Rechtssoziologie ade

2003 wurde der Lehrstuhl für Rechtssoziologie und Rechtsphilosophie der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität in einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechtssoziologie und Rechtsphilosophie umgewandelt und die Rechtssoziologie damit ein Stück zurückgesetzt. Immerhin war der Stelleninhaber Ralf Poscher noch ein bekennender Rechtssoziologie. Prof. Poscher ist nach dem Sommersemester 2009 einem Ruf an die Universität Freiburg i. Br. gefolgt. Die Stelle ist nunmehr für »Öffentliches Recht mit einem Grundlagenfach, insbesondere Rechtsphilosophie« ausgeschrieben. Aus der Sicht einer Fakultät, die sich auf Evaluationen trimmen muss, mag es dafür Gründe gegeben. Einer ist wohl das dürftige Angebot von Bewerbern mit der facultas »Rechtssoziologie«. Doch der Beobachter betrauert die institutionelle Beerdigung des Faches in Bochum im Alter von gerade 39 Jahren.
Die Geburtsstunde der Bochumer Rechtssoziologie schlug 1970, als Marcus Lutter der Fakultät die Einrichtung einer rechtssoziologischen Lehrveranstaltung anregte. Das waren noch Zeiten, als ein Handelsrechtler – und nicht irgendeiner – sich für die Rechtssoziologie stark machte.

Ähnliche Themen

Das zweite Mediations-Paradox: Erfolgreich, schneller, billiger und besser, aber ungenutzt

Landauf, landab finden Tagungen und Symposien zur gerichtlichen Mediation statt. Die Akzeptanz in den Medien ist enorm. Den Protagonisten gelingt es, in erstaunlicher Weise, Prominenz aus Wissenschaft, Rechtspolitik und sogar »Gesellschaft« zu mobilisieren. Das sieht man auf einem Video über ein vom Contarini-Institut an der Fernuniversität Hagen veranstaltetes Mediationssymposium im Bayerischen Hof in München im Herbst 2008. Gemeinsam beschwören alle den Beginn einer neuen Streitkultur. Der interessierte Beobachter hat jedoch den Eindruck, dass vielen und schönen Worten nur wenige Taten folgen: Es fehlt eine nennenswerte Nachfrage.
Vor etwa 30 Jahren hatte die Rechtssoziologie die Defizite gerichtlicher Konfliktlösung beschrieben und Vorschläge zur alternativen Streitregelung aus den USA importiert. Damals ging es um Community Justice und Neighborhood Justice Centers. In der Folgezeit suchte man zunächst in der alten Bundesrepublik nach Resten außergerichtlicher Streitregelung etwa beim Schiedsmann, in den Güte- und Schlichtungsstellen für Verbraucher und in den Vergleichsbemühungen der Gerichte. Die Suche bekam nach der Wiedervereinigung noch einmal Auftrieb, weil man, in der Hoffnung, irgendetwas Brauchbares im Nachlass der DDR zu finden, die sog. Konfliktkommissionen ins Visier nahm. Doch es änderte sich wenig oder nichts.
Etwa ab 1990 entdeckte eine neue Juristengeneration (Breidenbach, Duve, Eidenmüller, Birner, Prause) noch einmal in den USA die »ADR« (Alternative Dispute Resolution), wie sie nun hieß. Orientierungspunkt war jetzt das Harvard Negotiation Project. Dafür hatten Fisher und Ury eine lehr- und lernbare Vermittlungstechnik entwickelt. Diese Technik wurde nun auch in Deutschland bekannt und verbreitet. Was bisher schlicht unter Vermittlung lief, bekam einen neuen Namen: Mediation. Eigentlich nur das englische Wort für Vermittlung, wirkte der Begriff in Deutschland wie eine Zauberformel. Unter diesem Zauberspruch sammelten sich Juristen und einige Angehörige anderer Professionen, die hofften, hier ein neues Berufsfeld etablieren zu können, auf dem sich ihre Neigung einer gesellschaftlich wertvollen Tätigkeit mit dem Broterwerb verbinden ließ. Sehr schnell wurden diese Idealisten von der Ausbildungsindustrie entdeckt. Die Mediatorenausbildung wurde Vorreiter all der Zusatzstudiengänge, mit denen sich heute die Hochschulen vermarkten. Es gibt in Deutschland zur Zeit angeblich [1]Nachtrag: Der Link, der bei der Abfassung des Artikels noch funktionierte, war im Oktober 2010 tot und die entsprechende Information von der Webseite des Contarini-Instituts an der Fernuni Hagen … Continue reading 6000 ausgebildete Mediatoren, aber vermutlich nicht einmal für jeden von ihnen jedes Jahr einen Fall.
Mehr oder weniger alle Autoren, die über ADR schreiben, sind davon überzeugt, dass sie es mit einer Erfolgsgeschichte zu tun haben. Sie stützen sich dabei auf zahlreiche Evaluationen einzelner ADR-Projekte, die fast ausnahmslos positiv ausfallen. Ich spreche von einem Naturgesetz der Vermittlung: Etwa zwei Drittel aller Streitigkeiten werden gütlich geregelt werden, wenn sich die Parteien sich in ein Vermittlungsverfahren begeben. Kaum weniger groß ist die Übereinstimmung, dass alternative Verfahren regelmäßig kürzer dauern als Gerichtsverfahren, dass sie geringere Kosten verursachen, dass sie von den Beteiligten als weniger belastend empfunden werden und dass auch die Umsetzung des Verfahrensergebnisses erfolgreicher ist als die Vollstreckung eines Gerichtsurteils. Die Theorie hinter der Mediation scheint also zu stimmen. Trotzdem fristen die alternativen Streitregelungsverfahren neben der Justiz nur das Dasein eines Mauerblümchens. Ihr Angebot wird vom Publikum nicht angenommen. Sie leben von den Fällen, die ihnen von der Justiz überwiesen werden. Gewisse Erfolge, wie sie anscheinend in den USA erreicht worden sind, beruhen auf massiver Steuerung, nämlich darauf, dass die Parteien gesetzlich in die gerichtsverbundene Mediation gezwungen werden.
Auch in Deutschland hat die Justiz seit 2002 mit Hilfe des damals neuen § 278 ZPO die Mediation für sich entdeckt Die gerichtsverbundene Mediation löst drei Probleme auf einen Schlag. Erstens: Sie überwindet mangelnde Akzeptanz der Mediation durch sanften Druck. Wer sich »uneinsichtig« zeigt, indem er seine Zustimmung verweigert, muss mindestens subjektiv damit rechnen, dass das Gericht ihm sein Wohlwollen entzieht und im streitigen Verfahren von den zahlreichen Sanktionsmöglichkeiten Gebrauch macht, die ihm zur Verfügung stehen. Zweitens: Sie verursacht keine zusätzlichen Kosten. Drittens: Falls sie scheitert, führt das begonnene Gerichtsverfahren doch irgendwie zu einem Ende des Konflikts. Da kann man Mediation ruhig ausprobieren und, wenn nicht genug heraus kommt, immer noch auf ein günstigeres Urteil hoffen. Es ist sozusagen die List der Vernunft, dass es dann doch meistens zu einem Kompromiss kommt, wenn man sich erst einmal auf das Mediationsverfahren eingelassen hat. Die gerichtsverbundene Mediation ist anscheinend sehr erfolgreich, soweit es darum geht, die Parteien an den Verhandlungstisch zu bringen und die Vermittlung zu einem guten Ende zu führen (Projektabschlussbericht Niedersachsen). Kein Wunder. Die Justiz trägt alle Kosten. Die Verbreitung der gerichtsverbundenen Mediation beschränkt sich bisher auf wenige Pilot- oder Projektgerichte. Massenwirksam ist sie noch nicht.
Das (erste) Mediationsparadox haben McEwen und Milburn [2]McEwen, Craig A.; Milburn, Thomas W.: Explaining a Paradox of Mediation. In: Negotiation Journal, 1993, S. 23–36. beschrieben: Man muss die Streithähne mehr oder weniger an den Verhandlungstisch nötigen, damit sie freiwillig zu einer Einigung gelangen. Man muss sie sozusagen zu ihrem Glück zwingen, denn obwohl sie am Anfang meist unwillig waren, sind sie am Ende doch ganz überwiegend sehr zufrieden. Das ist die in der Literatur vielfach bestätigte Erfahrung. Als zweites Mediationsparadox bezeichne ich den Gegensatz zwischen der publizierten Akzeptanz von konsensualer Streitschlichtung und den guten Erfolgsaussichten von Mediationsverfahren auf der einen und dem mangelnden Zulauf auf der anderen Seite.
Die Verfechter der Mediation – Gegner gibt es praktisch kaum – behaupten einen positiven Trend. Aber Zahlen nennen sie nicht. Die gemeldeten Erfolge zeigen sich am Einzelfall und sind damit qualitativ. Der gesellschaftliche Erfolg alternativer Verfahren lässt sich jedoch nicht ohne quantitative Aspekte beurteilen. Eine große, vom Bundesministerium der Justiz beim Max-Planck-Institut für ausländisches und Internationales Privatrecht in Hamburg in Auftrag gegebene Untersuchung über 20 Staaten trägt den Untertitel »Rechtstatsachen, Vergleich, Regelungen«. [3]Hopt, Klaus J.; Steffek, Felix (Hg.): Mediation. Rechtstatsachen, Rechtsvergleich, Regelungen, 2008. Aber die beigebrachten Rechtstatsachen sind kümmerlich. Statistiken über die Verwendung von Mediationsverfahren werden schlicht für irrelevant erklärt:

»… dass sich die Mediation nicht statistisch erfassen und bewerten lässt. Ihre Wirkung und Bedeutung für die Rechtspraxis ergibt und erklärt sich vielmehr erst im Zusammenspiel mit dem Rechtsumfeld und der Streitbewältigungskultur. in der sie eingebettet ist. Eine für diese Zusammenhänge unempfindsame Addition und Division der in den Länderberichten erfassten Daten brächte daher keinen Erkenntnisgewinn.« [4]Hopt/Steffek, S: 77

Massive Zahlen liegen nur für China und Japan vor. In China sollen 2004 von den Volksschlichtungskomitees 4.492.157 Fälle behandelt worden sein, während 4.492.157 Fälle an die Volksgerichte erster Instanz gelangten [5]Pißler in Hopt/Steffek S. 627-631. Ich verstehe weder Japanisch noch Chinesisch und vermag diese Zahlen daher nicht einzuschätzen.
In Deutschland gibt es immerhin eine halbamtliche Statistik für den Täter-Opfer-Ausgleich, die Vollständigkeit für sich in Anspruch nimmt [6]Kerner, Hans-Jürgen/Hartmann, Arthur, Täter-Opfer-Ausgleich in Deutschland. Auswertung der bundesweiten Täter-Opfer-Ausgleichs-Statistik für den Jahrgang 2005, mit Vergleich zu den Jahrgängen … Continue reading. Sie beginnt 1993 mit einem Fallaufkommen von 1238, erreicht 1999 einen Höhepunkt mit 5177 Fällen und liegt seit 2003 deutlich unter 3000. Wenn man daneben hält, dass jährlich etwa 800.000 Verurteilungen erfolgen, so sind die Zahlen wenig eindrucksvoll.
Auch für die USA fehlt an brauchbaren Globalzahlen. Prause spricht von der Messung des Unmessbaren [7]Prause, Matthias, The Oxymoron of Measuring the Immeasurable: Potential and Challenges of Determining Mediation Developments in the U.S., Harvard Negotiation Review 13, 2008, 132-165.. Er schlägt ein indirektes Messverfahren vor, nämlich einen Mediation Receptivity Index (MRI) nach Analogie des Corruption Perceptivity Index. Andere Autoren verweisen auf den aus der Statistik belegbaren Rückgang förmlicher Urteile, ein Phänomen, das als vanishing trial bzeichnet wird, und schließen daraus auf eine Zunahme von ADR.
Der MRI geht auf einen Vorschlag von Frank E. Sander zurück und ist von Prause operationalisiert worden. Die Ankündigung klingt verheißungsvoll:

»Mediation Receptivity describes the level of use and awareness of mediation as a means to resolve disputes in a particular environment and the level of supporting infrastructure.« (Prause S. 139).

In den Mediation Receptivity Index gehen als »objektive Indikatoren« keine Fallzahlen, sondern Angaben über die vorhandenen Einrichtungen, die Mediation anbieten, über die Mitgliederzahl der Organisationen, die sich um ADR kümmern, über akademische Publikationen zum Thema, über Vorkehrungen der Einzelstaaten zur Implementation des Uniform Mediation Act und über das Vorhandensein eines State ADR Office ein. Als subjektive Elemente kommen Einschätzungen von Experten hinzu. Auf diese Weise sollen die Staaten der USA nach ihrer Mediation Receptivity auf einer Skala von 1 bis 10 eingeordnet werden. Wollte man Deutschland in den MRI einreihen, so gäbe es vermutlich einen guten Platz. Die Zahl der Einrichtungen zur alternativen Streitregelung in den USA liegt heute wohl im vierstelligen Bereich. Aber das ist gar nicht so viel, wenn man die Größe des Landes berücksichtigt und bedenkt, dass es in Deutschland über 5000 kommunale Schlichtungsstellen und allein in Nordrhein-Westfalen 1.258 Schiedspersonen gibt. Landauf, landab treffen sich in Deutschland Mediations-Experten auf Tagungen und Symposien und verkünden ihre positive Einschätzung. Die Literaturproduktion ist erheblich, die Akzeptanz in den Medien groß. Doch all das ändert nichts daran: Alle loben die Mediation, aber niemand verzichtet deshalb auf eine Klage.
In den USA stützt sich der Konsens, dass ADR allgemein akzeptiert werde und auch quantitativ enorm gewachsen sei, auf ein Phänomen, das als »vanishing trial« bekannt ist. Gemeint ist die Tatsache, dass im Laufe der Jahre die Zahl der streitigen Urteile stark zurückgegangen ist. Marc Galanter, der dieses Phänomen näher untersucht hat, fasst es wie folgt zusammen:

»The portion of federal civil cases resolved by trial fell from 11.5 percent in 1962 to 1.8 percent in 2002, continuing a long historic decline. More startling was the 60 percent decline in the absolute number of trials since the mid 1980s. The makeup of trials shifted from a predominance of torts to a predominance of civil rights, but trials are declining in every case category. A similar decline in both the percentage and the absolute number of trials is found in federal criminal cases and in bankruptcy cases. The phenomenon is not confined to the federal courts; there are comparable declines of trials, both civil and criminal, in the state courts, where the great majority of trials occur. Plausible causes for this decline include a shift in ideology and practice among litigants, lawyers, and judges. …Within the courts, judges conduct trials at only a fraction of the rate that their predecessors did, but they are more heavily involved in the early stages of cases. Although virtually every other indicator of legal activity is rising, trials are declining not only in relation to cases in the courts but to the size of the population and the size of the economy.« [8]Galanter, Marc (2004) The Vanishing Trial: An Examination of Trials and Related Matters in Federal and State Courts 1, 459-570, 459 f..

Es liegt nahe, diesen Wandel der wachsenden Bedeutung von ADR zuzuschreiben. Aber der Zusammenhang ist nicht klar. Aber der Trend hält schon viel länger an, und aus der Statistik gibt es keinen Beleg [9]Stipanowich, Thomas J, ADR and the “Vanishing Trial”: The Growth and Impact of “Alternative Dispute Resolution”, Journal of Empirical Legal Studies 1, 2004, 843–912. . Die Zahlen, die genannt werden – 24.000 Verweisungen bei den Bundesgerichten, das entspricht etwa 10 % der Eingänge – sind noch nicht wirklich eindrucksvoll. In einzelnen Staaten – besonders in Florida, Kalifornien und Ohio – erreicht die ADR aber wohl eine Größenordnung von 20 % der Eingänge bei den Gerichten.
In Deutschland ist kein vergleichbarer Schwund des Anteils der streitig entschiedenen Gerichtsverfahren zu beobachten. Das gilt grundsätzlich sowohl für Zivilprozesse wie für Strafsachen. In Zivilprozesssachen hat es allerdings einen einmaligen Rückgang der Urteilsquote um 5 % (von etwa 30 auf 25 %) und einen entsprechenden Anstieg der Vergleichsquote gegeben, und zwar 2001/2002, anscheinend als Folge einer Änderung der Zivilprozessordnung. Immerhin. Eine Erklärung für die andere Entwicklung in Deutschland liegt sicher darin, dass hier die Hürden zum streitigen Urteil viel niedriger liegen als in den USA zum »trial«. Die gerichtsabhängige Mediation ist in Deutschland bisher erst bei einigen Pilotgerichten eingerichtet und allein deshalb noch nicht mengenwirksam.
Die gerichtsunabhängige Mediation hat nur Nischenplätze erobern können. Eine solche Nische bilden Familien- und Ehestreitigkeiten und wohl auch Erbstreitigkeiten. Doch auch dafür gibt es nur eine kleine Klientel, vergleichbar, aber viel kleiner noch, als die Gruppe derer, die in Naturkostläden einkaufen oder für die Versorgung mit Strom aus alternativen Quellen einen höheren Preis in Kauf nehmen. Zahlen habe ich nicht gefunden.
Die professionelle Mediation ist ein personal- und zeitaufwendiges Verfahren. Nur wenige Konflikte rechtfertigen diesen Aufwand. Deshalb konzentriert sich das freie Mediationsangebot auf zwei Felder, in denen es nicht nur Konflikte gibt, sondern auch Geld vorhanden ist, nämlich auf die Mediation bei umstrittenen umweltrelevanten Planungsvorhaben und auf die Wirtschaftsmediation. Für die Umweltmediation wird von der Mediationsindustrie viel Reklame gemacht. Es hat indessen nur wenige Verfahren gegeben, und die waren kaum erfolgreich. [10]Jansen, Dorothea, Mediationsverfahren in der Umweltpolitik. Politische Vierteljahresschrift 38, 1997, 274-297. Ein Positivbeispiel aus Österreich: Kessen/König Eisenbahntrasse Gasteiner Tal, … Continue reading Es fehlt nicht an Beteuerungen, dass die Wirtschaftsmediation immer mehr an Fahrt gewinne und höchst erfolgreich sei. Doch Genaues weiß man nicht. Es gibt eine Menge Literatur, die die Wirtschaftsmediation anpreist, aber nur vereinzelt Berichte über erfolgreich verlaufene Verfahren (z. B. Kraus 1999). In einer Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Price Waterhouse Coopers von 2005 [11]Im Internet anscheinend nicht mehr verfügbar. heißt es, dass das Interesse der Wirtschaft an Mediation stark gestiegen sei, betont wird jedoch zugleich der »offenkundige Widerspruch«, dass die Unternehmen zwar versuchten, Streitigkeiten zunächst durch Verhandlungen zu lösen, im Falle des Scheiterns aber meistens direkt den Weg zum Gericht wählten. [12]Eine qualitative Folgestudie aus dem Jahr 2007 versucht vergeblich, diese Inkongruenz zu erklären. Auch wenn man berücksichtigt, dass naturgemäß keine offiziellen Statistiken vorhanden sind und dass die einzelnen Verfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, müssten doch die Protagonisten konkretere Angaben über Art und Umfang der Verfahren machen können.
Eine befriedigende Erklärung für so viel Mediationsabstinenz sehe ich nicht. Am wenigsten taugt die übliche Begründung, das Publikum sei über die Vorzüge der Mediation nicht hinreichend aufgeklärt und verharre daher im Konfrontationsdenken, die sog. ignorance hypothesis. Dazu und über andere Erklärungen weiterführend McEwen/Milburn S. 25 ff.

Nachtrag vom 4. 3. 2015:
Anscheinend wird Rsozblog gelegentlich gelesen. Jedenfalls bin ich aus dem Niedersächsischen Justizministerium auf die Einträge zur Mediation angesprochen und gebeten worden, am dem nächsten Konfliktmanagementkongress in Hannover teilzunehmen. Es handelt sich immerhin um den 12. Kongress dieser Reihe. Das ist Anlass, die Internetseite mit einigen Daten über die Vorläufer mitzuteilen: http://www.km-kongress.de/.

Der (mir unbekannte) Verband Integrierte Mediation unterhält eine gut gemachte Internetseite. Ganz interessant die Seite »Mythen der Mediation«.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Nachtrag: Der Link, der bei der Abfassung des Artikels noch funktionierte, war im Oktober 2010 tot und die entsprechende Information von der Webseite des Contarini-Instituts an der Fernuni Hagen verschwunden. Die Zahl war wohl aus Prestigegründen erheblich übertrieben.
2 McEwen, Craig A.; Milburn, Thomas W.: Explaining a Paradox of Mediation. In: Negotiation Journal, 1993, S. 23–36.
3 Hopt, Klaus J.; Steffek, Felix (Hg.): Mediation. Rechtstatsachen, Rechtsvergleich, Regelungen, 2008.
4 Hopt/Steffek, S: 77
5 Pißler in Hopt/Steffek S. 627-631
6 Kerner, Hans-Jürgen/Hartmann, Arthur, Täter-Opfer-Ausgleich in Deutschland. Auswertung der bundesweiten Täter-Opfer-Ausgleichs-Statistik für den Jahrgang 2005, mit Vergleich zu den Jahrgängen 2003 und 2004, sowie einem Rückblick auf die Entwicklung seit 1993, Bundesministerium der Justiz, Berlin2008.
7 Prause, Matthias, The Oxymoron of Measuring the Immeasurable: Potential and Challenges of Determining Mediation Developments in the U.S., Harvard Negotiation Review 13, 2008, 132-165.
8 Galanter, Marc (2004) The Vanishing Trial: An Examination of Trials and Related Matters in Federal and State Courts 1, 459-570, 459 f.
9 Stipanowich, Thomas J, ADR and the “Vanishing Trial”: The Growth and Impact of “Alternative Dispute Resolution”, Journal of Empirical Legal Studies 1, 2004, 843–912.
10 Jansen, Dorothea, Mediationsverfahren in der Umweltpolitik. Politische Vierteljahresschrift 38, 1997, 274-297. Ein Positivbeispiel aus Österreich: Kessen/König Eisenbahntrasse Gasteiner Tal, Zeitschrift für Konfliktmanagement 2002, 128 f.
11 Im Internet anscheinend nicht mehr verfügbar.
12 Eine qualitative Folgestudie aus dem Jahr 2007 versucht vergeblich, diese Inkongruenz zu erklären.

Ähnliche Themen

Die Gliederung als Wissensmanagementsystem der Rechtssoziologie

Die Neubearbeitung der alten Rechtssoziologie von 1987 kommt langsam voran. Der Normalleser wird den Ton auf »langsam« legen, der wohlwollende hoffentlich auf »voran«. Nachdem die Gliederung sich in den letzten Monaten nicht mehr erheblich verändert hat, stelle ich sie hier ins Netz. Sie ist relativ ausführlich geraten, denn sie ist für mich das Wissensmanagementsystem, in dem ich das gesammelte Material ordne und wiederfinde: Gliederung zur Rechtssoziologie

Ähnliche Themen

Das Recht in Zahlen

Es lohnt sich immer wieder, die Webseite des Statistischen Bundesamtes zu besuchen. Im August gab es vier »Neuerscheinungen:
• Arbeitsgerichte 2008
• Verwaltungsgerichte 2008
• Ausgewählte Zahlen für die Rechtspflege Berichtsjahr 2008
• Staatsanwaltschaften; Berichtsjahr 2008
Das Amt beschränkt sich längst nicht mehr auf die Bereitstellung bloßer Statistiken, sondern bereitet seine Zahlen auch themenspezifisch auf. Angeboten werden zur Zeit
• die Broschüre »Justiz auf einen Blick«
• ein Kapitel »Öffentliche Sicherheit und Strafverfolgung« sowie
• ein Stat-Magazin vom Januar 2008 über Jugendkriminalität
Das Stat-Magazin enthält explizit zum Thema Rechtspflege nur diesen einen Bericht. Aber auch unter den anderen Themen findet man im Archiv Material, dass sich rechtssoziologisch verwerten lässt, z. B. unter »Arbeitsmarkt«, »Bildung und Kultur« oder »Sozialleistungen«. Unter »Verdienste und Arbeitskosten« etwa wird eine (kurze) Ausarbeitung über den »Verdienstabstand zwischen Männern und Frauen« angeboten.
Die Aufbereitungen des Amtes bieten interessante Vergleichszahlen, die man (ich?) alleine kaum gefunden hätte. So ist die Zusammenstellung »Justiz auf einen Blick« zwar strafrechtslastig, aber deshalb doch nicht ganz uninteressant. Vor allem die Vergleichszahlen aus den verschiedenen Ländern sind auffällig. So schwankt die Auklärungsquote bei polizeilich registrierter Kriminalität zwischen 40,6 % in Bremen und 64,3 % in Bayern (Durchschnitt 55,0 %). Die Anklagequote reicht von 22,4 % in Schleswig-Holstein bis zu 32,4 % in Bremen (Durchschnitt 28,3 %). Die Gefangenenrate beträgt in Berlin 151 Einsitzende/100.000, in Schleswig-Holstein nur 53. Berlin und Hamburg halten je 100.000 Einwohner in der ordentlichen Gerichtsbarkeit 29 Richter vor, Niedersachsen und Bayern 16, Baden-Württemberg nur 14. Ist es da ein Wunder, dass die Ausgaben für Rechtsschutz, bezogen auf die jeweilige Einwohnerzahl, die in Hamburg und Berlin 227 bzw. 217 Euro betragen, in Baden-Württemberg nur bei 109 Euro liegen? Die Zahlen über den Anteil der Bagatellverfahren bei den Amtsgerichten, die durch einen Streitwert bis 300 Euro definiert werden, werden eingeleitet mit dem Satz: Die durch Bagatellverfahren gebundenen Kapazitäten der Gerichte stehen für andere Prozesse nicht zur Verfügung bzw. verzögern die Rechtsprechung. Der Indikator trägt somit zu einer Effizienzbewertung des Justizsystems bei. Ein solches Urteil steht m. E. den Statistikern nicht zu.
Die Broschüre »Justiz auf einen Blick« ist mir im übrigen wegen ihrer Bebilderung aufgefallen. Dazu habe ich in »Recht anschaulich« einen kleinen Kommentar geschrieben (Schöne Bilder – oder?).

Ähnliche Themen

Wo ist die Korruption geblieben?

Nein, sie ist nicht verschwunden. Es gab sie vielmehr nie, nämlich als Thema in den zahlreichen Einführungen, Lehrbüchern und Readern zur Rechtssoziologie, die ich um mich herum versammelt habe. Auch in den Kriminologielehrbüchern habe ich sie nur vereinzelt als Stichwort gefunden. Gegebenenfalls wird sie dann unter der Wirtschaftskriminalität versteckt. Am ausführlichsten ist noch »der Göppinger« (6. Aufl. 2008). Dort erhält die Korruption unter § 25 E II 5) immerhin eine eigene Überschrift und eine ganze Seite (435 f.) Text. Wiedergegeben wird dort allerdings im Wesentlichen nur das »Lagebild Korruption« des Bundeskriminalamts. Zur Ehrenrettung der Rechtssoziologie kann ich aber auf den schönen Aufsatz von Petra Hiller, Korruption und Netzwerke: Konfusionen im Schema funktionaler Differenzierung, in: ZfRSoz 26, 2005, 57-77, verweisen.
Inzwischen bin ich einigermaßen sicher, dass Korruption ein rechtssoziologische Thema ist, das auch unter dieser Überschrift eigenständig abgehandelt werden sollte. Ich sitze daher nun an einem Paragraphen über Korruption für mein eigenes Rechtssoziologiebuch. 1987, als das Buch erstmals erschien, war Korruption noch kein Thema. Das hat sich seither grundlegend geändert. Daher muss das Kapitel völlig neu geschrieben werden. Wie es aussehen wird, ist mir noch ganz unklar. Seinen Standort bekommt der Abschnitt jedenfalls in dem Kapitel über die organisationstheoretischen Erklärungsansätze, denn nach wie vor sehe ich in der Korruption eine spezifische Form abweichenden Verhaltens, die sich nur in Organisationen und um diese herum entwickeln kann.
Hier zunächst nur einige Hinweise auf frei verfügbare Internetquellen:
Jens Aderhold/Tina Guenther/Uwe Marquardt, Korruption und Neue Staatlichkeit (Tagungsbericht), Soziologie 37, 2008, 328-334, verfügbar unter www.politischesoziologie.eu/download.php?id=11;
Bundeskriminalamt, Lageberichte Korruption, verfügbar unter
http://www.bka.de/lageberichte/ko.html
Korruption, Aus Politik und Zeitgeschichte 3-4/2009, verfügbar unter http://www.bpb.de/publikationen/XHGPRP,0,Korruption.html; darin u. a.: Johann Graf Lambsdorff/Lotte Beck, Korruption als Wachstumsbremse; Konstadinos Maras, Lobbyismus in Deutschland; Tanja Rabl, Der korrupte Akteur; Patrick von Maravic, Korruptionsanalyse als Analyse von Handlungssituationen – ein konzeptioneller Vorschlag, in: Kai Birkholz u. a. (Hg.), Public Management – eine neue Generation in Wissenschaft und Praxis. Festschrift für Christoph Reichard, 2006, 97-126, verfügbar unter http://opus.kobv.de/ubp/volltexte/2006/815/pdf/Reichard.pdf
In der Einleitung zum Themenheft »Korruption« schreibt Johannes Piepenbrink:

Korruption wird in Deutschland häufig als ein Phänomen unterentwickelter Staaten wahrgenommen, das hierzulande kaum vorkommt. Während Korruption zum Beispiel in Staaten Südosteuropas zur Tagesordnung gehöre, sei Deutschland im Wesentlichen »sauber«, so die weit verbreitete Ansicht. Doch dass dies ein Irrtum ist, belegen spektakuläre Korruptionsfälle in der jüngeren Vergangenheit. Selbst bei deutschen Vorzeigeunternehmen ist es zu Schmiergeldzahlungen in Milliardenhöhe gekommen. Korruption hat in den reichen Staaten häufig Erscheinungsformen, die im gleichen Maße »weiter entwickelt« sind wie diese Staaten selbst.

Die These lautet also: Jede Gesellschaft trägt ihr gerüttelt Maß an Korruption. Sie kommt nur in anderen Erscheinungsformen daher. Ich halte die These für falsch. Dafür will ich gar nicht auf das Definitionsproblem abstellen. Aber es lässt sich doch nicht übersehen, dass es in Deutschland (und vielen anderen Ländern) heute eine Trinität aus freier Presse, zivilgesellschaftlichen Organisationen und unabhängiger Justiz gibt, die ernsthaft und nicht ganz erfolglos die Aufdeckung und Bekämpfung von Korruption betreiben. Gerade die Aufdeckung und Benennung von konkreten Korruptionsfällen scheint mir dafür Beleg zu sein. Man lese zum Vergleich nur die jüngsten Zeitungsberichte über die Korruption in Russland. Es schreibt sich leichter, wenn man gegen eine solche These angeht.

Ähnliche Themen

Nudge

Ein neues Buch von Richard H. Thaler und Cass B. Sunstein mit dem Titel »Nudge« ist seit dem 11. 7. in Fortsetzungen als Vorabdruck im Feuilleton der FAZ zu lesen. Dazu veröffentlichte die Zeitung am 11. 7. ein einführendes Interview von Jordan Mejias mit Richard Thaler und in FAZ.NET eine Vorstellung von Jürgen Kaube. Schon am 6. 4. 2009 gab es eine Buchanzeige von Hanno Beck. Was ist an der Sache bemerkenswert noch bevor man das Buch gelesen hat?
1. Dass das Thema im Feuilleton und nicht im Wirtschaftsteil erscheint? Kaum. Die FAZ hat den Feuilletonbegriff längst für Sachthemen aller Art geöffnet.
2. Dass die Autoren zum Beraterkreis von Präsident Obama gehören? Das sichert ihnen mindestens Aufmerksamkeit.
3. Dass Behavioral Economics zum Alltagsthema geworden ist. Dazu hat vermutlich das Interesse an Börsenthemen beigetragen. Hanno Beck hat dieses Interesse in der FAZ durch eine Serie über Behavioral Finances und mit einem auch für die Rechtssoziologie relevanten Buch über »Die Logik des Irrtums« (2008) bedient.
3. Dass wir in die Rechtssoziologie wohl ein neues Kapitel über Verhaltenslenkung ohne Normen einfügen müssen.
4. Dass die Autoren solche Verhaltenslenkung als »Liberalen Paternalismus« rechtfertigen.

Ähnliche Themen

Rechtssoziologisches zum Urheberrecht?

Das Google-Buch-Projekt, Open-Access-Bewegung und Heidelberger Appell haben die Diskussion um das Urheberrecht auf Hochtouren gebracht. Die FAZ druckt fast täglich einen oder oft sogar mehrere einschlägige Artikel. Ich war eingeladen, in Bayreuth einen rechtssoziologischen Vortrag über »Wissenschaft und Proprietarisierung« zu halten, habe aber die Einladung nicht angenommen, weil mir dazu nichts Handfestes einfiel. In den gängigen Lehrbüchern kommen »Urheberrecht«, »Copyright« oder »Intellectual Property« als Stichworte nicht vor. Die Encyclopedia of Law & Society (2007) enthält zwei dürftige Artikel über »Economics of Intellectual Property« und »Sociology of Intellectual Property«. Es gibt allerhand zur ökonomischen Analyse des Urheberrechts, und an allgemeinen Stellungnahmen zum Thema mangelt es nicht. Ein Quelle solcher Stellungnahmen ist z. B. das Online-Magazin Telepolis des Heise-Verlags, das sich als »deutschsprachiges Mekka für Digital Cultural Studies« vorstellt. Im Raum steht die Frage, ob das Konzept der individuellen Urheberschaft gegenüber dem Phänomen der Schwarmintelligenz bestehen kann. Konkreter ist die Frage, ob sich Urheberrechte angesichts der technischen Möglichkeiten ihrer Verletzung überhaupt noch schützen lassen. Ohne einschlägige Empirie [1]Das Institut für Strategieentwicklung (IFSE) an der Universität Witten/ Herdecke hat unter http://www.ifse.de/digimen/ eine Umfrage zur digitalen Mentalität der Nutzer im Internet gestartet. … Continue reading – die ihrerseits ein Minimum an Theorie voraussetzt – bleibt nicht viel mehr als Spekulation. Doch keine Frage: Das Thema muss für die Rechtssoziologie aufbereitet werden. Ganz ähnlich wie bei der Frage des Downloads und Kopierens von Musik und Filmen entwickelt sich auch bei der Benutzung von fremden Texten anscheinend ein anderes Rechtsbewusstsein. Man muss das nicht gutheißen, aber doch erst einmal zur Kenntnis nehmen (und die Dimensionen empirisch erforschen).
Auslöser für diesen Beitrag war der Artikel »Na klar stimmt das, ich hab’s aus dem Netz!« von Stefan Weber in der FAZ Nr. 104 vom 6. 5. 2009 S. N3. Nach dem Untertitel berichtet Weber darin über »Empirische Befunde zur Veränderung von Schreiben und Lesen durch das Internet«. Die Befunde entnimmt er seinem Buch »Das Google-Copy-Paste-Syndrom«, das 2009 in 2. Aufl. im Heise-Verlag erschienen ist. [2]Ein Probekapitel [http://www.dpunkt.de/leseproben/3-936931-37-2/Kapitel_2.pdf] findet unter man im Netz.
Eigentlich wollte ich Webers Buch nur einmal durchblättern. Aber dann hat es den Legal McLuhanite in mir doch so gepackt, dass ich es ganz gelesen habe, vielleicht nicht so gründlich und tiefgehend, wie es sich der Autor wünscht, aber immerhin. Webers Analyse des Lese- und Schreibverhaltens unter dem Einfluss der elektronischen Medien ist verdienstvoll, und die Sottisen gegen den kulturwissenschaftlichen Konstruktivismus erfreuen das Herz. Aber dann regt sich doch auch Widerspruch, weil Webers Beobachtungen mir zu sehr durch einen moralistischen Standpunkt eingeschränkt zu sein scheinen.
Bei der Lektüre des Buches stellt sich heraus, dass Weber keine eigenen systematisch erhobenen empirischen Befunde beibringt, sondern sich als Plag-Hunter betätigt. Auf S. 80 bis 83 zeigt er eine stattliche Sammlung von 67 Jagdtrophäen vor. Besonders stolz ist er auf jene, die er im eigenen Garten geschossen hat. Im Übrigen beruft er sich auf einige Umfragen vor allem aus den USA und England, die das Dunkelfeld des Plagiarismus aufhellen sollen. Sein Buch wird heute im Internet vielfach für die Behauptung zitiert, dass 30 % aller studentischen Arbeiten Plagiate seien. Eine Zunahme des Plagiarismus durch die elektronischen Medien ist wahrscheinlich. Mangels Vergleichsbasis gibt es dafür allerdings keinen Beleg.
Wer hätte bezweifelt, dass die elektronische Verfügbarkeit von Texten zu mehr oder weniger allen Themen und die technischen Möglichkeiten von copy and paste das Schreiben und Lesen verändern? Für Weber ist die Entwicklung Anlass zu larmoyanter Kulturkritik und zu einem Ausfall gegen die Open-Access-Bewegung. Aber kann man sich nicht auch darüber freuen, dass heute viel mehr junge Menschen, die vermutlich keinen Zugang zu Büchern gefunden hätten, nicht nur lesen und schreiben können, sondern auch selbst Texte produzieren, ganz gleich welcher Qualität? Man kann das als »Textkultur ohne Hirn« denunzieren. Ich finde Wikiprudenz besser als keine. Ein Problem, das Weber nicht verschweigt, aber eher kleinredet, besteht in der Art der Aufgaben, die für Qualifikationsarbeiten gestellt werden (S. 107). Sie lassen sich bei gegebenem Ausbildungsstand, verfügbaren Mitteln und im vorgesehenen Zeitrahmen nicht in einer Weise bearbeiten, die herkömmlichen wissenschaftlichen Standards entspricht. Nicht ohne Grund sind die Hausarbeiten in den juristischen Examina weitgehend durch Klausuren ersetzt worden. Eine angemessene Aufgabe wäre vielleicht heute die Erstellung einer schlüssigen Kompilation zu vorgegebenen Themen (natürlich mit Quellenangaben).
Das Buch beginnt mit einer Breitseite gegen den »Mainstream der Medienwissenschaft«. Im Zentrum der Kritik steht »die notorische Zurückweisung aller Verdummungsthesen«. Da folge ich doch lieber dem Mainstream, denn Webers eigene Verdummungsthese (»Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion«) überzeugt mich gar nicht. Es mag ja sein, dass unzählige Computernutzer lieber spielen, als interaktive Lernprogramme nutzen, dass sie sich von Emails ablenken lassen und dass sie mehr oder weniger hemmungslos plagiieren. Die Frage ist aber wiederum die nach der Vergleichsbasis. Was würden eben diese Menschen tun, wenn sie nicht am PC säßen und keinen Zugang zum Netz hätten? Entscheidend ist doch, dass die schmale Schicht der kritisch intelligenten Intensivleser und Produzenten von Qualitätstexten durch die Digitalisierung wohl eher gewachsen als geschmolzen ist.
Weber zählt S. 105 ff. 18 Ursachen für die Zunahme des Copy-Paste-Plagiarismus auf. Für den Legal-MacLuhanite sind besonders diejenigen Ursachen von Interesse, die auf die Qualitäten der neuen Medien zurückzuführen sind. Dabei ist zwischen Ursachen erster und zweiter Ordnung zuunterscheiden, nämlich zwischen den technischen Möglichkeiten der digitalen Medien und den kognitiven und sozialen Konsequenzen ihrer Verwendung. Das technische Angebot von Copy und Paste ist in Webers 18er-Liste noch gar nicht enthalten, sondern durchzieht das ganze Buch. Nicht besonders gewürdigt werden die Qualitäten und Konsequenzen des Grafikbildschirms, die außerordentlichen Recherchemöglichkeiten und die Technik des Hyperlinks. Bei der Schnipselkultur, die Weber aufspießt, geht es um Copy-und-Paste-Schnipsel. Mindestens ebenso wichtig ist aber doch die Fixierung der »Generation Windows« auf das Bildschirmformat (und künftig vielleicht auf das Handydisplay). Der Grafikbildschirm bringt darüber hinaus Layout und Bilder. Beides ist so wichtig geworden, dass Webers Konzentration auf den (Fließ-)Text unbefriedigend erscheint. Aber das ist immer so, wenn man ein interessantes Buch liest. Dann möchte man vom Autor noch mehr.
In einem besonderen Abschnitt befasst Weber sich mit der Problematik freier Lizenzen. In der Tat: Die GNU-Lizenz für freie Dokumentation dürfte geradezu kontraproduktiv wirken. Bekanntlich erlaubt sie jedermann die Vervielfältigung, Verbreitung oder Veränderung des Werkes mit der Maßgabe, dass der ursprüngliche Autor genannt wird und ein neu entstandenes Werk mit der gleichen Lizenz weitergegeben wird. Es anzunehmen, dass viele nur den einen Teil, nämlich die freie Verwendbarkeit, zur Kenntnis nehmen, und die daran geknüpften Bedingungen für technischen Formelkram halten. Wikimedia Commons ist vielleicht sogar bewusstseinsprägend, so dass aus Open Access Common Use wird. [3]Eine einschlägige Studie, die nicht nur im Zusammenhang mit dem Urheberrecht, sondern auch im Hinblick auf transnationale Organisationen und Bewegungen interessant ist, stammt von Leonhard Dobusch … Continue reading Und noch eine Kleinigkeit: Bevor ich Webers Buch zur Hand nahm, habe ich natürlich auch nach Rezensionen gegugelt. Da habe ich eine von Stefan Anderssohn gefunden, die sowohl hinsichtlich des Inhaltsreferats als auch hinsichtlich der Bewertung hilfreich war und die ich vielleicht gerne zitiert hätte. Aber als ich dann am Ende den Zitiervorschlag des Autors las, habe ich lieber darauf verzichtet.

Stefan Anderssohn. Rezension vom 27.03.2007 zu: Stefan Weber: Das Google-Copy-Paste-Syndrom. Wie Netzplagiate Ausbildung und Wissen gefährden. dpunkt.verlag (Heidelberg) 2007. 166 Seiten. ISBN 978-3-936931-37-2 Pick It! . In: socialnet Rezensionen unter http://www.socialnet.de/rezensionen/4723.php, Datum des Zugriffs 26.06.2009.

Im Internet gelten andere Zitierregeln als im Manuskript oder Druck. Man zitiert nicht durch bibliographische Angaben, sondern mit einem Link. Ich kann mir gut vorstellen, dass junge Leute, die mit dem Internet aufgewachsen sind, wenn sie denn auf Papier schreiben müssen, auf dem sich kein Link anbringen lässt, schlicht auf den Verweis verzichten.
Es ist ja völlig richtig, dass Plagiate indiskutabel sind. Und ebenso kann man Weber nur zustimmen, wenn er immer wieder betont, dass es mit der bloßen Lektüre eines Textes nicht getan sei, sondern dass eine »verlangsamte, konzentrierte, reflektierte und kritische« Lektüre von Printmedien (S. 128) notwendig sei. Aber die Kapazität von Webers Idealleser ist schnell erschöpft. Bei der unerschöpflichen Menge möglicherweise relevanter Texte muss es erlaubt sein, die Masse der Texte oberflächlich zu »scannen«, um einige wenige herauszufischen, deren intensive Lektüre lohnt. Es ist ja nicht zu übersehen, dass auch die Mehrzahl der als wissenschaftlich deklarierten Texte kaum lesenswert ist, und dass selbst Texte, die einen interessanten Kern enthalten, regelmäßig mit überflüssigen Einleitungen und Lobpreisungen eigener Taten daherkommen.
Und weiter: Was ist eigentlich ein Plagiat? Und warum sind »Plagiate« schlecht? Hier muss man erheblich differenzieren. S. 45 ff. entwickelt Weber daher eine Plagiatstypologie. Er unterscheidet zwischen dem Totalplagiat, dem Teilplagiat, der Collage (»Shake & Paste-Plagiat«), Strukturplagiat und Ideenplagiat), um diese Formen dann je nach der verwendeten Technik (Online, Offline, Übersetzung) in einer – nicht ganz ausgefüllten – 25-Felder-Tafel zu variieren. Darin gewinnen die eindeutig verpönten Formen der Übernahme ein Übergewicht. Man kann die Differenzierung jedoch erheblich weiterführen, und gelangt dann zu »Plagiats«-Typen die nicht nur allgemein üblich, sondern auch akzeptabel oder gar unverzichtbar sind. Hier einige der von mir praktizierten Formen des Plagiats:
Datenübernahme: Wenn ich einen wichtigen Autor erwähne, schreibe ich oft in Klammern die Lebensdaten hinter den Namen. Selten oder nie habe ich Geburts- oder Sterbeurkunde eingesehen. Die Daten übernehme ich aus einem Nachschlagewerk, heute oft aus Wikipedia, ohne diese Quelle zu zitieren. Ähnliches gilt für Anführung historischer Ereignisse.
Quellenübernahme: Viele Texte, die ich lese, finde ich weniger wegen ihres Inhalts interessant als wegen ihrer Quellen. Insbesondere bei neuen Zeitschriftenaufsätzen, Dissertationen und Habilitationsschriften »scanne« ich Fußnoten und Literaturverzeichnis, um zu sehen, was mir bisher entgangen ist, und oft werde ich dabei fündig. So bin ich gerade erst durch einen Aufsatz von Hoffmann-Riem auf das Buch von Fabian Wittreck über »Die Verwaltung der Dritten Gewalt« aufmerksam geworden, das mir nicht hätte entgehen dürfen. Wenn ich dieses Buch jetzt gleich in einer Arbeit über »Ökonomisierung der Justiz und richterliche Unabhängigkeit« anführe, den ich in diesen Tagen abliefern soll, denke ich nicht daran, auf meine Quellen-Quelle hinzuweisen.
Zitatübernahme: Nicht ganz selten stößt man in fremden Arbeiten auf wörtliche Zitate, die man selbst nicht gefunden hätte, die man aber gerne übernehmen möchte, weil sie die Dinge »auf den Punkt« bringen. Ein solches Zitat hat mich veranlasst, in die »Allgemeine Rechtslehre« einen Exkurs über den Begriff der Freiheit einzufügen (§ 17 IV, S. 146-150). In einer Zeitungsglosse hatte ich die wunderbare Formulierung von Helvétius gelesen, dass es doch lächerlich sei, sich über Unfreiheit zu beklagen, weil man nicht fliegen könne wie ein Adler. Ich habe das Zitat zwar verifiziert. Aber bei seiner Verwendung gebe ich nicht an, wie ich darauf gekommen bin. (Den Zeitungsausschnitt habe ich längst weggeworfen.)
Nachrichtenübernahme: Neuigkeiten erfährt man in der Regel nicht aus eigenem Erleben, sondern man ist dazu auf Medien angewiesen. Die FAZ ist eine wunderbare Quelle solcher Nachrichten. Wenn sich solche Nachrichten nachprüfen lassen, habe ich keine Hemmungen, sie zu verwenden, ohne anzugeben, wie ich darauf aufmerksam geworden bin. Hier ein Beispiel. Ein anderes Beispiel: Kürzlich stellte NJW-aktuell als »Urteil der Woche« ein neues Urteil des OLG Naumburg vor, das sich mit dem pikanten Sachverhalt befasste, dass Rechtsanwälte einen Aufsatz in einer Fachzeitschrift als bezahlte Auftragsarbeit veröffentlicht haben. Ich habe das Urteil sofort in ein Manuskript eingebaut, ohne die »Quelle« zu nennen.
Entsprechendes gilt nicht nur für Neuigkeiten, sondern auch für Trivialitäten. Nicht jeder ist Meister im Trivial Pursuit. Trifft man also in fremden Texten auf Inhalte, die sich als Trivia entpuppen, so darf man sie ohne Quellenangabe verwenden.
Begriffsübernahme: Bloße Vokabeln kann man nicht plagiieren. Prägnante Begriffsbildungen sollte man dagegen nicht ohne Nachweis ihrer Erfinder verwenden. Aber das gilt doch nur solange, bis sie zur Vokabel geworden sind. So darf man vom kategorischen Imperativ reden, ohne Kant zu zitieren, oder sich über Diskurse auslassen, ohne Foucault oder Habermas (ja, wen denn nun?) anzuführen oder vom Paradigma, ohne Kuhn die Ehre zu geben. Erfolgreiche Begriffe sind nach etwa 30 Jahren gemeinfrei (behaupte ich).
Formulierungshilfe: Darf man sprachliche Formulierungen übernehmen, wenn man sie mit anderen Inhalten füllt? Weber bietet zwei Beispiele (S. 45 und 61) und sagt nein. Ich wäre da großzügiger. In der Schule wurde nach meiner Erinnerung empfohlen, wir sollten von den großen Dichtern lernen.
Warum sind Plagiate schlecht? Ob sie unfunktional sind, ob sie nach gesellschaftlichen Standards zu verurteilen oder gar rechtlich verboten sind und schließlich, ob sie auch einen moralischen Makel tragen, hängt wohl vom Beobachterstandpunkt ab. Deshalb ist es wichtig und richtig, dass Weber von »mindestens vier sozialen Systemen« spricht, die betroffen sind, dem Ausbildungs- oder Erziehungssystem, der Kunst, der Wissenschaft und dem Journalismus (S. 101). Doch letztlich nutzt er diese Unterscheidung nicht wirklich zu einer differenzierten Beurteilung des Plagiarismus.
Eine Labeling-Theorie des Plagiats könnte die Relativität des Plagiatsbegriffs aufzeigen. Es macht sicher einen Unterschied, ob das Plagiat als Verstoß gegen das Urheberrecht angeprangert wird oder ob es um wissenschaftliches Fehlverhalten geht oder ob sich Kandidaten in Qualifikationsarbeiten damit einen ungerechtfertigten Vorsprung verschaffen. Anscheinend hat ein relativ neues Buch von Richard A. Posner eine Antwort auf solche Fragen: The Little Book of Plagiarism, New York, Pantheon, 2007. Ich muss es mir erst beschaffen. Bis dahin verweise ich auf einen Eintrag im Becker-Posner-Blog.
Noch einmal zu Webers Artikel »Na klar stimmt das, ich hab’s aus dem Netz!«. Darauf würde ich gerne mit einer Konvergenztheorie antworten. Aber nicht heute.
Nachtrag vom 14. 4. 2010: Zum Thema jetzt: Volker Rieble, Das Wissenschaftsplagiat. Vom Versagen eines Systems. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2010. 120 S., br., 14,80 €, rezensiert von Milos Vec in der FAZ vom 14. 4. 2010.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Das Institut für Strategieentwicklung (IFSE) an der Universität Witten/ Herdecke hat unter http://www.ifse.de/digimen/ eine Umfrage zur digitalen Mentalität der Nutzer im Internet gestartet. Themen sind das Urheberrecht, Geschäftsmodelle sowie Fragen nach einer Gratiskultur und dem Rechtsbewusstsein. Ziel der Umfrage ist eine Identifikation von Nutzertypen. Die Ergebnisse sollen später auf der genannten Webseite zur Verfügung stehen.
2 Ein Probekapitel [http://www.dpunkt.de/leseproben/3-936931-37-2/Kapitel_2.pdf] findet unter man im Netz.
3 Eine einschlägige Studie, die nicht nur im Zusammenhang mit dem Urheberrecht, sondern auch im Hinblick auf transnationale Organisationen und Bewegungen interessant ist, stammt von Leonhard Dobusch und Sigrid Quack: Epistemic Communities and Social Movements. Transnational Dynamics in the Case of Creative Commons, MPIfG Discussion Paper 08 / 8, im Internet unter http://www.mpifg.de/pu/mpifg_dp/dp08-8.pdf.

Ähnliche Themen

Bertelsmann-Stiftung: Die Kavallerie der Ökonomisierung

Auf einem Symposium Justizlehre, das am 19. und 20. März 2009 in Dresden stattfand, musste ich einen Vortrag über »Ökonomisierung der Justiz und richterliche Unabhängigkeit« halten, und jetzt bin ich aus einem konkreten anderen Anlass damit beschäftigt, den Spuren des Neuen Steuerungsmodells in der Justiz nachzugehen. Ich habe ja schon früher einiges zum Thema veröffentlicht. Aber mir war bisher entgangen, welche eminente Rolle die Bertelsmann-Stiftung bei der Verbreitung des Neuen Steuerungsmodells in allen Zweigen der deutschen Verwaltung, die unmittelbar mit dem Publikum in Berührung kommen, gespielt hat. Nur die Justiz wurde ausgespart. Kommunen, Schule, Hochschule, Krankenhäuser – alle sind sie in den letzten Jahren in Richtung auf ein betriebswirtschaftlich orientiertes Management umgemodelt worden, und überall war die Stiftung der Antreiber. Die Stiftung hat sich um die Reform der Betriebsverfassung und der betrieblichen Mitbestimmung gekümmert [1]Andreas Bachmann, Bertelsmann Stiftung und Arbeitsrecht, in: Jens Wernicke/Torsten Bultmann (Hg.), Netzwerk der Macht – Bertelsmann, 2. Aufl., 2007, 313-324. auch den Entwurf eines Arbeitsvertragsgesetzes durch die Professoren Henssler und Preis gefördert. Dazu unterhält sie ein Forum Arbeitsvertragsgesetz. Kritiker sind der Meinung, dass damit das Arbeitsrecht im Sinne einer Entsolidarisierung und Vereinzelung der Arbeitnehmer gelenkt werden solle.
In den letzten Jahren ist die Stiftung dazu übergegangen, die Welt in eine Rangordnung zu bringen: Hochschulranking, Forschungsranking, Exzellenz-Ranking (europäischer Graduierten-Programme), CHE-/dapm-Employability-Rating (Bachelor-Studiengänge. Und nun ordnet die Stiftung mit dem »Bertelsmann Transformation Index« den Globus als mehr oder weniger demokratisch. [2]Alexander Wagner, Der Bertelsmann Transformation Index: Kapitalistische Marktwirtschaft als Projekt?, in: Jens Wernicke/Torsten Bultmann (Hg.), Netzwerk der Macht – Bertelsmann (wie Fn. 1), … Continue reading Dazu passt ein Aufsatz von Christoph A. Kern, der soeben in der Juristenzeitung erschienen ist. [3]Die Doing-Business-Reports der Weltbank – fragwürdige
Quantifizierung rechtlicher Qualität?, JZ 2009, 498-504
Er befasst sich mit den Doing-Business-Reports, die die Rechtssysteme nahezu aller Länder unter dem Aspekt der »Wirtschaftsfreundlichkeit« vergleichen. Die Reports sagen von sich selbst, dass sie Regulierungen erforschen, die die Wirtschaft fördern oder einschränken. Kern will das Thema aus juristischer Sicht beleuchten. Bis er dahin kommt, bietet er einen spannenden Einblick in den von der Weltbank praktizierten rechtssoziologischen Ansatz eines »numerical comparative law«.
Zurück zu Bertelsmann (Auf den Bertelsmann- Transformations-Index geht Kern nicht ein). Kein Wunder, dass sich (in Bremen) ein Anti-Bertelsmann-Forum etabliert hat. Die politische Orientierung links von SPD und Gewerkschaften ist mit den Händen zu greifen. Auch Attac ist mit von der Partie. Zwei längere Papiere sind im Netz verfügbar:
»Gruppe du bist Bertelsmann«, Broschüre gegen Ökonomisierung und Bertelsmann
Susanne Schiller, Untersuchung der politischen und gesellschaftlichen Einflussnahme der Bertelsmann Stiftung auf die Reformen im öffentlichen Bereich, Bremer Diplomarbeit für den Studiengang Sozialpädagogik, 2007.
Sie sind extrem kritisch, ja polemisch und unsachlich geschrieben. Früher war der »industriell-militärische Komplex« das Ziel der Kritik. Jetzt ist es der »medial-politische Komplex« aus Gütersloh. Dennoch habe ich sie mit Interesse gelesen. Seriöser ist die Kritik an den Aktivitäten der Bertelsmann-Stiftung in dem in Fußnote 1 angeführten Sammelband von Wernicke und Bultmann. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass mit der Stiftung wohl tatsächlich ein politikexterner Akteur massiv und erfolgreich Politik betreibt.
Rechtssoziologisch ist das Phänomen Bertelsmann-Stiftung doppelt interessant. Vordergründig interessiert, dass hier eine private Einrichtung, die frei ist von Finanzierungssorgen, in großem Umfang treibt, was in den 70er Jahren als Aktionsforschung geläufig war und, weil sie meistens politisch eher »fortschrittlich« orientiert war, eher kritisch gesehen wurde. Und natürlich ist auch das Geld zur Verfügung, um bei Bedarf Meinungsforschungsinstitute mit Umfragen zu beauftragen. Beispiel:
Umfrage von TNS Emnid im Auftrag der Bertelsmann Stiftung zum neuen Unterhaltsrecht.
Interessanter ist aber noch die Frage, ob und wie hier Politik und in der Folge das Recht von privater Seite gelenkt werden.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Andreas Bachmann, Bertelsmann Stiftung und Arbeitsrecht, in: Jens Wernicke/Torsten Bultmann (Hg.), Netzwerk der Macht – Bertelsmann, 2. Aufl., 2007, 313-324.
2 Alexander Wagner, Der Bertelsmann Transformation Index: Kapitalistische Marktwirtschaft als Projekt?, in: Jens Wernicke/Torsten Bultmann (Hg.), Netzwerk der Macht – Bertelsmann (wie Fn. 1), 463-475.
3 Die Doing-Business-Reports der Weltbank – fragwürdige
Quantifizierung rechtlicher Qualität?, JZ 2009, 498-504

Ähnliche Themen

Nachtrag zu »Citizen by Proxy – Entwicklungstendenzen der rechtlichen Stellvertretung«

Das Posting vom 10. Mai »Kreissl zur soziologischen Zeitdiagnose« trägt eine irreführende Überschrift. Es geht eigentlich um Tendenzen der Entwicklung von fürsorgender oder treuhänderischer Stellvertretung. Deshalb hier unter neuer Überschrift ein Hinweis, den ich sonst als Nachtrag an das alte Posting angehängt hätte: In der Politischen Vierteljahresschrift 50, 2009, 50-74, haben Achim Goerres und Guido Tiemann den Artikel »Kinder an die Macht? Die politischen Konsequenzen des stellvertretenden Elternwahlrechts« veröffentlicht. Sie zeigen auf, dass Eltern und Nichteltern (kaum) unterschiedliche Parteipräferenzen haben und simulieren die Auswirkung einer Reform, die nur gering wäre. Das gehört jedenfalls am Rande zum Thema. Der Aufsatz ist unter http://www.mpifg.de/pu/mpifg_ja/PVS_1-09_Goerres_Tiemann.pdf als MPlfG Journal Article verfügbar.

Ähnliche Themen

Time Magazine zur Nominierung von Sonia Sotomayor für den US Supreme Court

In der Ausgabe von des Time Magazine vom 8. Juni 2009 finden sich zwei interessante Artikel zur Nominierung von Sonia Sotomayor für den US Supreme Court. Der erste, »A Justice Like No Other« befasst sich mit dem Werdegang von Frau Sotomayor. Leider finde ich in der Online-Ausgabe die schönen Infografiken zur Person und zum Abstimmungsverhalten der bisherigen Richter nicht, dafür aber einen Hinweis auf den Supreme Court Of The United States Blog (scotusblog.com), den sehr offiziell aussehenden Blog einer Law Firm über das Gericht, der auch Statistiken über das Abstimmungsverhalten anbietet. Ein zweiter Artikel befasst sich mir »Four Myths About The Supreme Court«. Dabei geht es um die folgenden vier »Gerüchte«:
1. Richter enttäuschen oft die Erwartungen des Präsidenten, der sie nominiert hat.
2. Die einflussreichsten Richter sind die, sich erfolgreich um Konsens bemühen.
3. Richter sind unpolitische Schiedsrichter.
4. Neue Richter machen keinen Unterschied.

Nachtrag vom 18. 12. 2009: Ein Buch über den US Supreme Court erscheint in der NJW-Liste der Bücher des Jahres (NJW 2009, 3630): Jeffrey Tobin, The Nine: Inside the Secret World of the Supreme Court, Anchor Books, 2008.

Ähnliche Themen