Den 100. Geburtstag von John Rawls hat Lawrence B. Solum auf seine unnachahmliche Weise gewürdigt: John Rawls at 100, ›A Theory of Justice‹ at 50. Ich nehme das Jubiläum zum Anlass, an den overlapping consensus als Baustein von Rawls Liberalismustheorie anzuknüpfen. Auch insoweit könnte ich mich damit begnügen, auf Solum zu verweisen.[1] Daher hier nur in aller Kürze:
Ein Liberalismus westlichen Typs muss gestatten, dass Individuen ihre Grundfreiheiten nutzen, um unterschiedliche Auffassungen von Religion, Moral, Kultur und Recht zu vertreten. Beinahe paradoxe Folge des Liberalismus ist ein negativer, antagonistischer Pluralismus.
»Negative pluralism refers to any totalizing affiliation which results in the transformation of interests into principle and results in cleavage politics and increasingly differentiated societies. An example of such totalizing affiliations is race. Another is religion.« [2]
Positiver Pluralismus beruht auf der Wertschätzung von Diversität als (materielle und ideelle) Bereicherung und als Quelle laufender Innovation. Er ist eingebettet in einen institutionellen Rahmen, der einer konflikthaften Selbstzerstörung vorbeugt. Moralisch und rechtlich gehören dazu das Toleranzgebot sowie politische Formen der Partizipation, wie sie in Demokratie vorgesehen sind.
Moderne Gesellschaften sind in der Lage, einen positiven Pluralismus zu leben. Die Vielfalt, wie sie als Melange aus der Globalisierung und ihren Rückkopplungsprozessen entsteht, ist zwar eine laufende Quelle von Querelen, etwa um die Grenzen der Zuwanderung oder den Raum, den man einer importierten Religionspraxis geben soll. Aber davon wird eine moderne Gesellschaft nicht zerissen, sondern eher bereichert. Das gilt auch für die durch das Abstreifen von Traditionen möglich gewordene Vielfalt der Familienformen einschließlich solcher, in denen traditionell unterdrückte sexuelle Orientierungen zu ihrem Recht kommen.
In einer modernen Gesellschaft ist die gesellschaftlich organisierte Interessenwahrnehmung selbstverständlich. Gruppen, die noch nicht voll in der Moderne angekommen sind, suchen ihre Zuflucht dagegen nicht in Interessenverbänden, sondern in traditionellen oder neotraditionellen Formationen, die Werte über Interessen stellen, indem sie deren religiöse, ethnische oder rassische Basis zu einem kompromissfeindlichen Prinzip steigern. Wo die Sicherung der Vielfalt gegen Selbstzerstörung nicht gewährleistet ist, entsteht daraus ein faktischer, negativer Pluralismus.
Rawls kamen im Nachhinein Zweifel, ob seine eigene Gerechtigkeitstheorie der Herausforderung durch einen negativen Pluralismus gewachsen sei. Seine Rechtsphilosophie, die auf die Vorstellung von Gerechtigkeit als Fairness baut, erhebt nämlich – wie alle klassischen Theorien – einen Richtigkeitsanspruch, der mit anderen religiösen, moralischen oder philosophischen Überzeugungen konkurriert. Wenn man – so Rawls – von der Konkurrenz einer Pluralität »vernünftiger« und gleichwohl nicht miteinander zu vereinbarender umfassender Systeme ausgehen muss, besteht Gefahr für die Stabilität eines liberalen Staates.
»Wie kann eine stabile und gerechte Gesellschaft freier und gleicher Bürger, die durch vernünftige und gleichwohl einander ausschließende religiöse, philosophische und moralische Lehren einschneidend voneinander getrennt sind, dauerhaft bestehen? Oder anders ausgedrückt: Wie können einander zutiefst entgegengesetzte, aber vernünftige umfassende Lehren zusammen bestehen und alle dieselbe politische Konzeption einer konstitutionellen Ordnung bejahen?«[3]
Dieser Gefahr will Rawls mit der Suche nach einem übergreifenden Konsens (overlapping consensus) begegnen. Die Suche orientiert sich nicht länger an einer umfassenden Theorie oder »Globallehre«[4] (comprehensive doctrine), sei sie religiöser, moralischer oder philosophischer Art.
Unter einer comprehensive doctrine versteht Rawls ein (religiöses, moralisches oder philosophisches) Gedankensystem, das in dem Sinne umfassend ist, dass es jedenfalls potentiell alle Lebensbereiche abdeckt, und das zugleich Wahrheit oder Richtigkeit für sich in Anspruch nimmt. Im Gegensatz zu solchen Globallehren soll eine vernünftige politische Konzeption (reasonable political conception) sich darauf beschränken, eine Schnittmenge von Grundannahmen herauszufinden, die unabhängig von ihrer theoretischen Begründung als Basis gesellschaftlichen Zusammenlebens tragfähig sind. Der übergreifende Konsens soll dennoch mehr als ein bloßer modus vivendi sein; er soll nicht lediglich strategisch der Interessenwahrung dienen, sondern eine moralische Qualität haben. Rawls erleichtert sich die so gestellte Aufgabe dadurch, dass er zwischen Pluralismus als solchem und einem »vernünftigen« Pluralismus unterscheidet. »Vernünftig« sind nur solche comprehensive doctrines, die jedenfalls die Grundannahmen des Liberalismus, also Freiheit und Gleichheit, akzeptieren. »Unvernünftigen« Fundamentalisten verweigert Rawls die Diskussion.
Die Einstimmung in den übergreifenden Konsens fordert Rawls von allen Bürgern eines wohlgeordneten Gemeinwesens. Das ist viel verlangt.
Auf die juristische Praxis ausgerichtet ist die Figur der theoretisch unvollständig begründeten Übereinkunft (incompletely theorized agreement) von Cass R. Sunstein. Sunstein meint, der Erfolg und die Zukunft des Rechts hingen davon ab, dass es sich auf Konsens ohne theoretische Begründung beschränke. Während Rawls voraussetzt, dass die unterschiedlichen philosophischen Ausgangspositionen, wie sie etwa bei Kantianern und Utilitaristen, Atheisten und Katholiken anzutreffen sind, sich jedenfalls auf einer mittleren Ebene über gewisse Fairnessprinzipien einigen können, setzt Sunstein eine Stufe tiefer an. Er stellt fest, dass man sich oft auf Lösungen einigen kann, ohne über deren rechtstheoretische oder gar philosophische Begründung übereinzustimmen oder auch nur darüber nachzudenken.
»My suggestion … is that well-functioning legal systems often tend to adopt a special strategy for producing agreement amidst pluralism. Participants in legal controversies try to produce incompletely theorized agreements on particular outcomes. They agree on the result and on relatively narrow or low-level explanations for it. They need not agree on fundamental principle. They do not offer larger or more abstract explanations than are necessary to decide the case. When they disagree on an abstraction, they move to a level of greater particularity. The distinctive feature of this account is that it emphasizes agreement on (relative) particulars rather than on (relative) abstractions. This is an important source of social stability and an important way for diverse people to demonstrate mutual respect, in law especially but also in liberal democracy as a whole.«[5]
Damit stellt Sunstein auf ein allgemeines Charakteristikum von Rechtsprechung ab, das zwar oft kritisiert wird, aber tatsächlich die Funktionsfähigkeit der Justiz als einer dritten Gewalt garantiert, das Prinzip nämlich, dass Gerichte sich bei ihren Entscheidungen auf Aussagen beschränken, die für die Behandlung des konkreten Falles notwendig sind, und keine darüber hinausgehenden allgemeineren Statements abgeben.
Nun müsste ich eigentlich die Überlegungen von Rawls und Sunstein mit dem Diskurs über Toleranz verbinden, den Rainer Forst durch sein Buch von 2003[6] und weitere Arbeiten ausgelöst hat. Auf den ersten Blick ist mir aufgefallen, dass dieser Diskurs nicht bei Rawls und Sunstein anknüpft. Für den zweiten Blick brauche ich noch Zeit.
[1] Lawrence B. Solum, Legal Theory Lexicon 037: Overlapping Consensus & Incompletely Theorized Agreements.
[2] David E. Apter, The Political Kingdom in Uganda, 3. Aufl. 1997, Fn. 85 auf S. LXXV.
[3] Politischer Liberalismus, 1998, 14; vgl. auch Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, 2003, § 11: Die Idee des übergreifenden Konsenses.
[4] Diesen Ausdruck verwendet der Übersetzer von »Gerechtigkeit als Fairneß«, Joachim Schulte.
[5] Cass R. Sunstein, Incompletely Theorized Agreements, Harvard Law Review 108, 1995, 1733-1772, S. 1735f; ders., Constitutional Agreements without Constitutional Theories, Ratio Juris 13, 2000, 117-130.
[6] Rainer Forst, Toleranz im Konflikt, Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt am Main 2003