Frege und die Frage nach der Intelligenz der künstlichen Intelligenz

Vorab ein Nachtrag zum Posting vom 21. Mai 2023. Im Internet findet man einen Text von Fabian Hundertmark, anscheinend eine studentische Arbeit des angehenden Philosophen, mit der Überschrift »Frege und sein Reich der Gedanken«. Er bietet eine »präzise Übersicht über Freges Argument:

»Eigenschaften der Dinge der Außenwelt:

Alle Dinge der Außenwelt können mit den Sinnen wahrgenommen werden.
Kein Ding der Außenwelt hat einen Wahrheitswert.

Eigenschaften der Dinge der Innenwelt:

Alle Dinge der Innenwelt benötigen genau eine Person, von der sie gehabt werden.

Eigenschaften der Gedanken:

Kein Gedanke kann mit den Sinnen wahrgenommen werden.
Alle Gedanken haben Wahrheitswerte.
Kein Gedanke benötigt genau eine Person, von der er gehabt wird.

Hieraus ergibt sich:

Kein Gedanke gehört zur Außenwelt.
Kein Gedanke gehört zur Innenwelt.

Zusammen mit der impliziten Prämisse

Gehört etwas weder zur Innen-, noch zur Außenwelt, gehört es zu einer dritten Welt.

ergibt sich die Konklusion:

Gedanken gehören zu einer dritten Welt.«

Hundertmark meint, Freges Argumentation für ein drittes Reich der Gedanken sei gescheitert, weil Gedanken doch auch zur Innenwelt gehörten. Ich teile diese Kritik nicht. Die dritte Prämisse ist nicht haltbar. Gedanken gehören zu beiden Welten. Das Problematisch erscheinen mir zwei andere Fragen, die Frage nämlich, welche Inhalte als Gedanken in die dritte Welt gehören, und die weitere Frage wie die Innenwelt der Menschen an der dritten Welt der Gedanken teilhat bzw. wie die Gedankenwelt auf die reale Welt einwirken kann. Auf diese Fragen habe ich keine definitive Antwort und ziehe mich daher auf einen Als-Ob-Trialismus zurück, der es gestattet, etwas großzügiger mit den Inhalten und Grenzen der dritten Welt umzugehen.

Die Inhalte, die Frege der dritten Welt zuwies, sind nämlich sehr beschränkt. Er bestand darauf, dass die Gedanken schon dort schon vorhanden sind, bevor sie je als Vorstellung im Kopf eines Menschen auftauchen. »Das Sein eines Gedankens [ist] sein Wahrsein.«[1] Deshalb werden Gedanken nicht erfunden, sondern sie werden gefasst oder erfasst. Es gibt also eine Art Parallelgeschehen in Menschenköpfen. Einer Überquerung der Grenze bedarf es nicht.

Hundertmark geht nicht auf Popper ein und Popper nicht auf Frege, wiewohl doch das dritte Reich der Gedanken und Poppers Dritte-Welt-Ontologie erstaunlich konvergieren. Poppers dritte Welt wird von der Schulphilosophie ignoriert. Als referierende Darstellung habe ich nur den Abschnitt » Objective Knowledge and The Three Worlds Ontology« in dem Artikel »Karl Popper« von Stephen Thornton in der Stanford Encyclopedia of Philosophy gefunden. Bei Popper liegt der Akzent auf dem Ziel, die Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnis zu retten und er betont den evolutionären Charakter der menschlichen Gedankenwelt. Die Welt 3 soll keine präexistenten, sondern nur von Menschen gedachte Gegenstände beinhalten. Sie bilden ein »evolutionäres Produkt« der Welt 2.  Die grenze zwischen den Welten ist also durchlässig, und zwar auf für kontingente Inhalte. Soweit der Nachtrag. Er war zur Selbstvergewisserung notwendig, denn der Trialismus hat Konjunktur.

Frege wird von Robert Alexy und seinen Schülern als Beleg für einen semantischen Normbegriff angeführt.[2] Das Argument lautet etwa so: Die sprachliche Formulierung einer Norm ist der Normsatz. Was der Normsatz besagt, nämlich seine Bedeutung, ist die Norm. Die Bedeutung zeigt sich in dem, was gleich bleibt, wenn der Normsatz von einer Sprache in eine andere übersetzt wird. Poppers Trialismus spielt dagegen bei Juristen keine Rolle.

Nun bahnt sich eine neue Wendung an. Die Evolution der künstlichen Intelligenz verlangt nach einer Einordnung des Phänomens in geläufige Kategorien. Als Scharnier könnte Norbert Wieners Dictum dienen:

»Information is information, not matter or energy. No materialism which does not admit this can survive at the present day.«[3]

Schon 2008 tauchte die Drei-Welten-Lehre Poppers in der Software-Philosophie auf.[4] Darauf beriefen sich Northover u. a. Dort liest man:

»Mathematical Platonists like Penrose have located algorithms (which are, metaphorically speaking, the ‘soul’ of a computer program) in a Platonic realm of eternal forms (Penrose 1989). We would locate software programs not in such a static Platonic realm but rather in Popper’s dynamic ‘World (iii)’, the realm of ‘objective knowledge which is inhabited by scientific and metaphysical theories.«

Die Autoren weisen darauf in, dass Poppers dritte Welt, anders als Platons Ideenwelt, nicht statisch ist, sondern sich evolutionär entwickelt. Sie führen weiter Literatur in, die im Zusammenhang mit dem Wissensmanagement auf Poppers dritte Welt zurückgreift. Eine Andeutung findet sich jetzt auch bei Lorenz Kähler, wenn er auf Frege Bezug nimmt.[5] Es liegt danach nahe, die Substanz Künstlicher Intelligenz in einem dritten Reich der Gedanken zu verorten. Popper bezweifelt zwar am Ende der Tanner Lecture, dass Computer denken können. Ähnlich wie Wiener sagt er:

»Gegenstände der Welt 3 sind abstrakt, noch abstrakter als physikalische Kräfte, aber nichtsdestoweniger wirklich … .«[6]

Aber künstliche Intelligenz oder vielmehr die ihr zugrunde liegende Software passt in seine Welt 3. Das meint auch der Allroundphilosoph  Walter Hehl.[7] Ich habe dazu kein begründetes Urteil, möchte aber doch auf die Querverbindung zwischen Frege, Rechtstheorie und KI aufmerksam machen.


[1] Gottlob Frege, Die Verneinung, Beiträge zur Philosophie des Deutschen Idealismus 1918/1919, 141–157, S. 144.

[2] Robert Alexy, Theorie der Grundrechte,1985, hier zitiert nach der 3. Aufl. 1996, Fn. 17 auf S. 46; Gesine Voesch, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, 2021, Fn. 17 auf S. 22. Mit einem ganzen Kapitel behandelt Henrique Gonçalves Neves die Drei-Welten-Lehre Freges als » Philosophischen Baustein für die Rechtstatsächlichkeit« (Die Geltung als Tatsache, 2022, S. 22ff). Seine These, »dass sich die Rechtstatsächlichkeit, also die Rechtstatsache, aus Entitäten der drei Frege’schen Grundkategorien zusammensetzt«, scheint mir sehr weit hergeholt.

[3]  Norbert Wiener , Cybernetics, 2. Aufl. 1961, S. 182.

[4] Mandy Northover/Derrick G. Kourie/Andrew Boake/Stefan Gruner/Alan Northover, Towards a Philosophy of Software Development: 40 Years after the Birth of Software Engineering, Journal for General Philosophy of Science 2008, 85–113.

[5] Lorenz Kähler, Norm, Code, Digitalisat, in Milan Kuhli/Frauke Rostalski, Normentheorie im digitalen Zeitalter, 2023, 13–36.

[6]Karl R. Popper, Three Worlds: The Tanner Lecture on Human Values, 1978, S. 74.

[7] Walter Hehl , Wechselwirkung. Wie Prinzipien der Software die Philosophie verändern, 2016; dort Kap 10 »Und wo bleibt der Geist?«.

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