Natur und Kultur: Natur als komparativer Begriff

Der Appell an die Natur weckt die stärksten moralischen Intuitionen. »Die Natur schreit uns an«, so der Philosoph Markus Gabriel im Interview mit Blick auf Corona-Pandemie und Klimawandel. Alle wollen es »grün« und »bio«. Es ist »natürlich« vollkommen richtig, dass sich aus der Natur unmittelbar keine ethischen oder juristischen Normen ableiten lassen. Natürlichkeit ist nur ein Argument unter vielen anderen. Das Problem mit diesem Argument ist, dass mächtige Diskurse es in Verruf gebracht haben. Während Natürlichkeit in der Alltagsmoral einen hohen Stellenwert besitzt, wird das Argument von der akademischen Ethik eher verachtet. Zwei spezifischere Diskurse haben das Natürlichkeitsargument besonders ins Abseits gestellt. Da war zuerst die antireligiöse Aufklärung mit ihrem Kampf gegen eine Kosmologie, die die Berufung auf Natürlichkeit einer Aufladung durch gottgewollte Normativität verdächtigte. Später kam der gendertheoretische Diskurs, für den sich hinter Natürlichkeitsargumenten soziale Zwänge verbergen.

Natürlichkeitsargumente im engeren Sinne sind solche, welche die Natur im Sinne von physikalischen und biologischen Vorgegebenheiten zur Begründung politischer, rechtlicher oder moralischer Forderungen anführen. Sie begegnen damit allen Einwänden, die mit Wesensargumenten verbunden sind, insbesondere »natürlich« dem Einwand, sie beruhten auf einem naturalistischen Fehlschluss. Dieser Einwand ist allerdings unbegründet, wenn das Argument nicht als zwingende Ableitung vorgetragen wird, sondern lediglich fordert, bei der Abwägung auch einen (näher bezeichneten) Gesichtspunkt der Natürlichkeit einzustellen. Natürlichkeitsargumente bringen aber ein anderes Problem mit sich, das schwerer auszuräumen ist, nämlich die Unterscheidung von Natur und Kultur.

Wenn der (evangelische) Theologe Thomas Kaufmann in einem Artikel über »Den radikalen Umbruch der Reformation« (FAZ vom 25. 10. 2021) am Ende formuliert:

»Ja – der Pflichtzölibat ist eine Konsequenz des priesterlichen Jungfräulichkeitsideals; der massenhafte Kindesmissbrauch ist auch eine Folge dieser rigiden, der menschlichen Natur widerstreitenden Norm.«

gibt es vermutlich Beifall. Wer dagegen unter Berufung auf die Natur die heterosexuelle Ehe und die aus Vater, Mutter und Kindern bestehende Familie verteidigt, stellt sich ins diskursive Abseits. Aus Sicht der Gender Studies wird ein »diskursiver Klassenkampf« geführt (Sabine Hark, Dissidente Partizipation, 2005, S. 34), in dem jede Berufung auf Natur und Biologie als frauenfeindlich und homophob gilt. Die Begründung lautet, dass Natur als solche nicht erkennbar sei: Alles ist Kultur. Das unausgesprochene Motiv für diese Ablehnung liegt »natürlich« darin, dass es eben doch natürliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt und dass sich die natürliche Normalität der Zweigeschlechtlichkeit schwerlich leugnen lässt mit der Folge, dass dadurch unerwünschte normative Konsequenzen nahegelegt werden.

Die Ansicht, dass man sich nicht auf Natürlichkeit berufen dürfe, weil zwischen Natur und Kultur nicht zu unterscheiden sei, ist in der Akademie heute »h.M.«[1]. Ich halte dagegen. Die Unterscheidung ist schwierig, deshalb aber nicht unmöglich. Daher sind Natürlichkeitsargumente nicht von vornherein ausgeschlossen.

Kultur als Gegenbegriff zu Natur versteht sich im weitesten Sinne unter Einschluss aller Technik. Das Antonym natürlich/künstlich bringt das Werden aller Erscheinungen, für die Natur in Anspruch genommen wird, die Prozesshaftigkeit ihrer Entstehung, zum Ausdruck. Die Grenzen der diskurs-extern vorgegebenen Natur ändern sich laufend. Schon die Saat, die der Landmann in die mit einem Grabstock gezogene Furche legt, wächst nunmehr künstlich. Heute wird selbst das Wetter als änderbar gedacht. Nachdem klar ist, dass auch der Klimawandel menschengemacht ist, bleibt anscheinend nur noch die Sonne als reine Natur. Doch so weit müssen die Gdanken nicht ausholen. Wenn Teile der Türkei und Syriens von einem Erdbeben verwüstet werden, handelt es sich um nackte Naturgewalt, und es wäre lächerlich, dieses Ereignis als kulturelle Konstruktion begreifen zu wollen.

Die Unterscheidung von Natur und Kultur bleibt schwierig, ist aber nicht hoffnungslos. Laien wissen in der Regel recht gut, was natürlich ist. Sie reden von natürlicher Geburt oder Naturheilkunde und wünschen naturbelassene Nahrungsmittel. Zwar ist auch »Bio« heute künstlich. Aber wenn es Alternativen gibt, lässt sich doch meistens zwischen mehr oder weniger natürlich unterscheiden. Und so unterscheiden nicht nur Laien, sondern auch Politik und Recht. Naturschutz wäre eine Illusion, wenn Politik und Recht keine Vorstellung hätten, was es zu schützen gilt und wie das geschehen könnte.

Kommentare zu § 1 BNSchG definieren Natur als »nicht vom Menschen geschaffene, belebte und unbelebte Welt und die in ihr lebenden Lebewesen«. Im Anthropozän ist von einer nicht vom Menschen in irgendeiner Weise mitgestalteten Welt wenig übrig. Aus der Natur ist ein Prozess geworden, an dem Menschen mehr oder weniger beteiligt sind. Naturschutz bedeutet deshalb, die menschliche Beteiligung am Entwicklungsprozess zurückzunehmen. Als »natürlich« gilt in erster Linie der Verzicht auf einen Eingriff in den Ablauf der Dinge, auch wenn der Ausgangszustand längst nicht mehr natürlich ist. Manche Wälder, die unter Naturschutz gestellt werden, sind von Menschen angelegt worden. Landschaftsbau und Wasserwirtschaft betreiben in großem Umfang Renaturierung. Ehemalige Industrieflächen werden »der natürlichen Entwicklung überlassen«, um sich zu regenerieren (§ 1 III Nr. 2 BNSchG). Freilich genügt es nicht immer, die Natur gewähren zu lassen. Sonst kommt es zu so »unnatürlichen« Zuständen wie der explosionsartigen Vermehrung von Wildgänsen und Kormoranen. Natur wird damit zu einem komparativen Begriff gegenüber Technik und Kultur. Es geht um mehr oder weniger Natur. Aus »natürlich« wird »naturnah«. Der Umgang mit solchen Begriffen ist der Jurisprudenz vertraut. Die Natur ist kein ontologisches Nullum, aber sie ist auch »keine vom Normanwender bloß hinzunehmende, fixe Gegebenheit, sondern eine normative Zielvorstellung, die durch weitere, ihrerseits mit normativem Gehalt zu vesehende Unterkriterien – etwa Biodiversität – weiter spezifiziert und damit operationalisiert werden kann«[2]. Naturschutz, Umweltschutz und Klimaschutz scheitern jedenfalls nicht an einem ungeklärten Naturbegriff. Im Klimabeschluss (E 157, 30ff) tanzt auch das Bundesverfassungsgericht zur Melodie von Art. 20a GG den »Natural Turn«.


[1]Dieter Birnbacher, Natürlichkeit, 2006;  Alan Levinovitz, Natural: How Faith in Nature‘s Goodness Leads to Harmful Fads, Unjust Laws, and Flawed Science, 2020; Frauke Rostalski, Das Natürlichkeitsargument bei biotechnologischen Maßnahmen, 2017.

[2]  Ino Augsberg, Natur als Norm, in: Annette Meyer/Stephan Schleissing (Hg.), Projektion Natur, 2014, 164-178, S. 177.

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