Woran erkennt Bourdieu männliche Herrschaft?

Der Text dieses Eintrags ist nunmehr zu einem Buchkapitel geworden in:

Klaus F. Röhl, Männliche Herrschaft als symbolischer Kapitalismus.

Eine Kritik an Pierre Bourdieus Konzept der männlichen Herrschaft,

Lit Verlag Münster, 2020.

Ich bitte um Verständnis, dass ich den Text mit Rücksicht auf den Verlagsvertrag gelöscht habe.

Nachtrag: Das Buch ist jetzt im Open Access zugänglich. Der Link befindet sich auf der Verlagsseite etwas verteckt im Klappentext oder hier: https://www.lit-verlag.de/media/pdf/be/5a/03/9783643145673.pdf.

 

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Warum befolgen wir Recht? Eindrücke von einer Tagung in Heidelberg

Am 26. und 27. März gab es in Heidelberg eine Tagung unter der Überschrift »Warum befolgen wir Recht? Rechtsverbindlichkeit und Rechtsbefolgung in interdisziplinärer Perspektive«.[1] Sie wurde ausgerichtet von zwei Heidelberger Habilitanden, Patrick Hilbert und Jochen Rauber. Die Veranstalter hielten sich mit ihren eigenen Arbeiten und Themen dezent im Hintergrund und sorgten mit einer sachlichen Einleitung, am Ende mit einer gekonnten Zusammenfassung und mit perfekter Organisation für gutes Gelingen. Auch die etwa 35 geladenen Teilnehmer waren überwiegend Habilitanden aus juristischen Fakultäten. Unter ihnen war neben dem offiziellen Programm Netzwerkpflege angesagt.

Den Eröffnungsvortrag hielt Doris Lucke aus Bonn. »Wirkungsforschung ist überall«, konstatierte sie ganz am Anfang. Aber die Tagung über Gesetzesevaluation und Wirkungsforschung, die fast genau ein Jahr früher am Wissenschaftszentrum in Berlin stattgefunden hatte, war und blieb in Heidelberg ebenso unbekannt wie das einschlägige Buch von Lawrence M. Friedman, Impact. How Law Affects Behavior von 2016. Frau Lucke machte gar nicht erst den Versuch, einen Überblick über die rechtssoziologische Forschung zur Befolgung von Recht zu geben, sondern öffnete elegant und interessant den Blick auf Fragestellungen, die sich angesichts von Ökonomisierung, Digitalisierung und Cyborgisierung auftun. Ihr kritischer Ansatz gegenüber dem »Humanozentrismus« und der »mechanisch-kausalen Denkwelt« der Wirkungsforschung wurde jedoch in den (immer lebhaften) Diskussionen nicht aufgenommen.

Der Obertitel der Tagung erinnert an Tom R. Tylers »Why People Obey the Law«. Tylers Name wurde in der Diskussion einmal beiläufig von Katharina Gangl erwähnt. In ihrem Vortrag über »Die Psychologie der Steuerehrlichkeit« ging sie auf die Motivation der Steuerbürger ein. Der Schwerpunkt des Referats lag bei möglichen Maßnahmen zur Beförderung der Steuerwilligkeit auf der von der von der OECD ausgegebenen Linie Managing and Improving Tax Compliance.

Danach verengte sich die Frage nach der Befolgung von Recht weiter auf ökonomische und/oder verhaltenswissenschaftliche Aspekte der Rechtsbefolgung. Nachdem Johannes Paha die ökonomische Perspektive sehr »rationalistisch« dargestellt hatte, wurde Anne van Aakens Vortrag über die »Befolgung des Völkerrechts« beinahe zur Gegendarstellung. Im Vergleich zu ihrem einschlägigen Aufsatz von 2013[2] betonte sie die Bedeutung der Verhaltensökonomik auch für das Völkerrecht und kündigte im Rahmen ihrer Humboldt-Professur in Hamburg »die Rechtstheorie ins Labor« zu bringen. Das Problem sah van Aaken in der Übertragbarkeit der an Individuen gewonnenen Einsichten auf Staaten als Akteure. Mit diesem Problem setzte sich das Paper von Cornelia Frank über den »unzulässigen oder gebotenen Anthropomorphismus« bei der Erklärung staatlichen Rechtsverhaltens auseinander, das aber nicht vorgetragen und diskutiert wurde, weil Frau Frank nicht anwesend war.

Am Ende nahm Johanna Wolff den verhaltenswissenschaftlichen Faden auf der Individualebene noch einmal auf, u. a. um zu erklären, dass es bei den heute so populären »nudges« nicht um die Förderung der Rechtsbefolgung gehe, sondern um paternalistische Fürsorge.[3] So ganz konnte ich ihr bei dieser Entgegensetzung nicht folgen, umso mehr allerdings bei ihrer Absicht, die verhaltenswissenschaftlich informierten Instrumente der Rechtspolitik zu typisieren und sie den verfolgten Zwecken gegenüberzustellen, um so zu einer Beurteilung der rechtlichen Zulässigkeit zu gelangen. In der Tat, »Nudging« ist inzwischen eher überstrapaziert.[4] Das Thema ist viel größer. Das zeigt der OECD-Band Behavioural Insights and Public Policy, 2017, auf den Wolff hinwies. (Der Band zeigt außerdem die große Bedeutung der OECD für Politikberatung und Rechtswirkungsforschung. Die OECD übernimmt international mehr und mehr die Rolle, die im nationalen Kontext die Bertelsmann-Stiftung usurpiert hat. Die Agenda dieser Institutionen wäre einmal eine eigene Tagung wert.)

Überrascht war ich von der von Jan Henrik Klement vorgetragenen These, eine wirksamkeitsorientierte Auslegung gehöre nicht in den Methodenkasten der Dogmatik, eine Auslegungsmodalität dürfe nicht verworfen werden, weil die Adressaten ihr nicht folgten. Immerhin hatte Eberhard Schmidt-Aßmann (zusammen mit Hoffmann-Riem) eine Neue Verwaltungsrechtswissenschaft konzipiert, die nach meiner Erinnerung durchaus auch auf »Wirkungs- und Folgenorientierung« abstellt[5]. Diese Heidelberger Erfindung kam überhaupt nicht zur Sprache. Ist es Zufall, dass sich Schüler des Schmidt-Aßmann-Nachfolgers zunächst von der »Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft« distanzieren[6] und sie dann ignorieren?

Andreas Funke unternahm den erfolgreichen »Versuch über die Möglichkeit, Rechtsbefolgung als Ausdruck personaler Autonomie zu denken«. Dazu stellte er dem »Gehorsamsmodell« des Rechts »Rechtfertigungsmodelle« gegenüber. Allein die Verbindung zwischen einer normativen Legitimation qua Rechtfertigung und der faktischen Rechtsbefolgung war nicht ohne weiteres ersichtlich. Zwei Stichworte, mit denen man die Verbindung vielleicht hätte herstellen können (mindset und Selbstanwendung) wurden nicht weiter ausgeführt. Mindset ist ja wohl ein psychologischer Begriff, und Selbstanwendung konnotiert mit Selbstmanagement und Selbstoptimierung.

Mich erinnerte die Entgegensetzung von Gehorsamsmodell und Rechtfertigungsmodell an eine alte Diskussion um imperatives und responsives Recht. Der Begriff des responsiven Rechts stammt von Nonet und Selznick, die damit eine evolutionäre Entwicklung des postmodernen Rechts kennzeichnen wollten. Teubner hat vor vielen Jahren das evolutionstheoretische Konzept des responsiven Rechts von Nonet und Selznick in ein rechtspolitisches umgelenkt. Danach ist responsives Recht eine »flexible, lernfähige Institution, … die sensibel reagiert auf soziale Bedürfnisse und menschliche Aspirationen.«[7] Responsivität könnte den Raum bezeichnen, den Funke den Normadressaten bei der Konkretisierung des Rechts zubilligen wollte. »Responsive Regulierung« bietet sich aber auch als Brückenbegriff für die verhaltensökonomischen Überlegungen an, die im Mittelpunkt der Heidelberger Tagung standen.[8] Solche Responsivität wird bisher vor allem für die Regulierung von Organisationen diskutiert. Dort ist der der Begriff seit 1992 durch den Band »Responsive Regulation« von Ian Ayres und John Braithwaite geläufig geworden.

Auf Peter Rinderles Vortrag über »Rechtsverbindlichkeit und -befolgung aus (rechts-)philosophischer Perspektive« hätte ich mich durch die Lektüre seines Buches über den »Zweifel des Anarchisten« vorbereiten sollen. Habe ich aber nicht. So dauerte es, bis ich seine Ausführungen in die Schublade »Positivismusdebatte« einordnen konnte. (Ich bin und bleibe ein Schubladendenker.) Zunächst hatte ich einige Schwierigkeiten mit der Ausgangsthese, dass es um eine politische und damit auch eine moralische Verpflichtung unabhängig vom moralischen Inhalt der Rechtsnorm gehen solle. Bekanntlich besagt die Trennungsthese des Rechtspositivismus, dass es kein notwendiges moralisches Kriterium für die Geltung des Rechts gibt. Sie lässt aber offen, ob ein solches Kriterium möglich ist. Um ein solches rechtsexternes Kriterium schien mir Rinderle bemüht, genauer, nicht um ein singuläres Kriterium, sondern um eine Kombination von Argumenten, die selbst für »philosophische Anarchisten« eine »moralische Pflicht zur Nicht-Intervention in legitime Staaten« begründen soll. Neu für mich der Begriff des multiprinzipiellen Etatismus.

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[1] Tagungsprogramm.

[2] Anne van Aaken, Die vielen Wege zur Effektuierung des Völkerrechts, Rechtswissenschaft 4, 2013, 227-262.

[3] Dazu schon Johanna Wolff, Eine Annäherung an das Nudge-Konzept nach Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein aus rechtswissenschaftlicher Sicht, Rechtswissenschaft 6, 2015, 195-223.

[4] Zuletzt etwa Franziska Weber/Hans-Bernd Schäfer, »Nudging«. Ein Spross der Verhal-tensökonomie. Überlegungen zum liberalen Paternalismus auf gesetzgeberischer Ebene, Der Staat 56, 2017, 561-592. In der Diskussion tauchte noch eine frische, von Klement betreute Dissertation zum Thema auf.

[5] So eine Überschrift bei Andreas Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle (Hg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts I, 2006, 1-61, S. 28.

[6] Klaus Ferdinand Gärditz, Die »Neue Verwaltungsrechtswissenschaft« — Alter Wein in neuen Schläuchen?, Die Verwaltung, Beiheft 12, 2017, 105-145.-

[7] Gunther Teubner, Reflexives Recht: Entwicklungsmodelle des Rechts in Vergleichender Perspektive, ARSP: Archiv für Rechts-und Sozialphilosophie, 1982, 13-59, S. 14.

[8] Vgl. dazu etwa den Band Kilian Bizer/Martin Führ/Christoph Hüttig (Hg.), Responsive Regulierung. Beiträge zur interdisziplinären Institutionenanalyse und Gesetzesfolgenabschätzung, 2002.

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Von der gesellschaftlichen Organisation der Zweigeschlechtlichkeit zur männlichen Herrschaft – führt bei Bourdieu kein Weg

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Bourdieus Diagnose männlicher Herrschaft bei den Kabylen als normativer Rückschaufehler

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Nachtrag vom 19. 12. 2023: Auf die Frage, wsas unter einem normativen Rückschaufehler zu verstehen sei, antowrtet ChatGPT, als ob es meine Texte gelesen hätte:

Der Begriff “normativer Rückschaufehler” bezieht sich auf die Tendenz von Menschen, vergangene Ereignisse oder Entscheidungen rückblickend auf der Grundlage aktueller Normen, Werte oder Kenntnisse zu beurteilen. Dieser Fehler tritt auf, wenn man vergangene Ereignisse mit dem Wissen und den Maßstäben von heute betrachtet und dann Annahmen darüber macht, dass die damaligen Akteure die gleichen Informationen und Einsichten hatten.

Im Wesentlichen begehen Menschen den normativen Rückschaufehler, indem sie die Vergangenheit durch die Brille des gegenwärtigen Wissens und der aktuellen sozialen Normen betrachten. Das führt oft dazu, dass man Entscheidungen oder Handlungen von früheren Zeiten als unvernünftig oder fehlerhaft beurteilt, obwohl die damaligen Akteure möglicherweise nicht über das gleiche Wissen oder die gleichen Ressourcen verfügten.

Es ist wichtig zu beachten, dass der normative Rückschaufehler ein kognitives Verzerrungsmuster ist und nicht die tatsächliche Perspektive der Menschen in der Vergangenheit widerspiegelt. Historiker, Psychologen und Sozialwissenschaftler berücksichtigen diesen Fehler oft, wenn sie versuchen, vergangene Ereignisse zu verstehen und zu interpretieren.

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Das Undenkbare denken: #Metoo in der Kabylei. Eine Kritik an Pierre Bourdieus Konzept der männlichen Herrschaft

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Methodologischer Soziologismus und Genetic Turn

Wandern an sich ist langweilig. Aber angenehme Gesellschaft und ein nicht alltäglicher Weg, auf dem es etwas zu erforschen gibt, lässt es zum Vergnügen werden. Ich bin den Freunden dankbar, die mich jedes Jahr im August wieder zu einer Wanderung antreiben. In diesem Jahr sind wir nach dem Motto »Warum in die Ferne schweifen …« auf dem Wupperweg an der Quelle in Börlinghausen gestartet, um zu erforschen, wie die Wipper zur Wupper wird.

Bis zum Einbruch des Dauerregens zeigte sich das Bergische Land von seiner besten Seite, viele Stunden mit Wäldern und Auen ohne den Blick auf Windräder, Freileitungen oder Gebäude. Und obwohl Ferienzeit und die Großstädte von Dortmund bis Köln in weniger als einer Autostunde zu erreichen sind, war sonst absolut niemand unterwegs. Warum die Wipper zur Wupper wird, ist mir nicht ganz klar geworden. An diesem gewaltigen Zufluss wird es nicht liegen.

Zu entdecken war stattdessen eine nachhaltige Moderne in Gestalt von 15 Stauseen, die sich an der Wupper aufreihen. Sie sehen aus, als wären sie immer schon dagewesen, und tatsächlich sind sie fast alle schon über 100 Jahre alt. Wer genauer hinsah, konnte an den Anfangs- oder Endpunkten der Etappen auch einige von Deutschlands Hidden Champions entdecken, versteckt nicht nur zwischen den Stars und Skandalnudeln der Weltwirtschaft, sondern eben auch im Tal der Wupper.

Wenn man gemeinsam durch Wälder und Auen läuft, spricht man über viel Wichtiges und Unwichtiges. Ein Thema sind natürlich auch Kinder und Enkelkinder. Und alsbald waren da Beobachtungen über die Ordnungsliebe der einen, die noch die Krümel vom Tischtuch fegen, und die Unordnung der anderen, die von Kleidung und Frisur einmal abgesehen, jedenfalls im häuslichen Bereich alles um sich fallen lassen. Erklärungsversuche scheiterten zunächst daran, dass gerade auch unter Geschwistern das Verhältnis zur Ordnung als extrem variabel beschrieben wurde. Bis dann jemand einwarf: Meine Freundin hat gesagt, dass ihre Freundin, die Psychiaterin, immer gesagt habe, der Ordnungssinn liege in den Genen. Da habe ich natürlich (?) protestiert. Im Anschluss an die abendliche Bierphilosophie habe ich mir dann aber die Frage gestellt, ob ich vielleicht soziologisch verbildet bin und unter methodologischem Soziologismus leide.

Es ist heute verpönt, Verhaltens- und Charaktereigenschaften auf Anlagefaktoren zurückzuführen. Eine solche Argumentation gilt als biologistisch und, sobald sie geschlechtsspezifisch wird, als sexistisch, und sie hat gerade einen Google-Mitarbeiter seinen Job gekostet. Aber auf der anderen Seite beobachte ich derzeit Anzeichen eines genetic turn. Google kennt ihn zwar noch nicht. Aber Indizien sind nicht zu übersehen.

Im Bielefelder ZIF hat im vergangenen Jahr eine Forschungsgruppe Genetische und soziale Ursachen von Lebenschancen ihre Arbeit abgeschlossen. In der Beschreibung heißt es

»Neuere Forschungen belegen, dass soziale Ungleichheiten, soziale Mobilität und soziale Integration ebenso substantiell genetisch beeinflusst sind wie Persönlichkeits- und Fähigkeitseigenschaften. Daher sollte auf die ›Tabula rasa‹-Metapher, die insbesondere die sozialwissenschaftliche Forschung noch weitgehend leitet, für die Erklärung von Lebenschancen verzichtet und die Berücksichtigung genetischer Einflüsse integriert werden.«

Die DFG fördert seit 2014 ein Langzeitvorhaben Twin Life, das mit großem Aufwand die altbekannte Zwillingsforschung fortsetzt.[1] Es handelt sich um »eine auf zwölf Jahre angelegte repräsentative verhaltensgenetische Studie zur Entwicklung von sozialer Ungleichheit«. Die beiden Projekte sind nicht ganz unabhängig voneinander, weil in beiden der Bielefelder Soziologie Martin Diewald im Mittelpunkt steht. Sie zeigen aber doch, dass Behavioral Genetics auch für Soziologen[2] wieder zu einem Thema geworden ist.

Dazu kommt die Neubewertung der Epigenetik. Nach der klassischen neo-darwinistischen Theorie ist für das Evolutionsgeschehen ausschließlich die genetisch bedingte Variabilität von Bedeutung. Von epigenetischer Vererbung hält sie wenig.[3] Das hat sich inzwischen wohl geändert. Epigenetische Vorgänge beruhen auf biochemischen Prozessen, die den Zellen das Ablesen von bestimmten Teilen des genetischen Codes ermöglichen oder verhindern. Diese Prozesse wiederum werden auch von Umwelteinwirkungen beeinflusst. Sie sind anscheinend teilweise vererblich. Die Vererblichkeit ist aber reversibel. Sie reicht nur über eine oder wenige Generationen. Während also Diekmann und Engelhardt 1995 über die »soziale« Vererbung des Scheidungsrisikos sprachen[4], darf man heute über eine epigenetische Vererbung des Scheidungsrisikos (oder der Ordnungsliebe) spekulieren.

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[1] Dazu etwa Espen Røysamb/Kristian Tambs, The Beauty, Logic and Limitations of Twin Studies, Norsk Epidemiologi 26, 2016, 35-46.

[2] Für Genetiker und Psychologen war es immer ein Thema; vgl. Robert Plomin/John C. DeFries/Valerie S. Knopik/Jenae M. Neiderhiser, Behavioral Genetics, 6. Aufl. 2013. dies., Top 10 Replicated Findings From Behavioral Genetics, Perspectives on Psychological Science 11, 2016, 3-23.

[3] Ulrich Kutschera, Evolutionsbiologie, 3. Aufl. 2008; S. 62.

[4] Andreas Diekmann/Henriette Engelhardt, Die soziale Vererbung des Scheidungsrisikos, Zeitschrift für Soziologie 24, 1995, 215-228.

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Stand und Perspektiven der Rechtswirkungsforschung in der Rechtssoziologie

Hier die (leicht ergänzte) Inhaltsübersicht zu meinem Vortrag auf der Veranstaltung im WZB:

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Recht hat (keine) Wirkung: Das negative Framing der Rechtswirkungsforschung

Hier folgen weitere Notizen zur »Wirkungsforschung in der Rechtssoziologie«, für die im Vortrag kein Raum ist.

Das Credo der klassischen Rechtssoziologie von Sumner bis Ehrlich lautete, das (staatliche) Recht sei nur ein Häutchen auf der Oberfläche der Gesellschaft.

Diese These von der notwendigen Ineffektivität (oder von der Marginalität) des Rechts geht auf den amerikanischen Soziologen William Graham Sumner (1840-1910) zurück. Er stellte in einer bahnbrechenden Untersuchung über soziale Normen (Folkways, 1906) die Behauptung auf, die Gesetzgebung habe nur wenig oder gar keinen Einfluss auf das Verhalten. Er bestritt zwar nicht, dass Gesetze eingehalten werden; sei dies der Fall, dann geschehe es aber deshalb, weil sie mit der bereits herrschenden Sitte übereinstimmten, möglicherweise sogar ihren Ursprung in ihr hätten oder zumindest von ihr getragen würden. Jedoch maß Sumner den Gesetzen wenig neugestaltende Kraft zu.

»Man hat vergeblich versucht, die neue Ordnung durch Gesetzgebungsakte zu kontrollieren. Das einzige Ergebnis war der Beweis, dass die Gesetzgebung keine neuen Sitten schaffen kann«.

Gewöhnlich zitiert man englisch: »Stateways cannot change folkways.«

Differenzierter war die Stellungnahme von Eugen Ehrlich (Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913, S. 302 ff). Er meinte, man werde sich an den Gedanken gewöhnen müssen, dass gewisse Dinge durch ein Gesetz überhaupt nicht bewirkt werden könnten, ferner, dass für die Folgen eines Gesetzes die Absicht seines Schöpfers ganz gleichgültig sei, und schließlich auch daran, dass für die Folgen eines Rechtssatzes nicht die Auslegung maßgebend sei, die die Juristen ihm gäben. Staatliche Befehle seien am wirksamsten, wenn sie bloß negativ seien, wenn sie die Menschen nicht zu einem Tun, sondern zu einem Unterlassen zwängen, wenn sie verbieten, bekämpfen, zerstören, ausrotten wollten. Das zeige sich besonders am Straf- und Polizeirecht. Dagegen müsse der Staat viel zaghafter vorgehen, wo er die Menschen zu einem positiven Tun veranlassen möchte.

In den seltenen Fällen, so Ehrlich,  in denen der Staat große positive Leistungen durchgesetzt habe, so vor allem in der Heeres- und Steuerverwaltung, da sei auf Grund vielhundertjähriger Erfahrung eine ganz besonders geschulte und geschickte Technik dafür entstanden. Wo staatliches Recht sonst noch positiv wirke, handele es sich wohl ausnahmslos um unmittelbaren Warenverkehr der Behörden mit der Bevölkerung oder um Fälle, in denen diese wenigstens einigermaßen einsehe, dass sie sich aus eigenem Interesse staatlichem Recht fügen müsse. Darauf beruhe zum größten Teil das Prozessrecht. Der bedeutendste neuere Erfolg des Staates sei die Sozialversicherung. Sein Unglück sei es, dass ihm alles, was er einrichte, zur Behörde werde. Selbst Anstalten für den Unterricht, Kunst, Wissenschaft und Wohlfahrt, selbst Schulen, Museen, Ausstellungen, Eisenbahnen, Tabakregie und Spitäler: Sie verlören dadurch nicht bloß die Fähigkeit, sich den wechselnden Bedürfnissen des Lebens anzupassen, sondern auch den Anhang in der Bevölkerung, der sie zum Werkzeug gesellschaftlichen Fortschritts machen könne.

Diese pessimistischen Äußerungen stammen noch aus der Zeit um die Wende zum 20. Jahrhundert. Sie atmen den Geist der historischen Rechtschule von Savigny und Puchta, von der Ehrlich deutlich beeinflusst war. Inzwischen hat nicht nur ein atemberaubender technischer und wirtschaftlicher Wandel stattgefunden. Auch das Recht hat sich in vieler Beziehung gewandelt. Das gilt zunächst für die allgemeine Einstellung gegenüber dem Recht, die zu einer instrumentalen geworden ist. Der Gedanke ist selbstverständlich, dass das Recht als Mittel zum Zweck sozialer Veränderungen dienen kann.

Geändert hat sich auch die Rechtstechnik. In Parlamenten und vor allem in Ministerien ist eine gewaltige Gesetzgebungsbürokratie entstanden und mit ihr ein nicht weniger imposanter Unterbau von Behörden, die die Durchführung neuer Gesetze einleiten, überwachen und sanktionieren können. Auch der Einfluss der Gerichte ist durch eine straffe Zentralisierung der Rechtsprechung, die in einer allgemein akzeptierten Verfassungsgerichtsbarkeit gipfelt, sowie durch eine perfektionierte Publikationstechnik gewachsen. Dadurch, dass gesellschaftliche Gruppen die Gerichte als Forum der Interessendurchsetzung entdeckt haben, ist die Durchsetzung des Rechts nicht länger Privatsache, sondern steht oft unter gesellschaftlicher Überwachung. Es hatte daher einiges für sich, wenn z. B. Wolfgang Friedmann 1959 geradezu das Gegenteil der alten Ineffektivitätshypothese behauptete:

»Die schöpferische und gestaltende Kraft des Rechts war nie stärker als in unserer hochindustrialisierten Gesellschaft.«[1]

Doch alsbald folgte noch einmal eine Gegenbewegung. Mit dem Abschluss der Ära Adenauer 1963 waren die nach dem Kriegsende dringenden Wirtschafts- und Sozialreformen zunächst abgeschlossen. Die Kriegsfolgen waren weitgehend beseitigt. Die Vertriebenen waren integriert, die Wohnungsnot hatte ihren Schrecken verloren. Das Wirtschaftswunder und Reformen des Arbeits- und Sozialrechts führten zu einer historisch beispiellosen Verbesserung der Situation der arbeitenden Bevölkerung. Zehn Jahre später redete man jedoch vom Staatsversagen. Die traditionellen demokratischen Formen schienen durch neue Formen des Protests und Widerstand aus der Zivilgesellschaft unterlaufen zu werden. Krisentheorien behaupteten die »Unregierbarkeit« westlicher Demokratien.[2] Die Krise des Wohlfahrtsstaats galt als ausgemacht. Soweit man diese Krisen nicht als zwangsläufige Folgen des Spätkapitalismus einordnete, wurden sie dem Steuerungsversagen des Staates zugeschrieben. Damit drängte sich die Frage auf, ob und wie der moderne Staat planen und steuern könne[3].

In den USA hatte das Scheitern des von Präsident John F. Kennedy aufgelegten und von Lyndon B. Johnson fortgeführten »War on Poverty« schon früher die Forschung herausgefordert. Daraus entwickelten sich zwei neue sozialwissenschaftliche Forschungsschwerpunkte, die in einer Gemengelage zwischen Rechtssoziologie, Politik- und Verwaltungswissenschaft angesiedelt sind. Die Evaluationsforschung fragt nach den (intendierten oder nicht intendierten) Wirkungen von Interventionsprogrammen. Sie versucht also die Programmeffektivität zu überprüfen. Dagegen konzentriert sich die Implementationsforschung auf den Prozess des Programmvollzugs und sucht hier nach den Bedingungen oder Störungen, die zu Vollzugsdefiziten führen können. Der Ausdruck Implementation geht auf eine amerikanische Studie gleichen Namens über ein Arbeitsbeschaffungsprogramm zurück. [4] Ihr Untertitel zeigt plastisch, worum es geht:

»How great expectations in Washington are dashed in Oklahoma, or, why it’s amazing that federal programs work at all.«

In Deutschland richtete sich der Blick zunächst auf den Umweltschutz.[5] Die DFG startete 1976 einen Projektverbund »Implementation politischer Programme, der bis 1982 lief und von Renate Mayntz[6] koordiniert wurde. Die Forschungsergebnisse[7] besagen in grober Zusammenfassung:

  • Die Implementation von politischen Programmen in Gestalt von Gesetzen erweist sich als ein eigenständiger politischer Prozess, in dem mehr verhandelt als angewiesen wird.
  • Die an der Implementation beteiligte Bürokratie ist in sich nicht durchgehend hierarchisch strukturiert. Beteiligt sind regelmäßig mehrere selbständige Verwaltungen (Bund, Ländern, Kommunen, europäische und internationale Agenturen). Das führt zu einer Mehrebenenverflechtung.
  • Schon bei der Vorbereitung neuer Gesetze nehmen die Verwaltungen auf den Inhalt Einfluss und kämpfen dabei nicht zuletzt für ihre finanzielle Ausstattung.
  • Die Verwaltung wird nur unvollständig durch Gesetze angewiesen. Bei der Umsetzung von Gesetzen verfügt sie über erhebliche Handlungsspielräume.
  • Die Bürokratie gewinnt ihre Entscheidungsprämissen teils aus eigenem Wissen und Wollen sowie aus intensiven Kontakten mit Interessengruppen, Klienten und Professionen.
  • Bürokratien verfolgen auch eigene Interessen, insbesondere Bestandsinteressen, die mit der Programmimplementation kollidieren können.
  • Im Ergebnis muss die Vorstellung von einer zentral und hierarchisch gesteuerten öffentlichen Verwaltung durch eine komplexere Sichtweise ersetzt werden, die eine Vielfalt von Akteuren mit eigenen Rationalitäten, Verhandlungssysteme und Politiknetzwerke einbezieht.

Aus den Implementationsstudien der 1970er Jahre entwickelte sich aber keine kontinuierliche Forschungspraxis. Wenige Untersuchungen genügten, um den Eindruck der prinzipiellen Unwirksamkeit des Rechts zu verfestigen, obwohl die Forschungen durchaus auch gewisse Erfolge regulativer Politik verzeichnen konnten. Negative Ergebnisse erregen größere Aufmerksamkeit als positive[8]. Das Vollzugsdefizit[9] wurde sprichwörtlich, und die Systemtheorie bot dazu eine anscheinend schlüssige Begründung an.

Ab 1982 brachten, zunächst getrennt und dann vereint, Helmut Willke[10] und Gunther Teubner[11] die Systemtheorie und mit ihr einen neuartigen Steuerungspessimismus ins Spiel. Dieser stützte sich auf die von Luhmann geprägte Vorstellung, dass die Grenzen der gesellschaftlichen Teilsysteme Kommunikationsbarrieren bilden, die das politische System nicht zu überwinden vermag, so dass Politik, soweit nicht gewisse strukturelle Kopplungen bestehen, Wirtschaft, Erziehung, Gesundheit usw. allenfalls »irritieren«, aber nicht lenken kann. 1984 folgte von Willke und Teubner der Aufsatz »Kontext und Autonomie«, in dem sie ihre Theorie des reflexiven Rechts ausarbeiteten.[12] Danach ging es Schlag auf Schlag. 1985 nahm die Zeitschrift für Rechtsoziologie mit Beiträgen von Luhmann, Münch und Nahamowitz das Thema auf.[13] Am 12. September 1988 eröffneten Niklas Luhmann und Fritz Scharpf den Kongress der Deutschen Vereinigung für politische Wissenschaft (DVPW) in Darmstadt mit einem Streitgespräch über die Möglichkeit politischer Steuerung der Gesellschaft.[14] Luhmann vertrat seinen systemtheoretisch begründeten Steuerungsskeptizismus, dem Scharpf eine vorsichtig optimistische Steuerungstheorie entgegenhielt, die als akteurzentrierter Institutionalismus bekannt ist. Dieses Konzept hatte Scharpf zusammen mit Renate Mayntz entwickelt, und beide gemeinsam haben ihren Standpunkt auch später verteidigt und ausgebaut.[15] Wissenschaft und Politik haben sich von systemtheoretischen Skrupeln nicht abhalten lassen. Scharpf und Mayntz haben sich durchgesetzt.

In den USA fand die systemtheoretische Steuerungsskepsis keinen Widerhall.[16] Jenseits des Atlantiks hatte eher die Kritik symbolischer Gesetzgebung Konjunktur. Sie machte geltend, dass das Politikzyklusmodell eines rationalen Gesetzgebungsprozesses den strategischen und symbolischen Aspekt der Gesetzgebung ausblende. [17]

Um die Jahrtausendwende gab es, angeschoben von der Volkswagen Stiftung, erneut eine größere Anstrengung zur Wiederaufnahme der Implementationsforschung, nunmehr unter dem Titel Wirkungsforschung zum Recht.[18] Für die Politik wurde die prospektive Gesetzesfolgenabschätzung zur Routine und die nachträgliche Gesetzesbeobachtung und Evaluation[19] sogar weitgehend zur Rechtspflicht. Eine ansehnliche Fraktion der Öffentlich-Rechtler erklärte eine neue Verwaltungs-rechtswissenschaft zur Steuerungswissenschaft.[20] Am negativen Framing der rechtssoziologischen Wirksamkeitsforschung hat das alles aber ebenso wenig geändert wie 2008 der Gemeinsame Kongress der Deutschsprachigen Rechtssoziologie-Vereinigungen in Luzern zur Frage »Wie wirkt Recht?«.[21]

Indessen ist das alles wohl doch der Schnee von gestern. Vgl. dazu den Eintrag Zum Dogma vom Vollzugsdefizit des Rechts II. Deutlicher noch als damals sage ich heute: Recht hat Wirkung. Mehr als das: Recht ist eine Supermacht. Das gilt allerdings nur mit einer wichtigen Einschränkung. Macht hat das Recht nur über das Verhalten von Menschen und Organisationen. Rechtsmacht garantiert keine Effektivität.

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[1] Recht und sozialer Wandel, 1969 [Law in a Changing Society, 1959], S. 10.

[2] Armin Schäfer, Krisentheorien der Demokratie: Unregierbarkeit, Spätkapitalismus und Postdemokratie, Der Moderne Staat 2, 2009, 159-183.

[3] Die Themenentwicklung beschreibt Renate Mayntz, Politische Steuerung und gesellschaftliche Steuerungsprobleme (1987), abgedruckt in dies., Soziale Dynamik und politische Steuerung, 1997,186-208.

[4] Jeffrey L. Pressmann/Aron Wildavsky, Implementation, 1973; ferner Eugene Bardach, The Implementation Game. What Happens After a Bill Becomes a Law, 1977.

[5] Gerd Winter, Das Vollzugsdefizit im Wasserrecht, 1975; Renate Mayntz/Hans-Ulrich Derlien/Eberhard Bohne/Jochen Hucke/ A. Müller, Vollzugsprobleme der Umweltpolitik, 1978.

[6] Renate Mayntz, Die Implementation politischer Programme: Theoretische Überlegungen zu einem neuen Forschungsgebiet, Die Verwaltung, 1977, 51-66.

[7] Sie sind ist in mehreren Sammelbänden dokumentiert: Renate Mayntz (Hg.), Implementation politischer Programme, Empirische Forschungsberichte, 1980; dies., Implementation politischer Programme II – Ansätze zur Theoriebildung, 1983; ferner Eberhard Bohne, Der informale Rechtsstaat, 1981; Hellmut Wollmann (Hg.), Politik im Dickicht der Bürokratie, Beiträge zur Implementationsforschung Bd. 3, 1980. 1980 erschien auch die Habilitationsschrift der Politikwissenschaftlerin Adrienne Windhoff-Héritier, Politikimplementation. 1993 gab es noch einmal einen Sammelband, der das Thema, nun unter dem Label »Policy-Analyse«, aufnahm: Adrienne Héritier (Hg.), Policy Analyse, Sonderband 24 der PVS.

[8] So für das Steuerungsversagen Hubert Rottleuthner, Grenzen rechtlicher Steuerung – und Grenzen von Theorien darüber, ARSP Beiheft 54, 1992, 123-139, S. 139.

[9] Nach dem Titel von Gerd Winter, Das Vollzugsdefizit im Wasserrecht, Ein Beitrag zur Soziologie des öffentlichen Rechts, 1975.

[10] Helmut Willke, Entzauberung des Staates, 1983.

[11] Gunther Teubner, Substantive and Reflexive Elements in Modern Law, LSR 17, 1983, 249-284; ders., Das regulatorische Trilemma: Zur Diskussion um post-instrumentale Rechtsmodelle, Quaderni Fiorentini per la Storia del Pensiero Giuridico Moderno 13, 1984, 109-149.

[12] Gunther Teubner/Helmut Willke, Kontext und Autonomie, Zeitschrift für Rechtssoziologie 6, 1984, 4-35. Bereits 1982 hatte Teubner den Begriff des reflexiven Rechts verwendet, freilich noch nicht im Hinblick auf ein Steuerungskonzept, sondern im Rahmen evolutionstheoretischer Überlegungen (Reflexives Recht: Entwicklungsmodelle des Rechts in vergleichender Perspektive, ARSP 68, 1982, 13-59).

[13] Niklas Luhmann, Einige Probleme mit reflexivem Recht, ZfRSoz 7, 1985, 1-18; Richard Münch, Die sprachlose Systemtheorie. Systemdifferenzierung, reflexives Recht, reflexive Selbststeuerung und Integration durch Indifferenz, ZfRSoz 7, 1985, 19-28; Peter Nahamowitz, „Reflexives Recht“: Das unmögliche Ideal eines postinterventionistischen Steuerungskonzepts, ZfRSoz 7, 1985, 29-44.

[14] Niklas Luhmann, Politische Steuerung: Ein Diskussionsbeitrag, PVS 30, 1989, 4-9; Fritz W. Scharpf, Politische Steuerung und Politische Institutionen, PVS 30, 1989, 10–21; Renate Mayntz/Fritz Scharpf, Der Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus, in: dies. (Hg.), Gesellschaftliche Selbstregelung und politische Steuerung, 1995, 39-72. Eine ausführliche Darstellung des Streits bei Helmut Wiesenthal, Gesellschaftssteuerung und gesellschaftliche Selbststeuerung, 2006, 31ff.

[15] Zusammenfassend Renate Mayntz/Fritz W. Scharpf, Politische Steuerung – Heute?, Zeitschrift für Soziologie 34, 2005, 236-243.

[16] Einen Überblick über Forschung und Diskussion in den USA gibt Keith Hawkins, Enforcing Regulation, Law and Social Inquiry 38, 2013, 950-972.

[17] Thurman Wesley Arnold, The Symbols of Government, Haven 1935; Murray Edelman, Politik als Ritual, Die symbolische Funktion staatlicher Institutionen und politischen Handelns, 1990.

[18] Hagen Hof/Gertrude Lübbe-Wolff (Hg.), Wirkungsforschung zum Recht I: Wirkungen und Erfolgsbedingungen von Gesetzen, 1999; Hermann Hill/Hagen Hof (Hg.), Wirkungsforschung zum Recht II: Verwaltung als Adressat und Akteur, 2000; Hermann Hill/Hagen Hof (Hg.), Wirkungsforschung zum Recht III: Folgen von Gerichtsentscheidungen, 2001; Ulrich Karpen/Hagen Hof (Hg.), Möglichkeiten einer Institutionalisierung der Wirkungskontrolle von Gesetzen, 2003; Michelle Cottier/Josef Estermann/Michael Wrase (Hg.), Wie wirkt Recht?, 2010.

[19] An der Hochschule Speyer existiert ein Institut für Gesetzesfolgenabschätzung und Evaluation. Dort ist 2012 im Auftrag des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit ein „Leitfaden zur Durchführung von ex-post-Gesetzesevaluationen unter besonderer Berücksichtigung der datenschutzrechtlichen Folgen“ herausgegeben worden. Besonders aktiv wird die Gesetzesevaluation in der Schweiz betrieben; vgl. Thomas Widmer/Wolfgang Beywl/Carlo Fabian (Hg.), Evaluation, Ein systematisches Handbuch, 2009; Thomas Widmer/Thomas DeRocchi, Evaluation, Grundlagen, Ansätze und Anwendungen, 2012. In der Schweiz gibt es mit LeGes (Gesetzgebung & Evaluation) dafür auch eine spezialisierte Zeitschrift. Daraus etwa Werner Bussmann, Die Methodik der prospektiven Gesetzesevaluation, 1997, 9-136.

[20] Repräsentativ die Beiträge in Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle (Hg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, 2006ff, 3 Bände. Zur Kritik vgl. Hubert Treiber, Verwaltungswissenschaft als Steuerungswissenschaft – eine „Revolution auf dem Papier“?, Teil 1: Kritische Justiz, 2007, 328-346, Teil 2: Kritische Justiz, 2008, 48-70.

[21] Michelle Cottier/Josef Estermann/Michael Wrase (Hg.), Wie wirkt Recht?, Ausgewählte Beiträge zum Ersten Gemeinsamen Kongress der Deutschsprachigen Rechtssoziologie-Vereinigungen, Luzern, 4. – 6. September 2008, Baden-Baden 2010.

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Abfall aus der Rechtswirkungsforschung: Zur Verselbständigung der Evaluationsforschung und ihrer neuen Konkurrenz

Demnächst soll ich einen Vortrag über »Wirkungsforschung in der Rechtssoziologie« halten. Bei der Vorbereitung fallen allerhand Notizen an, für die in einem Vortrag von 45 Minuten oder einem Manuskript von 15 Seiten kein Platz ist, sozusagen Vortragsabfall. Den deponiere ich in Rsozblog. Heute also Notizen zur Evaluationsforschung.

Die Wirkungsforschung ex post läuft unter dem Namen Evaluation oder Evaluierung. Als Begleit-, Kontroll- und Effektivitätsforschung passt Ex-post-Evaluation auch in die Rechtssoziologie.[1] Aber Evaluationsforschung hat sich verselbständigt und möchte in einer anderen Liga spielen. Von der schlichten Wirkungsforschung ex post hat sich die Evaluationsforschung als Gewissen der Politik abgesetzt. Die Absetzbewegung lässt sich an zehn Punkten festmachen.

  1. Es lassen sich große Anstrengungen beobachten, um die Evaluationsforschung zu einer eigenständigen Disziplin mit unnachahmlicher Expertise aufzubauen. Durch Literatur, eigene Zeitschriften und Organisationen sowie eine zahlungskräftige Klientel hat die Evaluationsforschung den Status einer Profession erreicht. Sie nimmt für sich »evaluationsfachliche Expertise«[2] in Anspruch, die »Wissenschaft zur praktischen Kunst«[3] werden lässt. Eigentlich möchte man sich nicht länger auf die Beobachtung konkreter Interventionen reduziert wissen, sondern ganze »Evaluationsfelder« in Angriff nehmen.[4]
  2. Evaluationsforschung greift weit über das Recht hinaus. Sie erfasst jede reflektierte und organisierte Eigen[5]– und Fremdbewertung von Interventionen aller Art. [6] Recht spielt eher eine Nebenrolle.[7]
  3. Die Evaluationsforschung hängt jedoch am Tropf der Politik. Die vielfach gesetzlich festgeschriebenen Evaluierungspflichten[8] haben sich zu einer sprudelnden Geldquelle entwickelt.
  4. Alle wichtigeren Evaluationen stehen von vornherein in einem politischen Entscheidungsprozess und werden dort von Stakeholdern und Parteien mit Beschlag belegt. Gegen parteipolitische Festlegungen ist mit Evaluationen nur schwer anzukommen.[9]
  5. Die Politik gewinnt ihre Legitimation teils aus Verfahren, teils aus Ergebnissen.[10] Evaluation dient der Stützung ergebnisorientierter Legitimität. Evaluationsforschung wird von der Politik benutzt, um Vorentscheidungen zu stützen oder umgekehrt, um die Programme einer Vorgängerregierung zu kritisieren. Evaluationsforschung wird von der Politik ferner eingesetzt, um relativ unabhängig von den Zielen eines Gesetzes »Erfolge« vorzuzeigen[11]
  6. Nach ihrem Selbstverständnis will Evaluationsforschung die Politik beeinflussen. Um sich Einfluss auf die politische Entscheidungsfindung zu sichern, muss sie – wie Konzendorf es genannt hat – sich ko-evolutiv in gesellschaftliche und politische Zeitströmungen einpassen.[12]
  7. Stakeholder, Verwaltung und politische Akteure werden schon in den Forschungsprozess einbezogen, und zwar nicht bloß als Informanten, sondern als Politbarometer.
  8. Die Evaluationsforschung fühlt sich ermächtigt, unklare Zielvorgaben des Gesetzgebers zu klären. Sie verselbständigt sich gegenüber der Politik, indem sie indem sie eigenständig Rechtszwecke als Maßstab setzt. Dafür steht eine Reihe von Superzwecken zur Verfügung, die mehr oder weniger bei aller Politik mitschwingen, insbesondere Diversität, Gender-Mainstreaming, Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit.
  9. Die »Evaluationsfunktion« wird zu einem endogenen Bestandteil von Politik und Verwaltung.[13] Kurz, die Evaluationsforschung stilisiert sich zum Gewissen von Politik und Verwaltung. Es passt in dieses Bild, dass der Evaluation von juristischer Seite eine Funktion als zusätzliche Kontrolle der Verwaltung – neben Parlament und Justiz zugedacht wurde.[14]
  10. In der Evolutionsforschung tummeln sich daher auch viele, die nicht direkt zur institutionalisierten Wissenschaft zählen. Dazu gehören, um Namen zu nennen, die Hans Böckler Stiftung.

Auf diese Weise hat sich die Evaluationsforschung aus der Rechtssoziologie verabschiedet. Das ist kein Verlust, weil erstere für die Wirkungsforschung keine neuen Ansätze bringt, sondern nur die mit den gängigen empirischen Methoden erzielten Ergebnisse einer wertenden Zusammenschau unterzieht. Nun gerät freilich die Evaluationsforschung ihrerseits in Bedrängnis, und zwar aus Richtung der angewandten Wirtschaftsforschung, die neue Methoden entwickelt hat und dafür ein Betätigungsfeld sucht.[15] Den Ökonomen kommt der Wunsch nach evidenzbasierter Politikberatung entgegen. Inzwischen redet sie von »new economics of program evaluation«.[16] Da kann die gute alte Rechtssoziologie nicht mehr mithalten.

Als Nachtrag und Bestätigung die Definition von Thomas Widmer/Thomas DeRocchi, Evaluation. Grundlagen, Ansätze und Anwendungen, 2012, S. 11:

»Unter Evaluation wird eine wissenschaftliche Dienstleistung verstanden, sie sich mit der systematischen und transparenten Bewertung eines Gegenstandes befasst.«

Für die Rechtssoziologie spreche ich weiterhin von Evaluation schlicht für die Ex-post- Untersuchung der Wirkung von Gesetzen.

_______________________________

[1] Wollmann spricht von einem distanziert-analytischen Ansatz der Begleitforschung, der sich methodischer Stringenz und wissenschaftlicher Objektivität v erpfichtet fühle, im Gegensatz zu einem dialogischen oder partizipativen Ansatz mit Übergängen zur sozialwissenschaftlichen Aktionsforschung (Die Untersuchung der (Nicht-) Verwendung von Evaluationsergebnissen in Politik und Verwaltung, in: Sabine Kropp/Sabine Kuhlmann, Hg., Wissen und Expertise in Politik und Verwaltung, 2014, 87-102).

[2] Thomas Widmer u. a., Forschung über Evaluation in der Schweiz: Stand und Aussichten, Gesetzgebung und Evaluation (LeGes), 2016, 459-483.

[3] Thomas Widmer, Qualität der Evaluation – Wenn Wissenschaft zur praktischen Kunst wird. In: Stockmann, Reinhard (Hg.), Evaluationsforschung. Grundlagen und ausgewählte Forschungsfelder, 3. Aufl.,  2006, 85-112.

[4] Thomas Widmer/u. a., Forschung über Evaluation in der Schweiz: Stand und Aussichten, Gesetzgebung und Evaluation (LeGes), 2016, 459-483.

[5] Die Selbstevaluation bildet ein Kernelement des New Public Management. Der Übergang zum Controlling ist fließend.

[6] Nicola Döring/Jürgen Bortz, Forschungsmethoden und Evaluation in den Sozial- und Humanwissenschaften, 5. Aufl. 2016, S. 977.

[7] Besonders deutlich im »CEval-Ansatz zur Wirkungsevaluation/Stockmann’scher Ansatz« Stefan Silv estrini/Nicola Reade, CEval-Arbeitspapier 11, 2008,  sowie in den Bänden vonReinhard Stockmann, Handbuch zur Evaluation, 2007, und ders. (Hg.), Evaluationsforschung. Grundlagen und ausgewählte Forschungsfelder, 3. Aufl. 2008.

[8] Es ist kein Zufall, dass die Schweiz bei den wissenschaftlichen Anstrengungen zur Evaluierung, etwa mit der Zeitschrift LeGes, eine Vorreiterrole annimmt, denn dort ist in Art. 170 der Bundesverfassung eine Evaluierungspflicht explizit festgeschrieben, während eine solche Pflicht in Deutschland nur punktuell begründet wird, sei es durch Gesetz, sei es aus Art. 2 II 1 GG über eine Schutzpflicht.

[9] Gottfried Konzendorf, Zum Einfluss von Evaluationen auf die politische Entscheidungsfindung, in: Jan Ziekow (Hg.), Bewerten und bewertet werden, Wirkungskontrolle und Leistungssicherung in der öffentlichen Verwaltung, 2014, 121-148; S. 128.

[10] Niels Petersen, Demokratie und Grundgesetz. Veränderungen des Demokratieprinzips in Art. 20 b s. 2 GG angesichts der Herausforderungen moderner Staatlichkeit, 2008; Thomas Widmer, The Contribution of Evidence-Based Policy to the Output-Oriented Legitimacy of the State, Evidence & Policy: A Journal of Research, Debate and Practice 5, 2009, 351-372.

[11] Volker Baethge-Kinsky, Peter Bartelheimer, Alexandra Wagner, Die »Hartz-Gesetze«, ihre wissenschaftliche Evaluation und deren Verarbeitung, Abschlussbericht, Hans-Boeckler-Stiftung 2010, S. 34f.

[12] Gottfried Konzendorf, Zum Einfluss von Evaluationen auf die politische Entscheidungsfindung. in: Jan Ziekow (Hrsg.), Bewerten und bewertet werden. Wirkungskontrolle und Leistungssicherung in der öffentlichen Verwaltung, 2014, 121–148, S. 125f.

[13] Götz Konzendorf, Institutionelle Einbettung der Evaluationsfunktion in Politik und Verwaltung in Deutschland, in: Thomas Widmer u. a. (Hg.), Evaluation. Ein systematisches Handbuch, 2009, 26-39.

[14] Von Rudolf Steinberg, Evaluation als neue Form der Kontrolle final programmierten Verwaltungshandelns, Der Staat 15, 1976, 185-210.

[15] Bernhard Boockmann/Claudia M. Buch/Monika Schnitzer, Evidenzbasierte Wirtschaftspolitik in Deutschland, Defizite und Potentiale, Perspektiven der Wirtschaftspolitik 15, 2014, 307-323; Christoph M. Schmidt, Wirkungstreffer erzielen – Die Rolle der evidenzbasierten Politikberatung in einer aufgeklärten Gesellschaft, Perspektiven der Wirtschaftspolitik 15, 2014, 219-233; Joachim Weimann, Die Rolle von Verhaltensökonomik und experimenteller Forschung in Wirtschaftswissenschaft und Politikberatung, Perspektiven der Wirtschaftspolitik 16, 2015, 231-252. Vgl. auch Patrick Arni, Kausale Evaluation von Pilotprojekten: Die Nutzung von Randomisierung in der Praxis, Gesetzgebung und Evaluation (LeGes) 23, 2012, 55-386.

[16] Boockmann u.a. (S. 309) unter Bezugnahme auf Joshua D. Angrist/Jörn-Steffen Pischke, The Credibility Revolution in Empirical Economics: How Better Research Design is Taking the Con out of Econometrics, The Journal of Economic Perspectives 24, 2010, 3-30.

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Rechtssoziologie in einfacher Sprache: Lawrence M. Friedman, Impact. How Law Affects Behavior

Lawrence M. Friedman, inzwischen 87 Jahre alt, hat wieder ein Buch vorgelegt, indem er seine ganze Meisterschaft zeigt: Nicht neue große Theorie, sondern großer Überblick über die ungezählten kleinen Theorien, die die Substanz der Rechtssoziologie ausmachen: Impact. How Law Affects Behavior, Harvard University Press, September 2016, 336 S.

»This book will discuss, on a fairly general level, but with examples, the question of impact.« (S. 3)

Vor 50 Jahren gehörte Friedman mit Marc Galanter, Stewart Macaulay und David M. Trubek zur ersten Generation der Law and Society Bewegung[1], die von Madison/Wisconsin ihren Ausgang nahm. Den Anstoß hatte James Willard Hurst (1910-1997) gegeben, indem er die Rechtsgeschichte für die historische Institutionenökonomik öffnete.[2] In der Nachfolge von Hurst steht Friedmans »History of American Law«[3]. Zur Konsolidierung der Rechtssoziologie hat Friedman 1975 durch eine lehrbuchartige Darstellung, die 1981 auch auf Deutsch erschien, wesentlich beigetragen.[4] Noch breitenwirksamer war insoweit vielleicht der von Friedman zusammen mit Macaulay herausgegebene Reader »Law and the Behavioral Sciences« von 1969 mit seinen Nachfolgern.[5] Vor allen anderen hat Friedman den Begriff der Rechtskultur verwendet und populär gemacht[6], allerdings in anderer Bedeutung als er heute von den so genannten Kulturwissenschaften verwendet wird[7]. In vier Monographien hat Friedman aktuelle Trends der Rechtsentwicklung aufgegriffen und sichtbar gemacht.[8] Und natürlich hat er auch die Globalisierung nicht verschlafen.[9] Bemerkenswert für einen Amerikaner: Friedman hat auch deutsche Arbeiten ausgewertet.

Wenn nicht über 40 Jahre dazwischen lägen, so könnte man »Impact« als Neuauflage von »The Legal System« von 1975 ansehen. Wer sich schon länger mit der Rechtssoziologie befasst, erfährt aus Friedmans Buch nichts wirklich Neues. Aber er staunt, wie sich aus vielen Details ein Gesamteindruck ergibt. Es ist der Eindruck eines »giant jigsaw puzzle, with hundreds of pieces of different sizes and shapes. It is hard, and perhaps impossible, to put them together into a single picture« (S. 177). Als ich 1983 in Madison war – Friedman war da schon nach Stanford aufgebrochen –, gab es in der Universität eine Ausstellung von Quilts aus dem Privatbesitz von Bürgern aus Wisconsin. Diese gar nicht als Kunst gedachten, aus Flicken und Resten zusammengesetzten Decken hatten sich in den USA zu einer Volkskunst im besten Sinne entwickelt. Friedman legt die einzelnen Stücke der Rechtswirkungsforschung so nebeneinander, dass sie Muster und Rhythmus erhalten, eben, zu einem Quilt. Wenn das Recht rot wäre, wäre der Quilt von rot, rosa, purpur und lila durchschossen. Denn das ist wohl der Tenor des Buches: mehr oder weniger alles Verhalten wird durch Recht kanalisiert, gestaut, umgelenkt oder, um im Bilde zu bleiben, eingefärbt.

Muster und Rhythmus entstehen aus Sprache und Beispielen. Friedmans Markenzeichen ist eine einfache Sprache, die fast nur aus Hauptsätzen besteht. Hier eine Stilprobe, die zugleich andeuten soll, dass die kriminologischen Themen im Vordergrund stehen:

»What makes our burglar tick? Why does he do it? The job is risky; the payoff hardly seems worthwhile. Gottfredson and Hirschi would say the burglar has trouble with impulse control. Tlis might be true.The burglar, like the armed robber, might have a drug habit to support. Practically speaking, burglars usually have no other way to get the money they need. But the money is not just for living expenses; it is also for flash, for prestige, for show. To some burglars, the job is a thrill, a kind of high.« (S. 238)

So wie kein Quilt dem anderen gleicht, so kann man nie sicher sein, wie das Recht wirkt.

»The actual effect, or impact of legal commands can never be taken for granted; impact is always an empirical question« (S. 184).

Die Verallgemeinerung findet in den Überschriften statt. Der Text bietet zu allem Beispiele, die oft auf empirische Untersuchungen zurückgeführt werden, und fast immer auch Gegenbeispiele. Nichts reizt zum Widerspruch, denn die Vorbehalte sind immer schon eingebaut. Alles hat zwei Seiten. Anwälte und Steuerberater sind double agents. Sie helfen ebenso ihren Klienten, wie der Regierung. Dazu gibt es anschauliche Vergleiche:

»The tax system could hardly work without the help of tax specialists, chewing the text, digesting it, turning it into small, bite-size bits, and feeding these bits to the clients. It may not be too far fetched to compare them to the microorganisms inside the stomach of cows. Cows eat grass, but cannot digest it on their own. Microorganisms inside break down the grass, making food for themselves and for the cows.« (S. 36)

(Dieser schöne Doppelvergleich ist Anlass, darüber nachzudenken, ob man Juristen nicht auch noch als Wiederkäuer im bovinen Stoffwechsel unterbringen könnte. Dazu bietet sich der Neologismus ruminator an.)

Alles ist relevant, Abschreckung und Belohnung, die Peer-Group und die innere Einstellung, ein harter legalistischer Durchsetzungsstil oder ein responsiver. Aber wie sehr und in welche Richtung die Variablen wirken, das hängt immer von den Umständen ab.

»There is no general rule.« (S. 210)

Das Bild wird auch nicht schärfer, wenn die Variablen in drei große Gruppen geordnet werden: Abschreckung und Belohnung (rational choice), sozialer Druck (shame, peer group) und innere Einstellung oder Gewissen.[10] »Mixed motives« (S. 241) überall. Immerhin, wenn aus diesen drei Richtungen unterschiedliche Signale kommen, bleibt die innere Stimme meistens der Verlierer (S. 218ff). Aber auch dazu gibt es Gegenbeispiele, nämlich einen Verdrängungseffekt (crowding out), wenn Verhaltensweisen, die eigentlich durch Moral, Sitte, Anstand oder Rücksichtnahme gefordert sind, durch Belohnung oder Strafe ökonomisiert werden.[11] Im Alltag beobachten wir diesen Effekt, wenn Parkverstöße oder Geschwindigkeitsübertretungen mit moderaten Geldbußen belegt sind. Dann wird die Buße zum Preis.

Auch auf den Überlaufeffekt (spillover) ist kein Verlass. Offenkundig fehlende Rechtsdurchsetzung in einem Bereich lässt nicht ohne weiteres die Achtung vor dem Recht derart sinken, dass Recht nun generell unbeachtet bleibt. Auch umgekehrt gilt nicht unbedingt die Broken-Windows-Theorie, die besagt, dass die prompte Verfolgung von kleinen Rechtsbrüchen auf die Kriminalität insgesamt ausstrahlt.

Und natürlich: Rechtswirkung ist ein dynamischer Prozess. Alles ändert sich über die Zeit. Recht und sozialer Wandel ist ein altes Friedman-Thema.[12] Da überlagern sich ein kurzfristiges Auf und Ab und langfristiger Wandel. Interessant ist die Beobachtung, wie unterschiedlich der langfristige Wandel abläuft (S244): Die Aufhebung der Rassentrennung in der Schule durch Brown vs. Board of Education of Topeka (1954) ist in den USA heute selbstverständlich. Die Akzeptanz der Homosexualität bis hin zur Homo-Ehe ist mindestens überall sichtbar, aber immer noch Gegenstand von Kontroversen. Die Abtreibung blüht dagegen eher im Verborgenen und ist aber – in den USA – nach wie vor Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen (S. 244). Es gibt durchschlagende Erfolge, so die Demoralisierung des Rauchens und die Pflicht zum Anlegen von Sicherheitsgurten. Aber mit Alkohol- und Rauschgiftkonsum will Vergleichbares nicht gelingen (S. 245) (und die Erziehung zu umweltgerechtem Verhalten ist allenfalls ein halber Erfolg).

Ist man mit dem Buch am Ende, so weiß man alles über die Wirkung von Recht und ist doch ratlos.

Auf den Rat von Stephan Magen habe ich »Evidence-Based Policy« von Nancy Cartwright und Jeremy Hardie zur Hand genommen.[13] Der Band lässt sich als eine indirekte Bestätigung für Friedmans »Impact« lesen. Nicht nur, weil er gleichfalls in einer einfachen und dazu ungewöhnlich plakativen Sprache gehalten ist. Sondern auch und vor allem, weil er zeigt, dass erfolgreiche Interventionen sich nicht einfach wiederholen lassen, weil die durch die Intervention gesetzte Ursache immer nur als Bestandteil eines ganzen Cocktails von Begleitumständen wirkt.

____________________________________________

[1] Lawrence M. Friedman, The Law and Society Movement, Stanford Law Review, 1986, 763-780; ders., Coming of Age: Law and Society Enters an Exclusive Club, Annual Review of Law and Social Science 1, 2005, 1-16.

[2] Dazu auf Rechtsoziologie-online § 63 Neuer Institutionalismus.

[3] 1973, 3. Aufl 2017, Simon & Schuster, New York,NY, jetzt Oxford University Press.

[4] The Legal System. A Social Science Perspective, 1975; deutsch: Das Recht im Blickfeld der Sozialwissenschaften, 1981.

[5] Vgl. den Eintrag Rechtssoziologie in Lehrdarstellungen und Readern bei Fn. 1.

[6] Lawrence M. Friedman, Legal Culture and Social Development, Law and Society Review 4, 1969, 29-44; ders., Transformations in American Legal Culture 1800-1985, ZfRSoz 6, 1985, 191-205.

[7] Vgl Rechtssoziologie-online § 15 Rechtssoziologie als Kulturwissenschaft? unter IV.

[8] Your Time Will Come, The Law of Age Discrimination and Mandatory Retirement, 1984; Total Justice, 1985, 2. Aufl. 1994; The Republic of Choice. Law, Authority, and Culture, 1990; American Law in the Twentieth Century, 2004.

[9] Borders: On the Emerging Sociology of Transnational Law, Stanford Journal of International Law 32, 1996, 65-90; Erewhon: The Coming Global Legal Order, Stanford Journal of International Law 37, 2001, 347-364.

[10] In diesem Sinne schon 1981 im »Rechtssystem« S. 14: »Die Behauptung [sc. Über die Wirkung von Recht] geht dahin, daß diese Wirkung von drei Gruppen von Faktoren bestimmt wird, nämlich von Sanktionen, von gesellschaftlichem Einfluß (peer group) und von inneren Wertvorstellungen (Gewissen, Legitimitätsvorstellungen aus.).«

[11] Uri Gneezy/Aldo Rustichini, A Fine is a Price, The Journal of Legal Studies 29 , 2000, 1-17.

[12] Lawrence M. Friedman/Jack Ladinsky, Social Change and the Law of Industrial Accidents, Columbia Law Review 67, 1967, 50-82; Friedmann, Recht und sozialer Wandel, 1969

[13] Nancy Cartwright/Jeremy Hardie, Evidence-Based Policy. A Practical Guide to Doing it Better, Oxford University Press 2012.

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