Studies … Continue reading Unter der Führung der USA habe sich die rule of law zu einem System der Festschreibung der Verteilung von Armut und Reichtum entwickelt, wie sie durch die weltweite Ausbeutung entstanden sei. »In this scenario, which we call the imperial rule of law, the perpetrators of plunder are guaranteed by ›reactive institutions‹ (such als courts) against disgorging the ill-gotten profits.« (137) Der Diskurs über Demokratie und die rule of law sei erfolgreich so umfunktioniert worden, dass das Recht eine solidarische Umverteilung des Reichtums delegitimiere und einem lokalen Rechtspluralismus ebenso wie politischer Verantwortung den Boden entziehe (141).
Das amerikanische Rechtsystem sei, verglichen mit anderen westlichen Ländern, im Grund eine Anomalie:

It is the only system with class actions, with civil juries, with unlimited contingency fees, with a fully fledged double set of courts, with graduate law schools – just to offer a few peculiarities. It is almost alone in using punitive damages, in the extensive use of the death penalty, and in granting tremendous political power to the Supreme Court. It is nearly alone in sharing this aspect with Somalia, in not ratifying the International Convention on the Rights of Children. (S. 164)

International habe sich das amerikanische Modell des Parteiprozesses imperialistisch ausgebreitet. Dafür sei in erster Linie das Discovery-Verfahren verantwortlich, dass den Prozess zu einem Marktplatz mache, auf dem nur gewinnen können, wer zuvor investiert habe. Für Streitigkeiten vor internationalen Schiedsgerichten biete sich dieses Verfahren besonders an, weil die Schiedsgerichte gar nicht in der Lage seien, inquisitorische Verfahren zu führen (160). Amerikanische Gerichte hätten sich auch für Klagen von Ausländern und gegen Ausländer als attraktiv erwiesen. Ein Grund sei die Möglichkeit von Sammelklagen und die Zuerkennung von punitive damages. Attraktiv seien amerikanische Gerichte aber auch wegen der Möglichkeit, ein Erfolgshonorar zu vereinbaren, so dass Klagen ohne Kostenrisiko möglich seien. Schließlich seien die amerikanischen Juristen wie niemand sonst durch ihre Erfahrung mit dem zweigeteilten Justizsystem der USA mit dem schwierigen Kollisionsrecht vertraut. Auch für Ausländer biete eine Klage vor amerikanischen Gerichten manchmal die einzige Möglichkeit, ihre Rechte geltend zu machen. Die Gerichte ihrerseits begründeten ihre Zuständigkeit mit einer Lücke im Rechtsschutz des Auslandes, etwa weil es dort keine Sammelklagen gebe. Letztlich sei es die wirtschaftliche Schwerkraft der USA, die ausländische Beklagte zwinge, sich dort vor Gericht zu verteidigen (164 f.). Mit der Bejahung ihrer Zuständigkeit für die Holocaust-Klagen gegen europäische Banken und Versicherungen hätten die amerikanischen Gerichte sich zu Richtern über die Weltgeschichte aufgeschwungen (157).
Schließlich habe das amerikanische Rechtsmodell auch das Völkerrecht erobert (150 ff.) Beginnend mit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen und dann angetrieben von dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen habe sich das Völkerrecht von dem dezentralen System, das auf den Souveränitätsgedanken aufbaute, immer mehr zu einem zentralisierten System entwickelt, das letztlich von den USA beherrscht werde.

The rhetorical device used in the process of repressing deviance and asserting as universal and inevitable Western ways of social organization and economic development, based on individualism and social fragmentation, has been a genuinely legal concept: ›international human rights‹. (S. 150)

Eine Doktrin der durch die internationalen Menschenrechte beschränkten Souveränität diene zur Rechtfertigung von Übergriffen in fremde Länder.
Der Plunder-Vorwurf bleibt nicht auf die Entwicklungshilfe für Drittländer beschränkt. Kapitel 7 enthält eine Generalabrechnung mit der Situation in den USA. Die Wirtschaftsakteure und ihre Spießgesellen in der Politik seien überall am Werk, der American rule of law, soweit sie die Ausbeutung der Bürger bremsen könne, die Zähne zu ziehen. Man kämpfe für ein marktfreundliches Recht, um die rechtliche Verantwortlichkeit der Wirtschaft zu minimieren. Dazu dienten etwa Höchstgrenzen für punitive damages, die Propagierung von alternativer Streitregelung, das Sponsoring der auf Effizienz bedachten ökonomischen Analyse des Rechts, die Besetzung der Gerichte mit konservativen Richtern und nach dem 11. September 2001 eine menschenrechtswidrige Notstandsgesetzgebung. Durch plea bargaining, d. h. durch Verzicht auf ein rechtsstaatliches Verfahren, würden die Gefängnisse mit billigen Arbeitskräften gefüllt. Unübersehbare Skandale wie bei Enron und Worldcom würden als Ausnahmefälle (rotten apples in a basket of good apples, S. 174) dargestellt; die Reaktion mit dem Sarbanes-Oxley-Act sei weitgehend symbolisch und beeindrucke nur die Europäer, die daraufhin ihre eigenen Wirtschaftsskandale amerikanischen Anwälten überließen. So wie in Afrika und anderswo der Krieg das bewährte Mittel sei, mit dem sich ein nicht gewählter Häuptling Anerkennung verschaffe, sei Bush nach der umstrittenen Präsidentschaftswahl von 2000 schnell in den Krieg gezogen. Schließlich werden der war on terror und der Patriot Act als »Plunder of Liberty« gegeißelt.
Im 8. und letzten Kapitel wird noch einmal zusammengefasst und akzentuiert: »Plunder is such a pervasive aspect of the history of global capitalism that the ill-gotten gains that should be disgorged defy imagination.« (199) Von demokratischen Wahlen und von der Justiz sei keine Abhilfe zu erwarten, denn die seien Teil des Problems. Positiv kontrastieren Mattei und Nader das kontinentaleuropäische Wohlfahrtsstaatsmodell mit dem »Rechtsimperialismus« der USA. Der real existierende neoliberale Kapitalismus sei ebenso gescheitert wie der im Ostblock praktizierte Kommunismus. Sie plädieren für eine Art Hybridsystem zwischen beiden, und nachdem sie anfangs die Bemerkung hatten fallen lassen, eigentlich könne nur eine Revolution Abhilfe schaffen, machen sie am Ende doch Vorschläge zu einer Reform in Richtung auf eine lokal verankerte »people’s rule of law«, die vor allem auch »notions of social justice« im Blick behält. Ein Gegengewicht gegen die imperial rule of law sei nur von lokalen Initiativen, von Bürgern und Wissenschaftlern zu erwarten, die auf ihrem Feld für soziale Gerechtigkeit kämpften. Dazu wird eine Reihe von mehr oder weniger erfolgreichen Protest-, Widerstands- und Streikaktionen gegen Enteignungen oder Bauvorhaben, Umweltbeeinträchtigungen oder skandalöse Arbeitsbedingungen aufgezählt.
Im Internet habe ich nur Jubelbesprechungen des Buches gefunden. [4]Rik Pinxten, Journal of Royal Anthropological Institute 2008; David H. Price in Multinational Monitor 30, Jan./Febr. 2009; Pablo Rueda, The Rule of Law and the History of Plunder; Luigi Russi, 2009 … Continue reading Ich hätte das Buch nach der ersten Lektüre eher als glänzend geschriebenes [5]Das gilt nicht nur für die Formulierung des Textes. In einem Anhang S. 240-265 gibt es kapitelweise eingeordnete und kurz kommentierte Lesehinweise, die die Kennerschaft der Autoren zeigen. … Continue reading Pamphlet abgetan, wenn mich nicht die Prominenz Laura Naders daran gehindert hätte.
Für Mattei und Nader bildet die nach 1945 einsetzende Entwicklungshilfe die nahtlose Fortsetzung des alten Kolonialismus, nur mit dem Unterschied, dass an die Stelle harter Gewalt die weiche Hegemonie neoliberaler Wirtschaftspolitik und der amerikanischen rule of law getreten ist. In eine Kritik des Neoliberalismus werden heute, zumal nach der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2009, viele gerne einstimmen, wiewohl man hier mindestens stark differenzieren müsste. Auch die Kritik an der zweiten Amtszeit des Präsidenten Bush ist weit verbreitet. Darauf will ich mich hier nicht einlassen.
Für die Rechtssoziologie bleibt die These interessant, dass die Ausbeutung der Entwicklungs-, Transformations- und Schwellenländer mit einer amerikanisierten rule of law organisiert und legitimiert werde. Nader und Mattei bieten eine lange Reihe historischer und aktueller Beispiele, bei denen man ihnen beipflichten muss, dass hier Plünderung oder Ausbeutung stattfindet und dass das westliche Rechtskonzept dabei mindestens hilfreich war. Es ist wohl auch zutreffend, dass manche Rechtshilfeprojekte Recht als unpolitisches, rein technisches Instrument zur Wirtschaftsförderung einsetzen und die damit verbundenen politischen und sozialen Nebenfolgen und Verteilungswirkungen ausblenden. Insoweit hat die rule of law sicher auch ihre »dunkle Seite«. Der deutschen Diskussion fällt es bisher schwer, diese Seite zu erfassen, weil sie immer noch zu sehr auf den (Gesetzes-)Positivismus fixiert ist. Deshalb ist es wohl doch sinnvoll, das Buch auch hierzulande zur Kenntnis zu nehmen. Allerdings könnte man sich dafür auch mit der sehr viel nüchterneren Darstellung von Tamanaha [6]Brian Z. Tamanaha, The Dark Side of the Relationship between the Rule of Law and Liberalism, 2008. begnügen.
Mattei und Nader vernachlässigen eine Eigenschaft des kapitalistischen Systems, für die sie selbst ein hervorstechendes Beispiel bilden, nämlich seine Fähigkeit zur Selbstreflexion und Selbstkritik. Spätestens mit den Terroranschlägen vom 11. 9. 2001 wurde die Problematik der Entwicklungshilfe zum Teil eines allgemeineren globalisierungskritischen Diskurses. Besonders dem IWF wurde vorgeworfen, er habe mit Brachialgewalt und zum Schaden der betroffenen Länder neoliberale Rezepte durchgesetzt. Als »Klassiker« der Globalisierungskritik gilt Joseph E. Stiglitz. Er argumentiert, die Staaten, die den Rezepten des IWF gefolgt seien, seien nicht reicher, sondern ärmer geworden. Sie litten zudem unter Umweltschäden und dem Verlust der indigenen Kultur. Die wirtschaftlich erfolgreichen asiatischen Staaten dagegen seien ihren eigenen Weg zur Globalisierung der Wirtschaft gegangen. Zunehmend wurde auch kritisiert, dass der Konsens auf die rule of law als Instrument der Entwicklungshilfe nur oberflächlich sei. Innerhalb des neoliberalen Rahmens seien Good Governance und die rule of law instrumentalisiert und prozeduralisiert worden und hätten ihre Verbindung zu Demokratie und Menschenrechten verloren. Als Folge der Globalisierungskritik ist der Washington-Consensus längst beerdigt worden.
»As a result, the focal point for development policy was increasingly provided less by economics than from ideas about the nature of the good state themselves provided by literatures of political science, political economy, ethics, social theory, and law. In particular, ›human rights‹ and the ›rule of law‹ became substantive definitions for development. One should promote human rights not to facilitate development – but as development. The rule of law was not a developmental tool – it was itself a developmental objective. Increasingly, law – understood as a combination of human rights, courts, property rights, formalization of entitlements, prosecution of corruption, and public order – came to define development.« [7]David Kennedy, »The Rule of Law«, Political Choices and Development Common Sense, in: David M. Trubek/Alvaro Santos, The New Law and Economic Development, Cambridge University Press, 2006, 95-173, … Continue reading
Die Selbsterneuerung der amerikanischen Politik durch die Wahl Präsident Obamas haben Mattei und Nader natürlich nicht vorhersehen können. Aber sie hätten doch schon wahrnehmen können, dass sich seit der Jahrtausendwende einiges verändert hat.
Die zentralen Thesen des Buches werden nur plausibel, weil sie auf einer sehr allgemeinen und abstrakten Ebene angesiedelt sind. Auf dieser Ebene lässt sich schwer diskutieren. Alle »Belege« bleiben doch nur Einzelbeispiele. Man könnte sich auf die Suche nach Gegenbeispielen begeben. Sie drängen sich in Asien geradezu auf. Selbst in Afrika hat jedenfalls das Gesundheitswesen unübersehbare Fortschritte gemacht. Doch Beispiele und Gegenbeispiele lassen sich nicht gegeneinander aufrechnen. Das Konzept ist so weit, dass man jedes historische oder politische Ereignis, an dem europäische oder amerikanische Politiker oder Unternehmen beteiligt sind, als Bestätigung interpretieren kann. Mattei und Nader verzichten auf Gegenbeispiele, und das begründet die Unausgewogenheit ihrer Darstellung. Ihr Vorbehalt, die rule of law habe auch eine »helle« Seite, schafft keine ausreichende Abhilfe. Das zeigt sich besonders in Kapitel 6. Es ist sicher zutreffend, dass die Führungsrolle bei der Entwicklung des Rechts nach dem zweiten Weltkrieg von Europa auf die USA übergegangen ist. Das haben auch andere schon bemerkt. [8]Z. B. Máximo Langer, From Legal Transplants to Legal Translations: The Globalization of Plea Bargaining and the Americanization Thesis in Criminal Procedure. Harvard International Law Journal, Vol. … Continue reading Europäische Rechtsphilosophie und Rechtstheorie sind weitgehend durch Ideen des Legal Realism und die verschiedenen Law & Something-Ansätze, allen voran Law & Economy, abgelöst worden. Durchaus zutreffend beschreiben Mattei und Nader, was die amerikanische Art des Umgangs mit dem Recht für die Praxis so attraktiv macht. Und ich zögere auch nicht, mit den beiden Autoren die Neigung amerikanischer Gerichte, großzügig ihre Zuständigkeit in Streitigkeiten mit Auslandsberührung zu bejahen, imperialistisch zu nennen. Dennoch stützt gerade das Kapitel 6, in dem Besonderheiten des amerikanischen Rechts aufgezählt werden, die für dessen Anziehungskraft und Ausbreitung verantwortlich sein könnten, die Hauptthese des Buches kaum. Denn eben diese Besonderheiten wären an sich geeignet, wirtschaftliche Ausbeutung zu bekämpfen. Mattei und Nader erinnern selbst an die sog. Holocaust-Klagen und andere Beispiele, in denen Ausländer vor amerikanischen Gerichten ihr Recht suchen, etwa die Opfer der Bhopal-Katastrophe. Sie halten es aber für ein Unding, das Gerichte im Abstand von 60 Jahren oder Tausenden von Kilometern die Wahrheit finden könnten (S. 156). Ebenso zwiespältig ist die These, amerikanische Rechtsvorstellungen beherrschten heute das Völkerrecht im Sinne von global governance. Mattei und Nader verschweigen nicht, dass die USA selbst sich vielfach von diesem Völkerrecht distanzieren, werfen ihnen aber einen doppelten Standard vor.
Nicht akzeptabel ist die Behauptung, auch die Menschenrechte seien nur ein politisches Täuschungsinstrument. Der universalistische Anspruch der Menschenrechte ist sicher ein Problem. Aber insgesamt gesehen hat der Menschenrechtsdiskurs heute ein eigenes Gewicht gewonnen, mit dem er sich auch gegen die USA richtet. Dabei ist gerade in den Entwicklungsländern wichtig, dass die Relevanz der Menschenrechte nicht unbedingt davon abhängt, dass sie bei einem Gericht eingeklagt werden können.
Schließlich kommt in der Kritik, die Justiz sei in den USA und in den Drittländern ganz und gar zu einer reaktiven Institution geschrumpft worden, wohl doch ein Missverständnis zum Ausdruck. Die Justiz kann prinzipiell immer bloß reaktiv tätig werden. Daher bezieht sie ihre Legitimität. Umverteilung ist und bleibt Aufgabe der Politik. Das schließt nicht aus, dass die Justiz immer wieder kämpferisch in Anspruch genommen wird und mindestens in Randbereichen, die eine unentschlossene Politik offen lässt, in den Verteilungskampf eingreifen kann und muss. Gerade dafür ist die amerikanische Justiz aber wie keine andere gerüstet.
Der zentrale Einwand gegen das Buch liegt jedoch auf einer anderen Ebene. Es gilt längst als ausgemacht, dass die Transplantation westlicher Rechtsvorstellungen und Institutionen in die Transformations- und Entwicklungsländer ist im Großen und Ganzen fehlgeschlagen ist. [9]Ausführlich zusammenfassend Brian Z. Tamanaha, The Primacy of Society and the Failures of Law and Development: Decades of Stubborn Refusal to Learn, 2010. Deshalb konnte sie gar nicht die Wirkung haben, die Mattei und Nader ihr zuschreiben. Wäre die »Rechtsmodernisierung« erfolgreich gewesen, so wären mit einiger Sicherheit auch in anderen gesellschaftlichen Sektoren – Wirtschaft, Gesundheit, Bildung – ähnliche Fortschritte zu verzeichnen gewesen, und zwar nicht auf Grund eines einfachen Kausalzusammenhangs [10]Es wird zwar allgemein angenommen, dass die Rechtsmodernisierung und die wirtschaftliche Entwicklung korrelieren. Der Kausalzusammenhang ist aber offen, dazu der Übersichtsartikel von Stephan … Continue reading, sondern weil die Modernisierung nur im Gleichschritt aller Sektoren gelingt. Gerade von Nader als der großen Rechtsanthropologin hätte man einen Bericht darüber erwartet, wie die Amerikanisierung des Rechts letztlich misslungen ist, weil sie in der Regel nur zu einer äußerlichen Anpassung geführt hat. Heute gibt es zwar in den meisten Staaten geschriebene Verfassungen, gewählte Politiker und Parlamente und eine dem Buchstaben nach unabhängige Justiz, aber oft noch nicht einmal die »dünne« rule of law, die jedenfalls Eigentum, Verträge und die persönliche Sicherheit zuverlässig schützt. Auch in den Entwicklungsländern entwickelt sich Recht, nur vielfach anders als gedacht und gewünscht. David Kennedy spricht von der »extreme interrelatedness of everything with everything in a society« (S. 153), Tamanaha von einem »connectedness of law principle« (S. 15 f.). Diese Einbettung in die umgebende Kultur sorgt dafür, dass der Import von Rechtsinstitutionen entweder scheitert oder die scheinbar selben Institutionen mit einem veränderten Inhalt gefüllt werden. Das ist eigentlich ein Paradethema der Rechtsanthropologie.
Von amerikanischen Politikern und Juristen und den vom amerikanischen Recht geprägten Eliten in aller Welt kann man wohl annehmen, dass sie selbst an die rule of law »glauben«. Mattei und Nader machen den zahllosen Akteuren jedenfalls nicht den Vorwurf, sie hätten die Rechtsmodernisierung in den Entwicklungs- und Transformationsländern zynisch als bloßen Vorwand genutzt. Ihnen wird allenfalls unterstellt, dass sie das größere Bild nicht erkannt hätten. Ein subjektiver Vorwurf trifft die Akteure nur insofern, als sie bei ihrem Handeln von der Überlegenheit der westlichen Kultur ausgegangen seien. Er trifft im Übrigen das Corporate America und seine Helfer. Besonders schlecht kommen dabei neben den Ökonomen die Juristen weg. Vielleicht kann man ihnen bis zu einem gewissen Grade den Vorwurf des Selbstbetrugs mit Legitimationswirkung machen. Die Legitimation der von Mattei und Nader beklagten Ausbeutung reicht aber kaum bis in die Zielländer. Dort begegnet man eher einer merkwürdigen Verkehrung. Das besagt die Lawfare-These der Comaroffs , die den Missbrauch der rule of law in die Dritte Welt selbst hineinverlagert. Lawfare in diesem Sinne ist eine Strategie, politische Inhalte in Rechtsform zu bringen, um ihnen dadurch ein Mäntelchen der Legitimität umzuhängen. Die Comaroffs schildern dazu viele Beispiele, wie Gewalt, die man für Unrecht halten möchte, sorgsam in Rechtsform verpackt wird, so etwa vom Diktator Mugabe in Zimbabwe. Recht, so meinen sie, sei in den früheren Kolonien gewissermaßen zum Fetisch geworden und diene zur Juridifizierung von Politik. Diese Politik ist aber weder die Politik des Westens noch eine verborgene Politik der Ausbeutung.
Schließlich ist auch der Ausblick von Mattei und Nader einseitig. Die von ihnen geforderte Neubewertung der »local dimension« (S. 19) aller Reformen scheint sich heute mehr und mehr durchzusetzen, das jedoch wohl eher mit Rücksicht auf die Pfadabhängigkeit jeder Entwicklung als im Hinblick auf die Erhaltung indigener oder sonst vorhandener Kulturen um ihrer selbst willen. Wer könnte sich anmaßen zu sagen, dass der Zustand eines modernen Landes wie Dänemark, Frankreich oder Kanada besser sei als derjenige eines »unentwickelten« Landes wie Papua Neu-Guinea oder Äthiopien? Doch wer wollte es wagen, den weniger entwickelten Ländern »Errungenschaften« der Moderne wie Gesundheitsversorgung oder Katastrophenhilfe vorzuenthalten. Heute gibt es kein Land mehr auf der Welt, das in dem positiven Sinne primitiv ist, dass es von moderner Zivilisation und Technik unberührt geblieben wäre und auf seine traditionelle Weise weiter leben könnte. Kein Land kann sich aus den »Errungenschaften« der Moderne bloß einzelne Bausteine, seien es Mobiltelefone oder bessere Bildung, herauspicken. Die Modernisierung gibt es nur im Paket, und es stellt sich nur die Frage, was an traditionellem Bestand sich retten und integrieren lässt. Und zur Modernisierung gehört auch Recht, aber sicher keine bloßen Kopien westlicher »Vorbilder«. Aber ganz ohne offizielles Recht und damit ohne einen funktionierenden Staat wird es nicht gehen. Vor ein paar Jahren hieß es auch bei Nader noch:

All the alternative dispute mechanisms in the world will not replace the just rule of law (state or international) in such situation. [11]Laura Nader/Elisabetta Grande, Current Illusions and Delusions About Conflict Management – in Africa and Elsewhere, Law and Social Inquiry 27, 2002, 573-594, 582.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Laura Nader, Controlling Processes – Tracing the Dynamic Components of Power, 1997; Ugo Mattei/Marco de Morpurgo, Global Law and Plunder: The Dark Side of the Rule of Law, 2009.
2 So schon Laura Nader/Elisabetta Grande, Current Illusions and Delusions About Conflict Management – in Africa and Elsewhere, Law and Social Inquiry 27, 2002, 573-594 (dazu der Kommentar von Neal Milner, Illusions and Delusions about Conflict Management-In Africa and Elsewhere, Law and Social Inquiry 27, 2002, 621-629). Als Hintergrundtheorie dient Naders Konzept der erzwungenen Harmonisierung (coercive harmony; Laura Nader, Controlling Processes – Tracing the Dynamic Components of Power, 1997).
3 Im Anhang S. 256 erfährt man, das dieses Kapitel auf einen Aufsatz von Ugo Mattei, A Theory of Imperial Law: a Study on USD Hegemony and the Latin Resistance, Indiana Journal of Global Legal Studies 10, 2003, 383, zurückgeht.
4 Rik Pinxten, Journal of Royal Anthropological Institute 2008; David H. Price in Multinational Monitor 30, Jan./Febr. 2009; Pablo Rueda, The Rule of Law and the History of Plunder; Luigi Russi, 2009 http://www.redroom.com/publishedreviews/plunder-when-rule-law-illegal-0.
5 Das gilt nicht nur für die Formulierung des Textes. In einem Anhang S. 240-265 gibt es kapitelweise eingeordnete und kurz kommentierte Lesehinweise, die die Kennerschaft der Autoren zeigen. Außerdem S. 266-267 eine Liste von einschlägigen Dokumentarfilmen.
6 Brian Z. Tamanaha, The Dark Side of the Relationship between the Rule of Law and Liberalism, 2008.
7 David Kennedy, »The Rule of Law«, Political Choices and Development Common Sense, in: David M. Trubek/Alvaro Santos, The New Law and Economic Development, Cambridge University Press, 2006, 95-173, 156 f.
8 Z. B. Máximo Langer, From Legal Transplants to Legal Translations: The Globalization of Plea Bargaining and the Americanization Thesis in Criminal Procedure. Harvard International Law Journal, Vol. 45, No. 1, 2004.
9 Ausführlich zusammenfassend Brian Z. Tamanaha, The Primacy of Society and the Failures of Law and Development: Decades of Stubborn Refusal to Learn, 2010.
10 Es wird zwar allgemein angenommen, dass die Rechtsmodernisierung und die wirtschaftliche Entwicklung korrelieren. Der Kausalzusammenhang ist aber offen, dazu der Übersichtsartikel von Stephan Haggard/Andrew MacIntyre/Lydia Tiede, The Rule of Law and Economic Development, Annual Review of Political Science 11, 2008, 205-234.
11 Laura Nader/Elisabetta Grande, Current Illusions and Delusions About Conflict Management – in Africa and Elsewhere, Law and Social Inquiry 27, 2002, 573-594, 582.

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Anne Will und der schwebende Kachelmann

Gestern Abend bestritt Anne Will ihre erste Talkshow nach der Sommerpause mit einem Palaver über den »Fall Kachelmann«. Mir gibt die Sendung Anlass zu einer Notiz über den Topos des »Eingriffs in ein schwebendes Verfahren«.
Ursprünglich waren das Verbot eines Eingriffs in ein schwebendes Verfahren ebenso wie dasjenige der Abänderung einer rechtskräftigen Gerichtsentscheidung durch den Monarchen oder die Regierung die wesentliche Rechtsgarantie für die Unabhängigkeit der Justiz. Eingriffe von Regierung oder Verwaltung in Verfahren oder Entscheidungen der Justiz kommen zum Glück, jedenfalls in Deutschland und wohl darüber hinaus in Mitteleuropa, praktisch nicht mehr vor. Das Verbot des (abändernden) Machtspruchs ist heute so selbstverständlich, dass es nur noch in Lehrbüchern ausdrücklich erwähnt wird. Dagegen ist der Topos vom Eingriff (oder der Einmischung) in ein schwebendes (oder laufendes) Verfahren höchst lebendig. Das zeigt sich, wenn man danach gugelt. Allerdings hat sich die Bedeutung des Ausdrucks gewandelt. Es geht nicht mehr um einen direkten Eingriff in das Verfahren, sondern um bloße Meinungsäußerungen, sei es über die Handhabung eines Verfahrens durch das Gericht, sei es über das erwünschte Ergebnis. Politikern oder Beamten, die sich zu einem schwebenden Verfahren äußern, wird ein solcher Eingriff vorgeworfen.
Hier ein Beispiel aus einer Kleinen Anfrage der Fraktion »Die Linke« im Bundestag (BT-Drucksache 16/10555). Das Landgericht Frankfurt a. M. hatte in einem Prozess gegen ehemalige Funktionäre des türkisch-islamischen Wohltätigkeitsvereins »Deniz Feneri e. V.« (Leuchtturm) am 17. September 2008 die Angeklagten wegen Veruntreuung und Zweckentfremdung zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Der türkische Ministerpräsident sollte sich nach Pressemeldungen zu dem Verfahren geäußert haben. In der Anfrage heißt es u. a.:

a) Treffen Pressemeldungen über ein Gespräch des türkischen Ministerprä- sidenten Recep Tayyip Erdogan mit dem deutschen Botschafter Eckart Kuntz am 22. November 2007 in Ankara zu, wonach Recep Tayyip Erdogan sich zum Verfahren gegen ehemalige Funktionäre des Vereins »Deniz Feneri e. V.« geäußert hat (Hürriyet vom 16. September 2008)?
b) Wenn ja, wie bewertet die Bundesregierung Äußerungen eines ausländischen Regierungschefs zu einem laufenden Verfahren in der Bundesrepublik Deutschland?
c) Vertritt sie die Ansicht, dass eine solche Äußerung eine Einmischung in ein laufendes Verfahren darstellt?

Die Bundesregierung hat auf die Anfrage ausweichend geantwortet:

Zu vertraulichen Gesprächen kann die Bundesregierung keine Einzelheiten bekannt geben. Es ist richtig, dass bei einem Gespräch aus anderem Anlass auch über die Dauer der Untersuchungshaft bei Gerichtsverfahren in Deutschland gesprochen wurde. Dies wurde von der Bundesregierung nicht als Versuch der Einflussnahme aufgefasst. (Drucksache 16/10719).

Umgekehrt berufen sich Politiker und Beamte, die auf ein laufendes Verfahren angesprochen werden, gerne auf ein Einmischungsverbot. Das gilt aber auch für die Presse oder Verfahrensbeteiligte. Ein rechtliches Verbot, laufende Verfahren zu kommentieren, gibt es jedoch, jedenfalls in Deutschland nicht. [1]Schulze-Fielitz (Rn. 46 zu Art. 97 GG) hält es immerhin für einen »Indikator« für eine unzulässige öffentliche Kritik, wenn sie mit dem Ziel erfolgt, ein Urteil zu beeinflussen, bevor es vom … Continue reading
Der Topos vom Eingriff in ein schwebendes Verfahren ist auch bei »Privaten« beliebt, wenn man sich zu einer peinlichen Angelegenheit nicht äußern will. Dazu einige Beispiele:
Nachdem in einem Bahntunnel bei Fulda ein ICE in eine Schafherde gerast und entgleist war, las man:

Ein Bahn-Sprecher wollte sich auf Anfrage von WELT ONLINE nicht zu den Vorwürfen äußern, da es sich um ein schwebendes Verfahren handele. Die Bahn unterstütze jedoch die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft.

Aus Bochum berichtete Bild.de von der unglücklichen Frau, die der Arzt angeblich am falschen Fuß operiert hatte:

BILD erkundigte sich bei dem Arzt, der Andrea H. operierte. Der Chirurg: »Es ist ein schwebendes Verfahren. Mehr will ich dazu nicht sagen.

Aus der FAZ Nr. 134 vom 13. Juni 2009 S. 16:

M. [2]Name auf Wunsch des Betroffenen nachträglich entfernt., Geschäftsführer des Plüschtierhersteller Steiff, sieht einem Gerichtsverfahren in den Vereinigten Staaten entgegen. Eine Steiff-Mitarbeiterin hat beim New Yorker State Supreme Court Anklage gegen M. eingereicht. … Steiff kommentiert grundsätzlich keine laufenden Gerichtsverfahren, heißt es in einer knappen schriftlichen Stellungnahme.

Auch nach der Loveparade-Katastrophe von Duisburg berufen sich Beteiligte auf diesen Topos. In der öffentlichen Auseinandersetzung ist die Rede vom (verbotenen) Eingriff in ein schwebendes Verfahren anscheinend stärker als in seiner rechtlichen Relevanz. Das macht den Topos rechtssoziologisch interessant. Aber auch in der Rechtsprechung ist der Topos noch lebendig. Eine Anfrage bei Juris fördert um die 30 Entscheidungen zutage. Ich meine, die Sache wäre eine Dissertation wert. Wer unbedingt eine aktuelle Anknüpfung sucht, findet sie in der Diskussion um die Litigation-PR.

Nachtrag vom 1. 9. 2010:
»Staatsanwälte kritisieren Loveparade-Aufnahmen im Netz«, so lautete gestern eine Schlagzeile in der WAZ. Im Text, den ich im Internet nicht finde, heißt es:

Die Proteste der Staatsanwaltschaft waren vergeblich. Loveparade-Veranstalter Rainer Schaller hat wie angekündigt Filmaufnahmen von Überwachungskameras im Internet veröffentlicht, obwohl die Ermittler bis zuletzt versuchten, ihn davon abzubringen. … Die Ermittler sind der Meinung, es störe die Überprüfung der Angaben von Augenzeugen, wenn die Filme für jedermann zu sehen seien. Zudem könnten die Opfer der Parade traumatisiert werden, wenn die Dokumente veröffentlicht würden.

Hier die umstritten Aufnahmen. Ein unzulässiger Eingriff in ein schwebendes Verfahren? Ich finde nicht.
Zum Stichwort Litigation-PR hier noch ein einschlägiger Link: http://www.macromedia-fachhochschule.de/litigation. Ganz hilfreich ist dort vielleicht eine kleine Literaturübersicht.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Schulze-Fielitz (Rn. 46 zu Art. 97 GG) hält es immerhin für einen »Indikator« für eine unzulässige öffentliche Kritik, wenn sie mit dem Ziel erfolgt, ein Urteil zu beeinflussen, bevor es vom Gericht getroffen wurde. Eine kritische Berichterstattung über laufende Verfahren sei mit Rücksicht auf Art. 5 GG nicht schon als solche unzulässig, könne aber, etwa bei Medienkampagnen, auf Zulässigkeitsgrenzen stoßen.
2 Name auf Wunsch des Betroffenen nachträglich entfernt.

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Legal Narratives IV

Heute nur ein Hinweis auf einen Artikel von FAZ-Redakteur Reinhard Müller auf der Seite »Staat und Recht« in der heimlichen Juristenzeitung vom 15. Juli 2010 S. 6 »Neu entstanden aus Katastrophen«, der jedenfalls zur Zeit noch im Netz abrufbar ist. Müller nimmt die Frage auf »Wozu brauchen wir heute noch Mythen?«. Er berichtet, wie Roman Herzog als Bundespräsident 1995 bei einem Staatsbesuch des Präsidenten der Mongolei ausführlich an die Schlacht von Liegnitz erinnerte, in der ein mongolisches Heer 1241 eine polnisch- deutsche Streitmacht besiegte. Er erinnert ferner daran, wie Bundeskanzlerin Merkel bei der Eröffnung der Ausstellung »2000 Jahre Varusschlacht« in Kalkriese einen Bogen über 2000 nach Europa spannte. Er lässt stichwortartig die deutschen Nationalmythen Revue passieren, um etwas ausführlicher den Europa-Mythos von der Verführung der phönizischen Königstochter Europa durch Göttervater Zeus wiederzugeben und zitiert schließlich eine Reihe von Verfassungspräambeln, darunter die bemerkenswerte Einleitung zur Verfassung des neuen Irak. Müller endet etwas verrätselt mit den Sätzen: »Wer hat eine tragfähige Erzählung? Hier liegt die Antwort.« Der Text ist ebenso vergnüglich zu lesen wie die Illustration von Greser & Lenz anzuschauen ist. Er bestätigt damit zwei wichtige Funktionen von Narrationen. Sie bedienen unser unendliches Unterhaltungsbedürfnis. Und sie dienen als Lückenfüller, wenn uns nichts Besseres einfällt. Etwas anders gilt sicher für die Einleitung zur irakischen Verfassung. Aber was?

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Treibball in die Rechtssoziologie

Ein Pensionär braucht keine Ausrede mehr, wenn er zeitraubenden Freizeitbeschäftigungen nachgeht. Doch auch dabei kann er gelegentlich für die Rechtssoziologie profitieren. Eine Freundin, mit der ich gerne (nicht nur) über den Golfplatz gehe (wo sie mit bewundernswertem Scharfblick meine Bälle im Rough wiederfindet), hatte mir erzählt, dass ihre Tochter als Ethnologin in Halle tätig sei. Da habe ich natürlich gegugelt und Dr. Andrea Behrends gefunden und dazu einige ihrer Texte. [1]Andrea Behrends, Traveling Models in Conflict Management, 2008; Andrea Behrends, Fighting for Oil when there is no Oil yet: The Darfur-Chad Border, European Journal of Anthropology Focaal, 52, 2008, … Continue reading
In der Rechtssoziologie kennt man das Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle, weil dort Franz und Keebet von Benda-Beckmann ein Forschungsprogramm zum Rechtspluralismus betreiben. Aber dass es an der Martin-Luther-Universität in Halle auch ein Seminar für Ethnologie gibt, war mir entgangen. Es gab auch keinen Grund zur Kenntnisnahme, weil dort explizit keine Rechtssoziologie betrieben wird. Trotzdem – sozusagen aus persönlichem Interesse – habe ich die Texte von Frau Behrends, die im Internet zu finden sind, gelesen, und – siehe da – sie sind für die Rechtssoziologie durchaus interessant. Heute nur zu dem »kleinsten« dieser Texte über Traveling Models in Conflict Management. Die anderen verdienen ein separates Posting für das ich bisher nur eine Überschrift habe, aber noch keinen Inhalt: Kampf der Kulturen oder Kampf ums Öl?
Der Text »Traveling Models of Conflict Management« ist auf der Webseite einer NGO »Africa Peace and Conflict Network« veröffentlicht. Er berichtet über ein von der Volkswagen Stiftung finanziertes Forschungsprojekt, das von Frau Dr. Behrends koordiniert wird. In sechs afrikanischen Ländern werden jeweils ein traditionelles oder ein importiertes Konfliktregelungsverfahren beobachtet. Beteiligt sind stets ein einheimischer Doktorand, ein Wissenschaftler aus dem entsprechenden afrikanischen Land und ein deutscher Wissenschaftler. Spannend ist die Sache allein schon deshalb, weil die Forschung zum Teil in Ländern stattfindet, in die sich ein Tourist kaum hineinwagen würde (Sudan, Tschad, Äthiopien, Liberia, Sierra Leone, Süd Afrika).
Für die Rechtssoziologie ist alternative Konfliktregelung ein Standardthema. Dazu wird so viel untersucht und geschrieben, dass man (ich) nicht alles zur Kenntnis nehmen kann, sondern nach Generalisierungen suchen muss. Bei diesem Projekt scheint mir das Konzept der wandernden Konfliktregelungsmodelle dazu geeignet. Es geht darum, dass nicht alle Konfliktregelungsverfahren, die im zeitgenössischen Afrika praktiziert werden, am Ort der Auseinandersetzung Tradition haben. Auch die Kolonialverwaltung hat verschiedene Verfahren zur Beilegung lokaler Konflikte eingeführt. Und heute gibt es bekanntlich eine ganze Dispute-Settlement-Industrie, die ihre Modelle anbietet. Der Witz ist nun, dass beobachtet werden soll, wie einzelne Konfliktregelungsmodelle auf Wanderung gehen, wie sie also an einem anderen als dem Ursprungsort verwendet werden. Dazu müssen sie zunächst mobilisiert werden, d. h., aus Ideen müssen Texte, Geschichten und Bilder werden oder es müssen Menschen als Übermittler tätig werden. Die Ideen werden dazu aus ihrem ursprünglichen Kontext in einen neuen verpflanzt, wo sie sich stabilisieren können, vermutlich mit anderen Wirkungen, und von wo aus sie vielleicht sogar wieder eine neue Reise antreten. [2]Behrends verweist ohne Seitenangabe auf Rottenburg 2002. Richard Rottenburg ist der Direktor des Hallenser Seminars für Ethnologie. Gemeint ist sein Buch »Weit hergeholte Fakten: Eine Parabel der … Continue reading Eine gewisse Ironie liegt darin, dass man vor Jahrzehnten Konfliktregelungsmodelle aus Afrika importiert hat [3]James L. Gibbs, The Kbelle Moot: A Therapeutic Model for the Informal Settlement of Disputes, Africa 33 (1963) 1–11; Philipp H. Gulliver, Negotiations as a Mode of Dispute Settlement: Towards a … Continue reading und dass nun ausgerechnet dort der Wanderzirkus der Konfliktregelungsverfahren zum Thema wird.
Das Konzept der Wandermodelle ist umso interessanter als es nicht auf Konfliktregelungsverfahren begrenzt ist, sondern sich auf Institutionen aller Art anwenden lässt. Damit wäre man wieder bei einem Standardproblem der Rechtssoziologie, der Übertragung einer Institution aus einem Rechtskreis in einen anderen, Einfuhr und Ausfuhr, Rezeption und Oktroyierung von Recht. Ich kann noch nicht erkennen, ob das Konzept der wandernden Institutionen mehr hergibt als eine Metapher. Als solche weckt es eher friedliche Konnotationen, ganz anders als die in der Rechtssoziologie geläufigen Ausdrücke Oktroyierung von Recht oder imposition of law. Gefunden habe ich bei Sowiport noch das Abstract eines Papers von Rottenburg von 1995 mit dem Titel »When organizations travel. On intercultural cultural translation«. Danach ist die Sache wohl doch etwas komplizierter.

Während die Verbreitung von organisatorischen Modellen in der Regel auf ihre instrumentellen Aspekte und auf die Frage der optimalen Anpassung an die Organisationsumwelt hin ausgeleuchtet wird, verfolgt der Autor den Ansatz, Wandel als Materialisierung von Ideen zu verstehen. Nicht unterschiedliche Modelle der formalen Organisation, sondern die Idee der formalen Organisation selbst wird ins Zentrum gerückt. Zu diesem Zweck wird die empirisch größtmögliche Differenz zwischen dem Kontext, in dem sich eine Idee materialisiert, und der Idee angenommen. Es geht um die Materialisierung der modernen Idee formaler Organisation im zeitgenössischen Afrika am Beispiel eines einzelnen Wirtschaftsunternehmens. Als theoretische Folie dienen vor allem Ansätze aus der Soziologie der Übersetzung nach Callon und Latour sowie Ansätze des Neo-Institutionalismus. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist die Warnung davor, über die poststrukturale Analyse von Akteursnetzwerken und von politisch-kulturellen Übersetzungsprozessen eine Beliebigkeit dieser Übersetzungsprozesse zu postulieren.

Ich glaube nicht, dass ich dem weiter nachgehen werde.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Andrea Behrends, Traveling Models in Conflict Management, 2008; Andrea Behrends, Fighting for Oil when there is no Oil yet: The Darfur-Chad Border, European Journal of Anthropology Focaal, 52, 2008, 39-56; Andrea Behrends, The Darfur Conflict and the Chad/Sudan Border – Regional Context and Local Re-configurations, Sociologus 57, 2007, 99-131; Andrea Behrends/Jan-Patrick Heiß, Crisis in Chad: Approaching the Anthropological Gap, Sociologus 57, 2007, 3-9; Andrea Behrends/Günther Schlee, Lokale Konfliktstrukturen in Darfur und dem Osten des Tschad oder: Was ist ethnisch an ethnischen Konflikten? In: Walter Feichtinger und Gerald Hainzl (Hg.), Krisenmanagement in Afrika, Wien 2008, S. 159-178; Stephen Reyna/Andrea Behrends, Toward an Anthropology of Oil and Domination, European Journal of Anthropology Focaal, 52, 2008, 3-17.
2 Behrends verweist ohne Seitenangabe auf Rottenburg 2002. Richard Rottenburg ist der Direktor des Hallenser Seminars für Ethnologie. Gemeint ist sein Buch »Weit hergeholte Fakten: Eine Parabel der Entwicklungshilfe«. Größere Teile des Buches findet man bei Google-Books. Die Seiten, die hier relevant wären, fehlen anscheinend. In der UB war das Buch heute ausgeliehen, das Seminar für Entwicklungshilfe geschlossen.
Im Netz habe ich eine informative Besprechung des Buches von Thomas Bierschenk gefunden.
3 James L. Gibbs, The Kbelle Moot: A Therapeutic Model for the Informal Settlement of Disputes, Africa 33 (1963) 1–11; Philipp H. Gulliver, Negotiations as a Mode of Dispute Settlement: Towards a General Model, Law and Society Review 7 (1973) 667–691; ders., On Mediators, in: Ian Hamnett, Social Anthropology and Law, London 1977, 15-52, 39; vgl. auch Werner Nothdurft/Thomas Spranz-Fogasy, Der kulturelle Kontext von Schlichtung. Zum Stand der Schlichtungs-Forschung in der Rechts-Anthropologie, ZfRSoz 7, 1986, 31-52, 35.

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Nachlese: Wie wirkt Recht?

Nach dem Kongress der Vereinigung für Rechtssoziologie in Luzern 2008 unter dem Thema ist schon 2009 ein erster Tagungsband erschienen: Estermann, Josef (Hrsg.), Interdisziplinäre Rechtsforschung zwischen Rechtswirklichkeit, Rechtsanalyse und Rechtsgestaltung, Beiträge zum Kongress “Wie wirkt Recht?” Luzern, 2008, Bern 2010. [1]Ein zweiter Tagungsband, herausgegeben von Michelle Cottier und Michael Wrase, der in der Schriftenreihe der Vereinigung erscheinen soll, ist dem Vernehmen nach im Druck. Jetzt bin ich endlich dazu gekommen, diesen Band durchzusehen. Ich will auf zwei Beiträge hinweisen, die mich besonders interessiert haben. Dass sie auch nacheinander abgedruckt sind, ist natürlich reiner Zufall:

Fritz Dolder/Mauro Buser, Zitieren geht über Studieren — Empirische Wanderungen im Grenzgebiet zwischen Rechtslehre und Rechtsprechung (S. 193–210)
Peter Thiery/Jenniver Sehring/Wolfgang Muno, Wie misst man Recht? Möglichkeiten und Grenzen der Messung von Rechtsstaatlichkeit (S. 211–230).
Dolder und Buser haben eine Stichprobe von

Urteilsbegründungen des schweizerischen Bundesgerichts zum Obligationenrecht daraufhin ausgewertet, wie viel Literatur sie zitieren, wen sie zitieren, und ob das Urteil mit den Zitaten konform geht. Sie waren ausgegangen von der Arbeitshypothese, dass solche Zitate drei Funktionen erfüllen könnten, nämlich informativ-kognitive, persuasiv-normative und sozial-zeremonielle. Sie finden, dass die Zitate persuasive und dann vor allem sozial-zeremonielle Wirkung haben, indem sie eine professionelle Arbeitsweise anzeigen. Aber das ist noch gar nicht so interessant. Niemand hätte etwas anderes erwartet. Das gilt auch für die Beobachtung, dass die Zitatdichte enorm gewachsen ist und sich nach 1980 noch einmal verdoppelt hat. Dafür gibt es einfache Erklärungen, nämlich die Zunahme der juristischen Textproduktion und nach 1980 auch die Automatisierung der Textverarbeitung. Die Frage, wer zitiert wird, beantwortet sich nach dem von Robert K. Merton so getauften Matthäus-Prinzip: success breeds success. [2]The Matthew Effect in Science, Science, 1968, 56-63; ders., The Matthew Effect in Science, II, ISIS 79, 1988, 606-623. Da ist es konsequent, dass die Autoren die Zitierhäufigkeit für einzelne Autoren mit der sonst für die Messung der Einkommens- und Vermögensverteilung verwendeten Gini-Koeffizienten darstellen. Sie errechnen für die jüngste Zeit einen Gini-Koeffizienten von 0.65. Bei der Einkommensverteilung wäre eine so starke Ungleichheit nach Ansicht der UN ein Indiz für aufkommende soziale Spannungen.
Um ihrem Material eine spezifisch rechtssoziologische Dimension abzugewinnen, sehen die Autoren auf die Ablehnungsquote, also den Anteil der Zitate, bei denen das Urteil die Aussage des Zitierten inhaltlich ablehnt. In der letzten beobachteten Periode liegt die Quote bei 4,78 %. Früher war sie etwas höher, aber auch nie zweistellig. Dolder und Buser weisen darauf hin, dass in anderen Ländern andere Sitten herrschen. In England und in den USA wird praktisch keine Literatur zitiert. Die Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts zitieren nur eigene Vorurteile. Aber – so erfährt man aus einem Verweis auf Dolders Dissertation von 1986 in Fußnote 5 – der OGH in Österreich, das Bundesarbeitsgericht und der Bundesgerichtshof in Deutschland liegen in der Zitierhäufigkeit doch sehr ähnlich wie das Schweizer Bundesgericht.
Die Autoren finden die Zitierquote von annähernd 5 % niedrig und interpretieren sie als organisierten Konformismus. Dazu berufen sie sich noch einmal auf Merton [3]Wissenschaft und demokratische Sozialstruktur, in: Weingart (Hg.), Wissenschaftssoziologie I, 1972, S. 45-59; Original 1942 in »Social Theory and Social Structure«., der der für seine Wissenschaftssoziologie den Begriff des organisierten Skeptizismus geprägt hat. Er will damit die Bedeutung wechselseitiger Kritik hervorheben. »Organisiert« ist die darin zum Ausdruck kommende Skepsis, weil sie sozial unterstützt wird. Der Gegenbegriff des organisierten Konformismus stammt wohl von Dolder und Buser selbst. Gemeint ist, dass eine allgemeine Erwartungshaltung besteht, dass Rechtsprechung und Rechtslehre wechselseitig nicht voneinander abweichen. Oder vielmehr, sie weichen gerade nur so viel voneinander ab, dass nicht der Eindruck von Kritiklosigkeit oder Unwissenschaftlichkeit entsteht.
Am Rande (S. 203) erfährt man, dass auf dem Gebiet des Arbeitsrechts die zitierten Autoren nicht so ausgewählt werden, dass sie die gesellschaftlichen Gruppierungen, denen sie zugerechnet werden können, repräsentieren. Rund 85 % der Zitierten standen den Arbeitgebern und ihren Organisationen nahe. Und am Ende folgt noch eine kritische Bemerkung dahin, dass Richter häufig selbst als Kommentatoren tätig sind und dann von den Gerichten bevorzugt zitiert werden. Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang Fußnote 23, die darauf hinweist, dass es im römischen Recht Positivlisten zitierwürdiger Autoren gab, während im NS-Staat und wohl auch in der DDR jüdische oder »bürgerliche« Autoren auf (wohl informellen) Negativlisten standen.
Die Abhandlung von Thiery, Sehring und Muno habe ich deshalb besonders aufmerksam gelesen, weil sie sich mit der Berichtsforschung befasst, die ich seit einiger Zeit im Blick habe.
Im Zuge der Globalisierung wächst der Wunsch, die weltweite Ausbreitung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu messen. Es ist erstaunlich, wie viele Institutionen sich der Aufgabe angenommen haben, mindestens Elemente von Demokratie und Rechtsstaat vergleichend zu messen. In aller Regel wird die Arbeit (und ihre Finanzierung) durch ein starkes Interesse an der Verbreitung von Rechtsstaat und Demokratie westlichen Musters motiviert. Meistens geschieht das kontinuierlich über viele Jahre, und die Ergebnisse werden laufend nach der Art von Rennlisten veröffentlicht. Thiery, Sehring und Muno haben sich drei einschlägige Berichte vorgenommen, nämlich
Freedom in the World von Freedom House
Worldwide Governance Indicators von der Weltbank
den Transformationsindex der Bertelsmann-Stiftung.
Sie unterziehen die Methodik der Rechtsstaatsmessung einer eingehenden Analyse und Kritik. (Darauf werde ich nach Möglichkeit bei anderer Gelegenheit näher eingehen, denn diese Methodenkritik lässt sich teilweise auch für andere Berichte verallgemeinern.) Ihr Ergebnis (S. 226) ist verhalten positiv. Die analysierten Indizes

messen … zwar die Verwirklichung des Rechtsstaates, nicht aber die gesamte Rechtswirklichkeit eines Landes. So kann ein nicht voll funktionierender Rechtsstaat durch ein responsives customary law ergänzt werden. Er kann aber auch defizitär sein, weil in bestimmten funktionalen oder territorialen Bereichen mächtige Akteure (Guerilla, Oligarchen, etc.) ein eigenes Regelsystem aufgebaut haben …

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Ein zweiter Tagungsband, herausgegeben von Michelle Cottier und Michael Wrase, der in der Schriftenreihe der Vereinigung erscheinen soll, ist dem Vernehmen nach im Druck.
2 The Matthew Effect in Science, Science, 1968, 56-63; ders., The Matthew Effect in Science, II, ISIS 79, 1988, 606-623.
3 Wissenschaft und demokratische Sozialstruktur, in: Weingart (Hg.), Wissenschaftssoziologie I, 1972, S. 45-59; Original 1942 in »Social Theory and Social Structure«.

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Zur Unterscheidung von Öffentlichkeit und Privatheit

Die Zweiteilung von öffentlicher und Privatsphäre entstand im 16. und 17. Jahrhundert mit der Entstehung des modernen Staates. Gegenüber dem Staat, der im Prinzip unbegrenzte Souveränität für sich in Anspruch nahm, bezeichnete die Privatsphäre den Raum, der gegen staatliche Eingriffe immun sein sollte. Als solcher wurden Familie und Wirtschaft und später auch Religion, Kunst und Wissenschaft angesehen. Zwar hatte schon John Locke (1632-1704) die Idee einer staatsfreien Privatsphäre formuliert. Doch erst im 19. Jahrhundert machten sich die Juristen daran, das ganze Recht an dem Begriffspaar öffentlich – privat neu auszurichten. Die Religionsfreiheit war inzwischen überall weitgehend gesichert – in Deutschland paradoxerweise öffentlich-rechtlich, denn Religion ist doch eigentlich die privateste Angelegenheit überhaupt. Das Privatrecht wurde zur Domäne des Eigentums und der Wirtschaftsbeziehungen. Daneben blieben ihm noch die Familienbeziehungen. Dagegen wurde die Gesundheit, für viele eine höchst private Angelegenheit, bald Regelungs­gegenstand des öffentlichen Rechts.
Auch auf der gesellschaftlichen Ebene ist die Unterscheidung einer privaten und einer öffentlichen Sphäre lebendig. Sie bestimmt nicht nur die Organisation des politischen Lebens, sondern ist oder war für wichtige Lebensbereiche der meisten Menschen auch soziale Realität. Sie erleben eine Privatsphäre im Sinne von privacy [1]Louis D. Warren und Samuel D. Brandeis haben 1890 mit einem Artikel »A Right to Privacy« eine juristische Definition gegeben: »The common law secures to each individual the right of determining, … Continue reading, die es gegenüber der Öffentlichkeit zu verteidigen gilt. Öffentlichkeit ist dabei in erster Linie der Kommunikationszusammenhang, der durch die Medien, durch Presse, Rundfunk, Fernsehen und Internet hergestellt wird. »Öffentlichkeit« begründen aber auch neue technische Entwicklungen, mit deren Hilfe Staat und Wirtschaft die Privatsphäre unter Kontrolle bringen. Im feministischen Diskurs wird auch die Erwerbsarbeit zur Öffentlichkeit gerechnet.
In der Rechtssoziologie, insbesondere von Anhängern der Critical Legal Studies und aus feministischer Sicht, wurde im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts die Unterscheidung von öffentlicher und privater Sphäre kritisiert und verworfen. Die »Crits« [2]Karl E. Klare, The Public/Private Distinction in Labor Law, University of Pennsylvania Law Review 130 (1982), 1358–1422; Gerald Turkel, The Public/Private Distinction: Approaches to the Critique of … Continue reading beriefen sich auf Karl Marx und erklärten die Unterscheidung zur Ideologie, die dazu diene, Machtstrukturen und Formen der Ungleichheit zu legitimieren oder gar zu mystifizieren. Von feministischer Seite wurde die Unterscheidung als Form patriarchalischer Dominanz gebrandmarkt. Gegenwärtig kursiert die These, dass die Privatisierung von Staatsaufgaben und die Entwicklung eines transnationalen Rechts die Unterscheidung von öffentlichem und Privatrecht obsolet werden lasse, weil staatliche Verwaltung sich in organisatorische Netzwerk- und Governancestrukturen auflöse.
Auch ohne Rückgriff auf marxistische Konzepte steht die Unterscheidung von Öffentlichkeit und Privatheit unter Ideologieverdacht. Der Verdacht ist begründet, solange die Zuordnung von Akteuren und ihren Handlungen zu der einen oder der anderen Sphäre als mehr oder weniger selbstverständlich erscheint, weil sich mit ihr – zunächst ganz untechnisch gesprochen, aber dann auch im juristischen Sinne – unbedachte Rechte und Pflichten verbinden. Wenn die Familie Privatsache ist, muss man sie, etwa bei der Rollenverteilung zwischen Mann und Frau oder bei der Kindererziehung gewähren lassen. Wenn Sexualität und Schwangerschaft zur Privatsphäre gehören, gibt es keinen Grund, eine Frau zur Austragung ihres Kindes anzuhalten (»Mein Bauch gehört mir.«). Als Ort der Privatheit ist die Familie zugleich der Ort für mancherlei Missbrauch und Gewalt. Die Unterscheidung lässt sich bis in die individuelle Lebensführung hinein verfolgen: Persönliche Karrierewünsche durchkreuzen ein öffentliches Engagement. Soziales Missgeschick wie der Verlust von Arbeitsplatz oder Wohnung werden zur Privatangelegenheit. Nicht zuletzt die Geschlechterordnung wird oder wurde durch den Dualismus von öffentlich und privat bestimmt: Die öffentlichen Felder wurden dem männlichen und die Privatsphäre dem weiblichen Geschlecht zugeordnet. Traditionell gilt wirtschaftliche Betätigung als Privatsache. Aber zur Wirtschaft zählen nicht nur Einzelkaufleute, sondern Gesellschaften bis hin zu den multinationalen Unternehmen. Mit ihrer Zuordnung zur Privatwirtschaft verbindet sich die Freistellung von vielen Pflichten, die öffentliche Akteure treffen. Viele politische Fragen werden daher unter dem Aspekt einer Neubestimmung von Öffentlichkeit und Privatheit ausgetragen. Auch im juristischen Diskurs ist die Unterscheidung verblasst [3]Näher Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, § 52.. Zeitweise ergab sich aus der klaren Zuordnung zu dem einen oder anderen Bereich oft die Lösung einer Rechtsfrage. Scheinbare Überschneidungen wurden durch Ausnahmetatbestände ausgeräumt wie bei der fiskalischen Tätigkeit des Staates oder der öffentlich-rechtlichen des beliehenen Unternehmers. Heute ist die Zuordnung das Problem. Die Benennung eines Sachverhalts als öffentlich oder privat ist selbst nicht länger Argument, sondern nur noch eine nachträgliche Benennung.
Duncan Kennedy [4]The Stages of the Decline of the Public/Private Distinction, University of Pennsylvania Law Review 130 (1982), 1349–1357. hat für das amerikanische Recht kurz und prägnant beschrieben, wie die Unterscheidungskraft der Dichotomie öffentlich-privat verfallen ist. Dazu unterscheidet er sechs Stadien. Das erste findet er schon im 19. Jahrhundert in einem Rechtsstreit, in dem die Bank of the United States die Freigabe von Vermögensgegenständen forderte, die von einem Beamten des Bundesstaates Ohio gepfändet worden waren. Dabei ging es um die Frage, ob der Vollstreckungsbeamte als Private oder als Repräsentant des Staates anzusehen war, denn die Verfassung der USA untersagt es, vor Bundesgerichten gegen einen Staat zu klagen. In zweiter Linie wurde dann auch die Frage akut, ob die Bank eine öffentliche Einrichtung war, bei der gar nicht gepfändet werden durfte. Damit, so Kennedy, sei die Selbstverständlichkeit der Unterscheidung verloren gegangen. Der zweite Schritt kam erst über hundert Jahre später mit der Entwicklung neuer, vermittelnder Begriffe. Nun war von privaten Unternehmen die Rede, die öffentliche Funktionen wahrnehmen und umgekehrt von Behörden, die sich wirtschaftlich betätigen. Dann tauchen, drittens, Argumente auf, die die Unterscheidung anscheinend ganz zusammenbrechen lassen. Man sagt etwa, Eigentum und Vertrag würden letztlich vom Staat garantiert, also könnten sie nicht privat sein, ein Gedanke, der uns aus der Theorie der außervertraglichen Grundlagen des Vertrages vertraut ist [5]Röhl/Röhl a. a. O. § 53.. Auf diesen »Kollaps« der Unterscheidung folgt viertens ein Rettungsversuch. Er besteht darin, aus der Dichotomie von öffentlich und privat ein Kontinuum zu machen (»continuumization«). »The distinction is dead, but it rules us frome the grave.« (S. 1353) Was dann folgt, ist Stereotypisierung: Es werden immer wieder die Standardargumente heruntergebetet, wie sie jedem deutschen Juristen nur allzu gut aus der Zulässigkeitsprüfung im Verwaltungsprozess bekannt sind. Die Entscheidung wird beliebig. Das Endstadium nennt Kennedy Loopification. Die beiden Enden des Kontinuums überschlagen sich. Die Familie erfüllt wichtige öffentliche Aufgaben und sie ist doch ein Arcanum des Privaten. Der Verbraucher folgt seinen höchst privaten Präferenzen, und sein Verhalten ist doch Gegenstand staatlicher Regulierung usw. Man kann die Unterscheidung nicht mehr ernst nehmen. Soweit Kennedy. Aber – so Teubner in einer Diskussionsbemerkung auf der letzten Tagung der Vereinigung für Rechtssoziologie [6]Die Tagung war im doppelten Sinne die letzte, nämlich zeitlich und vor der Umbenennung der Vereinigung –: Jeder dekonstruiert die öffentlich-private Grenze, aber keiner weiß sie zu ersetzen. »Polyzentrisch« taucht die Unterscheidung öffentlich-privat überall wieder auf.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Louis D. Warren und Samuel D. Brandeis haben 1890 mit einem Artikel »A Right to Privacy« eine juristische Definition gegeben: »The common law secures to each individual the right of determining, ordinarily, to what extent his thoughts, sentiments, and emotions shall be communicated to others.« (Harvard Law Review IV, 1890).
2 Karl E. Klare, The Public/Private Distinction in Labor Law, University of Pennsylvania Law Review 130 (1982), 1358–1422; Gerald Turkel, The Public/Private Distinction: Approaches to the Critique of Legal Ideology, Law and Society Review 22 (1988) 801–823.
3 Näher Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, § 52.
4 The Stages of the Decline of the Public/Private Distinction, University of Pennsylvania Law Review 130 (1982), 1349–1357.
5 Röhl/Röhl a. a. O. § 53.
6 Die Tagung war im doppelten Sinne die letzte, nämlich zeitlich und vor der Umbenennung der Vereinigung

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Legal Narratives III: »Von den Fällen, die fallweise im Einzelfall anfallen.«

Unter der Überschrift [1]Mit dem Zitat im Titel dieses Postings überschrieb Konrad Adam seinen Bericht über den Zwanzigsten Deutschen Soziologentag in Bremen 1980. Legal Narratives II habe ich die »Fallerzählungen der Juristen« angesprochen. Diese Darstellung darf so nicht stehen bleiben, denn der juristische Umgang mit Fällen beschränkt sich nicht auf bloße Narration. Juristen bearbeiten ihre Fälle sehr intensiv und sie gewinnen daraus über den Einzelfall hinaus ein enormes Erfahrungsmaterial.

Den Juristen wird immer wieder Resistenz gegen Interdisziplinarität vorgehalten. In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich Einiges geändert. Wer einen Drittmittelantrag stellt, wird ihn mindestens aus gesundem Opportunismus auf interdisziplinär frisieren. Nicht wenige Zivilrechtler umarmen inzwischen die Ökonomische Analyse des Rechts, und einige Öffentlich-Rechtler sind auf Luhmann und die Systemtheorie abgefahren. Und wieder andere betätigen sich als »intellektuelle Bastler«. [2]Hubert Treiber, Verwaltungsrechtswissenschaft als Steuerungswissenschaft – eine »Revolution auf dem Papier«?, Kritische Justiz 2007, 328. Aber in der juristischen Praxis ist die Resistenz gegenüber Interdisziplinarität ungebrochen. Ob diese Tatsache beklagenswert und änderungsbedürftig ist oder nicht, darauf will ich jetzt nicht eingehen. Ich will nur eine mögliche Erklärung angeben, die die Immunität/Aversität der Juristen gegenüber fremddisziplinärer Beeinflussung bis zu einem gewissen Grade verständlich macht.
Die Erklärung liegt eigentlich auf der Hand und wird vielleicht gerade deshalb nicht bemerkt. Ich habe sie in der »Allgemeinen Rechtslehre« (S. 649), nachdem mein Mitautor mich darauf hingewiesen hatte, zunächst nur ganz kurz angesprochen: Die Rechtswirklichkeit drängt sich der juristischen Praxis in dem in Rechtsprechung in Schrifttum ausgebreiteten Fallmaterial auf. Die empirische Sozialforschung hat es schwer, der Fülle des Materials, das von Gerichten und Juristen mit großem Aufwand recherchiert, publiziert und regelmäßig auch diskutiert wird, etwas entgegenzusetzen. Es geht ganz einfach um die Fälle, mit denen Anwälte und Richter tagtäglich konfrontiert sind. Jeder Einzelne begegnet ihnen zu Hunderten und zu Tausenden. Sieht man auf Gericht und Anwaltschaft als Institution, sind es Millionen. Das sind nicht nur Zahlen in der Statistik, sondern die Mehrzahl dieser Fälle wird sorgfältig aufbereitet. Von einer solchen Materialfülle können Soziologen und Ethnologen nur träumen. Sie distanzieren sich gewöhnlich von den »Fällen« der Juristen, indem sie das in der Berufspraxis erworbene Wissen als deformiert zurückweisen. Doch solche Kritik ist nur akzeptabel, wenn zuvor das Erfahrungsmaterial der Jurisprudenz auch positiv gewürdigt wurde. Deshalb war es sicher ein Fortschritt, dass sich in Bielefeld am ZiF eine Forschungsgruppe mit dem »Fall als Fokus professionellen Handelns« befasst hat. In der Ankündigung auf der Webseite des ZiF las man:

»… Zum Kern der professionellen Tätigkeit zählen der Umgang und die Arbeit mit ›Fällen‹. Professionelle Arbeit – ob nun die eines Richters, eines klinischen Mediziners oder eines Psychotherapeuten – realisiert sich an Fällen, Fälle bilden den Fokus [3]Das ist mein Unwort des Jahres. professionellen Handelns, bei dem die erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten zur Anwendung kommen. Allerdings – auch dies ist ein konstitutives Merkmal – kann die Intervention des Professionellen nie nach ›Schema F‹ erfolgen, vielmehr befindet sich der professionelle Praktiker immer in einem Spannungsfeld zwischen seinem systematischen, klassifikatorisch geordneten Expertenwissen und den unvermeidbaren Besonderheiten jedes Einzelfalls.
Im Zentrum der geplanten Kooperationsgruppe steht die Frage, wie ein Fall im professionellen Handeln von Medizinern und Juristen konstituiert wird und welche epistemischen, interaktiven und institutionellen Funktionen und Folgen die Ausrichtung auf den Fall für das professionelle Handeln hat. … Der innovative Zugang der Kooperationsgruppe zu dem Thema besteht darin, das Augenmerk zentral auf die interaktiven, sprachlichen und medialen Verfahren zu richten, über die in medizinischen und juristischen Kontexten ein Fall zu einem ›Fall von X‹ gemacht wird.
Eine der Besonderheiten dieser Kooperationsgruppe besteht darin, dass die relevanten Fragen des Forschungsgegenstandes Fallformation an Prozessdaten untersucht werden sollen, die in den verschiedenen Berufsfeldern erhoben worden sind. Neben Gesprächsdaten gehören dazu Gesprächsprotokolle und Notizen, Formulare, Akten, Videoaufzeichnungen von Operationen in einer Klinik u.v.a., die mikroanalytisch bearbeitet und unter den übergeordneten Aspekten systematisiert und ausgewertet werden sollen.«

Dem Antragskauderwelsch, mit dem das Projekt beschrieben wird, lässt sich wenig entnehmen. Ende 2009 gab es noch eine Abschlusstagung. In der Ankündigung erfährt man:

»Auf einer ersten Verallgemeinerungsstufe jenseits der verglichenen Einzelfälle spiegelt sich die Prozessperspektive in der Rekonstruktion relevanter Phasen, die in allen uns vorliegenden Fällen durchlaufen werden.«

Darauf wäre man vielleicht auch ohne den Aufwand eines ZiF-Projekts gekommen.

In Heft 2 der ZiF-Mitteilungen 2010 gibt es nun S. 4-8 einen Abschlussbericht des Projekts. Er wiederholt ausführlich, was wir schon aus Ankündigung wissen. Wir erfahren, dass man sich insgesamt fünf Monate lang mit fünf Fällen aus dem englischen Strafrecht, dem deutschen Zivilrecht, der klinischen Psychiatrie der klinischen Neurologie und der klinischen Chirurgie befasst hat. Weiter heißt es:

»Der Erkenntnisstand des Projekts nach der abschließenden Tagung im September 2009, zu der zahlreiche Experten aus dem In- und Ausland eingeladen waren, lässt sich in zweifacher Weise formulieren: Mit dem Stichwort ›Aktualgenese‹ ist eine Untersuchungsperspektive verbunden, die nach Phasen und Übergängen in der allmählichen Konstitution des Falles sucht. Mit Phasen sollen dabei geordnete Abläufe zur Erledigung relevanter Abläufe bezeichnet werden. Hierzu nur zwei Beispiele: Es ist in allen Datensätzen erkennbar, dass zunächst überhaupt entschieden werden muss, ob das Ereignis, mit dem die institutionellen Akteure konfrontiert werden, ein Fall für sie ist; denn es gibt ja auch die Möglichkeit, die Zuständigkeit zu negieren und an eine andere Instanz zu überweisen.«

Und auch die Fortsetzung klingt wie eine soziolinguistische Paraphrase des Sattelmacher. Was mag ein ausgewachsener Jurist denken, der das liest? Hier noch »der zweite Aspekt aktueller Erkenntnisse«:

»Schaut man Chirurgen während der laparoskopischen Gallenoperation zu, dann erkennt man ihr Bemühen um systematische Reduktion von Kontingenz: Unklare Gewebemengen müssen so bearbeitet werden, dass Strukturen freigelegt werden und Gefäße als solche erkennbar und handhabbar gemacht werden; in der Gruppe ist dafür die Metapher des Präparierens benutzt worden. In den Rechtsfällen hingegen ist beobachtbar und von verschiedenen Autoren herausgearbeitet worden, dass eine der wesentlichen Aktivitäten der professionellen Beteiligten darin besteht, Kontingenz zu erzeugen oder zu erhalten, um das Verfahren möglichst lange offen zu halten; dies hängt ganz offenbar mit der agonalen Grundstruktur der juristischen Bearbeitung von Alltagskonflikten zusammen.«

Ich werde die nächste Gelegenheit nutzen um zu testen, ob sich Juristen mit so aufschlussreichen Ergebnissen von dem Wert interdisziplinärer Arbeit überzeugen lassen. Oder ist das gar nicht der Anspruch der beteiligten Wissenschaftler, meinen sie doch am Ende, ihre Arbeit könne künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Thema provozieren? Mit einer Performance haben sie das auf ihrer Abschlussveranstaltung schon einmal probiert. Performing science heißt die Perspektive. Gab es das nicht schon einmal, das Gericht als Theater?

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Mit dem Zitat im Titel dieses Postings überschrieb Konrad Adam seinen Bericht über den Zwanzigsten Deutschen Soziologentag in Bremen 1980.
2 Hubert Treiber, Verwaltungsrechtswissenschaft als Steuerungswissenschaft – eine »Revolution auf dem Papier«?, Kritische Justiz 2007, 328.
3 Das ist mein Unwort des Jahres.

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Nachlese zur (Hamburger Tagung über die ) Fachdidaktik des Rechts

Aktualität ist nicht meine Stärke. Am 24. und 25. März 2010 fand an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg die Tagung »Exzellente Lehre im juristischen Studium. Auf dem Weg zu einer rechtswissenschaftlichen Fachdidaktik« statt. Das Tagungsprogramm können Sie hier als Pdf-Dokument herunterladen, die von den Referenten verwendeten Folien hier. Die Tagung war rundum erfreulich. Es wurden überwiegend hörenswerte Vorträge gehalten, und es wurde lebhaft und sachlich diskutiert. Ich will hier auf zwei Vorträge erwähnen, (die sicher demnächst in einem Tagungsband nachzulesen sind).
Am Anfang stand ein Vortrag von Julian Webb, dem Leiter des UK Centre for Legal Education in Warwick. Diesen Vortrag fand ich besonders interessant wegen seiner Hinweise auf das, was Paul Maharg transactional learning nennt, nämlich »active learning based on doing legal transactions which require both reflection on learning and collaborative learning« [1]Paul Maharg, Transforming Legal Education, Ashgate 2007. Ich habe das Zitat nicht wiederfinden können. Aber vielleicht habe ich nicht gründlich genug gelesen.. Mein Interesse ist vor allem deshalb geweckt, weil es dabei um den Ersatz realer Praxis durch Simulationen aller Art, nicht zuletzt mit Hilfe des Internet geht. Darauf habe ich ein einem Beitrag in »Recht anschaulich« hingewiesen.
Dieses Posting gilt dem Vortrag von Helge Dedek, der mit dem Titel »Didaktische Zugänge in der Rechtslehre in Kanada und den USA« angekündigt war. Danach hätte ich erwartet, dass der Referent seinen Vortrag aus zwei einschlägigen neueren Aufsätzen zum Thema bestreiten würde. Doch er war so bescheiden, diese Arbeiten nicht einmal zu erwähnen, so dass ich sie hier anführen will, denn sie sind lesenswert. [2]Helge Dedek, Recht an der Universität: »Wissenschaftlichkeit« der Juristenausbildung in Nordamerika, Juristenzeitung 2009, 540–550; Helge Dedek/Armand de Mestral, Born to be Wild: The … Continue reading Anstatt seine alten Texte vorzutragen, erklärte Dedek seinen Zuhörern, wie seinerzeit die Langdellsche Case-Method entstand, nämlich weil Langdell auf eine wissenschaftliche Juristenausbildung drängte, die nur in der Universität stattfinden könne, und die auf die Originalquellen des (amerikanischen) Rechts, also auf Präjudizien zurückgreifen müsse. Dedek erläuterte, wie Langdells Methode, nicht zuletzt durch ihre Verbindung mit der sokratischen Methode, in den USA in Misskredit geriet, und zeigte dazu einen kurzen Ausschnitt aus dem Film »Paperchase«. [3]Im Netz ist nur der entsprechende Ausschnitt aus der TV-Version von »Paperchase« zu finden, der aber immer noch ganz eindrucksvoll ist. Außerdem auf Youtube: Studenten über die Socratic Method. Wohl ungeplant bewies er damit, dass wenige Bilder, richtig eingesetzt, unschlagbar sind, wenn es darum geht, ein Thema anschaulich zu machen. Dedek bemerkte, dass etwa in Asien Langdells Case Method heute beliebter ist als in ihrem Heimatland.
Die Entwicklung zur Interdisziplinarität in den amerikanischen Lawschools hatte Dedek in seinem Aufsatz in der Juristenzeitung ausführlicher behandelt hat. Dort hatte er auf die unterschiedlichen Wissenschaftsbegriffe hingewiesen, die die deutsche und die US-amerikanische Juristenausbildung prägen: Im Streit um die Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft hat Eugen Ehrlich mit dem Law- and Society-Movement einen späten Sieg errungen. Ehrlich hatte bekanntlich 1913 die Rechtssoziologie zur einzigen legitimen Rechtswissenschaft erklärt:

»Da das Recht eine gesellschaftliche Erscheinung ist, so gehört jede Art der Jurisprudenz den Gesellschaftswissenschaften an, aber die eigentliche Rechtswissenschaft ist ein Teil der theoretischen Gesellschaftswissenschaft der Soziologie. Die Soziologie des Rechts ist die wissenschaftliche Lehre vom Rechte.«

Zu Ehrlichs posthumen Sieg hat eine Reihe von Bundesgenossen beigetragen. Die Rechtssoziologie stellt nur noch eine Division im Heer der »Law- and …« [4]Diese Formulierung ist eine Erfindung von Guido Calabresi, An Introduction to Legal Thought: Four Approaches to Law and to the Allocation of Body Parts, Stanford Law Review 55 (2003 2113-2152, … Continue reading -Alliierten. Zu den Verbündeten gehören Anthropologie, Ethnologie, Ökonomie, Psychologie, Medienwissenschaft und Kulturwissenschaften. In den USA hat dieses Bündnis die Mehrzahl der Elite-Law-Schools erobert. Nach einer Aufstellung von Macey [5]Jonathan R. Macey, Legal Scholarship: A Corporate Scholar’s Perspective, 41 San Diego Law Review 41, 2004, S. 1759-1774. hatten 2004 hatten 2004 neun von 15 dieser Law Schools das traditionelle Modell der Legal Science zugunsten einer interdisziplinären Behandlung des Rechts aufgegeben. [6]Chicago, Columbia, Cornell, Michigan, Penn, Stanford, USC, Virginia und Yale. Nur Duke und Texas halten am traditionellen Modell fest. Berkeley, Georgetown, Harvard und NYU werden als »mixed« … Continue reading Nur noch im ersten Studienjahr sind juristische Veranstaltungen nach der traditionellen Fallmethode Langdells Pflicht. Danach steht es den Studenten frei, sich ihre Kurse aus einem großen, überwiegend interdisziplinären Angebot zusammenzustellen. Noch stärker als das Studium selbst ist die Dozentenschaft interdisziplinär ausgerichtet.
Da trifft es sich, dass Tamanaha kürzlich dargestellt hat, wie die Eroberung der akademischen Rechtswissenschaft der USA durch andere Disziplinen auf einem großen Täuschungsmanöver beruhte, nämlich darauf, dass zunächst die Schule der Legal Realists und später noch einmal die Schule der Critical Legal Studies ein falsches Feindbild von der traditionellen Rechtswissenschaft aufbauten. [7]Brian Z. Tamanaha, The Bogus Tale About the Legal Formalists, 2008, verfügbar unter http://ssrn.com/abstract=1123498; ders., Understanding Legal Realism, 2008, verfügbar unter … Continue reading Bis heute gilt es in den USA als ausgemacht, dass die traditionelle Jurisprudenz in dem Sinne formalistisch war, dass sie das Recht als objektives, unpolitisches System begriff, aus dem die Gerichte mechanisch-logisch ihre Entscheidungen ableiten konnten. Erst die Legal Realists, so die gängige Lesart, hätten entdeckt, dass und wie sehr das juristische Urteil von Wertungen der Richter abhängig ist, und erst die Critical Legal Studies hätten den politischen Charakter aller Justiz aufgezeigt. Tamanaha zeigt mit vielen Belegen, dass und wie Legal Realists und Critical Legal Studies ihrerseits politische Absichten verfolgt und in einer geradezu unwissenschaftlichen Weise ihre Augen vor der Differenziertheit der als formalistisch denunzierten Jurisprudenz verschlossen haben.

Nachtrag vom 24. Mai 2010:
Der Kommentar von Michael Wrase war notwendig.
Ich will noch darauf hinweisen, dass die bei SSRN verfügbaren Manuskripte Tamanahas in sein in diesem Jahr bei Princeton University Press erschienenes Buch »Beyond the Formalist-Realist Divide« eingegangen sind.
Nachtrag vom 28. 2. 2012:
Eine weitere Besprechung von Marin Roger Scordato (University of Richmond Law Review 46, 2011, 659-666) macht geltend, auch wenn heute alle Juristen mehr oder weniger »Realisten« seien, so sei doch im allgemeinen Rechtsbewusstsein und auch in der Politik er formalistische Standpunkt fest verankert, und auch das (amerikanische) Rechtsmittelsystem baue auf ein technisch-formales Konzept der Rechtsanwendung.

Nachtrag vom 24. Juni 2010:
Hier eine schöne Besprechung des Buches von Tamanaha von Stanley Fish aus der New York Times vom 24. 6.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Paul Maharg, Transforming Legal Education, Ashgate 2007. Ich habe das Zitat nicht wiederfinden können. Aber vielleicht habe ich nicht gründlich genug gelesen.
2 Helge Dedek, Recht an der Universität: »Wissenschaftlichkeit« der Juristenausbildung in Nordamerika, Juristenzeitung 2009, 540–550; Helge Dedek/Armand de Mestral, Born to be Wild: The Trans-Systemic Programme at McGill and the De-Nationalization of Legal Education, The German Law Journal, 10, 2009, S. 889–911.
3 Im Netz ist nur der entsprechende Ausschnitt aus der TV-Version von »Paperchase« zu finden, der aber immer noch ganz eindrucksvoll ist. Außerdem auf Youtube: Studenten über die Socratic Method.
4 Diese Formulierung ist eine Erfindung von Guido Calabresi, An Introduction to Legal Thought: Four Approaches to Law and to the Allocation of Body Parts, Stanford Law Review 55 (2003 2113-2152, teilweise einsehbar unter http://www.accessmylibrary.com/article-1G1-106865769/introduction-legal-thought-four.html.
5 Jonathan R. Macey, Legal Scholarship: A Corporate Scholar’s Perspective, 41 San Diego Law Review 41, 2004, S. 1759-1774.
6 Chicago, Columbia, Cornell, Michigan, Penn, Stanford, USC, Virginia und Yale. Nur Duke und Texas halten am traditionellen Modell fest. Berkeley, Georgetown, Harvard und NYU werden als »mixed« eingestuft.
7 Brian Z. Tamanaha, The Bogus Tale About the Legal Formalists, 2008, verfügbar unter http://ssrn.com/abstract=1123498; ders., Understanding Legal Realism, 2008, verfügbar unter http://ssrn.com/abstract=1127178.

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Das Exzellenzcluster hat eine gehaltvolle Videothek mit den Vorträgen einer Ringvorlesung »Recht ohne Staat« sowie von der ersten und der zweiten Jahreskonferenz des Exzellenzclusters ins Netz gestellt. Darunter sind viele prominente und teilweise auch in der Rechtssoziologie bekannte Redner. Man (ich?) kann die Videos nicht auf Bildschirmgröße einstellen, aber sie sind scharf und der Ton, soweit ich hineingehört habe, ist gut. Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, die Vorträge alle anzuhören. Damit wäre man ein paar Tage beschäftigt. Ich habe nur die Redner- und Themenliste herauskopiert und auch darauf verzichtet, für die einzelnen Videos den Link mitzuteilen. Statt dessen hier der Link für die ganze Seite: http://www.normativeorders.net/de/component/content/article/359. Hier also die Liste:

Mittwoch, 3. Februar 2010
Ringvorlesung “Recht ohne Staat”
Professor Dr. Thomas Duve, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte
Recht ohne Staat: Ein Blick auf die Rechtsgeschichte

Mittwoch, 20. Januar 2010
Ringvorlesung “Recht ohne Staat”
Professor Dr. Dr. h.c. mult. Gunther Teubner, Johann Wolfgang Goethe-Universität und London School of Economics
Verfassungen ohne Staat? Zur Konstitutionalisierung transnationaler Regimes

Mittwoch, 16. Dezember 2009
Ringvorlesung “Recht ohne Staat”
Professor Dr. Dr. Rainer Hofmann, Johann Wolfgang Goethe-Universität
Modernes Investitionsschutzrecht: Ein Beispiel für entstaatlichte Setzung und Durchsetzung von Recht?

Mittwoch, 18. November 2009
Ringvorlesung “Recht ohne Staat”
Professor Dr. Franz von Benda-Beckmann, Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung (Halle)
Recht ohne Staat im Staat: Eine rechtsethnologische Betrachtung

Samstag, 14. November 2009
2. Jahreskonferenz des Exzellenzclusters
Professor Keith Tribe
The Limits of the Market: Walras versus Becker

Panel IV: Ästhetik von Rechtfertigungsnarrativen
Prof. Dr. Martin Seel
Narration und (De-)Legitimation: Der zweite Irak-Krieg im Kino
Prof. Dr. Michael Hampe
Erklärung durch Beschreibung

Freitag, 13. November 2009
2. Jahreskonferenz des Exzellenzclusters
Panel III: Menschenrechte als Rechtsfertigungsnarrative?
Prof. Dr. Günther Frankenberg
Menschenrechte als Rechtsfertigungsnarrative
Professor Robert Howse
Human Rights Discourse in World Trade

Panel II: Rechtfertigungsnarrative in internationalen Verhandlungsprozessen
Prof. Dr. Nicole Deitelhoff
Politische Praxis und politische Analyse. Ein Kommentar
Dr. Gunter Pleuger
Die normativen Wirkungen multilateralen Verhandelns

Panel I: Rechtfertigungsnarrative in Übergangszeiten
Prof. Dr. Hartmut Leppin
Deo auctore. Die Christianisierung kaiserlicher Selbstdarstellung in der Spätantike
Prof. Dr. Hans Kippenberg
Das Thomas-Theorem In der modernen Religionsgeschichte. Zur Differenz zwischen normativen Haltungen und Handlungen

Dienstag, 3. November 2009
Frankfurt Lecture I
Professor Charles Larmore, Brown University
Subjektivität

Montag, 2. November 2009
Frankfurt Lecture I
Professor Charles Larmore, Brown University
Vernunft

Mittwoch, 21. Oktober 2009
Ringvorlesung “Recht ohne Staat”
Prof. Dr. Klaus Dieter Wolf, Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung
Unternehmen als Normunternehmer: Die Einbindung privater Akteure in grenzüberschreitende politische Steuerungsprozesse

Samstag, 15. November 2008
Eröffnungskonferenz des Exzellenzclusters
Panel IV: Transnational Justice, Democracy and Peace
Professor Andrew Hurrell, Oxford
Provincializing Westphalia: The Evolution of International Society as a Global Normative Order

Freitag, 14. November 2008
Eröffnungskonferenz des Exzellenzclusters
Panel III: The Formation of Legal Norms Between Nations
Prof. Dr. Armin von Bogdandy, Heidelberg
Developing the Publicness of Public International Law: Towards a Legal Framework for Global Governance Activities
Panel II: The Historicity of Normative Orders
Professor Immanuel Wallerstein, Yale
In what Normative Order(s) has the World been Living in the Modern World System?
Professor Robert Harms, Yale
Slave Trading, Abolition, and Colonialism as Inter-Linked Normative Orders
Panel I: Conceptions of Normativity
Professor R. Jay Wallace, Berkeley
Conceptions of Normativity: Some Basic Philosophical Issues

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