Normalität und Normativität

Zwei Argumente sind heute schlechthin verpönt, wenn es gilt, menschliches Verhalten zu bewerten oder einzufordern. Man sich darf weder darauf berufen, etwas sei natürlich, noch, es sei normal. Erst recht das Argument, etwas sei von Natur aus normal, gilt in tonangebenden akademischen Kreisen als hinterwäldlerisch oder gar populistisch. Es ist an der Zeit, in einem natural turn solchen Argumenten wieder zu ihrem Recht zu verhelfen.

Eines ist klar: Natur und Normalität sind keine normativen Instanzen. Entsprechende Argumente können keine normative Verbindlichkeit beanspruchen. Insoweit steht die Differenz von Sein und Sollen entgegen. Aber zur Stützung normativer Forderungen dürfen diese Argumente verwendet werden, sofern dies mit der gebotenen Vorsicht geschieht. Die »Natur der Sache« kann als Schlüssel zur Interdisziplinarität dienen, wenn dabei keine »Renaissance des Naturrechts auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage«[1] herauskommt.

Semantische Verschränkung von Normalität und Normativität

90 % der Menschen sind Rechtshänder, 95 % können Farben erkennen. Aber 10 % sind Linkshänder und etwa 5 % sind farbenblind. Fast alle Menschen können nach ihren Genen und nach den äußeren Geschlechtsmerkmalen als Mann oder Frau erkannt werden. Bei etwa 2 % ist die Zuordnung unklar. Bis zu 10 % fühlen nicht entsprechend der äußerlichen biologischen Zuordnung. Man kann zunächst wertfrei feststellen: Rechtshändigkeit ist normal; Farbenblindheit ist nicht normal. Immer noch wertfrei kann man festhalten: Linkshändigkeit hat für die Betroffenen an sich keine funktionalen Nachteile. Nachteile entstehen erst dadurch, dass die Welt für die Mehrheit der Rechtshänder eingerichtet ist. Farbenblindheit wäre dagegen funktional nachteilig, selbst wenn niemand bunte Bilder malen oder Filme zeigen würde, denn schon die Differenzierung der natürlichen Farben fällt schwer. Abweichungen von der geschlechtlichen Identität sind für die biologische Reproduktion unfunktional. Sie haben in der heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft sekundäre funktionale Nachteile

Auch menschliches Verhalten ist mehr oder weniger normal. Normalerweise schläft man des nachts und wacht am Tage. Fast alle Menschen führen ein Handy bei sich, wenn sie aus dem Haus gehen. Niemand ist verpflichtet, nachts zu schlafen. Aber wer nicht gerade Nachtarbeiter ist, kann sonst kaum etwas Besseres tun. Niemand ist verpflichtet, ein Handy mit sich zu führen. Aber wer darauf verzichtet, lässt sich Kontakt- und Informationsmöglichkeiten entgehen. In der Rechtssoziologie gab man sich einmal große Mühe, zwischen bei der Einteilung der Verhaltensmuster zwischen bloßen Verhaltensgleichförmigkeiten und verbindlichen Normen zu unterscheiden. Ein Beispiel aus der Ethnologie: In einfachen Stammesgesellschaften sind, obwohl eine Norm fehlt, die das Heiraten vorschreibt, sind fast alle verheiratet. Der Grund dafür liegt in den Nachteilen, die mit der Position des Ledigen verbunden sind. Er hat kein besonderes Ansehen in der Gesellschaft, er hat ökonomische Nachteile, weil ihm niemand bei der Arbeit hilft. Da er keine Kinder hat, ist er in Krankheit und Alter ohne Schutz. Diese negativen Konsequenzen, die von Seiten der Umgebung nicht als Strafen gemeint sind, reichen für eine Verhaltensuniformität aus.[2] Der Übergang von bloß funktionaler Konformität zu sozialem Konformitätsdruck ist fließend.

Zwischen natürlicher Normalität und sozialer Normativität steht der Standard. Eine Standardisierung setzt schon im Altertum mit der Festlegung von Maßen, Gewichten und Münzwerten ein. Sie entwickelt sich in der Neuzeit im Militär und bei Manufakturen, und wird zum unverzichtbaren Instrument für die Rationalisierung von Technik, Wirtschaft und Kommunikation.

Das Normale ist per se keine soziale Norm. Aber gegenüber dem Normalen zeigen Menschen sich lernbereit, weil das Normale normalerweise auch funktional ist. Die Orientierung am Normalen erleichtert die Qual der Wahl und ist oft zweckmäßig, so dass eine Abweichung sich selbsttätig rächt. Wer bei Regen keinen Schirm benutzt, wird nass. Wer sich nicht an die üblichen Essenzeiten hält, wird schwer eine Mahlzeit finden. Wer kein Handy bei sich trägt, verzichtet auf Kontaktmöglichkeiten und Informationen. Wer sich nicht normal verhält, zieht Aufmerksamkeit auf sich. Das kann erwünscht sein, ist aber oft unerwünscht. Wer sich verhält, wie mehr oder weniger alle anderen, vermeidet Risiken, auch wenn ihm gelegentlich Chancen entgehen. Das Normale ist self-executing, auch wenn es nicht sozial eingefordert wird. Es kann dahinstehen, ob es neben dieser Funktionalität normalen Verhaltens noch eine psychische Anlage zur Nachahmung gibt.

Künstler finden Normalität langweilig oder trivial. Reformer und Revolutionäre entdecken in der Normalität die Unterdrückung des Besonderen und Abweichenden. Aber das ist eben nicht »normal«. Aber die normale Reaktion auf das Anormale scheint negativ zu sein. Wenn es »normal« ist, dass normales Verhalten sozial eingefordert wird, so wird Normalität zum Problem. Das Problem ist die mit der Normalität assoziierte Normativität. Ein Psychologie-Lexikon definiert:

»Normalität, erwünschtes, akzeptables, gesundes, förderungswürdiges Verhalten im Gegensatz zu unerwünschtem, behandlungsbedürftigem, gestörtem, abweichendem Verhalten (auch: Wahnsinn, Verrücktheit, gestörtes Seelenleben, psychische Krankheit).«

Im Normalitätsbegriff scheinen Sein und Sollen unlösbar miteinander verkoppelt zu sein. Aber die Verschränkung von Normalität und Normativität lässt sich semantisch entwirren und psychologisch erklären. Damit werden Normalität und Normativität zu Begriffen mit unterschiedlicher Bedeutung.

Normal, normativ und anomal

Es liegt nahe, die Analyse etymologisch zu beginnen.[3] Die Etymologie ist interessant, aber am Ende wenig hilfreich, denn sowohl »normal« als auch »normativ« leiten sich vom lateinischen norma = Winkel ab. Immerhin lohnt es sich, der Herkunft des nach Klang und Bedeutung ähnlichen Ausdrucks »anomal« nachzugehen.

Geläufig sind uns die Vokabeln normal und anormal. Aber manchmal ist auch die Rede von Anomalität und anomal oder anomisch, alle ohne das r, aber mit langem O. Anormal und anomal haben ähnliche Bedeutung, aber sprachlich nichts miteinander zu tun. Normal kommt von dem lateinischen norma. Das ist das Winkelmaß, aber auch der der rechte Winkel, im übertragenen Sinne die Regel. Anomal, so meinen viele, stamme vom griechischen Wort νόμος = Gesetz. Das könnte die Bedeutungsähnlichkeit erklären. Aber das ist ein verbreiteter Irrtum. Tatsächlich steckt dahinter das griechische Wort ἀνώμαλός. Das ist die Negativform von homalós (ὁμαλός), was eben oder gleichmäßig bedeutet. Wir kennen diesen Wortstamm aus dem Wort »homogen«. Merkwürdigerweise wird anomal nur mit dem Alpha privativum, also mit der negierenden Vorsilbe verwendet. Nomal als eine positive Version ist nicht gebräuchlich. Das liegt wohl daran, dass es nicht nomal, sondern homal heißen müsste, so dass das Wort als Gegenbegriff zu anomal nicht mehr ohne weiteres erkennbar wäre. Das Wort ὁμαλός beginnt im Griechischen mit einem Omikron, das einen Spiritus asper trägt, also ein diakritisches Zeichen, das wie ein H gesprochen wird. In der altgriechischen Negativform ἀνώμαλός wird aus dem kurzen Omikron ein langes Omega, und der Spiritus asper und damit der H-Laut verschwinden. Wie die Griechen das Wort früher ausgesprochen haben, ist unklar. Jedenfalls für uns heute ist der ursprüngliche Wortstamm von der Aussprache her nicht zu erkennen. Hält man sich dennoch an die Etymologie, so hat jedenfalls der Ausdruck »Anomalie« deskriptive Bedeutung.

Dagegen ist der Normbegriff von vornherein zweideutig, weil ein Maßstab nicht nur buchstäblich wie das Winkelmaß an unbelebte Gegenstände angelegt werden kann, sondern im übertragenen Sinne auch an menschliches Verhalten. Der Maßstab als Abstraktion eines Winkels, ganz gleich welchen Grades, ist zunächst keine Soll-Norm. Wenn norma der rechte Winkel ist, dann kann man beschreibend feststellen, dass eine Linie senkrecht steht oder vom Lot abweicht. Dabei bewegt man sich ganz im Deskriptiven. Der Winkel wird zur Norm, wenn eine Bauordnung bestimmt, dass die Dachneigung 45° betragen soll. Die ordnungsgemäß erlassene Bauordnung als Norm ist wiederum bloß ein Maßstab und damit eine Tatsache. Erst die Überzeugung von ihrer Geltung macht sie zur Soll-Norm. Ein Urteil, das ein Faktum von einer Norm her qualifiziert, ist wiederum deskriptiv. Normativ im Sinne von wertend wird das Urteil erst, wenn es implizit besagt: Und das ist gut so. Damit wird in dasjenige, was faktisch einer Norm entspricht, die Normgeltung hineingelesen. Komplizierter noch wird die Sache dadurch, oft auch ohne vorgängige Norm in normales = gleichförmiges Verhalten eine Norm hineingelesen wird, ein Effekt, den wir sogleich als die normative Kraft des Faktischen einordnen werden. Durch diese »Ambiguitäten« stiftet der Normalitätsbegriff viel Verwirrung. Als Ausweg bleibt nur die Möglichkeit der Unterscheidung von Normalität und Normativität mit Hilfe einer Nominaldefinition, die besagt: Die Ausdrücke »normal« und »Normalität« verwenden wir deskriptiv, also für empirisch beobachtbare Gleichförmigkeiten. »Normativ« und »Normativität« sollen dagegen bedeuten, dass die so gekennzeichneten Verhaltensweisen in irgendeiner Weise sozial – und das kann auch heißen: rechtlich – eingefordert werden.

[Fortsetzung folgt.]

Nachtrag: Der Deutsche Ethikrat hat eine Arbeitsgruppe Arbeitsgruppe »Normalitätsvorstellungen in den Lebenswissenschaften«. Die veranstaltet am 20 Oktober eine öffentliche Anhörung über »Normalität und Normalisierungsprozesse im Spiegel von Psychiatrie, Phänomenologie und Medienwissenschaft«: https://www.ethikrat.org/anhoerungen/normalitaet-und-normalisierungsprozesse/.


[1] Damit beziehe ich mich auf die Sammelrezension von Erhard Blankenburg, Die Rechtsbiologie – Renaissance des Naturrechts auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage?, Zeitschrift für Rechtssoziologie 6, 1985, 135-140.

[2] Siegfried S. Nadel, Social Control and Self-Regulation, Social Forces 31, 1953, 256-273.

[3] Das hat wohl als erster Georges Canguilhem unternommen: Das Normale und das Pathologische (Le normal et le pathologique, 1966), 1974, S. 86f.

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