Travelling Models IX: Codes und Cödchen und ein Vorreiter des Neuen Realismus

Rottenburgs eigene Zutat zu dem mit der Wanderschaft von Token oder Modellen verbundenen Übersetzungs- bzw. Transformationsprozess ist der »Metacode als Sprache der Übersetzungsketten und Aushandlungszonen« (2002 S. 227, 232). Er soll die Differenz zwischen verschiedenen kulturellen Bezugsrahmen überbrücken, die eine direkte Verständigung oder Übersetzung erschwert, wenn nicht gar verhindert. [1]Diese Lehre hat Rottenburg zuerst im 6. Kapitel der Monographie von 2002, Weit hergeholte Fakten, S. 213 ff) entwickelt und danach mehrfach mit kleinen Variationen wiederholt: Code-Wechsel. Ein … Continue reading

Ein universeller Kontingenzperspektivismus bildet das Fundament der Kulturwissenschaften. Danach ist alles Wissen und damit alles Verstehen perspektivisch. Die Perspektive ist das Produkt der Kultur und deshalb so verschieden wie diese. Eine objektive Perspektive gibt es ebenso wenig wie die eine Wahrheit. Wir müssen mit multiplen Wirklichkeiten leben.

Zu jeder Kultur gehört ein eigener Code (cultural code), der als eine Art Grammatik die Dinge zusammenhält und eine Weltsicht vermittelt. So lautet das Glaubensbekenntnis der Kulturwissenschaften und damit wohl auch der meisten Ethnologen. Zum Code wird alles, was als selbstverständlich, natürlich und unvermeidlich erscheint, wiewohl es doch kontingent ist. Logozentrismus, Objektivismus, Phallogozentrimus, heterosexuelle Matrix, Ethnozentrismus, Eurozentrismus, (methodologischer) Etatismus und Nationalismus und die diversen binären Codes der sozialen Systeme – wir sind von Codes umzingelt.

An der Vorstellung eines kulturellen Codes festzuhalten wird schwierig, wenn man, wie die Kulturwissenschaften im Allgemeinen und wohl auch die Ethnologie, auf die Beschreibung oder auch nur Benennung ganzheitlicher Kulturen verzichtet. Heute sind alle Kulturen Hybride, die sich durch Anwachsung (accretion) laufend verändern (Rottenburg 1996 S. 213). Was anwächst, sind fremde Ideen und Artefakte. Sie diffundieren nicht einfach und werden auch nicht bloß als ein neuer Flicken eingesetzt, sondern sie durchlaufen einen Transformationsprozess. Für das, was dabei herauskommt, sind in der Literatur Kennzeichnung wie Hybridisierung, Kreolisierung, McDonaldisierung oder Glokalisierung geläufig. Solche Begriffe suggerieren eine falsche Einheitlichkeit der Kultur. Das Ergebnis bildet viel eher ein Flickwerk aus oft nur lose zusammenhängenden und manchmal gar widersprüchlich erscheinenden Teilen. Die Folge ist, dass es Kollektiven wie Individuen an einer konsolidierten Weltsicht fehlt. Es gibt nicht den einen kulturellen Code, sondern viele Codes und Cödchen.

»In order to bring an idea into a local cosmos from any part of the outside world, one has to use a cultural code. This presumes the existence of a deep structure which seems to be concealed within the motley and inconsistent patchwork of culture, like grammar in language. … However, and this is the decisive point here, it is not necessary to iinagine this cultural grammar as a uniform and genotypical code that determines the phenotypical surface. There is much to support the assumption that each culture has several mutually contradicting codes which are made available to individual people like alternative repertoires for thought. Each code has a different explanation of how the world is ordered, how you can recognize it, what you can do in it and what meaning results from it all, if any. Because of the contradictory nature of tbe various codes, it is not possible to completely deduce the patchwork of the cultural phenomena from them. The codes themselves are not unalterable either. As a result of these observations, we can only speak of a code – or rather the metacode – of a culture at all because the available choice of repertoires and their tangle of relations somehow differ from one culture to another.« [2]Richard Rottenburg, When Organization Travels: On Intercultural Translation, in: Barbara Czarniawska/Guje Sevón (Hg.), Translating Organizational Change, 1996, 191-2401996 S. 214.

Hier taucht zum ersten Mal der Begriff des Metacodes auf, wird aber noch nicht weiter expliziert.

Das Fehlen einer ganzheitlichen Weltsicht ändert nichts daran, dass bei der Entwicklungszusammenarbeit eben doch unterschiedliche Kulturen aufeinander stoßen oder jedenfalls »unter Bedingungen der Heterogenität« kooperiert werden muss, die »nicht nur im Bereich der Interessen [vorliegt], … sondern auch im Bereich des grundlegenden Orientierungswissens, das auf einer vorbewussten Ebene bereits Festlegungen über Semantik, Plausibilität, Evidenz, Kausalität, Relevanz, Legitimität und Ethos enthält« (2002 S. 232). Die konkreten Probleme, die daraus entstehen, hat Rottenburg in den »Weit hergeholten Fakten« von 2002 ausführlich beschrieben und analysiert. Dabei ging es um ein Projekt zur Reorganisation der Wasserversorgung in drei tansanischen Städten. Man kann diese Analyse als einen Betrag zur (rechtssoziologischen) Steuerungsdiskussion lesen, denn die Entwicklungszusammenarbeit liefere »ohne Zweifel den stärksten Beweis dafür …, dass gesellschaftliche Entwicklung nicht nach Plan gesteuert werden kann.« (2002 S. 218). Das Steuerungszentrum – bei Rottenburg die Entwicklungsbank als »Rechen(schafts)zentrum« — ist auf »Information ohne Deformation zwecks Kontrolle auf Distanz« (S. 224) angewiesen, erhält seine Informationen aber erst aus zweiter, dritter oder gar vierter Hand, und jede »Übergabe« ist mit einer »Transformation bzw. Übersetzung« verbunden. Bei dem Entwicklungsprojekt, dass Rottenburg 2002 thematisiert, war ein zentrales Problem die »Listenautophagie«, das Phänomen nämlich, dass es nicht gelingen wollte, verlässliche Daten über die an die Wasserleitungen angeschlossenen Nutzer und ihren Verbrauch zu gewinnen. Hier macht anscheinend die fehlende Institutionalisierung bürokratischer Routinen, wie sie in Mitteleuropa anzutreffen ist, den Unterschied.

Anke Draude [3]Anke Draude, Der blinde Fleck der Entwicklungstheorie, 2007, S. 71-89. lobt Rottenburgs Buch wegen seiner Analyse der verschiedenen »Codes«, die in der Entwicklungszusammenarbeit verwendet werden, als ein gelungenes Beispiel kulturwissenschaftlich informierten Umgangs mit der »Kontingenzperspektive«. Das ist eine durchaus adäquate Würdigung. Ich habe jedoch – dieses Wortspiel sei erlaubt – eine andere Perspektive auf das Buch. Ich sehe darin und in den nachfolgenden Erläuterungen Rottenburgs zum »Metacode« Vorläufer [4]Maurizio Ferraris und Markus Gabriel, haben es geschafft, den Neuen Realismus zu einem Medienhit zu machen. Sie haben sich vor die Presse gestellt und erklärt, im Jahr 2011, an einem Sommertag, um … Continue reading des Neuen Realismus. [5]Der »neue Realismus« verkündet den Ausstieg aus der Postmoderne. Das Medienereignis zeigt sich im Feuilleton (alles im Internet zugänglich): Die ZEIT hat 2014 eine Serie von sieben Artikeln zum … Continue reading

In den »Weit hergeholten Fakten« spielen die kulturellen Codes nur eine Nebenrolle. Vielmehr wird

»das Stück der Entwicklungszusammenarbeit mit zwei Skripten aufgeführt. Nach den Vorgaben des offiziellen Skriptes (unserem O-Skript) geht es darum, (neben Kapital und Technik) technisches Wissen zu übertragen, das soziokulturell neutral ist und per Training erworben werden kann (›Wie erneuere ich die Wicklung eines Elektromotors? ‹, ›Wie bediene ich die Tabellenkalkulation Excel?‹). Nach den Vorgaben des inoffiziellen Skriptes (unserem I-Skript) geht es hingegen darum, gerade solches Wissen zu übertragen, das die grundlegenden Formen menschlichen Zusammenlebens verändern soll (›Was darf marktwirtschaftlich geregelt werden?‹, ›Wie konstituiert sich politische Legitimität?‹, ›Wie ist der Loyalitätskonflikt zwischen Verwandtschaft und Gemeinwohl zu lösen?‹, ›Was heißt Verfahrensobjektivität?‹)). Bei der Aufführung des Stuckes kann man nun, je nach Situation, mal nach dem einen und mal nach dem anderen Skript spielen.« (2002 S. 2014 f.)

Nach dem O-Skript sind dem Empfänger Kredit, Technik und Know-how für eine »nachholende Modernisierung« zur Verfügung zu stellen. Das I-Skript, nach dem auch Lebensart herübergebracht werden soll, ist »inoffiziell«, weil es nicht dem »postkolonialen Emanzipationsnarrativ« (S. 215) entspricht, das einen souveränen Empfänger mit legitimem und relevantem lokalem Wissen postuliert, der nicht bevormundet werden darf. Alle Beteiligten verstehen und durchschauen das Rollenspiel mehr oder weniger gut mit der Folge, dass sie zur Wahrung ihrer Interessen strategisch zwischen den Skripten wechseln können. Auch die strategischen Absichten werden wechselseitig durchschaut mit der weiteren Folge, dass Misstrauen entsteht (S. 216). Es gibt allerdings noch ein drittes Spiel, in dem Vertrauen aufgebaut werden kann, nämlich das technische Spiel mit der »Leitdifferenz effektiv/ineffektiv« (S. 217). Es beruht

»auf dem naiven Realismus des Alltagsdenkens. Demnach können objektiv richtige Aussagen problemlos zwischen allen möglichen Bezugsrahmen zirkulieren, weil ihre Gültigkeit in der äußeren Realität gründet und folglich von allen Bezugsrahmen unabhängig ist. Das aber heißt, dass universell gültige Aussagen in einer universell gültigen Sprache formuliert sein müssen: in einem Metacode …« (S. 219f.)

Der »Alltagsrealismus« des Technischen Spiels liefert also den Metacode, der partiell eine Verständigung möglich macht.

»In den Aushandlungszonen der Entwicklungskooperation hat sich das Technische Spiel mit seinem Metacode als Handelssprache durchgesetzt.« (S. 234f; ähnlich 2003 167f)

Zur theoretischen Verankerung hebt Rottenburg das Verständigungsproblem auf eine epistemische Metaebene, ein geschickter Schachzug, um nach dem Verlust des Begriffs einheitlicher Kulturen dennoch mit großen Codes arbeiten zu können.

»Zum einen erweist sich das Dilemma der Differenz nur als weiterer Fall eines elementaren Paradoxes: Keine Weltbeschreibung – eben auch keine wissenschaftliche – kann außerhalb ihres Bezugsrahmens Gültigkeit beanspruchen, sofern der Beweis der Gültigkeit den Bezugsrahmen immer schon voraussetzt. Dessen ungeachtet operiert jede Weltbeschreibung mit Differenzen zu anderen Weltbeschreibungen, die sich gar nicht feststellen ließen, würde man nicht einen gemeinsamen, übergeordneten Bezugsrahmen unterstellen. Zum anderen fällt an dem Umgang mit dieser Paradoxie in der Entwicklungskooperation eine aufgeladene Sensitivität gegenüber den Differenzen der Bezugsrahmen auf.« (S. 236)

Dieser Ansatz wird 2003 näher ausgeführt. Rottenburg verzichtet auf den bei postmodernen Autoren verbreiteten (von mir so genannten) fundamentalistischen Antifundamentalismus. [6]Dessen Fehler besteht darin, epistemologische Positionen, die als solche ihre Berechtigung haben mögen, auf die operative Ebene des Umgangs mit der sozialen Wirklichkeit übertragen. Im Übrigen ist … Continue reading Seine

»These besteht nun darin, dass hier insbesondere Letztbegründungen für die Wahrheit von Aussagen bzw. für die Unterscheidung von Fiktion und Wirklichkeit eingeklammert und durch formale Evidenzverfahren ersetzt werden. … Zu diesem Zweck braucht man in erster Linie einen Metacode, der für sich in Anspruch nimmt, jenseits der diversen partikularen Kulturcodes zu stehen und unmittelbar mit der äußeren Wirklichkeit verbunden zu sein. Analog der Handelssprache der Märkte muss dieser Metacode alle unbedingt notwendigen Informationen übermitteln und alle überflüssigen und störenden Wissensbestände zum Verschwinden bringen.
Die pragmatische und provisorische Einigung auf den einen Metacode verschiebt die Aufmerksamkeit von der Frage der korrespondenztheoretischen Gültigkeit einzelner Aussagen, die sich gegenüber einer externen Realität zu bewähren hätten, auf die Frage der Anschlussfähigkeit der Aussagen untereinander. Das Problem externer Referenz wird somit zugunsten des Problems transversaler Referenz in den Hintergrund verschoben. In einer anderen Sprache formuliert: Das Verfahren bekommt Priorität gegenüber der Sache, um die es geht.« (S. 167f)

Ausgangspunkt ist die »Paradoxie« des Letzbegründungsproblems:

»Die Annahme der einen und erreichbaren Wirklichkeit geht mit der Annahme einher, dass es den einen Metacode geben muss, in dem sich die eine Wirklichkeit unverzerrt abbilden lässt. Die Annahme des Metacodes bedeutet wiederum, dass alle übrigen vorfindbaren Codes Kulturcodes sein müssen. Ohne die Unterscheidung zwischen dem einen universellen Metacode und den vielen partikularen Kulturcodes wäre die Annahme der einen Realität nicht aufrecht zu erhalten, denn unterschiedliche Kulturcodes entwerfen unterschiedliche Realitäten. Wer nun aber umgekehrt an der Behauptung multipler Realitäten festhält, ist selbst wieder darauf angewiesen, auf den einen Metacode zu rekurrieren, der die Behauptung der vielen Realitäten überhaupt erst ermöglicht. Damit ist die Aussage also wieder unterlaufen.« (2003 S. 154)

Der Metacode ist »eine Antwort auf die Frage, weshalb man die Annahme der einen Wirklichkeit nicht bestreiten kann, ohne selbst auf diese zurückzugreifen.« Der Ausweg ist ein Als-Ob-Realismus, wie ihn Hans Vaihinger vorgezeichnet hat. Wenn freilich jemand ohne viel Federlesens diese Position einnimmt [7]Wie wir in der Allgemeinen Rechtslehre, 3. Aufl. 2007, S. 139., bleibt das irrelevant. Um Beachtung zu finden, muss man die Lösung elaborieren und ihr durch Einbettung in einen Forschungszusammenhang Autorität verschaffen. Genau das ist Rottenburg gelungen. Seine Elaboration des wissenschaftstheoretischen Problems wird dadurch akzeptabel, dass sie sich gekonnt des kulturwissenschaftlichen Vokabulars bedient. Sie gewinnt an Überzeugungskraft, weil sie nicht auf der grünen Wiese der Theorie gepflückt, sondern in Auseinandersetzung mit einem praktischen Problem gewachsen ist.

In der Wissenschaft stehen sich prinzipiell der »Code der Repräsentation von Wirklichkeit« und der »Code der performativen Hervorbringung« (2003 S. 155.), also Realismus und Konstruktivismus gegenüber.

»Wenn zwei oder mehr Parteien um Problem- und Lösungsdefinitionen streiten, müssen sie sich auf Aussagen verständigen und beschränken, die sie gemeinsam überprüfen können.« [8]S. 155f.

Da es hoffnungslos wäre, zwischen Realismus und Konstruktivismus zu entscheiden, muss eine provisorische Lösung her, die das ausweglose Basisproblem umgeht.

»Das bedeutet, dass sie sich unter Vorbehalt auf Wahrheitskriterien und Realitätsdefinitionen einigen müssen, die sie für den Zweck und die Dauer ihrer Kooperation im Prinzip gelten lassen.« (2003 S. 156.)

Das ist dann der Metacode, der »der Kontroverse über die eine oder die vielen Wirklichkeiten aus dem Weg … gehen« soll (S. 165.). Dieser Metacode verwende einen Als-Ob-Realismus, der sich von dem »echten« Realismus dadurch unterscheidet, dass man immer wieder Anlass nehmen kann, davon abzurücken.

Auch ein bloß provisorischer Realismus kann der Differenz von Sein und Sollen nicht ganz ausweichen. Doch auch dafür gibt es eine undogmatische Lösung, indem die deskriptive und die normative Rede jeweils zum Sprachspiel erklärt werden. (2003 S. 171)

Rottenburg vergleicht den Metacode mit dem, was bei Gericht geschieht.

»Gerichtliche Aushandlungsprozesse lassen diesen allgemeinen Tatbestand besonders deutlich hervortreten: Man streitet vor Gericht zwar um die Wahrheit, doch bei der Austragung des Streits müssen vorher festgelegte Argumentationsmuster befolgt werden, um überhaupt geordnet streiten zu können. … Nicht der unmittelbare Wahrheitsgehalt steht im Vordergrund, sondern formale Kriterien der Gültigkeitsbestimmung von Beweismitteln.« (2003 S. 168; vgl. auch 2012 S. 497).

Wieweit der Vergleich von Metacode und prozessualer Wahrheit [9]Vgl. zu diesem Begriff die schon nicht mehr ganz neue Arbeit von Frauke Stamp, Die Wahrheit im Strafverfahren, Eine Untersuchung zur prozessualen Wahrheit unter besonderer Berücksichtigung der … Continue reading trägt, müsste allerdings noch näher untersucht werden. Zwei Unterschiede fallen sogleich auf. Erstens ist die prozessuale Wahrheit kraft Gesetzes institutionalisiert. Und zweitens teilen nicht nur die meisten Juristen, sondern auch andere Prozessbeteiligte als »perspektivische Objektivisten« die Vorstellung einer materiellen Wahrheit.

Analoges gilt auf der operativen Ebene der Entwicklungszusammenarbeit. Man braucht »einen Metacode, der für sich in Anspruch nimmt, jenseits der diversen partikularen Kulturcodes zu stehen« (S. 167). Der Metacode soll vorläufig und provisorisch die unterschiedlichen kulturellen Codes überbrücken, damit die Wanderschaft von Modellen überhaupt in Gang kommt (S. 214f).

Die Praktiker der Entwicklungshilfe entwickeln eine spezifische Form von Metacode, die sie befähigt, zwischen globalisiertem Wissen, das nach dem Code der Objektivität organisiert ist, und kulturell spezifischem Wissen hin und her zu springen (2012 S. 483). Sie können sich im Hinblick auf ein konkretes Projekt über Kriterien der Objektivität einigen, reflektieren aber gleichzeitig über ihr Tun und können in einem anderen Kontext ganz anders reden (2012 S. 490). Je nach der Aushandlungssituation denken und reden sie so oder so (2012 S. 401). Ähnlich trägt der Metacode im Entwicklungshilfediskurs der Rationalitätsforderung der Geberseite Rechnung, behält sich aber vor, über deren Relativität zu reflektieren.

Dieser Metacode ist also eine Art skeptischer oder vorläufiger Realismus.

Was bleibt an substantiellen kulturellen Codes, die man doch eigentlich in Entwicklungsländern erwartet? Über die » Bedingungen der Heterogenität«, über die vorbewussten »Festlegungen über Semantik, Plausibilität, Evidenz, Kausalität, Relevanz, Legitimität und Ethos« erfahren wir wenig. Rottenburg stimmt nicht in die postkoloniale Kritik »epistemischer Gewalt« [10]Vgl. Sebastian Garbe, Deskolonisierung des Wissens: Zur Kritik der epistemischen Gewalt in der Kultur- und Sozialanthropologie, Austrian Studies in Social Anthropology 1, 2013. ein, durch die nicht-westliche Wissensformen trivialisiert und für ungültig erklärt würden. Er widerspricht vielmehr der Auffassung, in der Entwicklungszusammenarbeit sei »der Code der Objektivität die Tarnmaske für die Hegemonie der ›Geber‹ … [die am Ende] dafür verantwortlich ist, dass lokale Gesichtspunkte nicht zum Zug kommen und die Sache deshalb scheitern muss« [11]2002 S. 213. Lokales Wissen und kultureller Code hindern die Empfänger anscheinend nicht, die westliche Weltsicht kognitiv zu rezipieren, damit strategisch umzugehen und so partikulare Interessen zu verfolgen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Diese Lehre hat Rottenburg zuerst im 6. Kapitel der Monographie von 2002, Weit hergeholte Fakten, S. 213 ff) entwickelt und danach mehrfach mit kleinen Variationen wiederholt: Code-Wechsel. Ein Versuch zur Umgehung der Frage: Gibt es eine oder viele Wirklichkeiten?, in: Matthias Kaufmann (Hg.), Wahn und Wirklichkeit – multiple Realitäten, 2003, 153-174; Code-Switching, or Why a Metacode Is Good to Have, in: Barbara Czarniawska/Guje Sevón (Hg.), Global Ideas, How Ideas, Objects and Practices Travel in the Global Economy, 2005, 259-274; On Juridico-Political Foundations of Meta-Codes, in: Jürgen Renn (Hg.), The Globalization of Knowledge in History, 2012, 483-500. Das ganze Buch unter http://www.edition-open-access.de/studies/1/25/index.html. Die angeführten Arbeiten Rottenburgs werden im Text nur mit Jahr und Seite zitiert.
2 Richard Rottenburg, When Organization Travels: On Intercultural Translation, in: Barbara Czarniawska/Guje Sevón (Hg.), Translating Organizational Change, 1996, 191-2401996 S. 214.
3 Anke Draude, Der blinde Fleck der Entwicklungstheorie, 2007, S. 71-89.
4 Maurizio Ferraris und Markus Gabriel, haben es geschafft, den Neuen Realismus zu einem Medienhit zu machen. Sie haben sich vor die Presse gestellt und erklärt, im Jahr 2011, an einem Sommertag, um 13.30 Uhr in Turin sei es geschehen. Beim gemeinsamen Mahl sei ihnen die Eingebung gekommen, dass das Zeitalter eines neuen Realismus angebrochen sei. Ferraris veröffentlichte 2012 ein »Manifesto del nuovo realismo« und Gabriel landete 2013 den Bestseller »Warum es die Welt nicht gibt«. Beide zusammen veranstalteten 2013 in Bonn eine Tagung zum Thema, bei der es ihnen gelang, einige große Namen der zeitgenössischen Philosophie zu versammeln, allen voran Umberto Eco, Hilary Putnam und John Searle. Die drei genannten und die meisten anderen Teilnehmer hatten sich allerdings schon vor 2011 deutlich von der Postmoderne abgesetzt. Der Frankfurter Philosoph Martin Seel meinte deshalb in der »ZEIT« (vom 3. Juli 2014), es sei schon öfter vorgekommen, dass eine Nachhut sich für die Vorhut hielt.
5 Der »neue Realismus« verkündet den Ausstieg aus der Postmoderne. Das Medienereignis zeigt sich im Feuilleton (alles im Internet zugänglich): Die ZEIT hat 2014 eine Serie von sieben Artikeln zum Thema veröffentlicht, den letzten von dem Philosophen Martin Seel unter dem Titel »Eine Nachhut möchte Vorhut sein«. Der Artikel enthält Links zu den sechs vorausgegangenen. Ferner: Cord Riechelmann, Und sie existiert doch!, FamS vom 26. 10. 2014 [nur im FAZ-Archiv]; Uwe Justus Wenzel, Maurizio Ferraris’ ›Manifest des neuen Realismus‹. Die Postmoderne und die Populisten, NZZ vom 14. 5. 2014; Daniel Boese, Hallo Welt, art. Das Kunstmagazin vom 8. 1. 2014.
Bücher zum »neuen Realismus«: Maurizio Ferraris, Manifesto del nuovo realismo, Rom 2012, deutsch als: Manifest des neuen Realismus, 2014; Markus Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt, 2013; ders. (Hg.). Der neue Realismus, 2014. Ferner: Armen Avanessian, Realismus jetzt. Spekulative Philosophie und Metaphysik für das 21. Jahrhundert, 2013; Christoph Riedweg, Nach der Postmoderne, Aktuelle Debatten zu Kunst, Philosophie und Gesellschaft, Basel 2014.
6 Dessen Fehler besteht darin, epistemologische Positionen, die als solche ihre Berechtigung haben mögen, auf die operative Ebene des Umgangs mit der sozialen Wirklichkeit übertragen. Im Übrigen ist an Karl R. Poppers »Myth of the Framework« zu erinnern. Der fundamentalistische Antifundamentalismus führt in ein epistemisches Gefängnis. Dessen Mauern sind – nach Ansicht Poppers – (Karl R. Popper, The Myth of the Framework, in: Eugene Freeman (Hg.), The Abdication of Philosophy: Philosophy and the Public Good; Essays in Honor of Paul Arthur Schilpp, La Salle, Ill. 1976, S. 23-48.) eher aus Papier.
7 Wie wir in der Allgemeinen Rechtslehre, 3. Aufl. 2007, S. 139.
8 S. 155f.
9 Vgl. zu diesem Begriff die schon nicht mehr ganz neue Arbeit von Frauke Stamp, Die Wahrheit im Strafverfahren, Eine Untersuchung zur prozessualen Wahrheit unter besonderer Berücksichtigung der Perspektive des erkennenden Gerichts in der Hauptverhandlung, 1998.
10 Vgl. Sebastian Garbe, Deskolonisierung des Wissens: Zur Kritik der epistemischen Gewalt in der Kultur- und Sozialanthropologie, Austrian Studies in Social Anthropology 1, 2013.
11 2002 S. 213.

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Eine Konvergenztheorie des Wissens (2. Fortsetzung)

Gründe 34-51
Sekundäres und externalisiertes Wissen

34. Die Konvergenzthese bezieht sich nur auf externalisiertes Wissen, das heißt auf solches, das außerhalb des menschlichen Gedächtnisses gespeichert ist.

35. Nur ein kleiner Teil des individuellen Wissens stammt aus erster Hand. Der weitaus größere Teil des Wissens wird von anderen übernommen. Die Masse des Wissens zirkuliert als sekundäres Wissen.

36. Wissenschaftstheorie fragt immer nur danach, wie Wissen mit Wahrheitsanspruch gewonnen werden kann. Zwar verbindet sich mit diesem Anspruch derjenige auf Intersubjektivität. Die intersubjektive Übertragbarkeit von Wissen hängt aber nicht von einer theoretischen Lösung der Wahrheitsfrage ab, sondern ist ein soziales Phänomen.

37. Für die eigene Lebenswelt hat man vielleicht noch den Eindruck, man kenne sie aus eigener Erfahrung. Doch schon der Eindruck täuscht. Schon meinen eigenen Lebenslauf kenne ich zum Teil nur aus Berichten von Eltern und Verwandten. Das Weltwissen dagegen stammt mehr oder weniger vollständig aus sekundären, tertiären oder noch weiter entfernten Quellen. Man lernt es mehr oder weniger planmäßig in Familie und Schule, aus Büchern und anderen Medien oder beiläufig im Umgang mit anderen Menschen. Die Qualität dieses Wissens wird in der Regel gar nicht hinterfragt. Sie ergibt sich unmittelbar aus der sozialen Beziehung zur Wissensquelle.

38. Auch Wissen, das als wissenschaftlich ausgezeichnet ist, ist ganz überwiegend Wissen aus zweiter Hand. Die Wissenschaftlichkeit einer Proposition folgt, ganz gleich welcher Wissenschaftstheorie man folgt, aus der Prozedur seiner Herstellung. Nur wer selbst an dieser Prozedur beteiligt ist, verfügt über Wissen erster Hand. Aber das sind verschwindend wenige. Deshalb kursiert auch wissenschaftlich erzeugtes Wissen grundsätzlich als Wissen aus zweiter Hand. Ein prominentes Beispiel bietet das Milgram-Experiment. Versuchsanordnung und Ergebnisse werden durchgehend zustimmend referiert und gelten beinahe schon als Allgemeinwissen.

39. Für die Qualifizierung von Wissen aus zweiter Hand hat die Wissenschaftstheorie wenig zu bieten. Zu denken ist immerhin an die Methoden zur Erstellung von Metastudien. Alle zusammenfassenden Referate, Übersichtsartikel, Lehrbücher usw. sind der Sache nach (qualitative) Metastudien, die selten oder nie ihre Methodik reflektieren. [1]Everett M. Rogers, der Klassiker der Diffusionstheorie (Diffusion of Innovations, 5. Aufl., New York, NY 2003), von dem in diesem Blog schon mehrfach die Rede war, berief sich in der ersten Auflage … Continue reading Häufiger sind methodische Überlegungen zu quantitativen Metanalysen.

40. Für die Qualifizierung von Wissen aus zweiter Hand lässt sich auch an die Diskussion über die Qualifizierung so genannten Testimonialwissens anknüpfen, die von Oliver R. Scholz in Gang gebracht worden ist. [2]Oliver R. Scholz, Das Zeugnis anderer. Prolegomena zu einer sozialen Erkenntnistheorie, in: Thomas Grundmann (Hg.), Erkenntnistheorie, Positionen zwischen Tradition und Gegenwart, 2001, 354-375 sowie … Continue reading Das Konzept einer sozialen Erkenntnistheorie (Social Epistemology) [3]Zur Orientierung vgl. den Artikel »Social Epistemology« von Alvin Goldman in der Stanford Encyclopedia of Philosophy, 2006. Seit 1987 erscheint eine Zeitschrift »Social Epistemology«, deren Texte … Continue reading betont die soziale Konstituierung und Vernetzung von Wissensbeständen.

41. Subjektive Wissensarbeit hat Konvergenz- und Divergenzeffekte. Auch die (objektive) Zirkulation von Wissen jenseits subjektiver Wissensarbeit bringt Effekte in beiden Richtungen. Die Konvergenzthese besagt natürlich, dass die Konvergenzeffekte überwiegen. Sie macht für die Konvergenzeffekte aber in erster Linie objektive Umstände (Eigenschaften des Wissens, Speichertechniken, Wiedergewinnungsmethoden u. a. mehr) verantwortlich. Daher die Überschrift: das Internet als Konvergenzmaschine.

42. Subjektive Wissensarbeit ist überfordert, wenn es darum geht, den Stand (wissenschaftlicher) Literatur auch nur zu einer einzelnen Proposition repräsentativ zu verarbeiten. Ein wissenschaftlicher Aufsatz zitiert heute im Schnitt vielleicht 20 bis 30 Quellen (und macht daraus 100 Fußnoten). Tatsächlich werden die meisten Themen aber bereits in hunderten oder tausenden von Texten behandelt. Die Nachweise in wissenschaftlichen Abhandlungen sind durchweg nicht annähernd repräsentativ. Niemand kann alles lesen, was etwa zur Abschreckung durch schärfere Sanktionen oder zur Beeinflussung richterlicher Entscheidungen durch die soziale Herkunft, zur Stufenbaulehre Merkls oder zur Drittwirkung der Grundrechte geschrieben worden ist. Das überfordert die menschliche Kapazität und das scheitert konkret auch oft an Disziplingrenzen, an der Verfügbarkeit der Texte und an Sprachproblemen. Ich vermute, dass deshalb sich abzeichnende Konvergenz vielfach verdeckt bleibt. Hinzu kommt – weiterhin vermutlich – eine Tendenz aller Schreiber, Divergenzen zu betonen, sei es weil Konsonanzen langweilig sind, sei es weil sie glauben, sich dadurch besser profilieren zu können.

43. Die Wissenschaftstheorie der Postmoderne scheint der Konvergenzthese wenige Chancen zu geben. Sie sieht sich außerstande, eine konsistente und einvernehmliche Position zu entwickeln, von der aus Wissenselemente als falsch ausgesondert werden können. Sie vertritt vielmehr einen Multiperspektivismus, der statt einer Wahrheit viel Wahres akzeptiert oder gar hervorbringt. Vielleicht ist aber gerade der bewusste Perspektivenwechsel ein Instrument zur Feststellung von Wissenskonvergenz. Was aus unterschiedlichen Perspektiven gleich bleibt, zeigt »aperspektivische Objektivität«.

44. In das Weltwissen ist vieles eingegangen, was einmal Thema wissenschaftlicher Forschung und nicht selten auch umstritten war. Nur ein kleiner Teil des Weltwissens ist explizit als epistemisch verlässlich, das heißt als wissenschaftlich begründet, ausgezeichnet. Doch längst gibt es einen großen Wissensbestand, dessen Herkunft aus der Wissenschaft gar nicht mehr wahrgenommen wird. In solchem Allgemeinwissen hat sich die Konvergenz des Wissens bereits realisiert.

45. Wie Sekundärwissen sich verfestigt, kann man bei der individuellen Informationssuche beobachten. Die Suchmaschine ersetzt oder verdrängt das zweifelnde Fragen und das Ringen um eine eigene Antwort. Wenn immer eine Frage auftaucht, wird nach Lösungen gegugelt. Eine davon muss es sein. Die richtige Antwort schält sich heraus, wenn man die ersten zehn oder vielleicht auch 20 Suchergebnisse auf Plausibilität und Übereinstimmung durchsieht.

46. Suchregeln, Gewichtungsregeln und Stoppregeln werden kaum explizit ausformuliert Aber sie sind implizit doch vorhanden. Drei Filter ergänzen sich, indem sie Quantität, Qualität und Kohärenz der Quellen zusammenfügen.

47. Quantität: In aller Regel gibt man sich mit der ersten Auskunft nicht zufrieden, sondern sucht nach mehreren übereinstimmenden Ergebnissen. Wie viele müssen es sein? Das hängt natürlich auch davon ab, ob es widersprechende Ergebnisse gibt. Juristen sind mit der Vorstellung von herrschender Meinung und Mindermeinung vertraut.

48. Wissenschaftliches Wissen, das aus dem Internet reproduziert wird, hat den Charakter von Lehrmeinungen.

49. »The idea that truth can best be revealed through quantitative models dates back to the development of statistics (and boasts a less-than-benign legacy). And the idea that data is gold waiting to be mined; that all entities (including people) are best understood as nodes in a network; that things are at their clearest when they are least particular, most interchangeable, most aggregated — well, perhaps that is not the theology of the average lit department (yet). But it is surely the theology of the 21st century.« [4]Kathryn Schulz, What Is Distant Reading?, The New York Times – Sunday Book Review vom 24. 6. 2011.

50. Für die Qualität der Quelle gibt es unterschiedliche Anhaltspunkte. Der erste ist Autorität der Autorenschaft. Der zweite ist das Erscheinungsbild der Quelle: Elaboration, Design usw. Wichtig ist schließlich, ob sich Ergebnisse und Begründungen plausibel zusammenfügen. Man könnte von inferentiellem Wissen sprechen.

51. Elaboration verdient besondere Aufmerksamkeit. Psychologen verstehen darunter eine vertiefte Informationsverarbeitung des Individuums durch die Einbettung neuer Information in das Netzwerk des Vorwissens. Hier ist dagegen die Elaboration der Darbietung von Wissen gemeint. Sie beginnt bei einem elaborierten Sprachstil, der sich als »wissenschaflich« zu erkennen gibt. Vor allem aber besteht sie, analog zu der individuellen Elaboration von Wissen, in der Einfügung singulärer Propositionen in einen größeren Zusammenhang. So geschieht es immer wieder in Dissertationen und Habilitationsschriften, dass eine an sich begrenzte These in eine umfangreiche historische Darstellung eingebettet wird, die möglichst alles referiert, was zum Thema gesagt wurde, mag es auch noch so obsolet sein. Kunstgerechte Elaboration »wirkt«, weil der Rezipient den – meistens durchaus zutreffenden – Eindruck gewinnt, hier sei großer Aufwand getrieben worden, um ein Ergebnis zu finden. Der Aufwand dient bis zu einem gewissen Grade als Ersatz für Gründe.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Everett M. Rogers, der Klassiker der Diffusionstheorie (Diffusion of Innovations, 5. Aufl., New York, NY 2003), von dem in diesem Blog schon mehrfach die Rede war, berief sich in der ersten Auflage von 1962 auf 506 empirische Untersuchungen. Bis zur fünften Auflage von 2003 hatte sich die Zahl der in Bezug genommenen Untersuchungen auf 5200 reichlich verzehnfacht. De facto handelt es sich hier um eine Metastudie, ohne dass Rogers sich dazu besondere methodische Gedanken gemacht hätte. Greenhalgh u. a. , die ab 2001 im Auftrag des UK Department of Health der Diffusion und Nachhaltigkeit von Innovationen im Gesundheitswesen nachgingen, haben einen Literaturbericht erstellt, der sich auf 1024 Quellen stützt. Die wesentlichen Ergebnisse wurden zunächst 2004 in einem Aufsatz zusammengefasst (Trisha Greenhalgh/Glenn Robert/Fraser Macfarlane/Paul Bate/Olympia Kyriakidou, Diffusion of Innovations in Service Organisations: Systematic Literature Review and Recommendations for Future Research, Milbank Quarterly 82, 2004, 581-629), der vollständige Bericht ist 2005 unter dem gleichen Titel als Buch erschienen. Anders als Rogers haben Greenhalgh u. a. sich mit den methodischen Herausforderungen einer solchen Kompilation befasst (Storylines of Research in Diffusion of Innovation: A Meta-Narrative Approach to Systematic Review, Social Science & Medicine 61, 2005, 417-430.)
2 Oliver R. Scholz, Das Zeugnis anderer. Prolegomena zu einer sozialen Erkenntnistheorie, in: Thomas Grundmann (Hg.), Erkenntnistheorie, Positionen zwischen Tradition und Gegenwart, 2001, 354-375 sowie Bibliographie ebd. S. 391-394; ders., Das Zeugnis der Sinne und das Zeugnis anderer, in: Richard Schantz (Hg.), Wahrnehmung und Wirklichkeit, 2009, 183-209; ders., Das Zeugnis anderer – Sozialer Akt und Erkenntnisquelle, in: Sybille Schmidt/Sybille Krämer/Ramon Voges (Hg.), Politik der Zeugenschaft. Kritik einer Wissenspraxis, 2011, 23-45; Nicola Mößner, Wissen aus dem Zeugnis anderer, 2010.
3 Zur Orientierung vgl. den Artikel »Social Epistemology« von Alvin Goldman in der Stanford Encyclopedia of Philosophy, 2006. Seit 1987 erscheint eine Zeitschrift »Social Epistemology«, deren Texte überwiegend neben meinem Thema liegen.
4 Kathryn Schulz, What Is Distant Reading?, The New York Times – Sunday Book Review vom 24. 6. 2011.

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Social Engineering – da war doch noch was?

Auf SOZBLOG, dem Blog der DGS, finde ich einen Beitrag von Thomas Etzemüller mit der Überschrift »Synthetische Begriffsbildung: social engineering«. Der Beitrag dient dazu, ein Projekt des Bloggers und den daraus resultierenden Sammelband [1]Thomas Etzemüller (Hg.), Die Ordnung der Moderne, Social Engineering im 20. Jahrhundert, 2009. Eine Rezension von Christian Geulen in: H-Soz-Kult, 20.01.2010, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-12312>. vorzustellen. Dessen Grundtenor geht wohl dahin, social engineering auf der »darker side of modernity« zu verorten und gelegentlich Verbindungen zu einem totalitären Ordnungsdenken herzustellen. Wie gut, dass auch Alva und Gunnar Myrdal – denen das besondere Interesse Etzemüllers gilt [2]Er hat ihnen eine eigene Monographie gewidmet: Thomas Etzemüller, Die Romantik der Rationalität. Alva & Gunnar Myrdal — Social Engineering in Schweden, transcript, Bielefeld 2010. – als prominente Sozialingenieure ins Visier geraten. Die sind politisch unverdächtig.

Was im Projekt geschah, wird wie folgt beschrieben:

»Wir haben den Begriff weder aus den Quellen entwickelt, weil es ihn da kaum gibt, noch einfach definiert und dann an die Quellen herangetragen. Eher war es eine Art synthetisierendes Verfahren. Wir haben mit Hilfe von Theorien — Ludwik Fleck, Michel Foucault u.a. —, empirischer Studien und an den Quellen Felder, Themen und Akteure identifiziert und auf diese Weise immer mehr umrissen, was social engineering sein könnte und was nicht.«

Was dabei herauskommt, zeigt der Eingangssatz von Etzemüllers Docupedia-Artikel »Social Engineering«. Der Begriff wird so weit gestellt, dass man damit alles oder nichts anfangen kann.

»Social engineering soll als transnationaler, Disziplinen übergreifender Versuch verstanden werden, gegen die vermeintlich zersetzenden Kräfte der industriellen Moderne mit künstlichen Mitteln eine verlorene natürliche Ordnung der Gesellschaft wieder zu erschaffen, indem man eine alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringende, vernünftige soziale Ordnung entwarf.«

Social Engineering gehört insofern auf die Seite der Gesellschaft im Gegensatz zur Gemeinschaft im Sinne von Ferdinand Tönnies. [3]Thomas Etzemüller, Social Engineering
als Verhaltenslehre des kühlen Kopfes. Eine einleitende Skizze, in: ders. u. a. (Hg.), Die Ordnung der Moderne, 2009, S. 11-39, S. 30.
Besser hätte man sich die begrifflichen Verrenkungen erspart und einfach von Sozialtechnologie gesprochen. [4]Vgl. dazu die Absteckung des Begriffsfelds durch Roland Müller: http://www.muellerscience.com/SPEZIALITAETEN/Methoden/Sozialtechnologie_Begriffe.htm.

Etzemüller beginnt seinen Blogeintrag entsprechend mit der Aussage, social engineering sei »ein in der Forschung noch nicht definierter Begriff, obwohl er seit dem frühen 20. Jahrhundert vereinzelt durch die Literatur geistert.« Vielleicht hätte er sich doch ein wenig mehr umsehen sollen. Der Begriff des social engineering ist durch Roscoe Pound zu einem Topos der Rechtssoziologie geworden ist. Michael Hochgeschwender [5]The Noblest Philosophy and Its Most Efficient Use: Zur Geschichte des social engineering in den USA, 1910-1965, in: Etzemüller u. a. (Hg.), Die Ordnung der Moderne, 2009, 171-197 schreibt in seinem Beitrag »Zur Geschichte des social engineering in den USA, 1910-1965« an der Rechtssoziologie vorbei. Auf der letzten Seite in der letzten Fußnote beruft er sich immerhin höchst ungenau [6]»Vgl. dazu Podgórecki, Adam/Alexander, Jon/Shields, Rob (Hg.): Social Engineering, Ottawa 1996.« Auf diesen Titel verweist auch Etzemüller in seinem Docupedia-Artikel. auf einen Sammelband, an dem der als Rechtssoziologe bekannte Adam Podgórecki beteiligt war. [7]Nachtrag vom 28. 12. 2014: In diesem Band ist trotz der Beteiligung Podgóreckis von Roscoe Pound und Rechtssoziologie nicht die Rede. Immerhin erwähnt Podgórecki in seinem Beitrag »Sociotechnics: … Continue reading In dem darauf folgenden Beitrag von Carl Marklund [8]Introduction: »Übergriffsgeschichte« and Social Engineering, 199-221. wird Roscoe Pound (auf S. 205) nur als Vertreter des Pragmatismus genannt.

Recht war für Pound nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck, »a means not an end« [9]Pound, The Need of a Sociological Jurisprudence, Green Bag 19, 1907, 607 ff., 614. Für diese instrumentale Auffassung vom Recht prägte er später den Ausdruck social engineering.

»Let us think of jurisprudence for a moment as a science of social engineering, having to do with that part of the whole field which may be achieved by the ordering of human relations through the action of politically organized society«. [10]Interpretations of Legal History, 1923, 152

Pound wies dem Recht die Aufgabe zu, Interessenkonflikte aufzulösen, wie sie im Verlaufe des Sozialprozesses entstehen, dachte aber nicht an die Fixierung letzter Ziele oder an die Ausführung eines Gesamtplans. »Engineering« war daher durchaus im Sinne des piecemeal engineering von Popper gemeint. Aus dieser Sicht stellten Pound und seine Anhänger die Frage nach den spezifischen Vorzügen und Nachteilen von Gesetzgebung und Rechtsprechung für eine interessengerechte Gestaltung der Gesellschaft. Soziologisch ging es ihnen darum, das Recht mit nichtrechtlichen Faktoren, d. h. mit anderen sozialen Erscheinungen, in Verbindung zu bringen. Dieses Bemühen kommt in einer Reihe von griffigen Thesen zum Ausdruck: Gesetze und Urteile haben Folgen für das Sozialleben; sozialer Wandel determiniert die Entwicklung des Rechts; die Effektivität der Rechtsnormen hängt vom Grad der Unterstützung ab, den sie in der öffentlichen Meinung finden, usw. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren solche Gedanken eher revolutionär. Heute klingt all das eher banal (oder nach Neoinstitutionalismus), so auch der Abschnitt IV in meinem Buch »Das Dilemma der Rechtstatsachenforschung« von 1974 (S. 46-74), der überschrieben war, »Recht als ›Social Engineering‹.« Aber in den 1960er Jahren hattte der Topos vom Sozialingenieur Konjunktur. Dafür stand der Aufsatz von Konrad Zweigert »Vom Rechtsheiligen zum Sozialingenieur« (DIE ZEIT, 21.2.1969 Nr. 08). Später hat Peter Kauffmann [11]Zur Konstruktion des Richterberufs durch Richterleitbilder, 2003; ders., Richterleitbilder heute – eine rechtssoziologische Betrachtung, DRiZ 2008, 194-198. noch einmal darauf zurückgegriffen, als er auf der Grundlage von Textanalysen das Angebot für Richterleitbilder in sieben »Grobkategorien« mit diversen Unterkategorien typisiert: Der Richter als »Rechtsprechungsautomat«, als »Schützer und Helfer«, als »Sozialarbeiter«, als »politischer Richter«, als »Billigkeitsrichter«, als »Dienstleister« und nicht zuletzt als »Sozialingenieur«. Heute ist der Topos eher in Vergessenheit geraten. Das ist aber kein Grund, ihn im Dunklen zu verorten.

Nachtrag vom 4. 3. 2015:
Hier noch einige Fundstücke:
Linus J. McManaman, Social Engineering: The Legal Philosophy of Roscoe Pound, St. John’s Law Review 33, 1958, 1-47.

Das Schweizer Institut für Rechtsvergleichung in Lausanne wird in der Einleitung zu einer zweibändigen Jubiläumspublikation mit dem Titel »Legal Engineering and Comparative Law« (Genf 2009) von der Herausgeberin und Direktorin des Instituts Eleanor Cashin-Ritaine wie folgt vorgestellt:

Lawyers at the Institute have, thus, perfected over the years a specific methodology, essentially in private law, that takes into account all sources of law, and allows for the creation of abstract legal structures that fulfil particular functional and practical purposes. This (re-)engineering of legal concepts and legal sources has given the scientific team in Lausanne a rare technical competence where both the scientific aspects of legal reasoning are taken into account and the complex practical issues are addressed in a pragmatic client-oriented manner. As a result, the phrase “legal engineering in comparative law” seems to describe in a very accurate way the scientific activity of the Swiss Institute of Comparative Law.

Im Internet habe ich aus diesem Band noch gefunden:
J. M. Smits, Legal Engineering in an Age of Globalisation.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Thomas Etzemüller (Hg.), Die Ordnung der Moderne, Social Engineering im 20. Jahrhundert, 2009. Eine Rezension von Christian Geulen in: H-Soz-Kult, 20.01.2010, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-12312>.
2 Er hat ihnen eine eigene Monographie gewidmet: Thomas Etzemüller, Die Romantik der Rationalität. Alva & Gunnar Myrdal — Social Engineering in Schweden, transcript, Bielefeld 2010.
3 Thomas Etzemüller, Social Engineering
als Verhaltenslehre des kühlen Kopfes. Eine einleitende Skizze, in: ders. u. a. (Hg.), Die Ordnung der Moderne, 2009, S. 11-39, S. 30.
4 Vgl. dazu die Absteckung des Begriffsfelds durch Roland Müller: http://www.muellerscience.com/SPEZIALITAETEN/Methoden/Sozialtechnologie_Begriffe.htm.
5 The Noblest Philosophy and Its Most Efficient Use: Zur Geschichte des social engineering in den USA, 1910-1965, in: Etzemüller u. a. (Hg.), Die Ordnung der Moderne, 2009, 171-197
6 »Vgl. dazu Podgórecki, Adam/Alexander, Jon/Shields, Rob (Hg.): Social Engineering, Ottawa 1996.« Auf diesen Titel verweist auch Etzemüller in seinem Docupedia-Artikel.
7 Nachtrag vom 28. 12. 2014: In diesem Band ist trotz der Beteiligung Podgóreckis von Roscoe Pound und Rechtssoziologie nicht die Rede. Immerhin erwähnt Podgórecki in seinem Beitrag »Sociotechnics: Basic Problems and Issues (S. 23-57) auf S. 24 kurz Leon Petrażycki, der seinerseits als Rechtssoziologe bekannt ist, als den Autor, der erster eine bewusste Definition von Social Engineering als rechtspolitischer Theorie formuliert habe.
8 Introduction: »Übergriffsgeschichte« and Social Engineering, 199-221.
9 Pound, The Need of a Sociological Jurisprudence, Green Bag 19, 1907, 607 ff., 614
10 Interpretations of Legal History, 1923, 152
11 Zur Konstruktion des Richterberufs durch Richterleitbilder, 2003; ders., Richterleitbilder heute – eine rechtssoziologische Betrachtung, DRiZ 2008, 194-198.

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Eine Konvergenztheorie des Wissens (1. Forsetzung)

Gründe 18-33:
»Literaturflut – Informationslawine – Wissensexplosion«. [1]Werner Marx, Literaturflut – Informationslawine – Wissensexplosion. Wächst der Wissenschaft das Wissen über den Kopf?, Forschung 4, 2011, 96-104 (zitiert wird vielfach noch eine ältere … Continue reading

18. Hinter diesen Stichworten steckt nicht unbedingt ein Gegenargument zur Konvergenzthese. Sie verweisen jedoch auf wichtige Zusammenhänge, nämlich erstens auf die These von dem unbegrenzten und unbegrenzbaren Wachstum des Wissens, zweitens auf die Möglichkeiten und Probleme einer Quantifizierung des Wissens und drittens auf Versuche, das anscheinend unbremsbare Wachstum des Wissens zu relativieren.

19. Die These vom unbegrenzten und unbegrenzbaren Wachstum des Wissens schließt an die These vom Unwissen als Kehrseite des Wissens. Letztere stammt angeblich schon von Goethe, der gesagt haben soll »Mit dem Wissen wächst der Zweifel.« Sie ist selbst ein Beispiel für die Konvergenz des Wissens. Die kürzeste Formulierung lautet wohl »Wissen produziert Unwissen.« Etwas ausführlicher: »Je mehr man weiß, desto mehr wächst der bewußte Bereich des Ungewußten.« [2]Beide Formulierungen aus Christoph Engel/Jost Halfmann/Martin Schulte, Wissen – Nichtwissen – unsicheres Wissen, 2002, Vorwort S. 9. Diesen nicht überprüften Nachweis habe ich (ohne die … Continue reading Die These taucht an vielen Stellen auf, ohne dass man auf dieselbe Quelle Bezug nimmt. [3]Z. B. bei Martin Schulte, Eine soziologische Theorie des Rechts, S. 130: »Keine Generierung von Wissen ohne gleichzeitige Generierung von Nichtwissen!« Schulte verweist auf zwei Titel von Klaus … Continue reading

20. Die These vom unbegrenzbaren Wachstum des Wissens wird oft mit Hilfe der Metapher von der Wissenskugel ausgedrückt. »Die Kugel des Gewussten liege im Meer des Ungewussten. Damit ist klar, je mehr wir wissen, desto größer ist der Kontakt der Kugeloberfläche zum Ungewussten.« [4]Rainer Schröder/Angela Klopsch, Der juristische Doktortitel, Humboldt Forum Recht 2012, S. 33, ohne Nachweis. Die Proposition, die dahinter steckt, die Aussage nämlich, dass mit der Zunahme des Wissens der Bereich des Unwissens wächst, ist selbst ein Beispiel für die Konvergenz des Wissens, taucht dieser Gedanke doch an verschiedenen Stellen immer wieder auf. Werner Marx nennt als Erfinder der Wissenskugel ohne Nachweis Hubert Markl, als Fortsetzer Jürgen Mittelstraß und verweist dazu auf einen Radiovortrag von 1992 [5]Von Marx 2011 bei Fn. 4.. Matthias Groß [6]Die Wissensgesellschaft und das Geheimnis um das Nichtwissen, in: Cécile Rol/Christian Papilloud, Soziologie als Möglichkeit, 2009, S. 105. verweist auf einen Aufsatz von Mittelstraß von 1996 [7]Nichtwissen: Preis des Wissens? In: Schweizerische Technische Zeitschrift 93, 1996, 32-35.. Und Mittelstraß nennt sich selbst als Quelle. [8]In dem Internet-Manuskript »Gibt es Grenzen des Wissens?«, 2008. Der Gedanke ist freilich älter. Ich meinerseits habe bereits 1974 [9]Das Dilemma der Rechtstatsachenforschung, S. 39. festgehalten: »Sowie sich der Kreis des Bekannten vergrößert, wird die Peripherie, an der er sich mit dem Unbekannten berührt, immer länger.«, als Quelle von Hayek [10]Friedrich A. von Hayek, Rechtsordnung und Handelsordnung, in: Zur Einheit der Rechts- und Staatswissenschaften, Karlsruhe 1967, S. 195 ff., 205. angegeben und außerdem in der Fußnote Popper [11]Karl R. Popper, On the Sources of Knowledge and of Ignorance, in: Conjectures and Refutations, London 1963, S. 28. zitiert: »The more we learn about the world, and the deeper our learning, the more conscious, specific, and articulate will be our knowledge of what we do not know, our knowledge of ignorance. For this, indeed, is the main source of our ignorance – the fact that our knowledge can only be finite, while our ignorance must necessarily be infinite.« Der Wissenskugel entspricht eine Verstehenskugel: »Jeder Zuwachs an Verstehen ist zugleich ein Zuwachs an Verstehen des Nichtverstehens und damit eine kontinuierliche Unterminierung des Verstehens. Auch die durch das hermeneutische Verfahren zu behebende Ungewißheit ist damit ›Ungewißheit ohne Ende‹, die durch Zunahme von Wissen nie endgültig aufzuheben ist.« [12]Zitat aus Ino Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts, 2009, S. 187, er wiedrum auf Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, 2000, S. 47 verweist. Bei Teubner lesen wir: »In der Wissenschaft erzeugt die Forschung immer höhere Ungewissheiten, die nur durch verstärkte Forschung wieder beseitigt werden können, die wiederum neue Ungewissheiten erzeugen.« [13]Verfassungsfragmente, 2012, S. 129, ohne Nachweis.

21. Die Quantifizierung des Wissens fordert eigentlich eine Wissensdefinition und deren Operationalisierung. Hier liegt ein bisher nicht befriedigend gelöstes Problem. Daher wird die quantitative Zunahme des Wissens indirekt gemessen, vor allem durch Zählung von Menschen mit wissenschaftlicher Ausbildung als Wissensproduzenten und von Publikationen als Wissensträger. Konvergenzen lassen sich mit solchen Zählungen nicht erkennen.

22. Die Versuche, die anscheinend unbremsbare Zunahme des Wissens zu relativieren, beginnen bei der Definition des Wissens, und zwar durch die Ausscheidung von Daten und Informationen. Ein weiterer Schritt ist die Qualifizierung des Wissens. Dazu dienen etwa die Messung von Zitierhäufigkeiten und die Ermittlung Veraltungszyklen. Beides könnte, aber muss nicht auf Konvergenz hindeuten. Die Konvergenzthese lässt sich ihrerseits als Versuch der Relativierung der Wissensexplosion verstehen, wiewohl das nicht ihre eigentliche Zielrichtung ist.

23. Die These hinter der Wissenskugel geht stillschweigend davon aus, dass das vorhandene Wissen irgendwie konsolidiert ist und vor allem auch gewusst wird. Die These von der Konvergenz des Wissens interessiert sich kaum für das Unwissen außerhalb der Kugel, sondern sie befasst sich mit der Konsolidierung des Kugelinhalts. Die Konsolidierung (vorhandenen) Wissens setzt voraus, dass das Wissen überhaupt zur Kenntnis genommen wird. Die unzulängliche Konsolidierung von Wissen hat ihre Ursache vielfach nicht in Unwissen, sondern in Unkenntnis des Wissens (ignorance). [14]Andrew Abbott, Varieties of Ignorance, The American Sociologist 41, 2010, 174-189.

24. Die Konvergenz von Wissen lässt sich nur durch Zweitbeobachtung feststellen. Bei der Zweitbeobachtung wird Wissen zu sekundärem Wissen. Oder im kulturalistischen Code: Es geht um Repräsentationen.

25. Wissen ist oft komplex und speziell. Es kann und muss für unterschiedliche Zielgruppen verständlich dargestellt werden. Die Konvergenz verträgt sich mit einer vielfältigen sprachlichen und visuellen Aufbereitung des Wissens.

26. Die Möglichkeiten sprachlicher Variation sind enorm. Originalität wird leicht durch die unterschiedliche sprachliche Darstellung von Wissen vorgetäuscht. Mehr oder weniger alle Aussagen sind mehrfach zu finden. Das bringen die bekannten Redensarten zum Ausdruck: Neuer Wein in alten Schläuchen. – Das Rad wird neu erfunden. – Nichts Neues unter der Sonne. Wer älter ist wie der Verfasser dieses Textes, muss sich vor solchen Redensarten hüten. Fraglos gibt es immer wieder Neues. Aber angesichts der wissenschaftlichen Massenproduktion bleibt es doch erlaubt, auf die Vielzahl der auf den ersten Blick unsichtbaren Übereinstimmungen und die sich darin zeigende Konvergenz des Wissens hinzuweisen.

27. Da Wissen immer durch Zeichen repräsentiert werden muss, ist wegen der Interpretationsfähigkeit insbesondere von Sprachzeichen mit dem Einwand zu rechnen, dass eine eindeutige Feststellung von Konvergenz nicht immer möglich ist. Doch Wissen, dass nicht intersubjektiv transferierbar ist, ist kein wissenschaftliches, sondern bleibt Literatur, Kultur oder Unterhaltung. Wissenschaft gründet auf der Unterstellung, dass das Problem der Interpretationsvarianz für ihren Bereich lösbar ist. Intersubjektive Transmissibilität heißt allerdings nicht Transmissibilität der Akzeptanz einer Proposition, sondern lediglich Möglichkeit des gleichsinnigen Verständnisses.

28. Die Konvergenz des Wissens geht regelmäßig mit einer Trivialisierung einher. Das Wissen der Welt ist in Sprache (und teilweise in Formeln, Bildern und Grafik, die hier vernachlässigt werden) gespeichert. Die Konvergenz zeigt sich erst, wenn ein Wissenselement referiert wird oder referierbar ist. Jedes Referat ist eine »Übersetzung«. Nach der Theorie der kulturellen Übersetzung hat jede Übernahme von Wissen eine Veränderung zur Folge. Prinzipiell ist das wohl richtig. Aber da wird tüchtig übertrieben. Mit der Feststellung von Konvergenz geht allerdings Redundanz verloren, und mit der Redundanz Konnotationen.

29. Ein wichtiger Schritt zur Konvergenz des Wissens ist die Konvergenz von Definitionen. Da jeder frei ist, seinen Gegenstand zu definieren, redet man oft dasselbe aneinander vorbei. Diese Freiheit ist kann und will niemand einschränken. Aber sie lässt sich disziplinieren, indem man sich bemüht, bei einer vorhandenen Definition anknüpfen, die sich anscheinend bewährt hat, um dann – wenn erforderlich – seine Kritik und Abweichungen anzuschließen.

30. In diesem Sinne übernehme ich für die (vorläufige) Festlegung auf einen Wissensbegriff die Definition von Marc Porat [15]The Information Economy. Definition and Measurement, Washington D.C. 1977, S. 2., und zwar auf dem Umweg über Daniel Bell [16]Die nachindustrielle Gesellschaft, 1975, S. 180., weil ich aus ihrer Verwendung durch Bell schließe, dass die Definition mindestens brauchbar ist. Danach bildet Wissen eine »Sammlung in sich geordneter Aussagen über Fakten und Ideen, die ein vernünftiges Urteil oder ein experimentelles Ergebnis zum Ausdruck bringen und anderen durch irgendein Kommunikationsmedium in systematischer Form übermittelt werden.« Grundlage des Wissens bilden Informationen. »Informationen sind Daten, die organisiert und kommuniziert worden sind.«

31. Diese Definition steht im Gegensatz zu dem imperialistischen Wissensbegriff der Kulturwissenschaften, der alle bewussten und unbewussten psychischen Zustände einschließt.

32. Ähnlich relevant wie Definitionen sind wissenschaftliche Fragen. Die Konvergenz von Propositionen setzt eine einheitliche Fragestellung voraus.

33. Statik und Dynamik – Beschreibungen und Erklärungen: Wisenskonvergenz bedeutet kein Ende des sozialen Wandels. Es konvergieren in erster Linie die Erklärungen. Beschreibungen können nur solange konvergieren, wie der beschriebene Zustand bleibt.
(Nr. 20 wurde am 13. 12. ergänzt. Fortsetzung folgt.)

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Werner Marx, Literaturflut – Informationslawine – Wissensexplosion. Wächst der Wissenschaft das Wissen über den Kopf?, Forschung 4, 2011, 96-104 (zitiert wird vielfach noch eine ältere Internetversion aus dem Jahr 2002 des Artikels von Werner Marx und Gerhard Gramm.)
2 Beide Formulierungen aus Christoph Engel/Jost Halfmann/Martin Schulte, Wissen – Nichtwissen – unsicheres Wissen, 2002, Vorwort S. 9. Diesen nicht überprüften Nachweis habe ich (ohne die Fundstelle zu notieren) von Schmidt-Assmann übernommen.
3 Z. B. bei Martin Schulte, Eine soziologische Theorie des Rechts, S. 130: »Keine Generierung von Wissen ohne gleichzeitige Generierung von Nichtwissen!« Schulte verweist auf zwei Titel von Klaus Peter Japp, darunter: Die Beobachtung von Nichtwissen, Soziale Systeme 3, 1997, 289-312. Andreas Voßkuhle spricht von dem »externen Bereich des Unerforschten« als etwas durch »wissenschaftliches Wissen selbst Konstituiertes« und nennt als Quelle einen Text von Peter Wehling (in: Hans-Heinrich Trute u. a., Allg. Verwaltungsrechts, 2008, S. 653). Peter Wehling ist überhaupt eine gute Quelle für die These vom Unwissen als Kehrseite des Wissens, z. B.: Die Schattenseite der Verwissenschaftlichung. Wissenschaftliches Nichtwissen in der Wissensgesellschaft., in: Stefan Böschen/Ingo Schulz-Schaeffer (Hg.), Wissenschaft in der Wissensgesellschaft, 2003, 119-142, oder ders., Artikel »Wissen und Nichtwissen« in: Rainer Schützeichel, Hg., Handbuch Wissenssoziolgie, 2007, 485-494).
4 Rainer Schröder/Angela Klopsch, Der juristische Doktortitel, Humboldt Forum Recht 2012, S. 33, ohne Nachweis.
5 Von Marx 2011 bei Fn. 4.
6 Die Wissensgesellschaft und das Geheimnis um das Nichtwissen, in: Cécile Rol/Christian Papilloud, Soziologie als Möglichkeit, 2009, S. 105.
7 Nichtwissen: Preis des Wissens? In: Schweizerische Technische Zeitschrift 93, 1996, 32-35.
8 In dem Internet-Manuskript »Gibt es Grenzen des Wissens?«, 2008.
9 Das Dilemma der Rechtstatsachenforschung, S. 39.
10 Friedrich A. von Hayek, Rechtsordnung und Handelsordnung, in: Zur Einheit der Rechts- und Staatswissenschaften, Karlsruhe 1967, S. 195 ff., 205.
11 Karl R. Popper, On the Sources of Knowledge and of Ignorance, in: Conjectures and Refutations, London 1963, S. 28.
12 Zitat aus Ino Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts, 2009, S. 187, er wiedrum auf Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, 2000, S. 47 verweist.
13 Verfassungsfragmente, 2012, S. 129, ohne Nachweis.
14 Andrew Abbott, Varieties of Ignorance, The American Sociologist 41, 2010, 174-189.
15 The Information Economy. Definition and Measurement, Washington D.C. 1977, S. 2.
16 Die nachindustrielle Gesellschaft, 1975, S. 180.

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Eine Konvergenztheorie des Wissens

Mir fällt immer stärker auf, dass in vielen Büchern zur Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Methodenlehre und Rechts­soziologie mehr oder weniger dasselbe zu lesen ist. Oft wird Konvergenz nicht wahrgenommen, weil die Autoren unterschiedlichen wissenschaftlichen Schulen, Zitierkartellen usw. angehören, so dass sie gar nicht merken oder merken wollen, wieweit sie in der Sache übereinstimmen. Noch häufiger wird die Konvergenz hinter immer neuen Formulierungen versteckt, sei es, um das Selbstbild des originalen Wissenschaftlers zu wahren, sei es um den Eindruck eines Plagiats zu vermeiden. Für Lehrbücher und Kommentare zum geltenden Recht gilt das erst recht.

Mir fällt weiter auf, wenn ich Texte aus verschiedenen Disziplinen lese, dass sie auf den ersten Blick zwar nichts miteinander zu tun haben, bei näherer Hinsicht jedoch erstaunliche Parallelen aufweisen. Das ist mir zuletzt bei ethnologischen Texten aufge­fallen, die der Sache nach der Diffusion von bestimmten gesellschaftlichen Organisationsformen nachgehen, die sich aber strikt weigern, sich als Diffusionsforschung einzuordnen, und ihre Beobachtung statt dessen in Konzepte von travelling models und kultureller Übersetzung verpacken.

Schließlich fällt mir auf, dass das neue Ideal der Geistes- und Sozialwissenschaften in der erfolgreichen Suche nach Vielfalt zu bestehen scheint, während die Suche nach Konsonanzen oder Übereinstimmungen als langweilig oder gar als diskriminierend gilt. Der »Willkommensgruß des postmodernen Philosophen in Richtung der Vielfalt, des Fragmentierten, Polymorphen und Instabilen« [1]Umberto Eco, Gesten der Zurückweisung, in: Markus Gabriel (Hg.), Der neue Realismus, 2014, 33-51, S. 36. war höchst erfolgreich.

Diese Beobachtungen sind Anlass, drei zunächst grobe Thesen zu formulieren:
– Das Wissen der Welt konvergiert.
– Es lohnt sich, der einst von Peirce formulierten Konvergenztheorie der Wahrheit nachzugehen.
– Das Internet erweist sich als Konvergenzmaschine für das Wissen der Welt.

Die Publikationsform des Blogs bietet Möglichkeit und Versuchung zugleich, unfertige Gedanken vorzuzeigen. Die folgende Begründung ist ebenso grob wie die Thesen. Jeder Absatz könnte und müsste breit ausgearbeitet werden, und vermutlich gibt es zu den darin angesprochenen Fragen schon viele Überlegungen, die – unter anderem mit der Konvergenzmaschine Internet – zu einer Antwort zusammengefügt werden können. Sicher gibt es viele Gegengründe, die ich aber ausblende, um mich zunächst meiner These zu versichern. Auch so ist dieser Notizzettel schon so lang geworden, dass ich ihn auf mehrere Einträge verteile. Ich nummeriere die Notizen durch, weil mir bisher eine systematische Gliederung fehlt.

78 [2]Vielleicht werden es noch mehr, bis der letzte Eintrag zum Thema gemacht ist. Gründe
Teil I: Empirische und epistemische Konvergenztheorien

1. Es geht um Wissen, dass als wissenschaftlich gilt. Für die MINT-Fächer wäre die Konvergenzthese vielleicht kaum der Rede wert, wiewohl auch diese von wissenschaftstheoretischen Skrupeln geplagt werden. [3]Ulrich Wengenroth, Zur Einführung: Die reflexive Modernisierung des Wissens, in: ders. (Hg.), Grenzen des Wissens, 2012, 7-22. Mir geht es um die Geistes- und Sozialwissenschaften.

2. Konvergenztheorien treten entweder als empirische oder als epistemische auf. Empirische Konvergenztheorien behaupten die Konvergenz sozialer Entwicklungen, welcher Art auch immer. Prominent war etwa die Konvergenzthese als Element der Modernisierungstheorie, die besagte, dass kapitalistische und sozialistische Gesellschaftsformen am Ende konvergieren würden. Auch die Modernisierungstheorie selbst ist in ihrer klassischen Version eine Konvergenztheorie. Rechtsvergleicher diskutieren die Konvergenz des Rechts auf Weltebene oder jedenfalls auf Europaebene, auch das primär unter empirischen Aspekten.

3. Demgegenüber stehen epistemische Konvergenztheorien, das heißt solche, die in irgendeiner Weise die Wahrheitsfrage behandeln. Allen modernen Wahrheitstheorien ist die Ablehnung des von ihnen so genannten Fundamentalismus gemeinsam. Gemeint ist damit die Vorstellung, dass wissenschaftliche Erkenntnis auf einem festen Fundament aufbauen könne und müsse, sei es auf dem empirischen Sinnkriterium, sei es auf Vernunft oder auf einer Kombination von beidem. Konsenstheorien der Wahrheit sind jedenfalls insoweit noch fundamentalistisch, als sie darauf abstellen, dass nicht jeder Konsens, sondern nur ein solcher, der durch einen vernünftigen Diskurs gewonnen wird, als Wahrheitsersatz gelten kann.

4. Konvergenztheorien der Wahrheit sind in der Regel Kohärenztheorien. Das heißt, sie stellen darauf ab, dass Sätze nicht isoliert betrachtet werden dürfen, sondern dass menschliches Wissen »holistisch« als Netzwerk zu verstehen sei. Es gewinnt seine Qualität aus der stimmigen Einbettung in einen größeren Zusammenhang. Moderne Konvergenztheorien tragen daher die Sammelbezeichnung »semantischer Holismus«. Analog zur diskursorientierten Konsenstheorie der Wahrheit gibt es auch eine realistisch orientierte Konvergenztheorie der Wahrheit. Sie stammt von Peirce und besagt etwa, dass in einer unendlich entfernten Zukunft Realität und Gedanken über die Realität konvergieren werden. Bis dahin sei alle Erkenntnis fallibel: »Wahrheit ist die Übereinstimmung einer abstrakten Feststellung mit dem idealen Grenzwert, an den unbegrenzte Forschung die wissenschaftliche Überzeugung anzunähern die Tendenz haben würde.« [4]Charles S. Peirce, Schriften II, hgg. v Karl-Otto Apel, 1970, 459. »In the long run«, so lautet die häufig wiederkehrende Formel in den »Collected Papers«. Mit dem Internet und seinen Suchmaschinen ist der weite Weg ein Stück kürzer geworden.

5. Ob die Wahrheitstheorie von Peirce ihrerseits als Korrespondenztheorie oder als Konsenstheorie einzuordnen ist, ist sekundär. Ältere Äußerungen sprechen für eine fundamentalistische Korrespondenztheorie, die eine Entsprechung der Erkenntnis zu einer unabhängigen Realität erwartet, die eben durch die vollständige Konvergenz der Realitätsbeschreibungen angezeigt wird. »Es gibt reale Dinge, deren Eigenschaften völlig unabhängig von unseren Meinungen über sie sind; dieses Reale wirkt auf unsere Sinne nach regelmäßigen Gesetzen ein, und obwohl unsere Sinnesempfindungen so verschieden sind wie unsere Beziehungen zu den Gegenständen, können wir doch, indem wir uns auf die Gesetze der Wahrnehmung stützen, durch schlußfolgerndes Denken mit Sicherheit feststellen, wie die Dinge wirklich und in Wahrheit sind; und jeder, wenn er hinreichende Erfahrung hat und genug darüber nachdenkt, wird zu der einzig wahren Konklusion gerührt werden« [5]Charles S. Peirce, Die Festlegung einer Überzeugung (1877), in: Ekkehard Martens, Texte der Philosophie des Pragmatismus, 1975, S. 79.

6. Wichtiger ist, dass der Wahrheitsbegriff von Peirce nicht nur epistemisch, sondern auch empirisch ist. Er ist epistemisch, weil er Bedingungen angibt, unter denen Sätze, als wahr ausgezeichnet werden können. Und er ist empirisch, weil er die Prognose wagt, dass tatsächlich einmal (»in the long run«) ein Konvergenzzustand erreicht sein könnte.

7. Solche Konvergenz betrifft nur einzelne wissenschaftliche Propositionen. Sie ist zwar hinsichtlich jeder singulären Proposition denkbar. Es ist aber nicht anzunehmen, dass irgendwann einmal alle wissenschaftlichen Sätze durch Konvergenz bestätigt werden – Oder?

8. Für die Auszeichnung als wissenschaftlich verwende ich den institutionellen (oder formellen) Wissenschaftsbegriff. [6]Röhl/Röhl, Allg. Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, 83. Das heißt, Wissenschaft definiert sich selbst und ist darauf angewiesen, dass ihre Umgebung diese Definiition akzeptiert. Was immer in den traditionellen Institutionen der Wissenschaft (Universitäten, Forschungsinstitute usw.) produziert wird, wird wie selbstverständlich als wissenschaftlich angenommen. Vielleicht geht die Entwicklung dahin, dass auch durch Datenverarbeitung gewonnene Sätze als wissenschaftlich akzeptiert werden. Dann werden wir Google Scholar eines Tages als Kollegen begrüßen.

9. Es gibt nichtpropositionales Wissen, und das hat in der Praxis enorme Bedeutung. [7]Dazu https://www.rsozblog.de/implizites-wissen/. Die Konvergenzthese bezieht sich auf Propositionen über solches Wissen, aber nicht auf dieses Wissen selbst.

10. Die Konvergenz des Wissens, um die es hier geht, ist ein empirisches Phänomen. Es bietet eine gewisse Bestätigung für die epistemische Konvergenztheorie. Die Konvergenzthese besagt, dass die Wissensbestände dieser Welt konvergieren, und zwar nicht als Ergebnis diskursiver oder anderer intentionaler Prozesse, sondern kraft evolutionärer Entwicklung. Die Wahrheitsfrage ist nicht das Thema, wiewohl sie sich natürlich nicht verdrängen lässt. In einem sehr verkürzten Sinn wird sie zum bloßen Selektionskriterium der Evolution.

11. Auch Akkumulation wäre eine Form von Konvergenz. Die Idee der Wissensakkumulation ist allerdings spätestens seit Kuhn verpönt. Doch sie kriecht aus verschiedenen Ecken wieder hervor. Der »neue Realismus« könnte zu einer gewissen Rehabilitation führen. Ein skeptischer Realist ist wohl auch Bruno Latour. Latour spricht von objektiviertem Wissen, das durch Referenzketten entsteht. [8]Vgl. das Referat, das ich im Ethnologenblog der Uni Halle gefunden habe. Als Quelle wird das Hörspiel » Kosmokoloss. Eine Tragikomödie über das Klima und den Erdball« angegeben, dass wohl am 6. … Continue reading

12. Konvergenzen von Politiken, technischen Verfahren, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen (darunter auch das Recht) sind eine anscheinend augenfällige und viel diskutierte Folge der Globalisierung. Dabei geht es jedoch um Konvergenzen auf der Objektebene, während die Konvergenz des Wissens auf einer Metaebene zu suchen ist. Die Frage wäre also, ob die Aussagen über Konvergenz als Folge der Globalisierung ihrerseits konvergieren. Auch »globale Wissenswelten« [9]Vgl. dazu Nico Stehr, Globale Wissenswelten oder grenzenlose Erkenntnisse, Rechtstheorie 39, 2008, 301-327. sind zunächst ein Phänomen auf der Objektebene. Es ist immerhin vorstellbar, dass eine oder mehrere epistemic communities zur Plattform für die Konvergenz des Wissens werden.

13. Die Konvergenz des Wissens ist (als empirisches) ein kognitives Phänomen. Aus der Übereinstimmung des Wissens folgt nicht automatisch die Übereinstimmung des Verhaltens.

14. Deshalb gilt die Konvergenzthese zunächst nur für empirisches Wissen. Dazu zählen auch kognitive Vorstellungen über Sätze mit normativem Gehalt. Solche Sätze bilden einen wesentlichen Bestandteil der Jurisprudenz.

15. Aus der Kenntnis von Begriffskonstruktionen, Konzepten und Normen folgt nicht unmittelbar deren Billigung oder gar Übernahme. Analoges gilt für Wissen über Religion und Kultur.

16. Konvergenz des Wissens bedeutet deshalb nicht auch Konvergenz der Kulturen, sondern nur Konvergenz des Wissens über Kulturen. Allerdings ist das Wissen über Kulturen die Voraussetzung einer Diffusion. Aber über die Annahme von Wissen und Kultur wird nach unterschiedlichen Normen entschieden. Die Konvergenz von Wissen gilt prinzipiell als Anzeichen von Wahrheit und wird deshalb begrüßt. Vielfalt von Kulturen gilt dagegen als Wert und wird deshalb konserviert.

17. In der Rechtsphilosophie gibt es teilweise die Idee, dass »in the long run« auch normative Einstellungen konvergieren. Diese Idee ist nicht Teil der hier ausgebreiteten These.

(Fortsetzung folgt.)

Nachtrag
Die Serie von fünf Einträgen zur Konvergenz des Wissens habe ich zur Vorbereitung für eine Veröffentlichung überarbeitet. Zunächst habe ich darüber auf der Tagung »Die Versprechungen des Rechts – Dritter Kongress der deutschsprachigen Rechtssoziologie-Vereinigungen« in Berlin 2015 vorgetragen. Hier das ungekürzte Vortragsmanuskript.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Umberto Eco, Gesten der Zurückweisung, in: Markus Gabriel (Hg.), Der neue Realismus, 2014, 33-51, S. 36.
2 Vielleicht werden es noch mehr, bis der letzte Eintrag zum Thema gemacht ist.
3 Ulrich Wengenroth, Zur Einführung: Die reflexive Modernisierung des Wissens, in: ders. (Hg.), Grenzen des Wissens, 2012, 7-22.
4 Charles S. Peirce, Schriften II, hgg. v Karl-Otto Apel, 1970, 459.
5 Charles S. Peirce, Die Festlegung einer Überzeugung (1877), in: Ekkehard Martens, Texte der Philosophie des Pragmatismus, 1975, S. 79.
6 Röhl/Röhl, Allg. Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, 83.
7 Dazu https://www.rsozblog.de/implizites-wissen/.
8 Vgl. das Referat, das ich im Ethnologenblog der Uni Halle gefunden habe. Als Quelle wird das Hörspiel » Kosmokoloss. Eine Tragikomödie über das Klima und den Erdball« angegeben, dass wohl am 6. 12. 2013 in Radio Bayern 2 gelaufen ist. Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, die Sendung von 65 Minuten anzuhören.
9 Vgl. dazu Nico Stehr, Globale Wissenswelten oder grenzenlose Erkenntnisse, Rechtstheorie 39, 2008, 301-327.

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Amazons Mechanischer Türke und die Bedeutung der Kosten der Hochzeit für die Dauer der Ehe

Die aktuelle Liste der SSRN Top Downloads der letzten 60 Tage wird angeführt von

Andrew M. Francis/Hugo M. Mialon, ’A Diamond is Forever’ and Other Fairy Tales: The Relationship between Wedding Expenses and Marriage Duration.
22.254 Mal wurde das Paper heruntergeladen. Muss doch interessant sein. Hier die Zusammenfassung:

»In this paper, we evaluate the association between wedding spending and marriage duration using data from a survey of over 3,000 ever-married persons in the United States. Controlling for a number of demographic and relationship characteristics, we find evidence that marriage duration is inversely associated with spending on the engagement ring and wedding ceremony.«

Aber ich habe aus dieser Arbeit noch mehr gelernt, nämlich dass und wie man mit Amazons mechanischem Türken empirische Sozialforschung betreibt. Wirklich neu war das aber wohl nur für mich, dann darüber kann man bereits bei Wikipedia nachlesen: http://en.wikipedia.org/wiki/Amazon_Mechanical_Turk.

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Die Elefanten laufen immer ein bißchen hinterher. Mit der geballten Kraft von Manpower und Euro hat nun auch das Exzellenzcluster »Normative Orders« an der Universität Frankfurt a. M. den Anschluss an das travelling model der kulturellen Übersetzung geschafft. Dort beginnt am 4. Dezember eine Ringvorlesung unter dem Titel »Kann man Recht übersetzen?«.

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Neuer Band zu Eugen Ehrlichs Rechtssoziologie

In der von Stefan Machura und mir im LIT-Verlag herausgegebenen Reihe »Gesellschaft und Recht« ist als Band 8 erschienen:

Knut Papendorf / Stefan Machura / Anne Hellum (Hg.), Eugen Ehrlich’s Sociology of Law. [1]ISBN 978-3-643-90494-2.

Der Band enthält Beiträge von Klaus A. Ziegert, Franz und Keebet von Benda-Beckmann, Hanne Petersen, Olga Livinova, Monika Lindbek, Rustamjon Urinboyev und Måns Svennson sowie von den Herausgebern.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 ISBN 978-3-643-90494-2.

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Travelling Models VI: Isomorphie der Organisationen (Teil II)

Nun endlich zu den einschlägigen Texten Rottenburgs. [1]Hier noch einmal die Texte Rottenburgs, die nur mit Jahr und Seite zitiert werden: 1994: »We have to do business as business is done!«. Zur Aneignung formaler Organisation in einem … Continue reading Er beruft er sich, wie gesagt, auf die drei Formen des institutionellen Isomorphismus nach DiMaggio und Powell. Für den Blick auf den Sudan interessiert ihn aber nicht, wie rechtliche Anforderungen und die normierende Kraft der Professionen formale Organisationen hervorbringen und einander immer ähnlicher werden lassen. Vielmehr konzentriert er sich auf das Phänomen der Nachahmung anscheinend erfolgreicher Gestaltungen:

»What predominantly interests me is mimetic isomorphism, an orientation towards images from the First World, which are presented by all parties as contextually independent, infallible models.« (1996 S. 194)
»Under the paradigm of mimetic isomorphism, formal organization is presented as a model which, like other models and images, is constructed and spreads through imitation.« (1996 S. 196)

Aber so einfach ist die Sache dann doch nicht. Für gewöhnlich wird Nachahmung damit erklärt, dass die Übernahme anscheinend erfolgreicher Handlungsweisen von der Unsicherheit der Entscheidung über komplexe Kausalverläufe entbinde. Rottenberg weist diese Erklärung zurück.

»Mimesis is sometimes fundamentally different from a well-thought-out orientation towards an example or model.« (1996 S. 196)

Das wird man ohne weiteres akzeptieren. Erklärungsbedürftig ist aber die Fortsetzung:

»The modelling of the Lake Transport Company which I shall use as a case in point does not lead to a reduction of uncertainty, but to an increase, and business success fails to materialize too. The actors continue mimetic isomorphism as though totally unmoved by this.« (S. 196)

Nachahmung hängt natürlich nicht von dem definitiven, sondern nur von dem ex ante erwarteten Erfolg ab. Die Nachahmung steckt hier anscheinend nicht in der ursprünglichen Gründung der Lake Transport Company, von der es heißt:

»In 1970, the River Authority responsible for the hydroelectric power station and the development of the lake area formed the Lake Transport Company in collaboration with a private European firm.« (1996 S. 198)

Nachahmung findet Rottenburg vielmehr in der über Jahrzehnte fortdauernden Implementation des Modells (»the actors continue mimetic isomorphism«). Da ist es in der Tat bemerkenswert, dass man an dem Modell festhält, obwohl es nicht den erwarteten Erfolg bringt.

Als Quintessenz der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie lässt sich festhalten, das formale Organisationen auf eine informale Basis angewiesen sind. Wenn sie von dem generalisierten Rationalitätsglauben ihrer Mitglieder und ihrer Umgebung getragen werden, entwickelt sich intern vor allem eufunktionale Informalität. Das zeigt im Umkehrbild Rottenburg für den Sudan im Jahre 1996. Er zeigt, dass einer formalen Organisation, jedenfalls damals im Sudan, die institutionelle Umgebung fehlte, an der sie sich hätte aufhängen können. Im Beispiel von Lake Transport habe sich unvermeidlich Klientelismus entwickelt, da in den Augen der Beteiligten die mit der importierten formalen Organisation verbundenen Vorstellungen von gleichen Rechten und der Zuteilung von Status und Belohnung nach Leistung bei den Beteiligten, die sich an traditional zugeschriebenem Status orientierten, die Legitimität fehle (1996 S 229f).

»Bürokratie und Markt sind die beiden mächtigsten Gleichmacher, und die bürgerliche (wie auch die sozialistische) Moderne ist diejenige Gesellschaftsform, wo das Recht auf Differenz am radikalsten diskreditiert ist. In nicht-modernen Gesellschaften hingegen reklamieren Individuen und Gruppen ein unwiderrufliches Recht für sich, verschieden zu sein, andere Bedürfnisse zu haben und unterschiedlich behandelt zu werden. Hier kommen Geschlecht, Seniorität, Abstammung, Status und idiosynkratische Neigungen als Attribute zum Tragen, die den Austauschbeziehungen quasi vorgelagert sind und nicht jedesmal wieder zur Disposition stehen.« (1995a S. 21; ähnlich 1996 S. 203)

Rottenburg benennt hier also die Akzeptanz von Statusdifferenzierungen als informelle Institution, die der auf Gleichheit und Leistungsprinzip gründenden formellen Institution in die Quere kommt, und die generalisierte Reziprozität verbunden mit einem Ethos der Brüderlichkeit als persistente Moralökonomie.

Nun erwartet man vielleicht eine Fortsetzung derart, dass es für die Entwicklungszusammenarbeit darauf ankomme, eine eher langfristige Perspektive einzunehmen in der Hoffnung, in den fraglichen Ländern werde der Rationalitätsglaube wachsen, bis er als informale Basis formaler Organisationen dienen könne. Aber Rottenburg will nicht bei der Annahme stehen bleiben, dass einige Kulturen eine informale Basis entwickeln, die rationale und formale Strukturen tragen, während andere eine sozusagen subversive Informalität aufweisen (1996 S. 208).

»The question is, therefore, why, in the case of Japan, do we hear so much about the supposedly outstanding effectiveness of informal relations compared to the bureaucratic model? And why, on the other hand, are informal relations predominantly seen as strategies of subversion when they occur in South America, Asia and Africa?« (1996 S. 207)

Für die Antwort dürfe man nicht wie üblich fragen, wie die Implementierung formaler Organisationen durch traditionell geprägte informelle Netzwerke behindert werde, sondern müsse umgekehrt überlegen, wieso sich im Kontext solcher Netzwerke formale Organisationen ansiedeln. Die Umkehrung der Frage ist freilich gar nicht so einfach, denn die Übernahme formaler Organisationen wurde in einer ersten Stufe in der Zeit des Kolonialismus erzwungen und wird seit der Dekolonialisierung durch die Entwicklungshilfe erkauft. Sie ist also alles andere als »freiwillig«. Die Frage kann daher nur lauten:

»Welche Bedeutung haben formale Organisationssysteme im Kontext informeller Netzwerke? Das Thema so aufzuwerfen, heißt gleichzeitig zu fragen: Welche Rolle spielen dabei jene neuen Ideen und Artefakte, die in einem globalen Diskurs umherwandern, um von einzelnen Akteuren aufgegriffen und in ihren lokalen zeiträumlichen Kontext übersetzt zu werden? Und was bedeutet es, wenn das Modell ›formale Organisation‹ selbst zu diesen Ideen/Artefakten gehört? Auf jeden Fall aber wird durch die Umkehrung der Frage vermieden, durch den sozialwissenschaftlichen Diskurs einen Bereich des Rationalen von einem Bereich des Irrationalen zu trennen, für den man sich dann allein zuständig fühlt.« (1995a S. 20; ähnlich 1996 S. 203)

Hier ist er wieder, der ethnologische Rationalitätsbegriff, der keiner ist, weil er sich nicht auf eine bestimmte Bedeutung von Rationalität festlegt, sondern kulturrelativistisch mit den Konnotationen der Benennung spielt. »Das Religiöse ist genauso rational erklärbar wie jeder andere modus of existence in der Welt.«, so liest man in dem Blog der Hallenser Ethnologie. In diesem Sinne »rational« erklärbar ist jedes Verhalten, das objektiv irgendeine soziale Funktion hat und subjektiv nicht unter die psychiatrische Diagnose der Verwirrung fällt. Aber nicht alles, was sich rational erklären lässt, ist deshalb schon selbst »rational«. Das gilt auch dann, wenn Rationalität die Folge von Institutionalisierung ist. » … institutionalization makes clear what is rational in an objective sense. Other acts are meaningless, even unthinkable«. [2]Zucker, ASR 42, 1977, 726ff, 728. »In an objective sense« heißt aber nur, dass der soziale Ursprung und mit ihm die Kontingenz nicht ins Bewusstsein gelangt. Solche Objektivität und lässt sich dekonstruieren, und dann kommt oft Irrationales zu Tage. Am Rationalitätsbegriff kann man die Dinge nicht festmachen. Aber es ist sicher richtig, dass sich auch Sozialwissenschaft nicht immer von Bewertungen freihält und deshalb über die wertrationale Hochschätzung von Gleichheit, universellen Rechten und ökonomischer Effizienz andere Wertrationalitäten vernächlässigt. Und deshalb ist es angebracht, dass Rottenburg uns eine Lektion über das institutionalisierte System der generalisierten Reziprozität mit seinem Ethos der Brüderlichkeit erteilt (1995a, S. 21ff; 1995b S. 101). Er betont dabei den Unterschied zwischen Äquivalententausch – bei Rottenburg (1995a S. 24) »balancierte« Reziprozität – und der in der Ethnologie als Gabentausch geläufigen generalisierten Reziprozität. Bei letzterer geht der Status der Beteiligten als Beitrag in den Austauschvorgang ein. [3]Zu diesem Gesichtspunkt Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl., 2008, 347.

»reklamieren Individuen und Gruppen ein unwiderrufliches Recht für sich, verschieden zu sein, andere Bedürfnisse zu haben und unterschiedlich behandelt zu werden. Hier kommen Geschlecht, Seniorität, Abstammung, Status und idiosynkratische Neigungen als Attribute zum Tragen, die den Austauschbeziehungen quasi vorgelagert sind und nicht jedesmal wieder zur Disposition stehen. …
Nicht weil sie wirklich gleich sind oder Gleiches tauschen, sondern weil sie ihre Ungleichheit annehmen und nicht ständig in Frage stellen, deuten sie ihre internen Tauschbeziehungen als Gabentausch, als System generalisierter Reziprozität. Hier wird nicht aufgerechnet, sondern davon ausgegangen, daß sich Schulden auf lange Sicht kompensieren; der gute Ton verbietet es, überhaupt von Schulden und Erwiderung zu sprechen.« (1995a S. 21)

Und deshalb darf auch nicht »quid pro quo« oder gar mit Geld vergolten werden. Das würde den symbolischen oder Vertrauensgehalt des Gabentauschs zerstören (und wäre in der Tat Korruption).

Auch im Sudan von 1996 hat die Idee formaler Organisation jedenfalls soweit Fuß gefasst, dass sie sich nicht mehr aus der Welt schaffen lässt.

»The world of formal organization is the home of the idea of rationalization, which can annul old privileges and break up well-practised solution methods. The bare existence of a formal organization is evidence that some actors have been able in this way to launch legitimating discourses which then developed into intentional formal structures.« (1996 S. 239)

Daraus folgt, dass bei der Implementierung des Modells »formale Organisation« in traditioneller Umgebung ständig Legitimitätsfragen ausgehandelt werden.

»The main and prior goal here is increasing acceptance and legitimacy. Raising efficiency is something derived, even if it is considered to be the ultimate goal. This way of looking at organizational isomorphism means, however, that the surface or the façade is being rehabilitated following its modernistic denunciation. Saving face, an attitude which modernists like to ascribe to ›irrational‹ individuals and ›pre-modern‹ societies, re-appears as something important and, in a sense, reasonable. Honour and shame are now discovered – of all places – where cool economic rationality was expected.« (1996 S. 195)

Scham und Ehre sind Attribute, die man für gewöhnlich nur Personen zuspricht. Hier dient der Gleichklang von face und façade als Brücke zu dem Aufsatz von Meyer und Rowan, dessen Kernaussage anscheinend lautet, dass man formale Organisationen nicht funktionalistisch als zweckrational organisierte und arbeitende Einheiten ansehen dürfe, da ihre formale Seite nur eine eine legitimierende Fassade (S. 233f) sei. Die zentrale Aussage von Meyer und Rowan ist aber eine andere. Sie behaupten nicht das Versagen von Organisationen, sondern erklären im Gegenteil, dass formale Organisationen erfolgreich sind, obwohl die Formalität nicht wirklich durchgehalten wird. Die rituelle Pflege des formalen Außenbildes ist – wie gesagt – keine Täuschung, sondern sondern hilft den Beteiligten, ihr Gesicht zu wahren, wenn sie abgekoppelt von der Form ihr Arbeit verrichten. Sie verbreitet eine Aura des Vertrauens innerhalb und außerhalb der Organisation.

Auch das gibt es, Organisationsfassaden, die auf Täuschung oder jedenfalls Verschleierung angelegt sind. Rottenburg spricht von der Spiegelfassaden oder Potemkinschen Dörfern (1996 S. 240). Aber das ist nicht die zeremonielle Fassade, von der bei Meyer und Rowan die Rede ist. [4]Die »Schauseite«, von der bei Stefan Kühl spricht, ist dagegen nur »geglättet« oder »aufgehübscht« (Die Fassade der Organisation. Überlegungen zur Trennung von Schauseite und formaler Seite … Continue reading Dort wird diese Fassade von innen und außen durch einen festen Rationalitätsglauben gestützt. Gerade daran fehlt es aber in Afrika. Deshalb ist es schwer verständlich, wie die formale Seite der Organisation zwischen verschiedenen Legitimationsdikursen vermitteln kann.

»Unter anderem hat sich … die Aufmerksamkeit dafür geschärft, daß es beim Herstellen eines Handlungskonsenses weniger darum geht, sich möglichst vollständig zu verständigen, als darum, sich zeremoniell auf eine äußere Form oder Fassade zu einigen, die verschiedene Inhalte zulässt.« (1995b S. 94)

Die formale Seite der Organisation lässt eigentlich keine verschiedenen Inhalte zu, es sei denn, sie diene von vornherein nur der Irreführung. Deshalb ist die Fassadenmetapher in Rottenburgs Texten eher verwirrend.

Wenn angesichts der Persistenz generalisierter Reziprozität im Sudan und anderswo in Afrika das moderne Angebot formaler Organisationen akzeptiert wird, dann doch letztlich, um es in das informale Netzwerk einzupassen.

» … the formal structures are built up intentionally by people. And certainly, the actors involved do not only intend to open a discourse of equal rights and opportunities, and to establish an effective service to the public interest. They are probably just as interested in improving their own individual lives via the positions and action opportunities of the formal system. In concrete terms, this often means strengthening their role in the informal network via a role in the formal system. For this they need and want the formal system.« (1996 S. 209)

Formale Organisationen sind vielfach mit der Verteilung knapper Ressourcen befasst. Sie sind Empfänger von Entwicklungshilfe. Sie bieten Arbeitsstellen, Wasser- und Telefonanschlüsse, medizinische Behandlung usw., die nach »rationalen« Gesichtspunkten wie Leistung, Gleichheit und Priorität zugeteilt werden sollen. Wer dort aufsteigt, gewinnt Tauschmöglichkeiten, die über das traditionelle Maß hinausgehen. Daraus entsteht Patronage.

»Wenn Mitglieder eines informellen Netzwerkes im formellen System aufsteigen, wird es ihren Tauschpartnern schwerfallen, ihre Beiträge in der gleichen Währung und m derselben Höhe zu erwidern. Zudem werden die Aufsteiger nun mehr an Loyalität interessiert sein, die sie am ehesten dadurch aufbauen und bewahren daß sie ihre Tauschpartner im ›Schatten der Verschuldung‹ (Gouldner) lassen. Auf diese Weise spielt sich eine Patron-Klient-Beziehung ein. Die eine Seite, der Patron (zumindest in der Literatur immer ein Mann), bringt vor allem den Zugang zu begehrten Positionen und Aufträgen, politischen Schutz sowie Hilfeleistungen in Not ein. Die andere Seite, die Klientel, antwortet mit persönlicher Loyalität gerade auch m politischen und ideologischen Dingen, mit kleineren Diensten und mit Informationen aus Bereichen, die dem Patron wegen seiner gehobenen Position nicht mehr zugänglich sind, auf die er aber besonders angewiesen ist.« (1995a S. 27; ähnlich 1996 S. 206).

Und solche Patronage wiederum macht die (neuen) Statusunterschiede erträglich:

»Hierarchies are padded out with patron-client relations not because something or other is not working properly, but because asymmetries in the social exchange only appear to be acceptable under the guise of protection and loyalty between people.« (1996 S. 208)

Wenn dann tatsächlich die formale Organisation für Eingaben in das informale Netzwerk genutzt wird, entstehen natürlich Rollenkonflikte:

»The donor of a gift, however, is involved in a conflict of loyalties, since the setting aside of resources for a friend means breaking the rules of the formal system, as in the case of the director of a telephone company who has a phone installed for a friend who would otherwise have been on the waiting list for two years. The practice of allocating telephone lines, like any other practice, requires a representational mode, a theoretical construct defining how things should be in a specific field. … On the one hand, it is supposed to make the practice of allocating telephones look like the implementation of a plan that is rationally oriented towards the principle of efficiency. On the other hand, it is supposed to make practice look fair and legitimate in the eyes of as many people as possible.« (1996 S. 204)

Hier tritt das Ethos des informalen Netzwerks mit der Rationalität der formalen Organisation in Streit. Doch diese beiden Positionen sollen wir nicht als diametrale Gegensätze verstehen, denn auf beiden Seiten seien sowohl Ethos wie Rationalität vertreten (1996 S. 205).

»… if the reciprocity ethos among people who perceive themselves as belonging to the same ›community of brothers‹ still holds sway in situations where, from a western perspective, transactions ought to be carried out according to quite different rules, then this primarily points to certain social obligations being regarded as holy … . They cannot be neglected without considerable negative consequences.« (1996 S. 208)
»It is not so much a matter of two separate worlds as of two types of discourse which are continually intersecting and traversing each other: one cannot exist without the other and vice versa.« (1996 S. 209)

Die Prägung der sozialen Beziehungen durch sozialen Tausch im Sinne generalisierter Reziprozität, getragen von einer »ideology of kinship and friendship« ist primär und füllt alle Spielräume, die formale Organisation übrig lässt wie »Gras zwischen den Pflastersteinen« (1995a S, 30; 1996 S. 204). Aber wir sollen das Gras nicht als Unkraut ansehen, sondern als mindestens ebenso normal wie die Steine.

Daher könne auch nicht von Subversion die Rede sein, wenn diese Rollenkonflikte im Einzelfall zugunsten des informalen Netzwerks aufgelöst werden. Viel eher müsse man das informale Netzwerk als eine Art demokratischer Kontrolle der formalen Organisation begreifen:

»It can be argued, however, that such arrangements do not necessarily undermine or change formal organizations and their hierarchies into something else but rather tame and reduced them to a humane measure. Networks make it impossible for individuals or alliances to exploit the hierarchy at will for their own advantage. The effect of this kind of appropriation can be seen as a special form of ›democratic‹ control of the bureaucratic machinery. Seen from the opposite point of view, it is the bureaucratic machinery that creates the conditions in which patronage can flourish.« (1996 S. 206, ähnlich 1995a S. 28)

Rottenburg kann sich anscheinend vorstellen, dass formale Organisation auf der Grundlage einer andersgearteten Informalität als sie in Europa anzutreffen ist, erfolgreich operieren kann. Wenn formale Organisationen nicht ohne Informalität zu haben sind, dann komme es darauf an, dass die Informalität ein relativ stabiles Gerüst bilde, das groben Missbrauch verhindere. Als Beispiel dient Scheich Hakim in einem Dorf Südkordofans, der in staatlichem Auftrag eine richterähnliche Funktion wahrnimmt.

»Wie überall im ländlichen Afrika herrschen auch in Südkordofan mehrere Rechtssysteme nebeneinander. Die dörflichen Gerichtsverhandlun gen finden im Schatten eines großen Baumes statt; meist setzen sich unter der Wortführung Hakims einige einflußreiche ältere Männer und Frauen, die indirekt von dem Fall betroffen sind, mit den beiden Parteien zusammen. Nachdem die eine Partei ihre Anklage und die andere ihre Verteidigung formuliert haben, versucht man unter Bezug auf die nicht kodifizierten Rechtsvorstellungen eine Einigung zu erzielen. … Entweder man einigt sich leicht über eine Lappalie und zahlt an Hakim eine im Dorf übliche Summe, die unter der entsprechenden Gerichtsgebühr des Staates liegt. Oder es geht um mehr … Die Möglichkeit Hakims, den rechtlichen Rahmen zu wechseln, erweist sich als ungewöhnlich wirkungsvoller Machthebel … Wer mit dem Lösungsvorschlag Hakims nicht einverstanden ist, kann nicht ohne weiteres zu einem anderen Scheich gehen, allenfalls zum staatlichen Gericht, doch gerade das wollen die meisten ja vermeiden.« (1995b S. 96ff).

Auf den ersten Blick ist das Korruption, denn Hakim ist auf Grund seiner formalen Richterstellung in der Lage, Druck auf die Beteiligten auszuüben, den diese wiederum durch Bestechung abwenden können (1995 S. 98). Aber er nutzt seine Rolle nicht rücksichtslos, vielmehr

»geht er [damit] so um, wie die anderen es für angemessen und vernünftig erachten. Er zweigt etwas für sich ab, doch bleibt er dabei ausgewogen, hat ein Ohr für Notfälle und übt ein ausreichendes Maß an redistributiver Großzügigkeit aus. Für die erhobenen Gebühren bietet er einen nützlichen Vermittlerservice, und oft bewahrt er die Leute vor Schlimmerem.« (1995b S. 96 ff).

Der Neoinstitutionalismus hat uns belehrt, dass formale Institution ohne informale Basis nicht zu haben ist.

»Auch in Europa hat sich rationale Bürokratie nicht nur gegen, sondern ebenso mit der Hilfe anderer Prinzipien der Loyalität und Solidarität durchgesetzt. Jede Bürokratie ist von Marktbeziehungen und Netzwerken durchdrungen. Es handelt sich hier nicht um getrennte Wirklichkeitsbereiche, sondern um verschiedenartige Modelle der Legitimation, die sich in der Praxis auf unterschiedliche Weisen miteinander verknüpfen.« (Rottenburg 1995b S. 98f)

Bieten also generalisierte Reziprozität verbunden mit einer Ethik der Brüderlichkeit eine alternative informale Basis auch für formale Organisation? Das ist wohl doch zu schön um wahr zu sein.

Das Ethos der Reziprozität lässt stets Raum, um den eigenen Vorteil zu bedenken, und dazu kann man sich bemühen, eine vorteilhafte Definition der Situation durchzusetzen (1996 S. 208). In der Praxis ist die Situation meistens offen, so dass man auch die Regeln der formalen Organisation zum Bezugspunkt nehmen kann. So führt das Aufeinandertreffen von formaler Organisation und gegenläufiger Informalität in Konflikt- und Verhandlungssituationen – und eigentlich sind alle Situationen Verhandlungssituationen – immer wieder dazu, dass die Akteure die Sitution argumentativ für sich nutzen können.

»In bestimmten sozialen Kontexten, die als Innenwelt erlebt werden, ordnet man ökonomische und andere zweckrationale Interessen der Brüderlichkeitsethik unter. Doch in den Zwischenräumen dieser Innenwelten bilden sich keine öffentlichen Güter und zivilen Tugenden heraus, sondern es entsteht ein moralisches Niemandsland. Hier greift eine sich verallgemeinernde Käuflichkeit um sich, und Herrschaft verkommt zum nackten Instrument der Geldakkumulation. Genau genommen müßte es nicht Niemands-, sondern Feindesland heißen, wo man ungestraft Regeln verletzen und Hilfe unterlassen kann, bisweilen sogar morden, rauben und brandschatzen darf. Der afrikanische Staat liegt in diesem Feindesland.« (Rottenburg 1995 S. 101f)

Was bleibt von der Lektüre dieser (älteren) Aufsätze Rottenburgs? Es bleibt vor allem der Versuch, afrikanische Verhältnisse von dem von eurozentrischen Rationalitätsvorstellungen geprägten Korruptionsdiskurs auszunehmen. Aber der Versuch scheitert an der Tatsache, dass »moderne« Organisationsformen und Denkweisen in Afrika überall soweit eingedrungen sind, dass die traditionellen informalen Institutionen, die durch Reziprozität und eine »Ethik der Brüderlichkeit« charakterisiert werden, auf begrenzte »Innenwelten« reduziert sind, um die herum ein institutionelles »Niemandsland« gewachsen ist.

Der zentrale Abschnitt des Aufsatzes von 1996 (S. 209-220) liest sich wie eine Abhandlung über das Thema der Diffusion abgesehen davon, dass der Begriff, nur einmal verwendet wird, um die alte Diffusionstheorie von Ratzel zurückzuweisen (S. 214). Darauf komme ich im nächsten Eintrag zurück.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Hier noch einmal die Texte Rottenburgs, die nur mit Jahr und Seite zitiert werden: 1994: »We have to do business as business is done!«. Zur Aneignung formaler Organisation in einem westafrikanischen Unternehmen, Historische Anthropologie 2, 1994, 265-286;
1995a: Formale und informelle Beziehungen in Organisationen, in: Achim von Oppen/Richard Rottenburg (Hg.), Organisationswandel in Afrika, 19-34.
1995b »OPP. Geschichten zwischen Europa und Afrika«, Kursbuch 120 »Korruption«, 90-106.
1996: When Organization Travels: On Intercultural Translation, in: Barbara Czarniawska/Guje Sevón (Hg.), Translating Organizational Change, 1996, 191-240
2001: Kultur der Entwicklungszusammenarbeit, FS Dieter Weiss, 349-377.
2 Zucker, ASR 42, 1977, 726ff, 728.
3 Zu diesem Gesichtspunkt Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl., 2008, 347.
4 Die »Schauseite«, von der bei Stefan Kühl spricht, ist dagegen nur »geglättet« oder »aufgehübscht« (Die Fassade der Organisation. Überlegungen zur Trennung von Schauseite und formaler Seite von Organisationen, Working Paper 1/2010). Das verträgt sich noch mit der »zeremoniellen Fassade« von Meyer und Rowan.

Ähnliche Themen

Travelling Models V: Isomorphie der Organisationen (Teil I)

Dieser Eintrag gilt immer noch der Vorbereitung auf eine Besprechung des Bandes »Travelling Models in African Conflict Management, Translating Technologies of Social Ordering« herausgegeben von Andrea Behrends, Sung-Joon Park und Richard Rottenburg (Leiden 2014).

Seit Beginn der 1990er Jahre entwickelt Richard Rottenburg, Direktor des Seminars für Ethnologie an der Universität Halle-Wittenberg, seine Gedanken über travelling models, über die Diffusion von Ideen und Artefakten in den Entwicklungsländern, insbesondere im subsaharischen Afrika. Seine Arbeiten lassen sich auch als Beitrag zur Rechtssoziologie lesen, denn mehr oder weniger alle der travelling models sind in irgendeiner Weise rechtlich grundiert. Rottenbergs prominenteste Arbeit ist die Monographie: »Weit hergeholte Fakten, Eine Parabel der Entwicklungshilfe«, 2002. [1]Englisch als: Far-fetched facts, A Parable of Development Aid, Cambridge, Mass. 2009. Eine kurze, eher faktenorientierte Darstellung gibt Rottenburg in dem Aufsatz »Accountability for Development … Continue reading Sie schildert, verkleidet in fiktive Darstellungen der Hauptakteure, die Schwierigkeiten der Entwicklungszusammenarbeit am Beispiel eines Projekts zur Verbesserung der Organisation der Wasserwerke in drei Städten Tansanias.

Diesem Buch sind in den 1990er Jahren Aufsätze vorangegangen, aus denen sich die Gedankenwelt der Hallenser Ethnologie leichter erschließen lässt. [2]Folgende Texte Rottenburgs, deren Lektüre diesen und weitere Einträge veranlasst haben, werden hier nur mit Jahr und Seite zitiert: 1994: »We have to do business as business is done!«. Zur … Continue reading Sie befassen sich mit dem Schicksal formaler Organisationen in einem Entwicklungsland:

»I shall concentrate on a field usually ignored by anthropology: the translation of modern organization as the citadel of western cultures.« (1996 S. 192)

Als handfestes Beispiel dient eine Reederei, deren Schiffe im Sudan [3]Die nach 1983 im Sudan entstandene Bürgerkriegssituation beschreibt und analysiert Rottenburg in dem Aufsatz »Das Inferno am Gazellenfluss. Ein afrikanisches Problem oder ein ›schwarzes Loch‹ … Continue reading auf einem großen Stausee operieren (West African Lake Transport Company) und die trotz vieler planerischer und finanzieller Entwicklungshilfe an patrimonialen Strukturen mehr oder weniger erstickt. Von der Organisation bleibt anscheinend bloß Fassade. An diesem Beispiel präsentiert Rottenburg seine Theoriewerkzeuge, nämlich neoinstitutionalistische Organisationstheorie und vor allem die Theorie der sozialen Übersetzung nach Callon und Latour.

Das gängige Bild der afrikanischen Entwicklungsländer ist dunkel.

»Nichts scheint ohne Bestechung zu laufen, und kein privater Frieden ist vor staatlichen Übergriffen sicher. Dieser Sachverhalt ist für alle afrikanischen Staaten beschrieben und aus unterschiedlichen Perspektiven interpretiert worden.« (Rottenburg 1995 S. 100)

So ist man gespannt, ob sich ein anderes Bild ergibt, wenn Rottenburg mit der Lake Transport ein (staatlich dirigiertes) Wirtschaftsunternehmen in den Blick nimmt. Tatsächlich ändert sich nicht eigentlich das Bild. Aber wie nicht selten, wenn ein kompetenter Führer ein Bild erläutert, sieht der Betrachter am Ende Farbschichten, die ihm sonst entgangen wären. Zuerst führt Rottenburg ihn allerdings, wie ich meine, auf eine falsche Fährte, indem auf neoinstitutionalistische Literatur zurückgreift, wie sie von John Meyer, DiMaggio und Powell repräsentiert wird. Ich kann mich aber auch nicht wirklich mit der Theorie der sozialen Übersetzung von Callon und Latour anfreunden, auf die Rottenburg dann umschwenkt. Trotzdem oder gerade deshalb will ich mich auf die beiden Theoriewerkzeuge einlassen, mit denen Rottenburg seine Beobachtungen bearbeitet, denn was bei Rottenburg am Ende an Sachaussagen herauskommt, ist erhellend. Dieser und der folgende Eintrag konzentrieren sich auf die neoinstitutionalistische Organisationstheorie. Die Theorie der sozialen Übersetzung nach Callon und Latour in der Rezeption durch Rottenburg wird Thema eines weiteren Eintrags.

Zunächst also einige Anmerkungen zu der von Rottenburg angeführten neoinstitutionalistischen Organisationstheorie. Zu Beginn des Aufsatzes »When Organization Travels« von 1996 bezieht sich Rottenburg auf die drei Formen des institutionellen Isomorphismus nach DiMaggio und Powell von 1983. [4]Paul J. DiMaggio/Walter W. Powell, The Iron Cage Revisited: Institutional Isomorphism and Collective Rationality in Organizational Fields, American Sociological Review 48, 1983, 147-160; deutsch als: … Continue reading Später beruft er sich auf einen weiteren Klassiker des Neoinstitutionalismus, nämlich auf Meyer und Rowans »Institutionalized Organizations: Formal Structure as Myth and Ceremony« von 1977. [5]John W. Meyer/Brian Rowan, Institutionalized Organizations: Formal Structure as Myth and Ceremony, American Journal of Sociology 83, 1977, 340-363. Dieser Aufsatz ebenso wie der bereits angeführte … Continue reading Mein erster Eindruck – der sich nicht bestätigt hat – war, dass Rottenburg in einer einseitigen Interpretation dieser Literatur Organisationen schlecht redet, damit das beispielhaft vorgeführte Scheitern einer Organisation im sudanesischen Kontext eher erträglich erscheint. Deshalb, und weil es sich dabei um ein ganzes Kapitel Rechtsoziologie handelt, werde ich etwas weiter ausholen. Wer mit dem Neoinstitutionalismus vertraut ist, sollte sich den Rest von Teil I ersparen und sogleich zu Teil II übergehen.

Sozialwissenschaftler sprechen oft schon im Hinblick auf einzelne verfestigte Normen von Institutionen.

»The only idea common to all usages of the term ›institution‹ is that of some sort of establishment of relative permanence of a distinctly social sort.«

Dieses geläufige Zitat von Everett C. Hughes [6]Everett C. Hughes, The Ecological Aspect of Institutions, American Sociological Review 1, 1936, 180-189, S. 180. bezeichnet die Schnittmenge aller Definitionen des Institutionsbegriffs: Eine Institution ist eine relativ stabile soziale Praxis. Aus juristischer und ebenso aus rechtssoziologischer Sicht ist es jedoch üblich und zweckmäßig, unter einem Institut oder einer Institution die Summe der vorhandenen Regeln zu einem abgrenzbaren Themenkomplex zu begreifen. Als Institutionen gelten deshalb etwa Vertrag, Ehe, Eigentum, Schule, Börse, Staat usw.

Gut etabliert ist die Unterscheidung zwischen formellen und informellen Institutionen. Früher galt es als Entdeckung der Rechtssoziologie, dass die förmlich in Gesetzen festgelegten und bürokratisch von Behörden und Gerichten verwalteten Rechtsnormen nur funktionieren, wenn sie von einer durch die Sozialisation internalisierten gesellschaftlichen Moral getragen werden. Heute stellt man auch insoweit nicht mehr auf einzelne Normen, sondern auf größere Zusammenhänge = Institutionen ab. Zugleich wird dieser normative Ansatz durch einen »kognitiven« und einen behavioristischen ergänzt. [7]Gute Übersicht bei Suchman/Edelman a. a. O. Der »kognitive« Ansatz (der besser kulturalistisch heißen würde) sucht nach den tief verankerten kulturellen Selbstverständlichkeiten, die jeder bewusst normativen oder rational kalkulierten Entscheidung zugrunde liegen. Die behavioristische Version schließlich erklärt die Befolgung von Recht als rational choice, freilich mit all den Modifizierungen, die das Modell der Rationalwahl durch Herbert A. Simons Konzept der beschränkten Rationalität erfährt.

Die wissenschaftliche Diskussion wird unter der Überschrift Neoinstitutionalismus geführt. [8]Dazu verweise ich auf die immer noch lesenswerte Darstellung von Dorothea Jansen, Der neue Institutionalismus, in ihrer Speyerer Antrittsvorlesung von 2000, und das nicht nur, weil Frau Jansen lange … Continue reading Anknüpfungspunkt ist oft eine Formulierung von Douglass C. North, politische Institutionen könnten »any form of constraint that human beings devise to shape human interaction« annehmen und sowohl durch »formal constraints – such as rules that human beings devise – and informal constraints – such as conventions and codes of behavior« wirken. [9]Douglass C. North, Institutions, Institutional Change and Economic Performance, 1990, S. 4.

Schultze-Fielitz [10]Helmuth Schultze-Fielitz, Der informale Verfassungsstaat, 1984, 17 f. schreibt über

»informale Verfassungsregeln, d. h. Regeln, die in unmittelbarem Zusammenhang mit verfassungsrechtlichen Normen stehen, die sie stützen, ergänzen, praktikabel machen, mit Leben erfüllen usw. Eine der diesem Beitrag zugrundeliegenden Hypothesen stellt darauf ab, daß Verfassungsrecht um seiner Funktionsfähigkeit willen notwendigerweise auf derartige informale Regeln angewiesen ist.«

Als Beispiele nennt er Koalitionsvereinbarungen, Regeln über die Einhaltung des Fraktions- und Parteienproporz in der Parlamentsarbeit oder Regeln über Inkompatibilitäten. Es geht aber nicht nur um Verhaltensregeln, sondern auch um den Kreis der Akteure. Regierungs- und Parlamentsarbeit wird zum Teil auf außerministerielle oder außerparlamentarische Foren verlagert. Während es sich hierbei in erster Linie um stützende oder komplementäre [11] Ausdruck von Hans-Joachim Lauth, Informal Institutions and Democracy, Democratization, 7, 2000, 21-, 50, S. 25. Informalität handelt, ohne die Parlaments- und Regierungsarbeit nicht funktionieren könnte, sind an anderer Stelle informale Gegenordnungen zu beobachten. Ein Extremfall ist das transnationale Terrornetzwerk Al Quaida. Zwischen den stützenden und den konfligierenden informalen Institutionen stehen solche, die einer ineffektiven formalen Organisation Konkurrenz machen oder sie gar ersetzen [12]Vgl. die Typologie informaler Institutionen von Gretchen Helmke und Steven Levitsky, Informal Institutions and Comparative Politics: A Research Agenda, Perspectives on Politics, 2, 2004, 725-740, S. … Continue reading

Institutionalisierung ist kein Entweder-Oder-Phänomen, sondern eine Frage des Mehr oder weniger. [13]Das betont besonders Lynne G. Zucker, The Role of Institutionalization in Cultural Persistence, American Sociological Review 42, 1977, 726-743. Zwischen formalen und informalen Institutionen gibt es keine scharfen Grenzen, sondern eher fließende Übergänge. »The difference between informal and formal constraints is one of degree.« [14]North S. 46. Dennoch gelingt es im Allgemeinen recht gut, eine Institution auf der einen oder der anderen Seite einzuordnen. Formalität setzt eine explizite und schriftlich fixierte Ausformulierung der Regeln voraus. Damit ist auch ein Normgeber als Zurechnungssubjekt definiert. Ebenso ist typisch auch ein Anfangszeitpunkt gesetzt. Die Regeln mögen durch Vertragsschluss entstanden sein, ihre Fortgeltung setzt aber keinen fortbestehenden Konsens voraus. Sie ordnen nicht bloß Verhalten, sondern regelmäßig auch die Beziehungen zwischen verschiedenen Beteiligten, häufig in der Form von Hierarchie und Bürokratie. Informale Institutionen dagegen haben keinen bestimmten Anfang. Die Regeln entstehen aus Übung. Die Beziehungen zwischen den Beteiligten werden typisch als Netzwerk geschildert.

Organisationen sind die kleine Münze der Institution. Institution ist nicht die einzelne konkrete Organisation, sondern die Tatsache, dass es immer wieder formale Organisationen der einen oder der anderen Art gibt. Um die Metapher auf die Spitze zu treiben: Wenn Institutionen die Währung sind, sind Organisationen das Geld. Seit den Untersuchungen von Roethlisberger und Dickson in den Hawthorne-Werken der Western Electric Company in Chicago [15]Fritz J. Roethlisberger/William J. Dickson, Management and the Worker, Cambridge, Mass. 1939., die in den 1930er Jahren zur Entdeckung der informalen Organisation führten, gehört es zum Allgemeingut der Organisationswissenschaft, dass das Handeln in Organisationen nur zum Teil in den Bahnen vorgegebener Regeln abläuft. Neben formalen Handlungen gibt es einen weiten Bereich des Verhaltens, der in offiziellen Stellenbeschreibungen, Aufgabenzuweisungen und Verfahrensregeln nicht enthalten ist. Erst diese informale Organisation bildet zusammen mit den formalen Abläufen das Handlungssystem der Organisation. Informale Verhaltensmuster sind eine unvermeidbare Folge formaler Strukturen, so dass neue Formalisierungen stets auch neue Formen informalen Handelns mit sich bringen. [16]Zur Ubiquität der Informalität in formalen Organisationen Stefan Kühl, Informalität und Organisationskultur, Working Paper 2010.

Die Organisationswissenschaft konzentriert sich auf die organisationsinterne Informalität, wie sie in dreierlei Gestalt erscheint. Die erste, harmlose kommt aus der Human-Relations-Perspektive in den Blick und wird mit den persönlichen Bedürfnissen der Organisationsmitglieder und ihrem Wunsch nach Verbesserung zwischenmenschlicher Beziehungen am Arbeitsplatz erklärt. Die zweite wird als Selbstorganisation angesprochen. Vorgeschriebene Kommunikationswege werden auf dem kleinen Dienstweg umgangen. Hierarchische Entscheidungsstrukturen werden zugunsten informeller Selbstabstimmung vernachlässigt. Formal geordnete Abläufe werden durch andere ergänzt oder ersetzt, sei es, weil man glaubt, so schneller, besser oder bequemer ans Ziel zu gelangen. Solche Informalität ereignet sich in unterschiedlicher Distanz zur formalen Organisation. Für vieles lässt die formale Organisation Raum. Oft werden aber auch die Regeln der Organisation verletzt. Und es kommt sogar vor, dass im Interesse der Organisation gegen allgemeine Rechtsgesetze verstoßen wird. Luhmanns berühmtes Diktum von der brauchbaren Illegalität bezieht sich auf beide Stufen der Regelverletzung. [17]Niklas Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, 1964, 304-314. All das ist, so könnte man sagen, eufunktionale Informalität. Sie ist sowohl im Innenbereich als auch bei den Außenkontakten zu beobachten. Organisationsinterne Informalität kann aber auch dysfunktional werden, etwa wenn zur ASteigerung der Effektivität Sicherungsvorschriften umgeangen werden.

Drittens zeigt Informalität sich in Rollenkonflikten. Die Organisation weist ihren Mitgliedern formale Rollen zu, z. B. als Vorgesetzte oder Untergebene, als Abteilungsleiter, Sachbearbeiter oder Sekretärin, die mit entsprechenden Erwartungen an das Verhalten verbunden sind. Jedes Mitglied bringt aber auch andere – aus der Sicht der Organisation informale – Rollen mit, z. B. seine Alters- und Geschlechtsrolle, seine Zugehörigkeit zu Religion und Partei, seinen Familienstand, Vereinsmitgliedschaften u. a. m. Mit jeder dieser Rollen verbinden sich Bündel von Verhaltenserwartungen. So betrachtet lässt sich informales Verhalten von Organisationsmitgliedern als Folge bestimmter Rollenanforderungen erklären. In krassen Fällen geht das zu Lasten der Organisation, z. B. als Nepotismus. Umgekehrt können Organisationsmitglieder gelegentlich im Interesse der Organisation auf ihren externen Rollensatz zurückgreifen. Der rollentheoretische Ansatz ist heute in den Hintergrund geraten, weil er – angeblich – die Interpretationsleistung der Akteure beim Rollenspiel und vor allem bei der Auflösung von Rollenkonflikten vernachlässigt.

Die Einschätzung und Bewertung von informalen Institutionen divergiert nach theoretischem Erklärungsansatz und praktischem Standpunkt. Von einem praktischen Standpunkt aus sind informale Institutionen und entsprechend die informale Organisation eher problematisch, weil sie sich kaum planen, sondern allenfalls berücksichtigen lassen. Das gilt für Politik und Verwaltung ebenso wie für Betriebswirtschaft und Management und nicht zuletzt auch für die Entwicklungszusammenarbeit. Daher stellt man die formale Organisation in den Vordergrund und behandelt die informale eher als Störungsfaktor. Die soziologische Betrachtung ist dagegen an dem interessiert, was nicht offen zu Tage liegt. Damit verschiebt sich das Gewicht – und zwar nicht bloß der Beschreibung, sondern auch der Bewertung – in Richtung auf die Informalität. Das gilt wohl auch für die Ethnologie.

In der Rechtswissenschaft akzeptiert man inzwischen, wie das Beispiel Schupperts zeigt, die Bedeutung informaler Institutionen und verhilft solchen, die man als funktional ansieht, zu rechtlicher Anerkennung, während man dysfunktionale Informalitäten formell zu bekämpfen versucht.

Die Unterscheidung zwischen formellen und informellen Institutionen ist, wie gesagt, geläufig. Aber der Begriff der informellen (oder informalen) Institution, so wie ihn etwa Schuppert gebraucht, deckt doch nur die Oberfläche des Phänomens, denn diese informalen Institutionen liegen zu Tage, sie sind, beinahe wie Gewohnheitsrecht, geläufig und lassen sich entsprechend ausformulieren. Es liegt aber noch eine Schicht der informalen Institutionalisierung unter dieser Oberfläche. Das ist das, was Ethnologen als kulturellen Code ansprechen, nämlich die wie selbstverständlich zugrunde gelegten und im Prinzip unbewussten Vorstellungen. Als solche wurde und wird etwa von den Critical Legal Studies die Unterscheidung zwischen öffentlich und privat behauptet oder von feministischer Seite die Bipolarität des Geschlechterverhältnisses. Einschlägig ist hier der dritte Klassiker des Neoinstitutionalismus, nämlich der Aufsatz von Lynne G. Zucker, The Role of Institutionalization in Cultural Persistence. [18]American Sociological Review 42, 1977, 726-743. Es fällt auf, dass dieser Aufsatz von der Hallenser Ethnologie nicht zitiert wird, obwohl er höchst einschlägig ist, geht es doch um die Beständigkeit von Handlungsweisen, die über Generationen erhalten bleiben.

Man kann den Neo-Institutionalismus als Diffusionstheorie lesen. In seiner Rational-Choice-Variante erklärt er sozialen Wandel aus Effizienzentscheidungen der Individuen. Die soziologische Variante, um die es hier geht, findet den Antrieb für das Festhalten an alten oder die Übernahme neuer Institutionen dagegen im Bemühen um eine Erhöhung gesellschaftlicher Legitimation.

Bereits die rollentheoretische Betrachtung stellt eine Verbindung zwischen dem Inneren der Organisation und ihrer Umwelt her. Auf den Umweltbeziehungen der Organisation liegt der Schwerpunkt des soziologischen Neoinstitutionalismus. Er will erklären, wie Strukturen und Abläufe in formalen Organisationen von formalen und vor allem informalen Beziehungen zu ihrer Umwelt, darunter auch andere Organisationen, geprägt werden.

Zu der Thematik, die allgemein als Diffusion und von den Hallenser Ethnologen als travelling models angesprochen werden, hat der Neoinstitutionalismus den Topos der Isomorphie der Institutionen beigetragen. [19]In Deutschland hat sich die Governance-Forschung des Isomorphie-Themas angenommen und auf die Suche nach einem »global script« der Ausbreitung westlicher Governance-Formen wie Rechtsstaat und … Continue reading Dieser Topos ist durch die Weltkulturtheorie der Stanford-Schule von John W. Meyer u. a. geläufig geworden. [20]Dazu der Eintrag vom 30. 9. 2012: Isomorphie der Institutionen und die Entkoppelung von Recht und Realität. Sie besagt, dass sich in aller Welt ähnliche (formale) Institutionen ausbreiten: Schulen und Universitäten, Krankenhäuser und Feuerwehren, Kapitalgesellschaften, und nicht zuletzt der Territorialstaat mit Regierung und Parlament, Verfassung, Gesetzen, Gerichten und Militär. Einen anderen Akzent setzen DiMaggio und Powell. Sie behaupten, dass sich Organisationen, wo sie vorhanden sind, in ihren jeweiligen Betätigungsfeldern immer ähnlicher werden. Auch die Erklärung ist unterschiedlich. DiMaggio und Powell führen die Gleichförmigkeit moderner Organisationen darauf zurück, dass nicht Marktdurchsetzung und Effizienz, sondern Staat und Professionen und darüber hinaus Nachahmung die Gestalt von Organisationen bestimmen. Organisationen seien nicht in erster Linie so gestaltet, dass sie ihre Organisationsziele effektiv realisieren, sondern sie schielten nach Legitimität und Akzeptanz in ihrer sozialen Umgebung. Heute haben Organisationen diesen Legitimitätsdruck auch explizit aufgenommen. Sie begegnen ihm mit Bemühungen um eine corporate responsability, die ihnen eine eine license to operate [21]Nachtrag vom 1. 12. 14: Zufällig bin ich eben auf das Sonderheft 3/4 der Zeitschrift Social Epistemology mit zehn Abhandlungen zur social licence to operate gestoßen. sichern soll. Dagegen erklärt Meyer die weltweite Gleichförmigkeit der Institutionen aus einer vorgängigen globalen Weltkultur (world polity), welche die institutionelle Umgebung aller Akteure, seien sie Individuen, Organisationen oder Staaten, prägt.

Meyer und Rowan wenden sich gegen das bis dahin herrschende technologische Verständnis der Organisation als »Präzisionsinstrument, welches sehr verschiedenen, sowohl rein politischen wie rein ökonomischen wie irgendwelchen anderen Herrschaftsinteressen sich zur Verfügung stellen kann« (Max Weber). Sie betonen, dass Organisationen in einer Umgebung leben, in der formale und instrumentelle Rationalität im Sinne Webers kreuz und quer »institutionalisiert« ist (Meyer/Rowan S. 344).

»The more modernized the society, the more extended the rationalized institutional structure in given domains and the greater the number of domains containing rationalized institutions.« (Meyer/Rowan S. 345)

Die Institutionalisierung manifestiert sich in einer Vielzahl von Rechtsnormen, Sicherheitsvorschriften, Standardisierungen, Anforderungen an Management und Rechnungslegung sowie in einem generalisierten Rationalitätsglauben. Die Henne-Ei-Frage, die Frage also, was zuerst kommt, Rationalisierung der Organisation oder der Rationalitätsglaube ihrer Umgebung, wird implizit dahin beantwortet, dass es die Organisationen sind, die sich ihrer Umgebung anpassen.

»As rationalized institutional rules arise in given domains of work activity, formal organizations form and expand by incorporating these rules as structural elements.« (Meyer/Rowan S. 345)

Die Anpassung geht aber weiter als für die effektive Erbringung der erwarteten Sach- oder Dienstleistung notwendig wäre. Denn eine formal durchrationalisierte Struktur ist nur begrenzt funktional. Viele Regeln erweisen sich als unzweckmäßig. Andere verursachen hohe Kosten oder unbeabsichtigte Nebenfolgen. Unvorhergesehene und schnell wechselnde Situationen fordern Improvisationen. Organisationen aller Art zeigen sich daher nach außen formal und rational, arbeiten intern aber nicht, wie es das Gebot der (formalen) Rationalität eigentlich fordert, streng bürokratisch mit Weisung und Kontrolle, sondern koppeln sich von der Formalität ab.

»Thus, decoupling enables organizations to maintain standardized, legitimating, formal structures while their activities vary in response to practical considerations.« (Meyer/Rowan S. 357)

Isomorphie der Institutionen heißt deshalb nicht, dass die Organisationen überall gleich sind, sondern dass sie äußerlich einem übergeordneten Rationalitätsimperativ entsprechen. Dieses Formalitätsgebot sei der Mythos, der den Organisationen helfe, in ihrer Umgebung zu überleben, indem er ihnen Legitimität verschaffe und zu Ressourcen verhelfe. Die abwertend wirkende Bezeichnung des Rationalitätsglaubens als Mythos erklärt sich daraus, dass er nicht als reflektierte Einstellung, sondern als tief verankerte kulturelle Überzeugung verstanden wird. Er ist so selbstverständlich, dass er gar nicht mehr auf seine Wertbezüge und praktischen Folgen befragt wird.

»In modern societies, the myths generating formal organizational structure have two key properties. First, they are rationalized and impersonal prescriptions that identify various social purposes as technical ones and specify in a rulelike way the appropriate means to pursue these technical purposes rationally. Second, they are institutionalized and thus in some measure beyond the discretion of any individual participant or organization. They must, therefore, be taken for granted as legitimate, apart from evaluations of their impact on work outcomes.« (Meyer/Rowan S. 343 f.)

Ebenso wie im Umfeld von Organisationen das formale Recht von informalen Erwartungen begleitet oder sogar getragen wird, finden sich im Inneren von Organisation neben der formalen Verfassung informale Strukturen. Sie bestimmen sogar weitgehend das operative Geschäft. Vertrauen und guter Glaube sorgen dafür, dass die Effizienz der Organisation erhalten bleibt.

» … decoupled organizations are not anarchies. Day-to-day activities proceed in an orderly fashion. What legitimates institutionalized organizations, enabling them to appear useful in spite of the lack of technical validation, is the confidence and good faith of their internal participants and their external constituents.« (Meyer/Rowan S. 357f.)

Die institutionelle Umgebung von Organisationen fordert ihr Funktionieren, und sei es auch auf Grund übertriebener Vorstellungen von der praktischen Leistungsfähigkeit der von ihr verinnerlichten Rationalitäten. Ob der institutionalisierte Rationalitätsglaube wirklich rational ist, ist nicht entscheidend. Meyer und Rowan apostrophieren ihn wie gesagt als »myth and ceremony«. Doch müssen Organisationen dem Rationalitätsglauben ihrer Umgebung Rechnung tragen, um zu überleben:

»Isomorphism with environmental institutions has some crucial consequences for organizations: (a) they incorporate elements which are legitimated externally, rather than in terms of efficiency; (b) they employ external or ceremonial assessment criteria to define the value of structural elements; and (c) dependence on externally fixed institutions reduces turbulence and maintains stability. As a result, it is argued here, institutional isomorphism promotes the success and survival of organizations.« (Meyer/Rowan S. 348)

In der Neoinstitutionalistischen Organisationstheorie wird die radikale Sicht von Meyer und Rowan, nach der die formale Struktur von Organisationen eine zeremonielle Fassade ist, die nur das Überleben der Organisation in ihrer rationalitätsgläubigen Umwelt sichert, nicht geteilt. [22]Peter Walgenbach/Renate E. Meyer, Neoinstitutionalistische Organisationstheorie, 2008, S. 22ff, 81ff. Man ist durchaus der Meinung, dass auch das operative Geschäft von Organisationen mindestens ebenso oder stärker von ihrer formalen Struktur abhängt als von informaler Selbstorganisation. Man könnte auch sagen, dass der Rollensatz der Organisationsmitglieder in der modernen westlich industrialisierten Welt durch den Rationalitätsglauben geprägt wird mit der Folge, dass sich die – aus der Sicht der Organisation – informalen Rollen meistens nicht soweit durchsetzen, dass sie das Funktionieren der Organisation torpedieren. Der Witz an der Sache ist jedenfalls, dass formale Organisationen im Großen und Ganzen praktisch funktionieren, dass also die Organisationsziele mehr oder weniger erreicht werden. Aber das stellen auch Meyer und Rowan nicht in Abrede. Die geradezu rituelle Pflege des formalen Außenbildes ist als Fassade keine Täuschung, sondern sondern hilft den Beteiligten, ihr Gesicht zu wahren, wenn sie abgekoppelt von der Form ihr Arbeit verrichten. Sie verbreitet eine Aura des Vertrauens innerhalb und außerhalb der Organisation.

»Participants not only commit themselves to supporting an organization’s ceremonial façade but also commit themselves to making things work out backstage. The committed participants engage in informal coordination that, although often formally inappropriate, keeps technical activities running smoothly and avoids public embarrassments. In this sense the confidence and good faith generated by ceremonial action is in no way fraudulent. It may even be the most reasonable way to get participants to make their best efforts in situations that are made problematic by institutionalized myths that are at odds with immediate technical demands.« (Meyer/Rowan S. 358f)

40 Jahre sind vergangen sind, seit Meyer und Rowan ihr Manuskript verfasst haben (und die Text von Rottenburg, um die es hier geht, sind bald zwanzig Jahre alt). In dieser Zeit hat sich, jedenfalls in Mitteleuropa und in den USA, der institutionalisierte Rationalitätsglaube formell und informell noch verfestigt mit der Folge, dass die informelle Innenseite der Organisationen eher geschrumpft ist. Vor 40 Jahren gab es etwa noch die Vorstellung, dass Korruption und Vetternwirtschaft bis zu einem gewissen Grade funktional sein könnten. Inzwischen ist Compliance nicht bloß angesagt, sondern wird auch praktiziert, und zwar nicht nur aus einem reinen Sanktionskalkül, sondern weil regelkorrektes Verhalten von Organisationen bis zu einem gewissen Grade zur kulturellen Norm geworden ist.

Im Einzelnen gibt es große Unterschiede, wieweit Organisationen sozusagen opportunistisch auf ihre Umgebung schielen müssen, und daher ist auch das decoupling unterschiedlich stark ausgeprägt. [23]Meyer/Rowan S. 354. Meyer und Rowan haben in erster Linie Organisationen mit Gemeinwohlorientierung im Blick, ganze Staaten, Hospitäler, Schulen und Universitäten. Wirtschaftsunternehmen werden angesprochen, wenn und weil sie wegen ihrer Größe oder ihres Themas besonders unter öffentlicher Beobachtung stehen. [24]S. 352. Diese Organisationen haben in ihrer Formalstruktur eine offene Flanke in Gestalt interpretationsfähiger Zielbestimmungen. Das ist bei »normalen« Wirtschaftsunternehmen anders, weil sie auf ein messbares Effizienzziel festgelegt sind. Dieses erreichen sie aber nur, wenn das Ziel und die zu seiner Erreichung angemessenen Mittel auch informell institutionalisiert sind.

Zur informellen Institutionalisierung der Wirtschaft gehört – entgegen der Diagnose Karl Polanyis von der Entsozialisierung wirtschaftlichen Handelns in der Moderne – nicht nur der Rationalitätsglaube, von dem bei Meyer und Rowan die Rede ist. Dazu gehört auch eine spezifische Moralökonomie. [25]Der Begriff stammt wohl von Edward P. Thompson (The Moral Economy of the English Crowd in the 18th Century, Past and Present 50, 1971, 76-136). Er wurde geläufig, als ihn Martin Kohli in seiner … Continue reading Die Substanz der normativen Orientierung wirtschaftlichen Handelns in der westlichen Welt ist zwar undeutlich, ihre Existenz wird aber nur von dogmatisierenden Ökonomen bestritten.

Außerhalb dieser Welt gibt es große Unterschiede bei der informellen Basis formaler Organisationen. In Südamerika und weiten Teilen Asiens, in Russland und in den meistens Ländern Afrikas ist zwar die Institutionalisierung formellen Rechts und formaler Organisationen weit gediehen, aber die informale Basis hat damit nicht Schritt gehalten. Als eine nicht mehr ganz neue, aber immer noch triftige Beschreibung gilt Larissa Lomnitz, Informal Exchange Networks in Formal Systems, American Anthropologist 90, 1988, 42-55. Sie nimmt ihre Beispiele aus Chile und Mexiko, der Sowjetunion und Georgien. Auf Lomnitz rekurriert auch Rottenburg (1995a; 1996) ausführlich.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Englisch als: Far-fetched facts, A Parable of Development Aid, Cambridge, Mass. 2009. Eine kurze, eher faktenorientierte Darstellung gibt Rottenburg in dem Aufsatz »Accountability for Development Aid«, Jahrbuch Ökonomie und Gesellschaft 16, 2000, 143-173. Differenzierte, nicht unkritische Rezensionen zum Buch von Thomas Bierschenk, Paideuma, 49, 2003, 281-286, und Hanna Kienzler, Anthropological Theory 5, 2005, 304-307. Anke Draude (Der blinde Fleck der Entwicklungstheorie. Von der Unüberwindbarkeit der Modernisierungstheorie im Korruptionsdiskurs, 2007) kommt in einer ausführlichen Auseinandersetzung mit diesem Buch zu dem Ergebnis, dass auch die kontingenzbewusste kulturwissenschaftlich orientierte Analyse Rottenburgs sich nicht grundsätzlich von dem modernisierungstheoretischen Befund verabschieden, sondern nur situativ auf die jeweils spezifische Situation eingehen kann.
2 Folgende Texte Rottenburgs, deren Lektüre diesen und weitere Einträge veranlasst haben, werden hier nur mit Jahr und Seite zitiert:
1994: »We have to do business as business is done!«. Zur Aneignung formaler Organisation in einem westafrikanischen Unternehmen, Historische Anthropologie 2, 1994, 265-286;
1995a: Formale und informelle Beziehungen in Organisationen, in: Achim von Oppen/Richard Rottenburg (Hg.), Organisationswandel in Afrika, 19-34.
1995b OPP. Geschichten zwischen Europa und Afrika, Kursbuch 120 »Korruption«, 90-106.
1996: When Organization Travels: On Intercultural Translation, in: Barbara Czarniawska/Guje Sevón (Hg.), Translating Organizational Change, 1996, 191-240
2001, FS Dieter Weiss, 349-377.
3 Die nach 1983 im Sudan entstandene Bürgerkriegssituation beschreibt und analysiert Rottenburg in dem Aufsatz »Das Inferno am Gazellenfluss. Ein afrikanisches Problem oder ein ›schwarzes Loch‹ der Weltgesellschaft?«, Leviathan 30, 2002, 3-33 [].
4 Paul J. DiMaggio/Walter W. Powell, The Iron Cage Revisited: Institutional Isomorphism and Collective Rationality in Organizational Fields, American Sociological Review 48, 1983, 147-160; deutsch als: Das »stahlharte Gehäuse« neu betrachtet: Institutionelle Isomorphie und kollektive Rationalität in organisationalen Feldern, in: Sascha Koch/Michael Schemmann (Hg.), Neo-Institutionalismus in der Erziehungswissenschaft, 2009, 57-84.
5 John W. Meyer/Brian Rowan, Institutionalized Organizations: Formal Structure as Myth and Ceremony, American Journal of Sociology 83, 1977, 340-363. Dieser Aufsatz ebenso wie der bereits angeführte von DiMaggio und Powell sind wieder abgedruckt worden in dem von Powell und DiMaggio herausgegebenen Sammelband »The New Institutionalism in Organizational Analysis« (1991). Eine ausführliche Rezension, die besonders das Verhältnis von Rechtssoziologie und Neoinstitutionalismus behandelt, bieten Mark C. Suchman/Lauren B. Edelman, Legal Rational Myths: The New Institutionalism and the Law and Society Tradition, Law and Social Inquiry 21, 1996, 903-941.
6 Everett C. Hughes, The Ecological Aspect of Institutions, American Sociological Review 1, 1936, 180-189, S. 180.
7 Gute Übersicht bei Suchman/Edelman a. a. O.
8 Dazu verweise ich auf die immer noch lesenswerte Darstellung von Dorothea Jansen, Der neue Institutionalismus, in ihrer Speyerer Antrittsvorlesung von 2000, und das nicht nur, weil Frau Jansen lange Jahre Mitarbeiterin an meinem Bochumer Lehrstuhl war; ferner auf die Darstellung von Holger Schulze, Neo-Institutionalismus. Ein analytisches Instrument zur Erklärung
gesellschaftlicher Transformationsprozesse, Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin, Arbeitspapiere des Bereichs Politik und Gesellschaft, Heft 4/1997.
9 Douglass C. North, Institutions, Institutional Change and Economic Performance, 1990, S. 4.
10 Helmuth Schultze-Fielitz, Der informale Verfassungsstaat, 1984, 17 f.
11 Ausdruck von Hans-Joachim Lauth, Informal Institutions and Democracy, Democratization, 7, 2000, 21-, 50, S. 25.
12 Vgl. die Typologie informaler Institutionen von Gretchen Helmke und Steven Levitsky, Informal Institutions and Comparative Politics: A Research Agenda, Perspectives on Politics, 2, 2004, 725-740, S. 728.
13 Das betont besonders Lynne G. Zucker, The Role of Institutionalization in Cultural Persistence, American Sociological Review 42, 1977, 726-743.
14 North S. 46.
15 Fritz J. Roethlisberger/William J. Dickson, Management and the Worker, Cambridge, Mass. 1939.
16 Zur Ubiquität der Informalität in formalen Organisationen Stefan Kühl, Informalität und Organisationskultur, Working Paper 2010.
17 Niklas Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, 1964, 304-314.
18 American Sociological Review 42, 1977, 726-743.
19 In Deutschland hat sich die Governance-Forschung des Isomorphie-Themas angenommen und auf die Suche nach einem »global script« der Ausbreitung westlicher Governance-Formen wie Rechtsstaat und Demokratie begeben (Tanja A. Börzel/Vera van Hüllen/Mathis Lohaus, Governance Transfer by Regional Organizations, SFB-Governance Working Paper Nr. 42, Januar 2013). Der Neoinstitutionalismus wird dort beiseitegeschoben mit dem Vermerk, er betone regionale Besonderheiten. Dass die Governanten damit wenig anfangen können, erklärt sich wohl daraus, dass sie nur die formellen Institutionen im Blick haben.
20 Dazu der Eintrag vom 30. 9. 2012: Isomorphie der Institutionen und die Entkoppelung von Recht und Realität.
21 Nachtrag vom 1. 12. 14: Zufällig bin ich eben auf das Sonderheft 3/4 der Zeitschrift Social Epistemology mit zehn Abhandlungen zur social licence to operate gestoßen.
22 Peter Walgenbach/Renate E. Meyer, Neoinstitutionalistische Organisationstheorie, 2008, S. 22ff, 81ff.
23 Meyer/Rowan S. 354.
24 S. 352.
25 Der Begriff stammt wohl von Edward P. Thompson (The Moral Economy of the English Crowd in the 18th Century, Past and Present 50, 1971, 76-136). Er wurde geläufig, als ihn Martin Kohli in seiner Analyse des Generationenvertrages in die Wohlfahrtsstaatsforschung einführte und wie folgt definierte: »Moralökonomie bezeichnet einen Bereich des Austauschs von Gütern, in dem die Preisbildung nach dem Marktmodell – d.h. nach dem Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage von Akteuren, die an der eigenen Nutzenmaximierang orientiert sind – außerökonomischen Einschränkungen unterworfen ist. Sie entzieht bestimmte Güter in bestimmten Situationen der nutzengeleiteten Disposition der Marktteilnehmer und unterstellt sie allgemeinen Kriterien von Gerechtigkeit (oder ›Fairness‹). Sie konstituiert also moralische Standards für die Entscheidung von wirtschaftlichen Konflikten.« (Moralökonomie und »Generationenvertrag«, in: Max Haller/Hans Joachim Hoffmann-Nowotny/Wolfgang Zapf (Hg.), Kultur und Gesellschaft: Verhandlungen des 24. Deutschen Soziologentags usw., 1989, 532-555. In unserem Zusammenhang wurde der Begriff schon 1987 von Georg Elwert verwendet: Ausdehnung der Käuflichkeit und Einbettung der Wirtschaft. Markt und Moralökonomie, KZfSS Sonderheft 28, 1987, 300-321.

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