Zwischen biologischem Determinismus und konstruktivem Autismus liegt ein weites Feld

Der Text dieses Eintrags ist nunmehr zu einem Buchkapitel geworden in:

Klaus F. Röhl, Männliche Herrschaft als symbolischer Kapitalismus.

Eine Kritik an Pierre Bourdieus Konzept der männlichen Herrschaft,

Lit Verlag Münster, 2020.

Ich bitte um Verständnis, dass ich den Text mit Rücksicht auf den Verlagsvertrag gelöscht habe.

Nachtrag: Das Buch ist jetzt im Open Access zugänglich. Der Link befindet sich auf der Verlagsseite etwas verteckt im Klappentext oder hier: https://www.lit-verlag.de/media/pdf/be/5a/03/9783643145673.pdf.

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Die Max-Weber-Gesamtausgabe (MWG) ist ein Unglück für die Rechtssoziologie

Vor mir liegt ein neues Buch von Hubert Treiber: Max Webers Rechtssoziologie – eine Einladung zur Lektüre, Harrassowitz Verlag Wiesbaden, 2017. Ich vermute einmal, dass es ein interessantes Buch ist, denn Treiber ist (nicht nur) ein ausgewiesener Weber-Kenner. Aber der Titel des Buches wirkt wie blanke Ironie. Eine Einladung zur Lektüre sollte an erster Stelle eine handliche und zugängliche Textausgabe benennen. Treiber benutzt – selbstverständlich, würden die Editoren sagen – die Max-Weber-Gesamtausgabe (MWG). Die aber ist für Normalos nicht verfügbar und, wenn sie sie denn entliehen haben, ungenießbar.

Die seit 1984 erscheinende MWG ist noch immer nicht ganz abgeschlossen. Schon seit längerem liegen aber 24 der 25 Bände von Teil I (Schriften und Reden) vor. Die Bandzählung täuscht, denn mehrere Bände sind in Teilbände aufgespalten, so insbesondere auch Band I/22, der Webers eigene Beiträge zu dem »Grundriß der Sozialökonomik« enthält, die unter dem Titel »Wirtschaft und Gesellschaft« (WuG) vertraut sind. Der Teilband I/22, 3 mit dem Untertitel »Recht«, hg. von Werner Gephart und Siegfried Hermes, ist 2010 erschienen.[1] Er umfasst 842 Seiten und eine Einlage und kostet 319 EUR. Der eigentlich interessierende Text, der bisher als Webers Rechtssoziologie geläufig war, ist hier von S.191-247 und von S. 274-639 abgedruckt. Die Lektüre ist trotz der erfreulich großen und gut lesbaren Drucktype wegen der doppelten Serie von editorischen und kommentierenden Fußnoten kein Vergnügen, zumal den Texten keine Gliederung vorangestellt wird.

So verdienstvoll die Gesamtausgabe auch sein mag[2], sie hat den kontraproduktiven Effekt, dass der Zugang zu Weber für den Durchschnittsleser erschwert ist, ohne dass dem ein entsprechender Mehrwert gegenübersteht. Zuvor wurde »Wirtschaft und Gesellschaft« vornehmlich in den von Johannes Winckelmann besorgten Ausgaben, zuletzt in der 5. Auflage von 1972, als einheitliches Werk rezipiert. Das gilt erst recht für die Kapitel VI (Die Wirtschaft und die Ordnungen) und VII (Rechtssoziologie) von WuG Teil II, die Winckelmann 1960 in einem eigenen Band als »Rechtssoziologie« herausgegeben hatte, und die seither Max Webers Rechtssoziologie im engeren Sinne bilden.

Die Gesamtausgabe hat diese Einheit zerrissen, und »kritisch« vorgeführt, dass es sich bei den überkommenen Editionen von WuG um »unterschiedliche Zusammenstellungen von heterogenen Textbeständen«[3] handelt. Die von Winckelmann als »Rechtssoziologie« herausgegebenen Teile von WuG stammen schon aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Im Erstdruck von WuG bildeten sie Teil 2 Kapitel VI (»Die Wirtschaft und die Ordnungen«) und VII. Nun werden sie auseinanderdividiert. Kapitel VII, das im Erstdruck als »Rechtssoziologie (Wirtschaft und Recht)« firmierte, erhält den Titel »Entwicklungsbedingungen des Rechts« und wird zur »so genannten« Rechtssoziologie, zur Rechtssoziologie in Anführungszeichen.

Das Wissenschaftlergewissen verlangt eigentlich, nun auf die kritisch edierten Texte zurückzugehen. Aber das erfordert unverhältnismäßige Anstrengung. An die Stelle eines handlichen Bandes mit 280 Seiten Weber-Text sind die fünf Teilbände von MWG Band I/22 mit 3273 Seiten getreten. Dazu kommen noch die Bände I/23 (Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie), I/24 (Entstehungsgeschichte und Dokumente) und I/25 mit dem Gesamtregister. Verwirrender noch wird die Sache durch eine sechsbändige »Studienausgabe« von MWG I 22 und 23 mit noch einmal anderer Seitenzählung. Sie hat insgesamt 16 Bände, sechs davon für WuG. Wer soll das lesen oder sich darin auch nur zurechtfinden? Der Verlag selbst gibt die Antwort mit einem Zitat aus einer Rezension von Dirk Kaesler: »Max Weber-Schriftgelehrte«[4]. Für alle anderen ist die MWG schlicht überflüssig. Sie ist nicht nur überflüssig, sondern schädlich, weil sie, was inzwischen drei ganze Generationen von Wissenschaftlern aussortiert haben, wieder aus der Müllhalde der Geistesgeschichte hervorholt. Mir ist bisher kein Fundstück untergekommen, welches das für die Rechtssoziologie rezipierte Weberbild wesentlich verändert. Ich bin gespannt, ob Treiber mich eines Besseren belehren wird (wiewohl das kaum seine Absicht war).

Die Kritik an der Editionspraxis von Marianne Weber und später von Johannes Winckelmann[5] betrifft in erster Linie die Zusammenstellung von Texten aus verschiedenen Schaffensperioden als einheitliches Werk unter dem Titel »Wirtschaft und Gesellschaft«. Die heute als Rechtssoziologie geläufigen Abschnitte von WuG waren, von Überarbeitungen und Ergänzungen im Manuskript abgesehen, schon 1913 abgeschlossen. Das spricht dafür, weiterhin die Winckelmann-Ausgaben zu benutzen, zumal Winckelmann seit 1958 das Originalmanuskript der Kapitel I und VII von WuG Teil 2 zur Verfügung hatte.[6] Wer die Winckelmann-Ausgabe nicht zur Hand hat, ist mit der bei Zeno.org online verfügbaren, von Marianne Weber besorgten Erstausgabe von Wirtschaft und Gesellschaft (WuG) gut bedient. Besser noch die Druckausgabe, die man sich im Internet Archive herunterladen kann. Ich zitiere sie hier und sonst als WuG 1922.

Winckelmann wird vorgeworfen, dass er eigenmächtige Änderungen und Ergänzungen an den ihm verfügbaren Texten vorgenommen habe. Auch die Herausgeber von I/22, 3 MWG scheuen Ameliorationen nicht ganz. Was einmal Kapitel VII von WuG war, steht in MWG I/22, 3 (S. 274-639) unter der Überschrift »Entwicklungsbedingungen des Rechts«. Die Begründung der Editoren für diese Wahl[7] ist wenig überzeugend. Der alte Titel war besser begründet, hatte Weber doch selbst auf diese Texte als »Rechtssoziologie« verwiesen. Die neue Überschrift trägt nur einem von drei Aspekten des Textes Rechnung. Die Entwicklungsbedingungen sind sogar eher sekundär im Verhältnis zu dem Rationalisierungskonzept und dem damit verbundenen Stufenmodell. Den »thematischen Kern« trifft sie daher nicht. In summa ist die MWG zur Hürde für alle geworden, die sich auf die Schulter des Riesen stellen wollen.

Ich bin kein Weber-Kenner und will auch keiner werden. Aber selbstverständlich kann ich mir eine Rechtssoziologie ohne Max Weber nicht vorstellen.[8] Im Hinterkopf habe ich dabei noch immer das Modell einer »kumulativen Erkenntnisentwicklung«, mit dem ich anscheinend nicht völlig vereinsamt bin.[9] In einem weiteren Sinne gehört dazu allerdings viel mehr als Webers Rechtssoziologie im engeren Sinne; dazu gehören der Grundsatz der Wertfreiheit der Wissenschaft, die individualistisch und handlungstheoretisch einsetzende verstehende Soziologie mit ihren Grundbegriffen, die Lehre von den Idealtypen, Herrschaftssoziologie und Bürokratietheorie. Für den Rechtssoziologen, der nicht zum Weber-Schriftgelehrten mutieren will, sind insoweit neben der WuG 1922 die gleichfalls längst im Internet verfügbaren Erstdrucke der fünf Bände mit »Gesammelten Aufsätzen« ausreichend. Dort findet man insbesondere den Objektivitätsaufsatz von 1904[10], die Stammler-Kritik von 1906[11] und den Kategorienaufsatzes von 1913[12], der auch als Logos-Aufsatz geläufig ist.

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[1] Ausführlich zu diesem Band François Chazel, Max Webers »Rechtssoziologie« im Lichte der Max Weber Gesamtausgabe, ZfRSoz 33, 2012/13, 151-173; Hubert Treiber, Zu Max Webers »Rechtssoziologie«. Rezensionsessay zur Max Weber-Gesamtausgabe (MWG I/22-3), Sociologia Internationalis 49, 2011, 139-155.

[2] Nicht zuletzt, weil sie eine Flut neuer Sekundärliteratur ausgelöst hat, gespeist vor allem von den vielen an der Edition beteiligten Wissenschaftlern.

[3] MWG Hinweise der Herausgeber, MWG 22-3, S. XII.

[4] Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 101, 2014, 218-219.

[5] Grundlegend Friedrich H. Tenbruck, Abschied von Wirtschaft und Gesellschaft, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 133, 1977, 703-736 (Besprechung der 5. revidierten Auflage von WuG mit textkritischen Erläuterungen von Johannes Winckelmann).

[6] Marianne Weber schenkte es nach dem Erstdruck von WuG 1922 Karl Löwenstein, der zum Heidelberger Weberkreis gehört hatte (und der sich nach 1945 gegen die gegen die insbesondere von Wolfgang J. Mommsein in die Welt gesetzte These wandte, Weber sei mit seinem Konzept der charismatischen Herrschaft ein Wegbereiter Hitlers gewesen). Dazu Winckelmann, Vorbericht zu Max Weber, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1967, 50ff.

[7] MWG I/22-3 S. 141f.

[8] Wie ich sie mir mit Max Weber vorstelle, zeige ich auf Rechtssoziologie-online.de.

[9] Gert Albert, Weber-Paradigma, in: Georg Kneer/Markus Schroer (Hg.), Handbuch Soziologische Theorien, 2009, 517-554, S. 517. Da stand wohl doch ziemlich lange die Autorität Tenbrucks im Wege, der Webers Schritt (oder Sprung) von der Kulturwissenschaft im Objektivitätsaufsatz von 1904 zur Soziologie in den »Grundbegriffen« von 1921 nicht nachvollziehen wollte oder konnte (Friedrich H. Tenbruck, Das Werk Max Webers: Methodologie und Sozialwissenschaften, KZfSS 38,1984, 3-12; mehrfach nachgedruckt).

[10] Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, meistens zitiert nach: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, 6. Aufl. 1985, 146-214.

[11] R. Stammlers »Überwindung« der materialistischen Geschichtsauffassung. Besprechung von Rudolf Stammlers »Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung«, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 22, 1906, 143-207,

[12] Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie, Logos IV, 1913, 253-294.

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Bourdieus Ethnologie der Beischlafpositionen

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Klaus F. Röhl, Männliche Herrschaft als symbolischer Kapitalismus.

Eine Kritik an Pierre Bourdieus Konzept der männlichen Herrschaft,

Lit Verlag Münster, 2020.

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Woran erkennt Bourdieu männliche Herrschaft?

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Klaus F. Röhl, Männliche Herrschaft als symbolischer Kapitalismus.

Eine Kritik an Pierre Bourdieus Konzept der männlichen Herrschaft,

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Zum Tode von Erhard Blankenburg

Erhard Blankenburg ist am 28. März 2018 im Alter von 79 Jahren gestorben. Keiner hat wie er die empirisch-kritisch orientierte Rechtssoziologie im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in Deutschland und darüber hinaus geprägt. Aus der Freiburger Popitz-Schule kommend, hatte er sich schon bis 1974 einen doppelten Ausweis als Rechtssoziologe erarbeitet. Der erste war die zusammen mit Johannes Feest durch teilnehmende Beobachtung belegte Studie zur »Definitionsmacht der Polizei«[1], die längst zum Kanon des Faches gehört. Zu ihrer Zeit war diese Arbeit bahnbrechend, weil sie zeigte, was Kriminalsoziologie zu leisten im Stande ist. Heute ist sie immer noch nicht überholt, weil sie zeigt, wie soziale Praxis funktioniert. Kritische Soziologie auf empirischer Grundlage stand auf diesem Ausweis. Auf dem anderen Ausweis stand: Er kann auch technologisch, nämlich Organisationsberatung und Justizforschung. Beleg dafür war die Tätigkeit im Quickborner Team und die im Auftrag der Bundesrechtsanwaltskammer bei der Prognos AG erstellte »Tatsachen zur Reform der Zivilgerichtsbarkeit«[2]. Das später vom Bundesministerium aufgelegte Forschungsprogramm »Strukturanalyse der Rechtspflege«[3] war ohne Blankenburg nicht denkbar. Diese zwei Ausweise oder Wurzeln wurden zur Basis für ein weitgespanntes wissenschaftliches Werk, das nachhaltig wirksam ist.

Im (damals) recht jungen Alter von 22 Jahren war Blankenburg für zwei Jahre in den USA als Graduate Student und Forschungsassistent am Department of Sociology der University of Oregon. Das verhalf ihm zu der beneidenswerten Eleganz, mit der er sich später auf dem internationalen Wissenschaftsparkett bewegte. Den deutschen Universitäten gereicht es nicht zur Ehre, dass sie Blankenburg 1980 an die Vrije Universiteit Amsterdam ziehen ließen. Seine Produktivität und weltweite Anerkennung hat dadurch eher noch gewonnen. Bereits zum 60. Geburtstag 1998 wurde ihm eine Festschrift gewidmet, die sich durch einen ungewöhnlich großen Kreis von prominenten Autoren und bis heute interessanten Themen auszeichnet.[4]

Für den Koetanen aus der Jurisprudenz war Erhard Blankenburg stets der uneinholbare »echte« Rechtssoziologe.

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[1] Johannes Feest/Erhard Blankenburg/, Die Definitionsmacht der Polizei. Strategien der Strafverfolgung und soziale Selektion, Bertelsmann Univ.-Verlag, Düsseldorf 1972

[2] Tatsachen zur Reform der Zivilgerichtsbarkeit, 2 Bde., Tübingen 1974, hg. von der Bundesrechtsanwaltskammer (Bd.I: Erhard Blankenburg, Hellmut Morasch, Heimfried Wolff unter Mitarbeit von Dieter Grimm und Vladimir Suna, Prognos AG, Basel; Bd. II, 1. Teil: dies., Strukturanalyse der Zivilgerichtsbarkeit, 2. Teil: Wolfgang Blomeyer, Dieter Leipold, Analyse der Rechtstatsachen und Konsequenzen fur die Reform der Zivilgerichtsbarkeit.

[3] Vgl. Johannes Stock/Heimfrid Wolff/Petra-Ida Thünte/Kornelia Konrad, Strukturanalyse der Rechtspflege, Bilanz eines Forschungsprogramms des Bundesministeriums der Justiz, Köln 1996.

[4] Jürgen Brand/Dieter Strempel (Hg.), Soziologie des Rechts. Festschrift für Erhard Blankenburg zum 60. Geburtstag, Nomos, Baden-Baden 1998.

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Warum befolgen wir Recht? Eindrücke von einer Tagung in Heidelberg

Am 26. und 27. März gab es in Heidelberg eine Tagung unter der Überschrift »Warum befolgen wir Recht? Rechtsverbindlichkeit und Rechtsbefolgung in interdisziplinärer Perspektive«.[1] Sie wurde ausgerichtet von zwei Heidelberger Habilitanden, Patrick Hilbert und Jochen Rauber. Die Veranstalter hielten sich mit ihren eigenen Arbeiten und Themen dezent im Hintergrund und sorgten mit einer sachlichen Einleitung, am Ende mit einer gekonnten Zusammenfassung und mit perfekter Organisation für gutes Gelingen. Auch die etwa 35 geladenen Teilnehmer waren überwiegend Habilitanden aus juristischen Fakultäten. Unter ihnen war neben dem offiziellen Programm Netzwerkpflege angesagt.

Den Eröffnungsvortrag hielt Doris Lucke aus Bonn. »Wirkungsforschung ist überall«, konstatierte sie ganz am Anfang. Aber die Tagung über Gesetzesevaluation und Wirkungsforschung, die fast genau ein Jahr früher am Wissenschaftszentrum in Berlin stattgefunden hatte, war und blieb in Heidelberg ebenso unbekannt wie das einschlägige Buch von Lawrence M. Friedman, Impact. How Law Affects Behavior von 2016. Frau Lucke machte gar nicht erst den Versuch, einen Überblick über die rechtssoziologische Forschung zur Befolgung von Recht zu geben, sondern öffnete elegant und interessant den Blick auf Fragestellungen, die sich angesichts von Ökonomisierung, Digitalisierung und Cyborgisierung auftun. Ihr kritischer Ansatz gegenüber dem »Humanozentrismus« und der »mechanisch-kausalen Denkwelt« der Wirkungsforschung wurde jedoch in den (immer lebhaften) Diskussionen nicht aufgenommen.

Der Obertitel der Tagung erinnert an Tom R. Tylers »Why People Obey the Law«. Tylers Name wurde in der Diskussion einmal beiläufig von Katharina Gangl erwähnt. In ihrem Vortrag über »Die Psychologie der Steuerehrlichkeit« ging sie auf die Motivation der Steuerbürger ein. Der Schwerpunkt des Referats lag bei möglichen Maßnahmen zur Beförderung der Steuerwilligkeit auf der von der von der OECD ausgegebenen Linie Managing and Improving Tax Compliance.

Danach verengte sich die Frage nach der Befolgung von Recht weiter auf ökonomische und/oder verhaltenswissenschaftliche Aspekte der Rechtsbefolgung. Nachdem Johannes Paha die ökonomische Perspektive sehr »rationalistisch« dargestellt hatte, wurde Anne van Aakens Vortrag über die »Befolgung des Völkerrechts« beinahe zur Gegendarstellung. Im Vergleich zu ihrem einschlägigen Aufsatz von 2013[2] betonte sie die Bedeutung der Verhaltensökonomik auch für das Völkerrecht und kündigte im Rahmen ihrer Humboldt-Professur in Hamburg »die Rechtstheorie ins Labor« zu bringen. Das Problem sah van Aaken in der Übertragbarkeit der an Individuen gewonnenen Einsichten auf Staaten als Akteure. Mit diesem Problem setzte sich das Paper von Cornelia Frank über den »unzulässigen oder gebotenen Anthropomorphismus« bei der Erklärung staatlichen Rechtsverhaltens auseinander, das aber nicht vorgetragen und diskutiert wurde, weil Frau Frank nicht anwesend war.

Am Ende nahm Johanna Wolff den verhaltenswissenschaftlichen Faden auf der Individualebene noch einmal auf, u. a. um zu erklären, dass es bei den heute so populären »nudges« nicht um die Förderung der Rechtsbefolgung gehe, sondern um paternalistische Fürsorge.[3] So ganz konnte ich ihr bei dieser Entgegensetzung nicht folgen, umso mehr allerdings bei ihrer Absicht, die verhaltenswissenschaftlich informierten Instrumente der Rechtspolitik zu typisieren und sie den verfolgten Zwecken gegenüberzustellen, um so zu einer Beurteilung der rechtlichen Zulässigkeit zu gelangen. In der Tat, »Nudging« ist inzwischen eher überstrapaziert.[4] Das Thema ist viel größer. Das zeigt der OECD-Band Behavioural Insights and Public Policy, 2017, auf den Wolff hinwies. (Der Band zeigt außerdem die große Bedeutung der OECD für Politikberatung und Rechtswirkungsforschung. Die OECD übernimmt international mehr und mehr die Rolle, die im nationalen Kontext die Bertelsmann-Stiftung usurpiert hat. Die Agenda dieser Institutionen wäre einmal eine eigene Tagung wert.)

Überrascht war ich von der von Jan Henrik Klement vorgetragenen These, eine wirksamkeitsorientierte Auslegung gehöre nicht in den Methodenkasten der Dogmatik, eine Auslegungsmodalität dürfe nicht verworfen werden, weil die Adressaten ihr nicht folgten. Immerhin hatte Eberhard Schmidt-Aßmann (zusammen mit Hoffmann-Riem) eine Neue Verwaltungsrechtswissenschaft konzipiert, die nach meiner Erinnerung durchaus auch auf »Wirkungs- und Folgenorientierung« abstellt[5]. Diese Heidelberger Erfindung kam überhaupt nicht zur Sprache. Ist es Zufall, dass sich Schüler des Schmidt-Aßmann-Nachfolgers zunächst von der »Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft« distanzieren[6] und sie dann ignorieren?

Andreas Funke unternahm den erfolgreichen »Versuch über die Möglichkeit, Rechtsbefolgung als Ausdruck personaler Autonomie zu denken«. Dazu stellte er dem »Gehorsamsmodell« des Rechts »Rechtfertigungsmodelle« gegenüber. Allein die Verbindung zwischen einer normativen Legitimation qua Rechtfertigung und der faktischen Rechtsbefolgung war nicht ohne weiteres ersichtlich. Zwei Stichworte, mit denen man die Verbindung vielleicht hätte herstellen können (mindset und Selbstanwendung) wurden nicht weiter ausgeführt. Mindset ist ja wohl ein psychologischer Begriff, und Selbstanwendung konnotiert mit Selbstmanagement und Selbstoptimierung.

Mich erinnerte die Entgegensetzung von Gehorsamsmodell und Rechtfertigungsmodell an eine alte Diskussion um imperatives und responsives Recht. Der Begriff des responsiven Rechts stammt von Nonet und Selznick, die damit eine evolutionäre Entwicklung des postmodernen Rechts kennzeichnen wollten. Teubner hat vor vielen Jahren das evolutionstheoretische Konzept des responsiven Rechts von Nonet und Selznick in ein rechtspolitisches umgelenkt. Danach ist responsives Recht eine »flexible, lernfähige Institution, … die sensibel reagiert auf soziale Bedürfnisse und menschliche Aspirationen.«[7] Responsivität könnte den Raum bezeichnen, den Funke den Normadressaten bei der Konkretisierung des Rechts zubilligen wollte. »Responsive Regulierung« bietet sich aber auch als Brückenbegriff für die verhaltensökonomischen Überlegungen an, die im Mittelpunkt der Heidelberger Tagung standen.[8] Solche Responsivität wird bisher vor allem für die Regulierung von Organisationen diskutiert. Dort ist der der Begriff seit 1992 durch den Band »Responsive Regulation« von Ian Ayres und John Braithwaite geläufig geworden.

Auf Peter Rinderles Vortrag über »Rechtsverbindlichkeit und -befolgung aus (rechts-)philosophischer Perspektive« hätte ich mich durch die Lektüre seines Buches über den »Zweifel des Anarchisten« vorbereiten sollen. Habe ich aber nicht. So dauerte es, bis ich seine Ausführungen in die Schublade »Positivismusdebatte« einordnen konnte. (Ich bin und bleibe ein Schubladendenker.) Zunächst hatte ich einige Schwierigkeiten mit der Ausgangsthese, dass es um eine politische und damit auch eine moralische Verpflichtung unabhängig vom moralischen Inhalt der Rechtsnorm gehen solle. Bekanntlich besagt die Trennungsthese des Rechtspositivismus, dass es kein notwendiges moralisches Kriterium für die Geltung des Rechts gibt. Sie lässt aber offen, ob ein solches Kriterium möglich ist. Um ein solches rechtsexternes Kriterium schien mir Rinderle bemüht, genauer, nicht um ein singuläres Kriterium, sondern um eine Kombination von Argumenten, die selbst für »philosophische Anarchisten« eine »moralische Pflicht zur Nicht-Intervention in legitime Staaten« begründen soll. Neu für mich der Begriff des multiprinzipiellen Etatismus.

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[1] Tagungsprogramm.

[2] Anne van Aaken, Die vielen Wege zur Effektuierung des Völkerrechts, Rechtswissenschaft 4, 2013, 227-262.

[3] Dazu schon Johanna Wolff, Eine Annäherung an das Nudge-Konzept nach Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein aus rechtswissenschaftlicher Sicht, Rechtswissenschaft 6, 2015, 195-223.

[4] Zuletzt etwa Franziska Weber/Hans-Bernd Schäfer, »Nudging«. Ein Spross der Verhal-tensökonomie. Überlegungen zum liberalen Paternalismus auf gesetzgeberischer Ebene, Der Staat 56, 2017, 561-592. In der Diskussion tauchte noch eine frische, von Klement betreute Dissertation zum Thema auf.

[5] So eine Überschrift bei Andreas Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle (Hg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts I, 2006, 1-61, S. 28.

[6] Klaus Ferdinand Gärditz, Die »Neue Verwaltungsrechtswissenschaft« — Alter Wein in neuen Schläuchen?, Die Verwaltung, Beiheft 12, 2017, 105-145.-

[7] Gunther Teubner, Reflexives Recht: Entwicklungsmodelle des Rechts in Vergleichender Perspektive, ARSP: Archiv für Rechts-und Sozialphilosophie, 1982, 13-59, S. 14.

[8] Vgl. dazu etwa den Band Kilian Bizer/Martin Führ/Christoph Hüttig (Hg.), Responsive Regulierung. Beiträge zur interdisziplinären Institutionenanalyse und Gesetzesfolgenabschätzung, 2002.

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Von der gesellschaftlichen Organisation der Zweigeschlechtlichkeit zur männlichen Herrschaft – führt bei Bourdieu kein Weg

Der Text dieses Eintrags ist nunmehr zu einem Buchkapitel geworden in:

Klaus F. Röhl, Männliche Herrschaft als symbolischer Kapitalismus.

Eine Kritik an Pierre Bourdieus Konzept der männlichen Herrschaft,

Lit Verlag Münster, 2020.

Nachtrag: Das Buch ist jetzt im Open Access zugänglich. Der Link befindet sich auf der Verlagsseite etwas verteckt im Klappentext oder hier: https://www.lit-verlag.de/media/pdf/be/5a/03/9783643145673.pdf.

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Gegenbegriffe (Antonyme) und Dichotomien als Werkzeug der Jurisprudenz

Mit diesem Eintrag will ich auf eine interessante, aber schwer zugängliche Arbeit aufmerksam machen, die mir der Verfasser schon vor längerer Zeit freundlicherweise zugesandt hat: Günter Reiner, Les dichotomies en droit, in: George Azzaria (Hg.), Les nouveaux chantiers de la doctrine juridique, Actes des 4° et 5° Journées d’étude sur la méthodologie 2016, 407-45. Dass das (erst) jetzt geschieht, hat damit zu tun, dass mich Martin Morlok durch einen Vortrag über »Vier Perspektiven des (juristischen) Entscheidens«[1] soeben wieder auf die Thematik gestoßen hat. Auf Morloks Idee, aus Antonymen eine Vierfeldertafel zu bauen, werde ich gelegentlich zurückkommen.

Oft ist es hilfreich, die Bedeutung eines Begriffs mit Hilfe eines Gegenwortes zu erläutern. »Objektiv« versteht man besser im Kontrast zu »subjektiv«, »Theorie« als Gegensatz zur »Praxis« oder »deklaratorisch« als Gegensatz zu »konstitutiv«.[2]

Begriffe wachsen aus Unterscheidungen. Benennt man das vom Gemeinten Unterschiedene, so hat man einen Gegenbegriff (Antonym). Solche Begriffspaare – klein und groß, heiß und kalt, Mensch und Tier usw. usw. – sind ein universelles Phänomen sprachlich gefassten Denkens.

Reiner meint, sicher zutreffend, Juristen hätten eine gesteigerte Affinität zu Antonymen und Dichotomien. Die Reihe der Begriffspaare, mit denen sie ihre Gedanken ordnen, ist schier unendlich. Sie unterscheiden Recht und Moral, Sein und Sollen, Tatbestand und Rechtsfolge, Staat und Gesellschaft, öffentliches und Privatrecht, lex lata und lex ferenda usw. Vor allem aber unternimmt es Reiner, die Gegensatzpaare in verschiedener Weise zu typisieren.

Wichtig ist insbesondere der Unterschied zwischen echten und unechten Dichotomien sowie zwischen scharfen und gradualisierbaren Gegensätzen. Reiner nennt als typische Dichotomien noch die reziproken und die umkehrbaren. Reziprok in diesem Sinne wären Verkäufer und Käufer, Veräußerer und der Erwerber, Erbe und Erblasser, Angebot und Annahme usw. Umkehrbar (réversible) wären Erwerb und Verlust, Begründung und Auflösung, Fusion und Spaltung. Beide Typen sind »schwache« Dichotomien. So ist eine Person nicht gleichzeitig Käufer und Verkäufer. Aber sie muss weder das eine noch das andere sein. Hier gilt also: tertium datur.

Antonyme bezeichnen nicht unbedingt das Gegenteil, aber doch einen Gegensatz. Das Gegenteil ist Folge einer Dichotomie, einer Grenzziehung im Sinne eines Entweder-Oder. Sie führt zu einer echten Dichotomie: Lebend oder tot, positiv oder negativ, Recht oder Unrecht. Andere Gegensätze sind von vornherein als fließend gedacht wie z. B. eng und weit, warm und kalt, hell und dunkel. Wieder andere können sowohl dichotomisch als auch graduell verwendet werden wie z. B. voll und leer.

Echte Dichotomien entstehen aus einer Verneinung. Zu dem Begriff gibt es daher (eigentlich) nur einen Gegenbegriff. Sein oder Nichtsein. Ob es echte Dichotomien in diesem Sinne »gibt«, ist eine schwierige Frage, die in die Fundamentalphilosophie führt. Es ist allerdings nicht zu übersehen, dass bisher, jedenfalls für den Normalgebrauch, keine überzeugende Alternative zur binären Logik erkennbar ist, und dass die elektronische Datenverarbeitung auf der Grundlage eines Binärcodes funktioniert.

Während Logik und Elektronik binär verfahren, kann normale Sprache gradualisieren und vielfältige Gegensätze benennen. Sie spielt auch mit eigentlich echt gemeinten Dichotomien, etwa indem sie jemanden für halbtot erklärt. In der Rechtssprache werden Dichotomien dagegen ernst genommen: Recht oder Unrecht, legal oder illegal, wirksam oder unwirksam, veräußerlich oder unveräußerlich. Tertium non datur. Solche Dichotomien führen zu Entscheidungen. Vorsatz oder Fahrlässigkeit: davon hängt oft die Strafbarkeit ab. Aktive oder passive Sterbehilfe: die eine ist verboten, die andere erlaubt.

Die Rechtswissenschaft verfügt über eine lange Tradition der Dichotomisierung. Die Scholastik suchte zunächst nach einem ersten Prinzip, das durch fortlaufende Dichotomisierung entfaltet wurde. Zur bildlichen Darstellung dienten Bäume (arbores) mit ihren Verzweigungen. Die aus der italienischen Renaissance gewachsene die humanistische Jurisprudenz, repräsentiert durch Petrus Ramus (1515-1572), nutzte die Dichotomisierung als ein universelles Werkzeug, um jedes Thema vom Allgemeinen zum Besonderen hin zu entwickeln. Der grundlegende Unterschied zur Methode der Scholastik besteht darin, dass nicht länger nach einem ersten Prinzip gesucht wurde, das die Wissenschaftlichkeit der folgenden Differenzierungen garantiert. Alles und jedes kann nunmehr zum Ausgangspunkt einer wissenschaftlichen Untersuchung genommen werden. Praktisch sind zu diesem Zweck zunächst Definitionen zu bilden. Sodann ist der Gegenstand zweifach zu unterteilen und danach jede Unterteilung erneut zu dichotomisieren, und so fort, bis am Ende das Thema in einer Kaskade von Dichotomien erschöpft ist. Bildlich wurde das Ergebnis in mit Klammern gebildeten tabulae dargestellt. Das klassische Beispiel gibt die Synopsis Juris Civilis von Giulio Pace von 1588. Das Buch enthält auf insgesamt 102 Seiten 45 überwiegend ganzseitige Klammertabellen. Als Graphen, also rein logisch betrachtet, sind Baumstruktur und Klammern gleichwertig. Aber die Metapher des Baumes hatte auch inhaltliche Bedeutung. Der Baum wächst aus einem Grundprinzip, aus einer gesunden Wurzel. Der Begriff, der vor der ersten Klammer steht, kann dagegen willkürlich gewählt werden. Die waagerechte Anordnung der Tabelle vermeidet auch die Suggestion einer natürlichen Hierarchie, die von der Baumstruktur ausgeht.[3]

Dichotomien sind nicht einfach logische Deduktionen oder deskriptive Bezeichnungen für vorgefundene Zustände der Welt, sondern Konstruktionen, mit denen diese Welt begreifbar gemacht wird. Als solche sind sie kritisierbar. Der Kritik erscheinen sie als »falsche« Dichotomien. Die Postmoderne hat das Denken und Argumentieren mit Dichotomien in Verruf gebracht. Zumal die großen Dichotomien von Objekt und Subjekt, Sein und Sollen, Körper und Geist sind ihr obsolet. Ich wundere mich, dass Luhmanns Systemtheorie, die doch darauf basiert, dass die Systeme der Gesellschaft und mit ihnen auch das Recht an einem binären = dichotomischen Code zu erkennen sind, so wenig grundsätzliche Kritik erfährt.

»Falsche« Dichotomien sind nicht selten Ausgangspunkt für eine Dekonstruktion juristischer Begriffe. Eine Dichotomie wäre »falsch«, wenn sie als echte gemeint ist, obwohl der bezeichnete Sachverhalt gradualisierbar ist oder nicht bloß zwei, sondern drei oder mehr Kandidaten zur Wahl stehen. Zu vielen Begriffen, auch wenn sie scharfe Grenzen ziehen, lassen sich mehrere Gegenbegriffe behaupten, wenn man von einer Grundgesamtheit ausgeht die mehr als zwei Elemente enthält.

Schwarz – weiß – bunt (Farben)

Sachenrecht – Schuldrecht – Familienrecht (Rechtsgebiete)

Vertrag – Delikt – vorvertragliches Vertrauensverhältnis (Enstehungsgründe für Obligationen).

Die (in Klammern genannte) Grundgesamtheit kann auch als tertium comparationis dienen (Reiner S. 425ff). Die Festlegung auf eine Grundgesamtheit erfolgt meistens unbewusst, und so kann der Eindruck entstehen, dass ein Begriffspaar binär sei. Diese Festlegung lenkt dann die Argumentation, so etwa, wenn man die Unterlassung als Gegenbegriff zur Handlung wählt (und nicht eine alternative Handlung oder ein Nichtstun.[4] Wird die Festlegung als Hinnahme einer Selbstverständlichkeit erkannt und kritisiert, so wird sie Ausgangspunkt für die Dekonstruktion des Begriffspaares. Die Dichotomie von Person und Sache oder von natürlichen und juristischen Personen wird für Tiere aufgebrochen. Im Ergebnis ist dann von einer »falschen« Dichotomie die Rede. Duncan Kennedy hat die von Juristen dichotomisch gemeinte Unterscheidung von öffentlich und privat dekonstruiert, indem er zeigt, dass sich aus der Entscheidungspraxis eher eine Art Kontinuum ableiten lässt.[5]

Die Kritik »falscher« Dichotomien läuft nicht immer unter diesem Namen. Eine grundlegende Dichotomie juristischen Denkens war und ist immer noch die Vorstellung, dass eine Norm entweder anwendbar ist oder nicht. Der kritischen Methodenlehre war schon immer klar, dass dieses Entweder/Oder der Subsumtion erst durch verdeckte Interpretationsentscheidungen erkauft wird. Dekonstruktivistisch ist insofern die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, welche die Entweder/Oder-Subsumtion von Normtatbeständern zur Abwägung geöffnet hat.

Nachtrag: Ausführlich jetzt Klaus F. Röhl, Gegenbegriffe, Dichotomien und Alternativen in der Jurisprudenz, Rechtsphilosophie (RphZ) 8, 2022 Heft 1, S. 96-118.

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[1] Gehalten auf der Tagung »Rückschaufehler im Recht« am 16./17. März 2018 in Bochum.

[2] Eine Liste von Begriffspaaren, die zum Grundbestand juristischen Handwerkzeugs gehören, in Röhl/Röhl, Allgemeine Rechslehre, 3. Aufl. 2008, § 19 III (Versatzstücke als Theorieersatz) und ausführlicher Röhl/Röhl, Juristisches Denken mit Versatzstücken, in: Judith Brockmann u. a. (Hg.), Methoden des Lernens in der Rechtswissenschaft, 2012, 251-258.

[3] Dazu etwas näher Klaus F. Röhl, Logische Bilder im Recht, in: Organisation und Verfahren im sozialen Rechtsstaat (FS Schnapp) 2008, 815-838.

[4] Jürgen Rödig, Die Denkform der Alternative in der Jurisprudenz, 19069; Klaus F. Röhl, Praktische Rechtstheorie: Die Abgrenzung von Tun und Unterlassen und das fahrlässige Unterlassungsdelikt, JA 1999, 895-901.

[5] Duncan Kennedy, The Stages of the Decline of the Public/Private Distinction, University of Pennsylvania Law Review 130, 1982, 1349-1357. Vgl. auch Pierre Schlag, Cannibal Moves: An Essay on the Metamorphoses of the Legal Distinction, Stanford Law Review, 1988, 929-972.

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Das Staatsrecht als affirmative Wissenschaft?

»Die normative Kraft der Verfassung«[1], so hieß eine Tagung, die zur Erinnerung an die Antrittsvorlesung von Konrad Hesse vor 60 Jahren und an seinen Geburtstag vor 100 Jahren an der Ruhr-Universität Bochum abgehalten wurde. Veranstalter waren die Professoren Julian Krüper Bochum, Heiko Sauer, Bonn, und Mehrdad Payandeh, Hamburg.

Hesse war einer der Großen der deutschen Staatsrechts-wissenschaft. Seine »Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland« sind in 22 Auflagen erschienen und nach wie vor als Lehrbuch in Gebrauch. Seine Formel von der »praktischen Konkordanz« hat jeder Jurist im Kopf. So war er eine Erinnerungstagung wert, und auch der Besuch der Tagung war es wert.

Wer nicht zur Zunft gehört, hatte allerdings mit dem Titel einige Schwierigkeiten. »Normativ« ist eine der am meisten missbrauchten Vokabeln der Rechtssprache. Sinn macht sie nur als Gegenbegriff zu »deskriptiv« und »analytisch«. Sonst taugt sie lediglich als Beschwörungsformel.[2] Hesse verstand unter der »normativen Kraft« der Verfassung deren Fähigkeit in die Gesellschaft hineinzuwirken. Aus den schönen Vorträgen, in denen diese Bedeutung expliziert wurde, will ich hier nur einen Punkt herausgreifen, der von allen Rednern aufgenommen wurde. Als eine Voraussetzung für die normative Kraft hatte Hesse den Willen zur Verfassung genannt.

»Die rechtliche Verfassung vermag selber tätige Kraft zu werden … wird zur tätigen Kraft, wenn diese Aufgabe ergriffen wird, wenn die Bereitschaft besteht, das eigene Verhalten durch die von der Verfassung normierte Ordnung bestimmen zu lassen, wenn die Entschlossenheit vorhanden ist, jene Ordnung gegenüber aller Infragestellung und Anfechtung durch augenblickliche Nützlichkeitserwägungen durchzusetzen, wenn also im allgemeinen Bewußtsein und namentlich im Bewußtsein der für das Verfassungsleben Verantwortlichen nicht nur der Wille zur Macht, sondern vor allem der Wille zur Verfassung lebendig ist.« (S. 12)

Erst nachträglich fällt mir auf, dass kein Vortrag über den Willen zur Macht reflektiert hat. Was mir aber schon während der Veranstaltung aufgefallen ist: BVRin Gabriele Britz endete ihren Vortrag mit einem Aufruf an die Staatsrechtswissenschaft, »Willen zur Verfassung« zu zeigen. Dazu stellte sie den Art. I Nr. 2 der neuen Verhaltensrichtlinie des BVerfG[3], der den Richtern nahelegt, werbend für das Gericht tätig zu werden, neben die Forderung Konrad Hesses:

»daß [die Staatsrechtwissenschaft] die Bedingungen zu klären hat, unter denen die Normen der Verfassung jene optimale Geltung gewinnen können, daß sie unter diesem Gesichtspunkt ihre Dogmatik zu entwickeln und die Bestimmungen der Verfassung auszulegen hat. Das bedeutet vor allem, daß sie in erster Linie berufen ist, jenen Willen zur Verfassung hervorzuheben, zu wecken und zu erhalten, der die sicherste Gewähr der normativen Kraft der Verfassung ist.« (S. 19)

In der Diskussion wurde Frau Britz gefragt, ob denn die Staatsrechtler nun, ähnlich wie zeitweise die Vertreter des Europarechts, zu Propagandisten ihres Faches werden sollten. Natürlich gab es darauf eine beschwichtigende Antwort. Und ich fand das auch alles vollkommen in Ordnung.

Das Dumme ist, wenn man etwas Kluges hört, kommt man leicht auf weitere Fragen, die man gerne noch beantwortet hätte. Mir ging das Stichwort »affirmativ« durch den Kopf und führte zu der Frage, ob nicht auch ein Wille zur Kritik der normativen Kraft der Verfassung helfen könnte.

Bald nachdem Hesse seine Antrittsvorlesung gehalten hatte, wurde »affirmativ« in Verbindung mit Wissenschaft zum Schimpfwort. »Kritisch« hatte man zu sein. Heute diskutiert man distanzierter über das Kritikpotential von Teilnehmer-, Beobachter- und Reflexionstheorien. Das Staatsrecht rangiert dabei als Teilnehmertheorie, und Soziologen belehren uns, dass selbst Reflexionstheorien wie Rechtsphilosophie und Rechtstheorie immer Teilnehmertheorien blieben, die prinzipiell nicht anders als affirmativ sein könnten.

Die Unterscheidung zwischen der internen und einer externen Beobachtung des Rechts hat der englische Rechtsphilosoph H. L. A. Hart in die Rechtstheorie eingeführt. Er brauchte die Unterscheidung, um sich von einem behavioristischen Rechts- und Regelbegriff abzusetzen.[4] Heute verbindet man die Unterscheidung eher mit den von Luhmann gesetzten Akzenten. Luhmann spricht von Reflexionstheorien und Beobachtertheorien. Reflexionstheorien bieten eine Selbstbeschreibung des Systems, in unserem Falle des Rechtssystems, Beobachtertheorien eine Fremdbeschreibung. Von Reflexionstheorien heißt es, sie seien unvermeidlich affirmativ, sie wiederholten auf einem elaborierten Niveau, was sie beschrieben und machten sich damit die positive Selbsteinschätzung des Systems zu eigen.[5] Sie könnten sich eine Welt ohne Recht nicht vorstellen. Als Grund wird angegeben, dass die Selbstbeschreibung der Funktionssysteme stets an deren Code ausgerichtet sei, die Selbstbeschreibung des Rechts also an dem Code von Recht und Unrecht, während die Fremdbeschreibung den Wissenschaftscode von wahr und unwahr verwende. Die reflektierte Selbstbeobachtung des Rechts hat danach grundsätzlich den Status einer Teilnehmertheorie.[6]

In der Tat, Rechtsphilosophen und Rechtstheoretiker wollen das Recht ebenso wenig abschaffen wie Staatsrechtler, sondern sie wollen es verbessern. Das setzt Kritik voraus. Ist das Staatsrecht also dazu verurteilt, kritiklos affirmativ zu sein? Wohl kaum. Auch die »Reflexionstheorien, mit denen Funktionssysteme der modernen Gesellschaft sich selbst beschreiben«, nehmen insofern Wissenschaftlichkeit für sich in Anspruch, als sie ihre Kritik auf Wissen stützen.[7]

Kritik setzt empirisch gesichertes Wissen, in diesem Falle von der Verfassungswirklichkeit und dem Zustand der Gesellschaft, voraus. Wissen, wie es Beobachtertheorien für sich in Anspruch nehmen, wäre für sich genommen keine Kritik. Daher sind Beobachtertheorien zu einer systemrelevanten Kritik prinzipiell ungeeignet. Kritik wächst erst aus Werturteilen, deren Qualität allerdings von dem Wissen abhängt, das (u. a.) Beobachtertheorien beibringen.

Der langen Rede kurzer Sinn: Der Wille zur Verfassung kann durchaus mit dem Willen zur Kritik der Verfassung einhergehen. Und so sollte es nach Hesses Ansicht sein. Das Zitat von S. 18 der Antrittsvorlesung geht auf S. 19 weiter:

»Und das bedeutet, daß [die Staatsrechtwissenschaft] gegebenenfalls auch zur Kritik verpflichtet ist; nichts wäre gefährlicher, als sich in Lebensfragen des Staates Illusionen hinzugeben.«

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[1] Konrad Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, J. C. B. Mohr, Tübingen 1959.

[2] Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 59.

[3] Dieser lautet: Aufgrund der Stellung des Bundesverfassungsgerichts als Verfassungsorgan und der gesellschaftlichen und politischen Bedeutung seiner Entscheidungen wirken die Mitglieder des Gerichts über die vorrangige Erfüllung ihres Rechtsprechungsauftrages hinaus bei der Darstellung und Vermittlung seiner Stellung, Funktionsweise und seiner Rechtsprechung auf nationaler und internationaler Ebene mit.

[4] Der Begriff des Rechts, 1973 [The Concept of Law, 1961], 119ff, 128ff. Zur Tradition der Unterscheidung von Beobachter- und Teilnehmertheorien ausführlicher Marietta Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 2005, 212 ff.

[5] André Kieserling, Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung, 2004, 58ff; Stefan Kühl, Das Theorie- Praxis- Problem in der Soziologie, Soziologie 32, 2003, 7-19, S. 10.

[6] In diesem Sinne Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, S. 468; André Kieserling, Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung, 2004, S. 13. Anders sieht es Matthias Jestaedt. (den die Grippe gepackt hatte, so dass er auf der Tagung nur Stichworte zu seinem Vortrag verteilen lassen konnte). Jestaedt will nur Rechtsdogmatik und juristische Methodenlehre als Teilnehmertheorien gelten lassen (Das mag in der Theorie richtig sein, 2006, S. 17).

[7] Niklas Luhmann (Die Gesellschaft der Gesellschaft S. 890) mit Anführungszeichen um die Wissenschaftlichkeit und dem Zusatz, »was immer das dann im Einzelfall für das Rechtssystem … besagen mag«.

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Anthropozentrismus angesichts von Hybriden und Metaorganismen

Die wissenschaftlich getriebene technologische Entwicklung hat einen Namen als Nano-Bio-Info Convergence.[1] Worum es geht, kann ich nicht besser als mit einem Zitat ausdrücken:

»The three, on their own, have important implications. To put the three of them together, the way I think about it, is that we are informed by biology of what nature has learned how to do over several billion years at the molecular level. It then gives us the capability to simulate that in computer modeling. And the nanotechnology allows us to actually manipulate physical materials to mimic, in some cases, what nature has done.«[2]

Nach wie vor gilt es, die Identität des Menschen an zwei Fronten zu verteidigen, auf der einen Seite gegen nichtmenschliche Lebewesen (Tiere) und auf der anderen Seite gegen Maschinen. Die Grenze zwischen Mensch und Maschine schien einfach zu ziehen. Nun scheint sie an zwei Stellen durchlässig zu werden, nämlich durch künstliche Intelligenz für humanoide Roboter und durch »Medizintechnik« für Hybride (Cyborgs). Hybride könnten auch die Grenze zwischen Mensch und Tier durchlöchern. Kommt jetzt noch eine dritte Grenze hinzu, nämlich die Grenze zwischen Menschen und Metaorganismen? Das behaupten jedenfalls die Biologen Tobias Rees, Thomas Bosch und Angela E. Douglas[3]. Aus ihrer Sicht gab es bisher drei Merkmale, um den Menschen als Indiviuum von anderen Lebewesen (und natürlich auch von der unbelebten Umwelt) zu unterscheiden: sein Immunsystem, sein Gehirn und sein Genom. Nun betonen die Biologen (was sie im Prinzip schon länger wussten), dass der Mensch nur als Teil eines Metaorganismus funktioniert, der sich zur Hälfte aus Mikrorganismen zusammensetzt. Diese bilden in ihrer Gesamtheit das Mikrobiom. [4] Mikrobiom und (Rest-)Mensch bilden einen Metaorganismus. Neu ist wohl, dass das menschliche Mikrobiom, das bei jedem Menschen etwas anders aussieht und sich im Lebensverlauf ändert, sich überindividuell mehr oder weniger gleichsinnig wandelt. So wird anscheinend eine Veränderung des Mikrobioms für die weltweit zunehmde Adipositas verantwortlich gemacht. Relativ neu ist vor allem der Begriff des Metaorganismus, der hier anscheinend eine Eigendynamik entwickelt.[5]

Als Forschungsobjekt der Biologie ist das Mikrobiom aufregend und rechtfertigt fraglos einen Sonderforschungsbereich »Entstehen und Funktionieren von Metaorganismen«. Aber die Forderung nach »microbial humanities« scheint mir eher übertrieben zu sein. Klar: »The human is contingent on microbes«. Für die Biologie mag daher gelten: »We Have Never Been Individuals«[6]. Aber man sollte sich nicht durch Organismusbegriff verführen lassen. Für Rechtsphilosophie und Rechtstheorie geht es eher um eine bloße Symbiose. Es gib keine absoluten Grenzen, weder zwischen Menschen als Gattung und anderen Gattungen oder zwischen Menschen als Individuuen. Alle diese Grenzen sind »konstruiert«. Der Anthropozentrismus, den ich vertrete, hält grundsätzlich an den historisch gewachsenen Grenzen fest und verteidigt sie als die bessere Konstruktion gegen Tiere und Maschinen. Schwierig wird die Verteidigung gegenüber Hybriden. Das Mikrobiom dagegen ist bisher kein denkbarer Akteur oder Adressat des Rechts.

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[1] Zu diesem Eintrag hat mich ein Vortrag angeregt, den Reinhard Merkel über »Menschen, Cyborgs, humanoide Roboter – Herusforderung für Autonomie und Verantwortung« am 16. 2. 2018 auf dem Symposium anlässlich des 80. Geburtstags von Rolf Dietrich Herzberg gehalten hat.

[2] Scott Hubbard (Director des NASA Ames Research Center in Silicon Valley) https://foresight.org/nasa_ames_director_on_nanobioinfo_convergence-2/.

[3] Tobias Rees/Thomas Bosch/Angela E. Douglas, How the Microbiome Challenges our Concept of Self, PLoS biology 16, 2018, e2005358.

[4] Der Unterschied zwischen Mikrobiom und Mikrobiota ist mir nicht ganz klar geworden. Gelegentlich bezeichnet man das Mikrobiom eines Individuums als Mikrobiota. In der Regel verwendet man die Ausdrücke aber synonym.

[5] Sebastian Fraune/Sören Franzenburg/René Augustin/Thomas C. G. Bosch, Das Prinzip Metaorganismus, Biospektrum 17, 2011, 634-636.

[6] Diesen Titel zitieren die vorgenannten Autoren: Scott F. Gilbert/J. Sapp/A. I. Tauber, A Symbiotic View Of Life: We Have Never Been Individuals, Quarterly Review Of Biology, 87, 2012, 325-341.

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