Häusliche Gewalt und evidenzbasierte Jurisprudenz

Im November 2018 erschien wieder die jährliche kriminalstatische Auswertung des Bundeskriminalamts zur Partnerschaftsgewalt. Obwohl die einschlägigen Opferzahlen leicht abgenommen haben, fand der Bericht in der Presse – zu Recht – große Aufmerksamkeit. Natürlich habe ich mich gefragt, was die Rechtssoziologie zum Thema zu sagen hat. Im Hinterkopf hatte ich Recherchen, die ich 2017 aus Anlass der Berliner Tagung zur Rechtswirksamkeitsforschung angestellt hatte, sowie den Aufruf von Hanjo Hamann zu einer evidenzbasierten Jurisprudenz[1]. Das Stichwort, unter dem diese drei Fäden zusammenlaufen, ist das Minneapolis-Experiment.

Evidenzbasierte Rechtssetzung sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Doch es gibt hohe Hürden. Zunächst bedarf es erheblicher Anstrengung, um empirische Forschung adäquat zu rezipieren. Das hat Hamann in seinem Buch »Evidenzbasierte Jurisprudenz« 2014 mustergültig (und abschreckend) beschrieben. Die zweite Hürde ist ein Graben, weil längst nicht immer einschlägige Empirie vorhanden ist. Wird Forschung erst ad hoc veranlasst, so bleibt sie punktuell. Mit Auftragsforschung schafft man keine kumulative Evidenz.

»Putting too much emphasis on the need to underpin legislative drafts with empirical data and scientific evidence could even produce counter-productive effects and turn evidence based policy-making into policy-based evidence-making.«[2]

Die dritte und höchste Hürde stellt sich aber erst mit der Frage, was Evidenz überhaupt leisten kann.

Mit dem Amtsantritt der Labour-Regierung 1997 wurde die Forderung nach einer Modernisierung Großbritanniens mit Hilfe einer evidence-based policy laut. Darunter verstand man »that policy and practice should be informed by the best available evidence.«[3] Eine Steigerung gegenüber einer evidence-based policy fordert das evidence-based movement, wie es insbesondere in der Medizin zu beobachten ist. Der Ehrgeiz geht darin, auf der Grundlage von RCTs, randomisierten kontrollierten Studien, sozusagen einen Goldstandard für Interventionen zu entwickeln. Die Rechtswirkungsforschung verfügt in der Regel nur über Empirie minderer Qualität, mehr oder weniger systematische Einzelstudien, qualitative Untersuchungen oder Erfahrungsberichte. Gesetzesevaluationen sind in aller Regel nicht wiederholbare Primärstudien. Selten werden unabhängige Parallelstudien in Auftrag gegeben.

Ein Ausnahmefall, in dem man ein zufallsgesteuertes kontrolliertes Experiment wirklich durchgeführt und sogar mehrfach wiederholt hat, ist das Minneapolis-Experiment[4], das mit dem Schlagwort arrest works best bekannt geworden ist.[5]

Im April 1984 veröffentlichten Sherman und Berk im American Sociological Review die Ergebnisse eines Praxisexperiments über den Erfolg von unterschiedlichen Maßnahmen der Polizei gegen Männer, die gegenüber ihrer Familie gewalttätig geworden waren[6]. Die Polizei reagierte entweder durch vorläufige Festnahme, durch eine Beratung der Beteiligten, teilweise verbunden mit einem Vermittlungsversuch, oder durch ein Gebot an den Täter, sich von der Familie vorläufig fernzuhalten. Welche Maßnahme sie wählten, entschieden die Beamten nicht, wie sonst üblich, nach Ermessen, sondern nach einem Losprinzip. Sie hatten jeweils an Ort und Stelle einen Umschlag zu öffnen, der ihnen vorgab, wie zu verfahren sei. Dabei zeigte sich, dass die Festgenommenen entschieden weniger rückfällig wurden als die anderen beiden Gruppen. Die Autoren schlossen daraus auf die abschreckende oder Denkzettel-Wirkung der Festnahme.

Dieser Artikel fand in den USA eine ungewöhnlich breite Aufmerksamkeit. Tageszeitungen und Fernsehstationen berichteten darüber, und alsbald begann in vielen Städten die Zahl der Festnahmen in vergleichbaren Fällen dramatisch anzusteigen.

Das National Institute of Justice (NIJ), das das Minneapolis-Experiment gesponsert hatte, war über das ungewöhnliche Echo dieser Untersuchung besorgt und veranlasste daher fünf Replikationen in anderen Städten. Eine erste Folgestudie, brachte noch eine weitgehende Bestätigung der Ergebnisse.[7] Allerdings wiesen die Autoren schon darauf hin, dass es sehr schwierig sei, kriminalpolitische Empfehlungen zu geben; so könne der Abschreckungseffekt verloren gehen, wenn der Arrest zur Regel werde, weil er dann, insbesondere auch von der Polizei, nicht mehr ernst genommen werden, was sie auch die Verhafteten merken lasse. Bei der Replikation in Milwaukee fielen die Ergebnisse anders aus.[8] Viele Männer wurden eher noch aggressiver, wenn sie aus dem Arrest zurückkehrten. Im Nachhinein suchte man dafür nach Erklärungen. Teilweise lag das an einer anderen Zusammensetzung der Bevölkerung, teilweise an der sehr unterschiedlichen Art, wie die Polizei in den verschiedenen Städten mit den Verhafteten umging.

Im Zusammenhang mit dem Minneapolis-Experiment hat der langjährige Herausgeber des Law & Society Review, Richard Lempert, gewarnt: »Do not rest policy change or analysis on a single study, no matter how good it is.« Erst Metastudien oder Forschungssynthesen könnten eine einigermaßen brauchbare Grundlage bieten.[9] Doch selbst das stellt die englische Wissenschaftstheoretikerin Nancy Cartwright in Frage.

Cartwright hält es für schwierig oder gar ausgeschlossen, einigermaßen zuverlässige Vorhersagen über die Wirkung von Interventionen zu machen, und zwar selbst dann, wenn man ein empirisch einwandfrei bestätigtes Vorbild hat. Empirie könne nur zeigen, dass eine Intervention an einem bestimmten Ort Wirkung gehabt habe, nicht aber dass sie an einem anderen Ort wirken werde. Das beste verfügbare Wissen reiche nicht aus, um die Wirksamkeit von Interventionen vorherzusagen.[10] Es reiche insbesondere nicht aus, eine causa sine qua non zu identifizieren und dann einzelne Drittvariablen zu kontrollieren. Dazu gebe es zu viele begleitende und überlagernde Bedingungen. Man muss also davon ausgehen, dass die Reaktion auf Recht grundsätzlich bereichsspezifisch und kontextempfindlich ist.

Danach fällt es schwer, die Forderung nach evidenzbasiserter Jurisprudenz durchzuhalten, zumal wenn man die Klage über die » (Nicht-)Verwendung von Evaluationsergebnissen in Politik und Verwaltung«[11] im Ohr hat. Aber bleibt eine andere Wahl?

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[1] Hanjo Hamann, Evidenzbasierte Jurisprudenz. Methoden empirischer Forschung und ihr Erkenntniswert für das Recht am Beispiel des Gesellschaftsrechts, 2014.

[2] Rob van Gestel/Jurgen de Poorter, Putting Evidence-Based Law Making to the Test, Judicial Review of Legislative Rationality, The Theory and Practice of Legislation 4, 2016, 155-185, S. 156.

[3] Sandra Nutley/Huw Davies/Isabel Walter, Evidence Based Policy and Practice: Cross Sector Lessons from the UK, ESRC UK Centre for Evidence Based Policy and Practice, Working paper 9, 2002, S. 1.

[4] Ein anderes Beispiel für eine Intervention, die anscheinend wirksam war, die sich aber nicht ohne weiteres von einem Ort zu jedem anderen übetragen lässt, war die Broken Windows-Strategie des New York Police Department. Dazu Henner Hess, Broken Windows. Zur Diskussion um die Strategie des New York Police Department, Kritische Justiz , 1999, 32-57 .

[5] Die Literatur ist umfangreich. Ein Kurzdarstellung bei Nick Tilley, Realistic Evaluation: An Overview, Paper Presented at the Founding Conference of the Danish Evaluation Society, September 2000.

[6]Lawrence W. Sherman/Richard A. Berk, The Specific Deterrent Effects of Arrest for Domestic Assault, ASR 49, 1984, 261-272. Über die Folgeuntersuchungen Richard Lempert, Empirical Research for Public Policy, With Examples from Family Law, Journal of Empirical Legal Studies 5, 2008, 907-926.

[7] Richard A. Berk/Phyllis J. Newton, Does Arrest Really Deter Wife Battery? An Effort to Replicate the Findings of the Minneapolis Spouse Abuse Experiment, ASR 50, 1985, 253-262.

[8] Lawrence W. Sherman/Janell D. Schmidt/Dennis P. Rogan/Douglas A. Smith, The Variable Effects of Arrest on Criminal Careers: The Milwaukee Domestic Violence Experiment, The Journal of Criminal Law & Criminology 83 , 1992, 137-169.

[9] Richard Lempert, Empirical Research for Public Policy, Journal of Empirical Legal Studies 5, 2008, 907-926. In diesem Sinn mit weiteren Nachweisen Hanjo Hamann, Evidenzbasierte Jurisprudenz, 2014, S. 122ff.

[10] Nancy Cartwright, Knowing What We Are Talking About, Why Evidence Doesn’t Always Travel, Evidence & Policy 9, 2013, 97-112; dies./Jeremy Hardie, Evidence-Based Policy, A Practical Guide to Doing it Better, York 2012.

[11] Hellmut Wollmann, Die Untersuchung der (Nicht-) Verwendung von Evaluationsergebnissen in Politik und Verwaltung, in: Sabine Kropp/Sabine Kuhlmann (Hg.), Wissen und Expertise in Politik und Verwaltung, Opladen 2014, S. 87-102.

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