Narrative, Inszenierung und Rhetorik: Begriffe mit konstruktivistischem Überschuss

Für die heute startende Online-Tagung »Narratives in Times of Radical Transformation« werden Narrative als sinnstiftende Erzählungen eingeführt. Das Narrativ

»hat Einfluss auf die Art, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen und transportiert Werte und Emotionen. In der Regel bezieht sich das Narrativ auf einen Staat oder einen kulturellen Raum und unterliegt einem zeitlichen Wandel. In diesem Sinne sind Narrative keine beliebigen Geschichten, sondern etablierte Erzählungen, die mit einer Legitimität versehen sind.«

Dann folgt das übliche Antragsnarrativ: Immer mehr Wissenschaftler und immer mehr Disziplinen beschäftigen sich damit. Und deshalb müssen wir jetzt diese Tagung abhalten. Die Tagung mag ja durchaus ihre Berechtigung haben.

Meine Skepsis hinsichtlich der Relevanz der Narratologie für Rechtssoziologie und Rechtstheorie habe ich vor Jahr und Tag in fünf Einträgen zum Ausdruck gebracht.[1]

In meinen Notizen zu »Recht und Literatur« finde ich: James Boyd White hat wohl als erster deutlich den Unterschied zwischen Narration und Argumentation formuliert:

»I think a fundamental distinction can be drawn between the mind that tells a story and the mind that gives reasons: one finds its meaning in representations of events as they occur in time, in imagined experience; the other in systematic or theoretical explanations, in the exposition of conceptual order or structure. One is given to narrative, the other to analysis.«

Ich kann das Zitat im Moment nicht mehr verifizieren. Es wird wohl richtig sein. Vor allem ist es in der Sache zutreffend. Geschichten zu erzählen, ist nicht Sache der Jurisprudenz. Davon hat mich auch Bernhard Lomfeld nicht überzeugt, indem er den Narrationsansatz auf »Recht und Literatur« gebürstet hat.[2] Rechtskritik kann man nicht mit Gegennarrationen begegnen, sondern nur mit Argumenten.

Heute will ich eine Anmerkung über den konstruktivistischen Überschuss des Narrativ-Begriffs hinzufügen. Er wird deutlich, wenn man den Begriff in eine Reihe mit Inszenierung und Rhetorik stellt. Die drei Begriffe werden verwendet, um eine Position zu dekonstruieren und so zu delegitimieren. Das Verfahren ist immer dasselbe. Die Position, die man kritisieren will, wird nicht als solche auf ihren Wahrheits- oder Richtigkeitsanspruch geprüft. Vielmehr wird eine Zwischenebene der Herstellung und Darstellung eingezogen, die die kritisierte Position von ihrer Begründung trennt, indem sie eben zu einer kleinen oder großen Erzählung, als Inszenierung oder als rhetorisch stilisiert wird. Damit wird mehr oder weniger deutlich unterstellt, dass es um Geschichten an Stelle von Argumenten, um den bloßen Schein der Inszenierung (von Recht) oder um Rhetorik statt Inhalt gehe.


[1]Legal Narratives vom 3. 11. 2009; Legal Narratives II vom 13. 12. 2009; Legal Narratives III: »Von den Fällen, die fallweise im Einzelfall anfallen.« vom 6. 6. 2010; Legal Narratives IV 16. 7. 2010; Legal Narratives V: Peter Stegmaiers ethnographischer Blick vom 10. 12. 2010.  Weitere Einträge, die das Stichwort aufgreifen: Ästhetische und narrative Geltung und Robert M. Cover und seine Jurisprudenz der Leidenschaft und des Widerstands.

[2] Bertram Lomfeld, Narrative Jurisprudenz, JZ 2019, 369-373.

 

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