Kritik der Soziobiologie Teil II

Keine nichtbiologische Disziplin hat sich so intensiv mit der Übertragung der Evolutionstheorie auf ihren Objektbereich befasst wie die Ökonomie. [1] Wirksam war und ist nicht zuletzt die über Jahrzehnte durch Friedrich A. von Hayek entwickelte Theorie der kulturellen Evolution, die auf spontane Ordnungen abstellt, die sich durch Versuch und Irrtum entwickeln.[2] Aus größerer Distanz könnte man sogar meinen, dass auch Planung und Organisation sozusagen unter der Hand evolutorischen Mustern folgen, wobei letztlich ökonomische Effizienz als Selektionsmechanismus wirkt. In der »kulturellen« Entwicklung des Wirtschaftsgeschehens ist sicher auch Platz für die Spieltheorie. In den 1980er Jahren wurde die Theorie der ökonomischen Evolution durch Autoren angeschoben, die die Quelle für eine Entwicklung der Wirtschaft auf der Schiene des Neoinstitutionalismus in der Entwicklung der formellen und informellen Institutionen suchten.[3] Spätestens hier kippt der Angelpunkt der Evolution vom Individuum zur Gruppe und/oder zur Institution und/oder Organisation

Ob zwischen der biologischen und der kulturellen Evolution eine scharfe Trennlinie besteht, ist ein Problem für sich. Damit befassen sich die genannte Dual-Inheritance-Theorien, die auf Robert Boyd und Peter J. Richerson zurückgehen.[4] Boyd und Richerson nehmen an, dass die biologische und die kulturelle Evolution getrennte Wege gehen, dass die biologische Evolution eine genetische Kapazität für kulturelle Evolution bereitstellt. Günter Dux ist das nicht genug. Er postuliert einen »Hiatus zwischen Organismus und Welt«, den die Evolution nicht mehr genetisch habe überbrücken können und der durch die Konstruktionen des Geistes ausgefüllt werde.[5] Wieweit die kulturelle Evolution auf die genetische Basis einwirkt, bleibt eine offene Frage.

Die biologische Kapazität für eine kulturelle (und das heißt immer auch soziale) Evolution ist das Thema der evolutionären Psychologie. Sie beschreibt das Gehirn als eine Art Computer, der von der Evolution auf die Lösung von Problemen optimiert wurde, die sich der Menschheit in ihrer Entwicklungsgeschichte gestellt haben. Eine Schule, die auf Jerry A. Fodor zurückgeht[6] und bald Konkurrenz von Leda Cosmides und John Tooby erhielt[7], sieht in den neuronalen Netzwerken des Gehirns aber keinen universalen Denkapparat, sondern ein Ensemble von je für sich komplexen Systemen, die von der Evolution für spezifische kognitive Aufgaben entwickelt wurden, etwa für das Sprachvermögen, für Gesichtserkennung[8], Erkennung der Eigengruppe, Partnerwahl, Fluchtverhalten oder sozialen Austausch. Für die verschiedenen Probleme soll es jeweils spezialisierte instinktartige circuits oder Module geben. Und – »natürlich« möchte man sagen – sind einige Module auch geschlechtsspezifisch ausgebildet. Es fehlt allerdings ein definitiver Katalog der einschlägigen Module.[9] Der Laie hat daher den Eindruck, wenn immer ein automatischer Prozess im Gehirn vermutet wird, postuliert man ein neues Modul. So schließt Pinker aus Statistiken, nach denen bei Stiefeltern die Wahrscheinlichkeit der Kindesmisshandlung größer ist als bei leiblichen Eltern, auf angeborene Elternliebe. Damit fordert er die Frage nach der Entwicklung von Kindern heraus, die bei gleichgeschlechtlichen Paaren aufwachsen.[10] Wenn es denn Unterschiede gäbe, so ließen sie sich vermutlich auch ohne Rückgriff auf die Biologie erklären.

Die beiden größten Aufreger sind Aussagen der Soziobiologie zur Vererblichkeit von Intelligenz und zum Sexualverhalten. 1994 erschien »The Bell Curve: Intelligence and Class Structure in American Life«[11]. Es lässt sich wohl nicht ausschließen, dass (die Grundlage der Intelligenz) vererblich ist. Aber das Ausmaß der genetischen Vererbung und ihr Gegenstück, der sog. Flynn- Effekt, sind nach wie vor im Streit. Zitierrekorde hält ein Aufsatz, in dem Robert L. Trivers die evolutionäre Entwicklung de Partnerwahlverhaltens thematisierte.[12] Der Kernsatz:

»The relative parental investment of the sexes in their young is the key variable controlling the operation of sexual selection. Where one sex invests considerably more than the other, members of the latter will compete among themselves to mate with members of the former.«

Damit hatte Trivers das (heute so genannte) Bateman-Prinzip auf den Menschen übertragen, wonach dasjenige Geschlecht, das größere Aufwendungen zur Erzeugung und Aufzucht des Nachwuchses einsetzt, die Partnerwahl bestimmt. Daran schließen die bekannten Thesen an: Männer haben einen stärkeren Sexualtrieb als Frauen[13], sie sind, auch im Umgang mit dem anderen Geschlecht aggressiver; Frauen sind wählerischer, bevorzugen aber aggressive Männer und entscheiden letztlich über die Vereinigung (female choice[14]). Immer wieder stoßen Psychologen auf universelle Muster für die Attraktivität von Sexualpartnern. Aber Männer wissen von Natur aus noch nicht einmal, wie der Geschlechtsverkehr zu vollziehen ist.[15] Eine ursprüngliche Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern muss nicht mit einer genetischen Programmierung zu tun haben, sondern folgt schlicht daraus, dass allein Frauen die Kinder austragen und ihnen anfangs Brustnahrung anbieten können.

Die modulare Theorie des Geistes bietet sich an, um zu erklären, warum psychologische Tests eine Reihe von Phänomenen aufzeigen, die anscheinend nicht erlernt sind, ferner, warum sich je nach Sachthema mit Hilfe von EECs und MRT-Scans recht präzise unterschiedliche Gehirnareale als aktiv identifizieren lassen.[16] Es ist aber bisher noch keines der behaupteten Module direkt beobachtet worden. Ihre Existenz wird stets nur aus Reaktionen von Versuchspersonen und peripheren Eigenschaften des Gehirns gefolgert. Die modulare Theorie des Geistes ist daher in der Psychologie keineswegs allgemein akzeptiert[17] (und daher schreibe ich »Module« ab hier in Anführungszeichen). Es bleibt immerhin:

»Das menschliche Gehirn stellt ein komplexes System dar mit hochgradig koordinierten Interaktionen zwischen großen spezialisierten Gruppen von Neuronen, den neuronalen Netzwerken. Die Dynamik und Formbarkeit dieser Netze [wird] oft als Neuroplastizität bezeichnet.«[18]

Europlastizität bedeutet wohl, dass es sich um selbstlernende Systeme handelt.

Zu den kognitiv arbeitenden »Modulen« des Geistes treten die Emotionen. Davon gibt es nach Jaak Panksepp[19] genau sieben mit einer neuronalen und damit letztlich genetischen Basis.Die Emotionen lenken den kognitiven Apparat im Sinne evolutionärer Funktionalität:

»An emotion is a mode of operation of the entire cognitive system, caused by programs that structure interactions among different mechanisms so that they function particularly harmoniously when confronting cross-generationally recurrent situations — especially ones in which adaptive errors are so costly that you have to respond appropriately the first time you encounter them.«[20]

Zwei der kognitiven »Module« sind für die Rechtstheorie besonders interessant, das Sprachvermögen und das Moralvermögen. Ein angeborenes Sprachvermögen hatte bekanntlich Noam Chomski ohne direkte psychologische Grundlage als »generative Grammatik« postuliert, weil er es für ausgeschlossen hielt, dass die strukturellen Gemeinsamkeiten der wohl 6000 unterschiedlichen Sprachen allein durch Lernprozesse erklärbar seien.[21] Steven Pinker spricht von einem Sprachinstinkt.[22] Nachdem John Rawls eine Analogie des sense of justice mit dem Sprachvermögen angedeutet hatte[23], haben Marc Hauser und John Mikhail[24] eine angeborene moralische Grammatik behauptet. Sie können sich immerhin auf Evolutionstheoretiker stützen, die einen gewissen Altruismus als Anpassungsstrategie annehmen, und auf Psychologen, die in ihren Experimenten immer wieder unerwartetem Altruismus begegnen. Freilich hat man bisher weder ein Sprachgen noch ein Gerechtigkeitsgen gefunden. Gefunden hat man nur bestimmte Erregungsmuster des Gehirns bei der Befassung von Versuchspersonen mit Sprach- oder Gerechtigkeitsaufgaben. In umgekehrter Richtung, also von bestimmten nervösen Erregungsmuster zu inhaltlichen Reaktionen der Versuchspersonen führt keine Verbindung. Auch hier gilt wieder: Es fehlt der direkte Beweis, doch alles klingt plausibel, so plausibel, dass man meint, man hätte es sich selbst ausdenken können.

Auch für die kulturelle Evolution kann man wieder fragen, auf welcher Aggregationsebene sie angreift, auf der Ebene einzelner Zeichen oder Propositionen, auf der Ebene von Normen oder von Institutionen. Dazu hat Richard Dawkins eine spezielle Theorie. Sein biologischer Ausgangspunkt ist das egoistische Gen (selfish gen). Dessen Egoismus ist keine psychische Eigenschaft, sondern eine rein biologisch-mechanische, die darin besteht, dass Gene sich selbst reproduzieren können.

»What, after all, is so special about genes? The answer is that they are replicators. … The gene, the DNA molecule, happens to be the replicating entity  that prevails on our own planet.«[25]

Dawkins gibt den Symbolen, die er, ohne Bezug auf Emerson, zum Grundelement kultureller Evolution erklärt, einen eigenen Namen, indem er sie als Meme benennt. Das Kunstwort »Mem« leitet er vom griechischen mimesis (μίμησις = Nachahmung) her, und es soll auch als bloßer Name das »Gen« nachahmen.[26]

»Examples of memes are tunes, ideas, catch-phrases, clothes fashions, ways of making pots or of building arches. Just as genes propagate themselves in the gene pool by leaping from body to body via sperms or eggs, so memes propagate themselves in the meme pool by leaping from brain to brain via a process which, in the broad sense, can be called imitation.«[27]

Als evolutionär aktiv erweisen sich die Meme, indem sie sich replizieren. Als Mimetik hat sich inzwischen eine Denkrichtung entwickelt, die solche Symbole zu identifizieren versucht, die sich besonders reproduktiv verhalten.[28] Es scheint mir aber doch ziemlich abenteuerlich, mit der evolutorischen Eigendynamik der Meme die gesamte soziokulturelle Entwicklung erklären zu wollen.

Erklären – das ist ein wichtiges Stichwort. In der Tat lassen sich ex post viele Entwicklungen als evolutionäres Geschehen erklären. Aber die Evolutionstheorie versagt, wenn sie Entwicklungen prognostizieren soll. Die Theorie des evolutionären Dreischritts ist so abstrakt, dass sich daraus schwerlich konkrete Hypothesen ableiten lassen. Es kommt hinzu, dass Zufall und menschliche Innovationen sich nicht prognostizieren lassen. Erst recht taugt die Evolutionstheorie – schon aus diesem Grunde – nicht für eine naturalistische Ethik.

Die Soziobiologen – wenn man sie eimal kompakt so nennen darf – sind nicht so naiv, dass sie alles für gut und richtig halten, was die Natur ihrer Meinung nach in den Menschen hineingelegt hat. So verweist Pinker auf die Gefahr eines naturalistischen Fehlschlusses und betont, dass jede Entscheidung von einer Wertvorstellung ausgehen müsse.[29] Aber die Wertvorstellungen ihrerseits werden wohl doch durch die Überzeugung von der Macht biologischer Prägung beeinflusst. Das zeigt sich relativ deutlich in den Stellungnahmen zum Geschlechterverhältnis. Auch wenn die Soziobiologie sich bemüht, normative Aussagen zu vermeiden, so wird ihr doch entgegengehalten, dass sie wertende, insbesondere diskriminierende Schlussfolgerungen »suggeriere«.

»Normvorstellungen diffundieren auch aus rein deskriptiven Beschreibungen: Was als Istzustand festgehalten wird, erhält bei fehlender begleitender und deutlicher Verurteilung durch die (implizite) normative Kraft des Faktischen eine Form von Weihe. Beschreibung und Erklärung moralisch abgelehnter Verhaltensweisen tragen zu ihrer Enttabuisierung bei. Soziobiologische Theoriebruchstücke wie Maximierung der eigenen Reproduktion oder genetische Fitnesskategorien können lebensweltliche Kontakte und Verhaltensweisen prägen.«[30]

Die Evolution des Lebens auf der Erde hat wohl sechs Millionen Jahre und damit eine schwer vorstellbar lange Zeit in Anspruch genommen. Die Formierung der Gene, die den Homo Sapiens auszeichnen, soll im Pleistozän, also vor etwa 2,5 Millionen Jahren begonnen haben und mit der neolithischen Revolution, also etwa vor 15.000 Jahren abgeschlossen gewesen sein.[31] Daher besteht ein gewisser Konsens., dass die Entwicklung auf Steinzeitniveau stehen geblieben ist [32],, so dass einige er evolutionär verfestigte Anpassungen unter den Bedingungen der Moderne unfunktional sein dürften. Es wird aber auch geltend gemacht, dass die genetische Evolution unter bestimmten Umständen sehr viel schneller ablaufen kann. Erbfeste Merkmale wie Gesichtsschnitt, Haarformen und Körperbau entstehen, evolutionsbiologisch betrachtet, in relativ kurzen Zeiträumen, wenn Individuen einer bestimmten Art unter spezifischen Bedingungen getrennt leben und sich fortpflanzen. So soll sich die menschliche Hautfarbe innerhalb weniger Jahrtausende verändert haben.

Unklar ist (mir) die Bedeutung der genetischen Diversität für die biologische Evolution. Eine geschlechtliche Fortpflanzung ist grundsätzlich nur zwischen Individuen derselben Art möglich. Innerhalb einer Art gibt es jedoch stets auch erhebliche physiologische Unterschiede, von denen einige auch auf genetische Unterschiede zurückzuführen sind. Letztere vererben sich nach den Mendelschen Regeln. Das ist der Ausgangspunkt für die Züchtung von Pflanzen und Tieren. Wenn es um Menschen geht, halten wir »Züchtung« für indiskutabel. Im Zusammenhang mit der »Bell-Kurve« wurde jedoch heftig darüber gestritten, ob unterschiedliche Intelligenz ein Zeichen genetischer Diversität sei und ob ggfs. eine unbewusste Steuerung der Partnerwahl Einfluss auf das allgemeine Intelligenzniveau nehmen könnte. Die Globalisierung mit ihren Wanderungsbewegungen wirbelt verschiedene Populationen durcheinander, mögen sie sich genetisch auch nur minimal unterscheiden. In bestimmten Kulturen sind Verwandtenheiraten so häufig, dass sie vermutlich Einfluss auf den Genpool haben. Man kann deshalb nicht ausschließen, dass sich dieser Genpool auch in der kurzen historischen Zeit verändert hat. Es gibt vermutlich auch unter Menschen die relativ kurzfristig wirksame Populationsgenetik[33]. Es besteht aber die Gefahr, dass von phänotypischer und physiologischer Diversität unmittelbar auf Gendiversität zurückgeschlossen wird. Daraus entstehen dann Streitfragen wie die, ob Intelligenz vererblich ist.

Wie gesagt, offen ist die Frage, ob und wie die kulturelle Evolution nicht nur indirekt, etwa über ihren über ihren Einfluss auf die Partnerwahl, sondern auch direkt auf die genetische Basis zurückwirkt. Insoweit mahnt die Langfristigkeit der biologischen Evolution noch eher zur Skepsis.

Die erst in den letzten Jahrzehnten von der Wissenschaft akzeptierte Epigenetik ist in ihrer Bedeutung noch nicht abzusehen. Jedenfalls bleibt die Standardantwort vom Steinzeitniveau des Gehirns unbefriedigend ist. Juristen spekulieren daher:

»Wenn wir annehmen, dass das Recht etwa 10.000 Jahre Entwicklungszeit hatte, hatte diese Kulturleistungen genügend Zeit, um sich in uns auch genetisch zu verankern.«[34]

Verankert sei dann ein Gefühl für »Gleichheit, Fairness und Ausgewogenheit«. Aber noch niemand hat solche Gefühle in bestimmten Genen verortet. Ich ziehe es daher vor, mit Hellmuth Mayer[35] sowohl Gemeinsamkeiten im menschlichen Verhalten als auch Unterschiede historisch-soziologisch zu erklären. Dazu übersehen wir mindestens die letzten 5000 Jahre ganz gut. In dieser Zeit haben sich Pfadabhängigkeiten herausgebildet, die so festgetreten sind, dass sie wie genetisch festgelegt erscheinen.

Soziobiologie und Evolutionspsychologie stehen vor dem Problem, dass sie ihre Annahmen nicht direkt empirisch prüfen können, weil sie Vorgänge erklären, die in der Vergangenheit liegen und sich nicht experimentell nachstellen lassen. Sie müssen sich daher mit indirekten Beweisen zufriedengeben. Die gängige Methode besteht darin, dass Forscher sich Verhaltensweisen ausdenken, von denen sie annehmen, dass sie fitnessmaximierend seien, um dann diese Verhaltensweisen mit Statistiken oder Laborexperimenten aufzufinden. Allein die Verbindung zu den Genen lässt sich als solche nicht belegen, sondern bleibt bloße Vermutung. Es wird unterstellt, dass Gene so reagieren, wie moderne Menschen sich die Evolution denken. Aber die Evolution »denkt« nicht. Sie hat viele Variationen hervorgebracht, die sich niemand hätte ausdenken können.

Als Literatur, die zu den soziobiologischen Grundlagen des Verhaltens herangezogen wird, handelt es sich nicht um genbiologische Spezialliteratur, sondern um Schriften, die allgemein die Funktionsweise der Gene behandeln. So lassen sich abstrakte Aussagen über die Funktionsweise der Gene mit kaum weniger allgemeinen Aussagen über rechtliche Grundprinzipien verkoppeln. Soziobiologie erscheint deshalb weithin als ein Spiegel des für elementar gehaltenen Rechtsbewusstseins und wird so zur biologischen Verdoppelung von verbreiteten oder erwünschten Verhaltensmustern.

Auch wenn sich menschliches Verhalten nicht aus den Genen ablesen lässt, bleibt eine evolutionstheoretische Betrachtung der Gesellschaft attraktiv.[36] Man muss die evolutionistische Soziobiologie und mit ihr Rechtsbiologie und Kriminalbiologie nicht völlig verwerfen. Der Mensch kommt nicht als tabula rasa zur Welt. So wie Kinder im äußeren Erscheinungsbild oft einem Elternteil ähnlich sind, lässt sich kaum bezweifeln, dass auch unterschiedliche Begabungen und Temperamente ebenso wie Kahlköpfigkeit vererbt werden können. Die Zwillingsforschung hat durchaus interessante Ergebnisse gebracht. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Menschheitsgeschichte genetische Spuren hinterlassen hat. Die Frage nach Anlage oder Umwelt (nature or nurture) lässt sich nicht in die eine oder andere Richtung auflösen. Problematisch sind die soziobiologischen Ansätze jedoch, weil sie ihre Aussagen über das Verhalten von Menschen überziehen. Die Gene denken, fühlen und handeln ebenso wenig wie das Gehirn. Menschliches Verhalten wird durch die Gene (über viele Zwischenstationen) vielleicht in bestimmte Richtungen gedrängt, aber nicht gelenkt. Die Leine, mit der Kultur und Sozialverhalten mit den Genen verbunden sind, ist so lang[37], dass man sie nicht zurückverfolgen kann. Selbst Robert Plomin, der Herausgeber der seit 1970 erscheinenden Zeitschrift »Behavior Genetics« benennt in seinem Jubiläumsaufsatz von 2023[38] keine einzige direkte Verbindung zwischen einem Gen und einem bestimmten menschlichen Verhalten. Vererbt werden wohl Charakterzüge und vielleicht auch Intelligenz[39], ohne dass diese sich an bestimmten Genen festmachen ließen.[40] Handfeste Ergebnisse liefern die »Behavioral Genetics« nur, wenn es um Anomalien und Krankheiten geht.[41]

Alles in allem erscheinen die auf das Recht gemünzten Aussagen der Soziobiologie stark überzogen. Die genetischen Anlagen sind als Altruismus und Egoismus so divers, dass sie allein keine speziellen Verhaltensmuster steuern können. Die Aussicht auf eine vollständige Theorie der neuronalen Prozesse im Gehirn, die Aufschlüsse über alle sozialen Verhaltensweisen und kulturellen Produkte an die Hand geben könnte, ist so fern, dass wir mit dem Gehirn als Black Box denken und leben müssen. Das genetische Programm wirkt maximal, wie es Hellmuth Mayer formuliert hat, wie Gegenwind beim Fahrradfahren. Praktisch kann und muss man daher von einem universalen Sozialkonstruktivismus ausgehen, der sich von dem radikalen Sozialkonstruktivismus der Postmoderne allerdings darin unterscheidet, dass er die Realität der Natur akzeptiert.

Zu den Neuerscheinungen von Krimphove und Montenbruck ist danach nur noch wenig zu sagen, denn mit der breiten Kritik der Soziobiologie haben sie sich nicht auseinandergesetzt. Vielmehr haben sie – mehr oder weniger naiv – ihre eigenen Vorstellungen über richtiges Recht in Natur und Gene transponiert.


[1] Dazu relativ neu Marco Lehmann-Waffenschmidt/Michael Peneder (Hg.), Evolutorische Ökonomik, 2022.

[2] Ich habe jetzt keine Originalarbeiten von  von Hayek nachgelesenUnder verweise deshalb auf die Referate von Christopher Holl, Wahrnehmung, menschliches Handeln und Institutionen, 2004, S. 92 ff, sowie . Wolfgang Kerber, Hayek, in: Marco Lehmann-Waffenschmidt/Michael Peneder, Evolutorische Ökonomik, 2022, S. 513-522. In der Literatur werden u. a. genannt:: Friedrich A. von Hayek, Nature vs. Nurture once Again, Encounter 36, 1971, 81–83; Law, Legislation and Liberty. The Political Order of a Free People, Bd. 3, 1979; ders., The Fatal Conceit. The Errors of Socialism, 1988 (Die verhängnisvolle Anmaßung. Die Irrtümer des Sozialismus, 1996).

[3] Kenneth Boulding, Evolutionary Economics, 1981; Christopher Holl, Wahrnehmung, menschliches Handeln und Institutionen. Von Hayeks Institutionenökonomik und deren Weiterentwicklung, 2004; Richard R. Nelson/Sidney G. Winter, An Evolutionary Theory of Economic Change, 1982; Douglass C. North, Institutions, Institutional Change and Economic Performance, 1990; Michael North, Rechtsgeschichte und Wirtschaftsgeschichte: Institutionelle Faktoren in der Wirtschaftsentwicklung des Alten Reiches, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte: Germanistische Abteilung 135, 2018, 401-407 (guter Überblick).

[4] Robert Boyd/Peter J. Richerson, A Simple Dual Inheritance Model of the Conflict between Social and Biological Evolution, Zygon Jounal of Religion & Science 11, 1976, 254–62; Peter J. Richerson/Robert Boyd, Not by Genes Alone: How Culture Transformed Human Evolution, Chicago: University of Chicago Press, 2005, und jetzt Gillian R. Brown/Peter J. Richerson, Applying Evolutionary Theory to Human Behaviour: Past Differences and Current Debates, Journal of Bioeconomics 16, 2014, 105-128.

[5] A. a. O. (Fn. 15) S. 41f und passim.

[6] Jerry A. Fodor, Modularity of Mind: An Essay on Faculty Psychology, in: Jonathan Eric Adler (Hg.), Reasoning, 2008, 878–914.

[7] Leda Cosmides/John Tooby, From Evolution to Behavior: Evolutionary Psychology as the Missing Link, in John Dupré (Hg.), The Latest on the Best: Essays on Evolution and Optimality, 1987, 276–306; dies., The Psychologicyal Fopundations of Culture, in: Jerome H. Barkow/Leda Cosmides/John Tooby, The Adapted Mind: Evolutionary Psychology and the Generation of Culture, 1992, S. 19-136; dies., Cognitive Adaptations for Social Exchange, ebd. S. 163-228; dies., Evolutionary Psychology: A Primer, 1997.

[8] Der Laie würde eher nach einem Modul für Mustererkennung suchen, das ähnlich, wie die selbstlernenden Systeme künstlicher Intelligenz arbeitet.

[9] Wie die Module zusammenarbeiten, erläutert Steven Pinker in seinem Buch »How the Mind Works«, 1997 (Wie das Denken im Kopf entsteht, 1998/2011).

[10] Diese Frage hat Marc Regnerus untersucht (How Different Are the Adult Children of Parents Who Have Same-Sex Relationships? Findings from the New Family Structures Study, Social Science Research 41, 2012, 752-770), Seither gilt Regnerus in LGBT-Kreisen als Anti-Gay-Researcher. Eine Nachuntersuchung der von Regnerus benutzten Daten durch Cheng und Powell kommt zu dem Ergebnis, dass die Unterschiede nur gering seien (Simon Cheng/Brian Powell, Measurement, Methods, and Divergent Patterns: Reassessing the Effects of Same-Sex Parents, Social Science Research 52, 2015, 615-626). Zum Thema Joachim-Müller Jung, Leben Kinder homosexueller Partner schlechter? FAZ 2018.

[11] Richard J. Herrnstein/Charles A. Murray, The Bell Curve: Intelligence and Class Structure in American Life, 1994.

[12] Robert L. Trivers, Parental Investment and Sexual Selection, in: Bernard Campbell, Sexual Selection an the Descent of Man, 1972, 136-179. Ein anderer Autor, der diese Linie verfolgt, ist David M. Buss. Von Buss stammt Die »Evolutionary Psychology. The New Science of the Mind«, 1999, 6. Aufl. 2019. Das Buch enthält ausführliche Kapitel über Challenges of Sex and Mating sowie über Challenges of Parenting and Kinship. 2023 Buss ein »Oxford Handbook of Human Mating« herausgegeben.

[13] Catherine Hakim, Erotic Capital, European Sociological Review 26, 2010, 499-518; dies., Erotic Capital: The Power of Attraction in the Boardroom and the Bedroom, 2011, deutsch als Erotisches Kapital. Das Geheimnis erfolgreicher Menschen, 2011; dies., The Male Sexual Deficit: A Social Fact of the 21st Century, International Sociology 30, 2015, 314-335. Referat auf der Tagung der Nordic Association for Clinical Sexology NACS 2012, S. 27.

[14] Diese These wird populärwissenschaftlich ausgebreitet von der Biologin Meike Stoverock, Female Choice, 2021.

[15] Hellmuth Mayer, Die gesellige Natur des Menschen, 1977, S. 202f.

[16] Als Beispiel sei eine neuere Publikation angeführt: Sabrina Turker u. a., Cortical, Subcortical, and Cerebellar Contributions to Language Processing: A Meta-Analytic Review of 403 Neuroimaging Experiments, (2023) Psychological Bulletin 2023, https://doi.org/10.1037/bul0000403.

[17] Philip Robbins, Modularity of Mind, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2017 Edition); David Pietraszewski/Annie E. Wertz, Why Evolutionary Psychology Should Abandon Modularity, Perspectives on Psychological Science 17, 2022, 465–490.

[18] So formulieren George M. Ibrahim/Michael Taylor, Krebszellen manipulieren Neuronen, Spektrum der Wissenschaft Heft 10, 2023, S. 22.

[19] Affective Neuroscience. The Foundations of Human and Animal Emotions, New York, NY 1998. Für eine im Internet verfügbare Kurzfassung vgl. Jaak Panksepp, The Affective Brain and Core Consciousness: How Does Neural Activity Generate Emotional Feelings?, in: Handbook of Emotions, hg. von Michael Lewis u. a., 2008, 47-67. Panksepp fand im Laufe der Zeit sieben biologisch im Hirn verankerte Emotionen, die er, um sie vom üblichen Sprachgebrauch abzusetzen, in Großbuchtaben schrieb: SEEKING/Expectancy, RAGE/Anger, FEAR/Anxiety, LUST, CARE/Nurturing, PANIC/Sadness Und PLAY/Social Joy.

[20] A. a. O. S. 20.

[21] Noam Chomsky, Knowledge of Language. Its Nature, Origin, and Use, 1986; ders., Aspects of the Theory of Syxntax, 1965. Zu einer kompetenten Stellungnahme zu Chomskys Theorie sehe ich mich außer Stande. Ich orientiere mich bisher an der Stellungname von Günter Dux, Sprache. Ihre Genese als Problem der Erkenntniskritik, in: ders., Die Evolution der humanen Lebensform als geistige Lebensform, 2017, 227–254.

[22] Steven Pinker, Der Sprachinstinkt, 1998 (The Language Instinkt, 1994).

[23] John Rawls, A Theory of Justice, 1971, hier zitiert nach der Auflage von 1999, dort S. 41. Von einem angeborenen Gerechtigkeitsinn ist bei Rawls keine die Rede. Die Seite beginnt mit dem Satz »Let us assume that each peson beyond a sertain aage and possessed of the rquisite intellectual capacity develops a sense of justice unde normal social cirsumstances.« Der letzte Absatz der Seite beginnt dann »A useful comparison hier is with the problem of describing the sense of grammaticalness that we have for the sentences of our native Language.« Eine Fußnote verweist auf Noam Chomsky, Aspects of the Theory of Syxntax, 1965, S. 5-9.

[24] John Mikhail,. Universal Moral Grammar: Theory, Evidence and the Future, Trends in Cognitive Sciences, 11, 2007, 143-152; ders., Elements of Moral Cognition: Rawls’ Linguistic Analogy and the Cognitive Science of Moral and Legal Judgment, 2011; ders./Matthias Mahlmann, Cognitive Science, Ethics and Law, ARSP Beiheft 102, 2005, 95-102. Kritisch: Lando Kirchmair, Morality between Nativism and Behaviorism: (Innate) Intersubjectivity as a Response to John Mikhail’s »universal moral grammar«, Journal of Theoretical and Philosophical Psychology 37, 2017, 230–260.

[25] Dawkins S. 247f:

[26] Dawkins S. 249: »We need a name for the new replicator, a noun that conveys the idea of a unit of cultural transmission, or a unit of imitation. ›Mimeme‹ comes from a suitable Greek root, but I want a monosyllable that sounds a bit like ›gene‹. I hope my classicist friends will forgive me if I abbreviate mimeme to meme.«

[27] Dawkins S. 249.

[28] Susan Blackmore, The Meme Machine, 2000; Werner J. Patzelt, Was ist »Memetik«? In: Benjamin P. Lange (Hg.): Die menschliche Psyche zwischen Natur und Kultur, 2015, 52–61.

[29] Wie Fn. 5, S. 242. Dazu Heiner Rindermann, Evolutionäre Psychologie im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Ethik, Journal für Psychologie 11, 2003, 331–367, S. 359.

[30] Rindermann S. 360.

[31] Eine differenziertere Zeittafel bei Lampe S. 36f.

[32] Leda Cosmides/John Tooby, Evolutionary Psychology: A Primer, 1997, S. 924.

[33] Vgl. Samir Okasha, Population Genetics, The Stanford Encyclopedia of Philosophy 2023.

[34] Heussen, RphZ 4, 2019, 294-322, S. 320.

[35] Hellmuth Mayer , Die gesellige Natur des Menschen, 1977.

[36] In Bielefeld fand Anfang September der Weltkongress Behaviour 2023 statt. From foraging starlings to fat humans: an ethological approach to the food insecurity-obesity paradox lautet der Titel eines Vortrags. Hilft es uns, wenn wir wissen, das Stare futter hamstern und Menschen vielleicht noch ein Hamster-Gen haben und deshalb bei bei reichlichem Angebot zu viel essen?

[37] Die Metapher von der langen Leine stammt von Edward O. Wilson.

[38] Robert Plomin, Celebrating a Century of Research in Behavioral Genetics, Behavior Genetics 53, 2023, 75-84.

[39] Karl-Friedrich Fischbach/Martin Niggeschmidt, Erblichkeit der Intelligenz. Eine Klarstellung aus biologischer Sicht, 2 Aufl. 2019.

[40] Plomin verweist auf eine Studie von Chabris u. a., nach der sich zwölf Gene, die für Intelligenz verantwortlich gemacht wurden, in mehreren Studien als irrelevant erwiesen.

[41] Darauf konzentriert sich der Band von Robert Plomin/John C. DeFries/Valerie S. Knopik/Jenae M. Neiderhiser, Behavioral Genetics, 6. Aufl. 2013.

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One comment on “Kritik der Soziobiologie Teil II”

  • Ich möchte auf folgendes Versäumnis in der Darstellung der Soziobiologie hinweisen: Edward O. Wilson, der Begründer des Paradigmas der Soziobiologie in den 1970er Jahren, hat dieses von ihm selbst begründete Paradigma seit ca. dem Jahr 2010 falsifiziert! So sagt er in seinem auch in anderer Hinsicht als revolutionär geltenden Buch „Die soziale Eroberung der Erde“ (München 2013): „Das alte Paradigma der sozialen Evolution, das nach vier Jahrzehnten fast schon Heiligenstatus genießt, ist damit gescheitert. Seine Argumentation von der Verwandtenselektion als Prozess über Hamiltons Ungleichung als Bedingung für Kooperation bis zur Gesamtfitness als darwinschem Status der Koloniemitglieder funktioniert nicht. Wenn es bei Tieren überhaupt zur Verwandtenselektion kommt, dann nur bei einer schwachen Form der Selektion, die ausschließlich unter leicht verletzbaren Sonderbedingungen auftritt. Als Gegenstand einer allgemeinen Theorie ist die Gesamtfitness ein trügerisches mathematisches Konstrukt; unter keinen Umständen lässt es sich so fassen, dass es wirkliche biologische Bedeutung erhält. Auch für den Nachvollzug der Evolutionsdynamik genetisch bedingter sozialer Systeme ist es unbrauchbar“ (Wilson 2013, S. 221 f). Und an anderer Stelle: „Die schöne Theorie hat ohnehin nie gut funktioniert, aber jetzt ist sie in sich zusammengestürzt.“ (Wilson 2013, S. 68).
    Hier muss allerdings erwähnt werden, dass die meisten Soziobiologen diesen Schritt von Wilson nicht akzeptiert, ja nicht einmal diskutiert haben. Bezeichnend dafür ist die Reaktion von Wilsons Kollegen Richard Dawkins, wenn dieser seinem einstigen „lebenslangen Helden“ Wilson heute „schamlose Arroganz“ und „perverse Missverständnisse“ vorwirft, Wilsons Buch „’Die soziale Eroberung der Erde’ sei ein Buch, das man ‚mit Wucht wegschleudern’ sollte“, (vgl. SPIEGEL-Gespräch mit Wilson in SPIEGEL Nr. 8-2013, S. 135). Ja, Dawkins empfahl, „es einfach nicht zu lesen” (Edward O. Wilson, „Der Sinn des menschlichen Lebens”, München 2015, S. 78). Das wurde in der Evolutionsbiologie so konsequent umgesetzt, dass in den Nachrufen auf Wilson seine Falsifizierung des aktuellen Paradigmas und, was in diesem Buch noch enthalten ist, sein revolutionär-neuer Schritt zur Evolution des Menschen nicht einmal mehr eine Erwähnung fand.
    Der in diesem Buch von Wilson enthaltene revolutionär-neue Ansatz zur Evolution des Menschen besteht darin, dass Wilson die Kultur des Menschen, für die es bis heute in der Evolutionsbiologie noch keine abgeschlossene Theorie gibt (vgl. Gerhard Vollmer, „Im Lichte der Evolution”, Stuttgart 2017, S. 425), von den genetischen Gesetzmäßigkeiten und der genetischen Fitness befreit und der Kultur eine eigenständige Rolle in der Evolution zuschreibt. Das ist darin natürlich eine Veränderung von Darwins Evolutionstheorie, doch das hatte auch schon die Soziobiologie durchgeführt, allerdings als verstärkte Einbindung der Kultur in die genetische Fitness. Eine Berichtigung Darwins ist hier deswegen nötig, weil schon Darwin selbst bezüglich der Evolution des Menschen im Kapitel „Die natürliche Zuchtwahl in ihrer Einwirkung auf zivilisierte Völker” seines Buches „Die Abstammung des Menschen” „dunkle Rätsel” (im englischen Original: „perplexing problems”) sah, die er sich mit dem von ihm gefundenen Mechanismus der natürlichen Zuchtwahl nicht erklären konnte. Das betrifft einerseits den Niedergang der „alten Griechen, die Intellekt höher standen als irgend eine andere Rasse“ (Charles Darwin, „Die Abstammung des Menschen”, Alfred Kröner Verlag Stuttgart 1874/2002, S. 181) und andererseits „das Erwachen der europäischen Völker aus dem Dunkel des Mittelalters” (Darwin 1874/2002, S. 182), da diese plötzlich ohne erkennbaren Zuchtwahlprozess bzw. trotz großer, den Zuchtwahlprozess schädigender Einflüsse auf den Gipfel der Zivilisation gelangten. Das war für Darwin genauso rätselhaft, als hätten in evolutionär kürzester Zeit diese Völker ohne erkennbaren Zuchtwahlprozess ihre Hautfarbe geändert. Darwin ging wie selbstverständlich davon aus, dass die Kultur eines Volkes genau wie die äußeren Körpermerkmale das Ergebnis der natürlichen Zuchtwahl, bzw. wie wir es heute sagen, der genetischen Evolution war. Die intellektuelle Überlegenheit der alten Griechen war also für ihn mit dem heutigen Ausdruck gesagt genetisch verankert, genau wie das damals Barbarische unser eigenen Vorfahren.
    Wilson sagt dagegen nun mit seinem neuen Ansatz: „Der Aufstieg zur Zivilisation, von egalitären Verbänden und Siedlungen über Stammesfürstentum zum Staat, ging durch kulturelle Evolution vor sich, nicht auf Grund genetischer Veränderungen.“ (Wilson, 2013, S. 125 f). Kultur wird für Wilson nicht genetisch erworben, verankert und vererbt, sondern ausschließlich in der Sprache durch Lernen und Lehren, denn: „Die Sprache war der Gral der menschlichen Sozialevolution. Als sie erst installiert war, verlieh sie der menschlichen Spezies geradezu Zauberkraft.“ (Wilson 2013, S. 273). Diese „Zauberkraft” demonstriert er am empirischen Fall der Aborigines, die bis zum Kontakt mit der westlichen Kultur auf einer primitiven steinzeitlichen Stufe lebend seit ca. 45.000 Jahren in Australien genetisch isoliert waren. Wenn Geist und Kultur auch nur in Teilen genetisch erworben und verankert sind, müsste es für die Aborigines unmöglich sein, zu vollwertigen Mitgliedern der westlichen Kultur und Gesellschaft zu werden. Mit ihrer in diesem Fall nur einer steinzeitlichen Kultur genügenden und darin minderwertigen Gen-Ausstattung sind sie im genetischen Verständnis von Kultur ein typischer Fall für die Eugenik, während in Wilsons revolutionär neuem Verständnis, dass Kultur nichts mehr mit genetischer Evolution zu tun hat, die Aborigineskinder die westliche Kultur genauso wie die Kinder der westlichen Völker übernehmen und fortführen können. (Ein naturwissenschaftliches Experiment zur Klärung der Frage wie Kultur erworben und tradiert wird hätte nicht perfekter konstruiert werden können als es natürlicherweise mit den Aborigines gegeben ist.)
    Diese Fähigkeit zur Übernahme und Fortführung von Kultur besitzen für Wilson alle heute lebenden Menschen, da nur die Fähigkeit zu Kultur genetisch festgelegt ist, nicht aber die darin speziell erworbene Kultur. Mit der Eingangsfrage „Warum sollte man die Evolution menschlicher Gesellschaften zu Zivilisationen als kulturellen und nicht als genetischen Prozess bezeichnen?” schreibt Wilson konkret als Antwort und „Beweisführung” zu dieser Frage: „Eine ganz wesentliche ist die Tatsache, dass Kleinkinder aus Jäger-und-Sammler-Gesellschaften, die bei Adoptivfamilien in technologisch fortschrittlichen Gesellschaften aufwachsen, zu kompetenten Mitgliedern dieser Gesellschaften werden – obwohl die Abstammungslinie des Kindes sich vor 45.000 Jahren von der der Adoptiveltern getrennt hat! Das war etwa bei Kindern von australischen Aborigines der Fall, die in Familien von Weißen aufwuchsen. Die Zeitspanne hätte ausgereicht, damit sich über eine Kombination von natürlicher Selektion und Gendrift genetische Unterschiede zwischen verschiedenen menschlichen Populationen ergeben. Doch die bekannten Merkmale, in denen es genetische Veränderungen gegeben hat, betreffen, wie bereits ausgeführt, in erster Linie Resistenzen gegen Krankheiten und Anpassungen an lokale Klima- und Nahrungsbedingungen.” (Wilson 2013, S. 127). Da Kultur so eben nicht durch Zuchtwahl bzw. genetische Evolution oder Fitness erworben wird, sind damit nicht nur die „dunklen Rätsel” von Darwin gelöst, sondern auch die eigentlichen Wurzeln des Rassismus beseitigt.
    Doch dieser neue Ansatz von Wilson geht weit über das Problem des Rassismus hinaus. Das wird an der folgenden Aussage von Wilson deutlich: „In unseren Emotionen aber sind wir nicht einmalig. Dort findet sich, wie in unserer Anatomie und im Gesichtsausdruck, was Darwin den unauslöschlichen Stempel unserer tierischen Vorfahren nannte. Wir sind ein evolutionäres Mischwesen, eine Chimärennatur, wir leben dank unserer Intelligenz, die von den Bedürfnissen des tierischen Instinkts gesteuert wird. Deswegen zerstören wir gedankenlos die Biosphäre und damit unsere eigenen Aussichten auf dauerhafte Existenz.“ (Wilson 2013, S. 23).
    Der Mensch besitzt also dieser Aussage nach eine dichotome Natur, weil sich sein Verhalten aus zwei völlig unterschiedlichen (aber darin rein natürlichen) Quellen speist. Da die heutige, weiterhin soziobiologische Evolutionsbiologie außerhalb von Wilson diese dichotome Natur des Menschen wahrscheinlich aus Angst vor erneuten religiösen, übernatürlichen Einflüssen strikt ablehnt, versucht sie weiterhin die menschliche Kultur allein im Rahmen der genetischen Evolution und Gesetzmäßigkeiten zu deuten, obwohl das als erste Anwendung der Evolutionsbiologie auf den Menschen mit der Eugenik in der Praxis krachend gescheitert ist – und mit der Konsequenz, dass die Evolutionsbiologie mit dem weiteren Festhalten an dieser gescheiterten und falschen Vorstellung von Kultur die aktuelle dramatische Entwicklung der menschlichen Kultur orientierungslos nicht einmal als weitergehende Evolution erkennen kann!
    Und letztlich lässt sich mit diesem neuen Ansatz von Wilson auch das Phänomen der Kriminalität beim Menschen klären, denn das kriminelle Verhalten gründet auf nichts anderem als den genetisch verankerten Instinkten, die von unserem neuronal codierten geistig-kulturellen Sein lediglich mehr oder weniger stark überlagert werden.

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