Die (alte) Modernisierungstheorie wurde von Differenzierungstheorien beerbt, die sich gegen die großen Entwicklungstrends einer vermeintlich universellen Globalisierungslogik wenden und die Konvergenzthese in Frage stellen. In den Blickpunkt des Interesses rückte die Frage, wie sich Konvergenz und Divergenz als simultane und wechselseitig verschränkte Prozesse begreifen lassen. Niemand bestreitet, dass die Globalisierung einen umfassenden Wandlungsprozess anschiebt. Aber zum guten Ton, den auch das Programm des Soziologentags in Bochum anstimmt, gehört die Aussage, dass die Globalisierung nicht einseitig auf die von der Modernisierungstheorie prognostizierte Konvergenz hinauslaufe, sondern viel eher als ein großer Differenzierungsprozess zu verstehen sei, mindestens aber, dass Konvergenz und Divergenz gleichzeitig als gegenläufige Entwicklungen zu beobachten seien.
Zur Kritik der Modernisierungstheorie taugt die Entgegensetzung von Konvergenz und Divergenz wenig. Konvergenz bezeichnet eine gerichtete Entwicklung. Anders als der Konvergenzbegriff der Modernisierungstheorie gibt der Divergenzbegriff ihrer Kritiker keine Tendenzen an, sondern beschränkt sich auf die Verneinung von Konvergenz. Dass die Welt jenseits der Differenz von entwickelten und weniger entwickelten Gesellschaften in bestimmter Weise auseinanderdriftet, behaupten auch die Kritiker der Modernisierungstheorie nicht ernsthaft. Sie insistieren nur auf Vielfalt oder Diversität. Divergenz ist also nicht dasselbe wie Diversität oder Vielfalt. Mit letzerer hat die Modernisierungstheorie kein Problem. Für eine fortgeschriebene = modernisierte Modernisierungstheorie bedeutet Konvergenz nicht Homogenisierung, sondern strukturelle Vielfalt. Traditionelle Gesellschaften waren sehr viel homogener als moderne. Erst die Modernisierung hat die Welt pluralistisch gemacht. Neue Vielfalt wird laufend durch die Modernisierung selbst produziert, und zwar auf mindestens vier unterschiedlichen Wegen, nämlich durch die Pfadabhängigkeit sozialen Wandels, durch eine »Melange« vorhandener Kulturelemente (Hybridisierung), durch die Abkopplung (decoupling, John Meyer) lokaler Praxis von globaler Institutionalisierung sowie durch ständige Rückkopplungsprozesse.
Die Globalisierung steckt voller Rekursivität. Sie löst lokale Veränderungen aus, die wiederum auf die globale Ebene zurückwirken. Wer solche Schleifen zu Paradoxien hochstilisiert, ist schnell dabei, gegenläufige Entwicklungen zu entdecken. Wer nach Differenzen oder Varietäten sucht, wird sie finden. Die Suche nach Ähnlichkeiten ist schwieriger, denn sie muss Vergleichsmaßstäbe angeben. Die Modernisierungstheorie hat sich auf Parameter festgelegt, an denen Konvergenz gemessen werden soll. Die Differenzierungstheorien haben nichts Vergleichbares vorzuweisen. Deshalb läuft die Kritik der Modernisierungstheorie, wie sie von Eisenstadt formuliert worden ist, ins Leere.
Das bedeutet nicht, dass die Modernisierung verlustfrei zu haben wäre. Der Preis für die Teilhabe an der Weltgesellschaft ist eine Relativierung von Kultur und Religion, der Verlust partikularer Identitäten. Er ist auch schon dort zu zahlen, wo die Modernisierung erst begonnen hat. Besonders die Gesellschaften, denen die Modenernisierung von außen aufgedrängt wird, leiden unter der beinahe gewaltsamen Zerstörung gewachsener Strukturen. Globalisierung wird so zur neuen Form der Entfremdung. Der Weg zurück zum Naturzustand, der bekanntlich erst im Zustand der Entfremdung zum Thema wird, führt zur Suche nach besonderen Lebensformen, die sich zur Identitätsbildung anbieten. Die wichtigsten sind wohl Religion, ethnische Zugehörigkeit und als deren spezielle Ausprägung Indigenität.
»Indigen« sind nach der Definition der Vereinten Nationen die Erstbewohner eines Territoriums, die freiwillig kulturelle Besonderheiten zu bewahren versuchen suchen, sich selbst als abgrenzbare Gemeinschaft wahrnehmen und Erfahrungen mit Unterdrückung, Marginalisierung und Diskriminierung gemacht haben. Für einen Überblick auf das International Indigenous Peoples Movement sei verwiesen auf Lorie Graham/Nicole Friederichs, Indigenous Peoples, Human Rights, and the Environment, (erscheint in Yale Human Rights and Environment Dialogues Report).
Große Bestände an Kulturmustern finden sich in der Vergangenheit. Sie haben den Vorzug dass sie sich als Tradition selbst legitimieren. So produziert die Modernisierung den lokalen Neotraditionalismus, der insbesondere im subsaharischen Afrika große Bedeutung erlangt hat. Diesen bedient auf globaler Ebene die Ethnologie.[1]
Damit ist die Rückkopplung zwischen global und lokal aber immer noch nicht beendet. Die Globalisierung liefert wiederum die Instrumente zu ihrer Unterwanderung, indem sie das globale Konzept der Menschenrechte zur Absicherung regionaler Besonderheiten anbietet. So ist im Zuge der Globalisierung die Berufung auf Pluralität im Allgemeinen und auf Indigenität im Besonderen selbst zu einem Konvergenzphänomen geworden. Auf diese Weise geht die Institutionalisierung universalistischer Rechtsvorstellungen auf der globalen Ebene örtlich mit einer Rückwendung zu nationalen, indigenen oder religiösen Rechtstraditionen einher. Rechtspluralismus ist angesagt. Er findet sich in dem Revival der Scharia oder in den Versöhnungskommissionen, die in Südafrika auf die Ubuntu-Tradition und in Ruanda auf das alte Rechtssystem des Gacaca zurückgreifen. Was als originäre Identität einer Rechtskultur auftritt, ist in dieser Perspektive nichts Authentisches, Ursprüngliches, sondern ein Aspekt von und ein Produkt der Globalisierung, eben Neotraditionalismus. Die Betonung des Eigenwerts partikularer Rechtskulturen als Reaktion auf die Globalisierung ist ihrerseits eine globale Erscheinung.
Die Ironie der Entwicklung liegt darin, dass Konvergenz sich auf einem übergeordneten Niveau als Konvergenz zur Vielfalt ereignet. Der Vergleich ist schief, aber doch erhellend: Überall wollen Jugendliche sich ihrer Besonderheit, Diversität oder Individualität versichern, indem sie sich auffällig irgendwie anders als der Mainstream verhalten oder auch nur aussehen, und sie versuchen es mit Tattoos, Piercings, bunten Haartrachten oder Phantasiemoden. Das Ergebnis ist eine neue Uniformität der Individualität.
»We appear to live in a world in which the expectation of uniqueness has become increasingly institutionalized and globally widespread.«[2]
Robertson[3] spricht von der Universalisierung der Partikularität, Schwinn[4] von einer Standardisierung der Differenzen:
»Kulturen werden verschieden in sehr uniformen Wegen.«
Vielfalt oder Pluralität ist zum Standard der Modernität geworden. Das ist die Einfalt der Vielfalt.
Nachtrag vom 2. 12. 2919:
Was ich hier die Einfalt der Vielfalt genannt habe, erscheint bei Andreas Reckwitz als »Die Gesellschaft der Singularitäten« (2017). Im der Einleitung zu seinem neuen Buch (Das Ende der Illusionen, 2019, S. 20) formuliert Reckwitz:
»Sie [die Logik der Singularisierung] hat eine unweigerlich paradoxe Struktur: Es bilden sich in gesellschaftlichen Kernbereichen allgemeine Strukturen und Praktiken aus, deren Interesse systematisch am Besonderen ausgerichtet ist.«
[1] Karl-Heinz Kohl, Die Ethnologie und die Rekonstruktion traditioneller Ordnungen, in: Johannes Fried/Michael Stolleis (Hg.), Wissenskulturen. Über die Erzeugung und Weitergabe von Wissen, 2009, S. 159-180.
[2] Roland Robertson, Glocalization: Time-Space and Homogeneity-Heterogeneity, in: Mike Featherstone/Scott Lash/Roland Robertson (Hg.), Global Modernities, London 1995, 25-44, S. 28.
[3] Roland Robertson, Globalization, Social Theory and Global Culture, London 1992, S. 130.
[4] Thomas Schwinn, Konvergenz, Divergenz oder Hybridisierung? Voraussetzungen und Erscheinungsformen von Weltkultur, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 58 , 2006, 201-232, S. 226.