Jetzt habe ich auch den Text von Giorgio Del Vecchio »Der ›Homo Iuridicus‹ und die Unzulänglichkeit des Rechts als Lebensregel« erhalten. Er wurde 1937 in Band II der in Belgrad (Beograd) erschienenen Zeitschrift »Philosophia« (S. 55-86) und gleichzeitig als Sonderdruck veröffentlicht. Die Einleitung umreißt recht genau die Fragestellung, die ich in dem vorhergehenden Eintrag vom 10. Juni 2013 behandeln wollte, so dass ich sie hier ausführlich zitiere:
»Bekanntlich haben die Wirtschaftswissenschaftler die hypothetische Gestalt eines ›homo oeconomicus‹ entworfen, um die grundlegenden Gedanken ihrer Wissenschaft bildhaft darzustellen. Das heißt, sie haben einen Menschen angenommen, der in all seinen Handlungen ausschließlich durch das Motiv des wirtschaftlichen Interesses bestimmt wird. Obwohl es nicht zu verkennen ist und von den Wirtschaftswissenschaftlern selbst zugegeben wird, dass in der Wirklichkeit die Wirtschaft als Motiv zusammentrifft und sich verflicht mit vielen anderen Motiven, so gestattet (wenigstens nach der Annahme der Wirtschaftswissenschaftler) eine begriffliche Abstraktion doch die Ermittelung des Verhaltens, das ein Mensch bei ausschließlicher Bestimmung durch jenes Motiv unter gewissen äußeren Umständen einschlagen würde. Auf Grund eines ähnlichen hypothetischen Verfahrens könnte man viele andere abstrakte Gestalten von Menschen entwerfen, welche durch eine einzige Art von Motiven bestimmt werden und man könnte dabei beispielsweise von einem ›homo religiosus‹, einem ›homo moralis‹ und ähnlichem sprechen. Vorausgesetzt, daß man vermeidet, solche hypothetischen Gestalten mit der Wirklichkeit irrtümlich zu verwechseln und ihnen allen den nämlichen normativen Wertcharakter zuzuteilen, ist nicht zu leugnen, daß sie einem gewissen wissenschaftlichen Bedürfnis genügen und eine gewisse wissenschaftliche Funktion erfüllen können. Deshalb ist es nicht zwecklos, zu fragen, ob wir nicht etwa die Gestalt eines homo iuridicus entwerfen können und welches deren genauerer Umriss und Gehalt ist.
Eine kurze Überlegung zeigt, daß mit diesem Ausdruck verschiedene Gebilde gemeint sein können. Er kann einen Menschen kennzeichnen, der angenommenermaßen sich stets innerhalb der Schranken des Rechts hält und derart nie mit einem Rechtssatz in Konflikt gerät. Er kann weiter einen Menschen kennzeichnen, der im höchsten Maße all die Rechte ausübt, welche ihm zustehen, und der auf keines der juristischen Machtmittel verzichtet, welche von den Rechtssätzen zu seiner Verfügung bereitgestellt worden sind. Schließlich kann jener Ausdruck einen Menschen kennzeichnen, der sich ausschließlich der Verteidigung des Rechtes widmet, d. h. der Aufgabe, jede Verletzung der Rechtssätze zu verhüten oder niederzuschlagen, von welcher Seite diese auch kommen mag. In allen diesen Fällen bildet das Recht stets das grundlegende Motiv für ein menschliches Handeln. Aber gerade die verschiedenen Möglichkeiten der Anwendung, welche der Begriff des homo iuridicus offen läßt, weisen uns auf das hin, was wir in den folgenden Betrachtungen klarlegen wollen, daß nämlich das Recht für sich allein unzulänglich ist, um das menschliche Leben zu ordnen. Damit wird sich auch Gelegenheit bieten, von einem bestimmten Gesichtspunkte aus, die Wesenselemente des Rechts durch einen Vergleich mit den anderen Regeln des sozialen Lebens und mit den Naturgesetzen näher zu bestimmen.«
Del Vecchio unterscheidet also drei homines juridici. Der erste ist der Rechtskonformist, der zweite der Rechthaber und der dritte der Rechtsaktivist. Anschließend legt del Vecchio in einem auch in der deutschen Übersetzung noch glänzend formulierten Essay nach Art einer Allgemeinen Rechtslehre dar, dass viele Rechtsnormen nicht kategorisch gemeint sind, sondern hypothetisch oder instrumentell, so dass man von ihnen nur Gebrauch macht, wenn man einen außerrechtlichen Zweck verfolgt. Vor allem aber referiert er verschiedene Möglichkeiten der Unterscheidung von Recht und Moral, mit dem Ergebnis, dass das Recht ein ethisches Minimum darstelle, um am Ende festzustellen, dass das menschliche Leben nicht allein in der Form des Rechts geregelt werden könne, weil weder Moral noch Recht für sich allein bestehen können.
»Der Mensch, welcher niemals eine Rechtspflicht verletzt (der homo juridicus in der ersten Bedeutung dieses Begriffs), kann trotzdem arm an Weisheit und Menschlichkeit sein. Eine solche Erscheinung kann deshalb niemals ein wertvolles ideal darstellen. … (Es wäre) ein schwerer Paralogismus zu glauben, es sei immer moralisch erlaubt, von seinem Rechte uneingeschränkt Gebrauch zu machen. … (Das Recht ist nur ein ethisches Minimum. Deshalb) müssen wir auch die These zurückweisen, was es in jedem Falle die volle Billigung verdiene, wenn man das eigene Recht bis zum äußersten ausnützt. Die Figur des homo juridicus in diesem zweiten Sinne stellt gleichfalls kein wirkliches Ideal der Vernunft dar …« (S. 80)
Aber auch »der der Kampf gegen juristisches Unrecht kann kein ausreichendes Lebensideal« sein (S. 81). Denn ebenso wenig wie das Recht selbst einen Maßstab dafür enthält, wie weit man sich auf sein Recht berufen soll, liefert es einen Maßstab dafür, wann es angemessen ist, zur Verteidigung des Rechts anzutreten. Stets muss man die Moral zur Hilfe rufen. All dem wird man gerne beipflichten. Aber mit dieser Wendung ins Normative entfällt die Vergleichbarkeit mit dem homo oeconomicus (und homo sociologus), den ich mir nach der einleitenden Fragestellung erhofft hatte.