Dies ist eine Fortsetzung des Eintrags über »Casus und Regula« vom 20. 8. 2015.
»Non ex regula ius sumatur, sed ex iure quod est regula fiat«, so lautet nach dem Paulus-Zitat des Pomponius die Position der Sabinianer. Dieser Satz trägt so viel Betonung, dass es eine Gegenposition gegeben haben muss. Die findet Peter Stein bei Labeo:
»The late republican jurists, particularly Quintus Mucius Scaevola, tried to state the civil law in a series of definitiones, which were seen as summary descriptions of the law as revealed in practice. Labeo introduced a new word, regula, as an alternative to definitio. He took this word from grammatical language, where it had decidedly analogist overtones. A regula was something more than a definitio. It was a normative proposition which governed all situations which fell within its rationale. In contrast with definitio, which looked to the past, a regula looked to the future since its ratio was applicable to many cases which had not yet arisen.«
Danach scheint es, als habe Labeo das Konzept der regula eingeführt, die zwar ursprünglich an einem Einzelfall gewonnen wurde, die dann aber als allgemeine Norm Geltung hatte. Aber, so Nörr (S. 31):
»Es ist auffällig, daß es regulae gibt, die in die republikanische Zeit zurückreichen, daß der Ausdruck regula selbst aber in den Juristenschriften frühestens bei Sabinus (Paul. 50.17.1), also etwa in der Mitte des 1. Jahrh. n. Chr., bezeugt ist.«
In diesem Sinne betont Schmidlin , dass regula in der frühen Prinzipatszeit noch gar kein technischer juristischer Begriff gewesen sei.
»In der Bedeutung der Einzelregeln scheinen sich die regulae erstmals in der Grammatik eingebürgert zu haben, und zwar offensichtlich in Anlehnung an den griechischen Terminus canon, der auch im Plural, canones, im Sinn von ›Einzelregeln‹ verwendet wird. Auch in dem methodologisch wenig gefestigten Vokabular der Juristen haftet dem Wort regula eine bildhafte Unbestimmtheit an. Noch Celsus bezeichnet die catonianische Regel ganz unbefangen bald als regula, bald als definitio, während der Jurist Maecenius sententia dafür verwendet.«
An dieser Stelle zeigt sich schon, dass die Ausgangsfrage nach dem Verhältnis von casus und regula verfehlt war, denn sie beruht auf dem Vorurteil, die römischen Juristen hätten in der gleichen Weise von regula geredet wie der moderne Jurist von der Regel im Sinne einer Rechtsnorm.
Versucht man nachzufassen, greift man in das Wespennest eines Gelehrtenstreits um den Einfluss hellenistischer Philosophie auf die Jurisprudenz der späten Republik und des frühen Prinzipats. An den Fronten stehen Peter Stein und Bruno Schmidlin mit einschlägigen Monographien und abseits Okko Behrends und sein Schüler Martin Avenarius.
Behrends und ihm folgend Avenarius vertreten die Ansicht, dass die vorklassische Tradition der veteres mit der Ermordung des Quintus Mucius Scaevola 82 v. Chr. endete und nunmehr Servius Sulpicius Rufus mit der ars juris eine neue wissenschaftliche Juristentradition begründete, die auf Definitionen und Subsumtion angelegt war. »In seiner ars juris wurde die ars im Sinne des hellenistischen Wissenschaftsbegriffs als τέχνη verstanden. Mit ihr schuf Servius das Recht als regelhafte Ordnung.« Davon seien dann die Prokulianer ausgegangen. Diese These vom Methodenwechsel wird allerdings wohl nicht allgemein akzeptiert.
Peter Stein veröffentlichte 1966 »Regulae Juris. From Juristic Rules to Legal Maxims« und verteidigte darin die zuvor insbesondere von Fritz Schulz begründete die Ansicht, die Römer hätten unter dem Einfluss platonischer Dialektik und aristotelischer Philosophie die Jurisprudenz zu einer »hellenistischen Fachwissenschaft« ausgebaut. Dagegen wandte sich insbesondere Bruno Schmidlin 1970 mit einer Arbeit »Die römischen Rechtsregeln (Versuch einer Typologie)«.
Schulz (S. 44f) spricht von einer hellenistischen Periode der römischen Rechtswissenschaft beginnend mit dem Ende des Zweiten Punischen Krieges (201 v. Chr.) und endend mit der Aufrichtung des Prinzipats des Augustus (31 v. Chr.). Seine klare Position und Darstellung sei zitiert:
»Eine wesentliche Veränderung aber brachte die Übertragung der Dialektik auf die Rechtswissenschaft. Unter der dialektischen Methode verstand Platon kurz gesagt das Studium der Gattungen (genera und species). Die Gattungen sollen erkannt werden durch Trennung (differentia, διαίρεσις) auf der einen Seite und durch ›Synthese des Mannigfaltigen‹ (συναγωγή, σύνθεσις) auf der andern. Aus dem Studium der Gattungen sollen Prinzipien entwickelt werden, die für die verschiedenen Gattungen gelten und die das Verständnis der Einzelerscheinungen erschließen.« (S. 73)
Schulz weist dann darauf hin, dass die führenden Juristen mit der hellenistischen Philosophie vertraut waren, um fortzufahren: (S. 75)
»Die Verwertung der Dialektik in der Jurisprudenz führte zunächst, genau wie in den griechischen Philosophenschulen, zu einem planmäßigen Aufsuchen juristischer genera und species. Die technische Bezeichnung derartiger genetischer Trennungen ist seit Aristoteles ›διαίρεσις‹. Im Lateinischen wird das Wort wiedergegeben mit divisiones, distinctiones oder differentiae.
Nach einigen Beispielen heißt es weiter (S. 76):
»Genau den griechischen Vorbildern entsprechend arbeitet jetzt die römische Jurisprudenz. Pomponius berichtet [D.1,2,2,41]: Quintus Mucius Publii filius pontifex maximus ius civile primus constituit generatim in libros decem et octo redigendo.«
Generatim ist das Attribut, mit dem die dialektische Differenzierungsmethode gekennzeichnet wird. Sie dient den römischen Juristen dazu, System in die Kasuistik zu bringen, indem sie gleiche oder ähnliche Fälle zusammenfassen und Tatbestandselemente, die einen Unterschied machen sollen, als species davon abheben. Die Differenzierung – διαίρεσις – ist jedoch nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zur Regel. »Es gilt jetzt, für die gefundenen genera und species Prinzipien zu entwickeln.« Der Prinzipienbegriff darf hier nicht im Sinne moderner Rechtstheorie verstanden werden. Vielmehr handelt es sich um mehr oder weniger vollständige und mehr oder weniger bestimmte Rechtssätze. Prinzipien sind Grundsätze, die gemeinsam für ein genus gelten. Hier passt der von Karl Larenz geprägte Begriff der rechtssatzförmigen Prinzipien.
Daher kann Schulz fortfahren:
»Diese Prinzipien nennt die griechische Dialektik ὅροι oder κανόνες, die lateinische definitiones oder regulae. Die Übertragung der Dialektik zur Jurisprudenz führt also zur Aufstellung von regulae juris.« (S. 79)
Den Kern des Expertenstreits über die Differenz zwischen Prokulianern und Sabinianern bringt Wieacker (S. 439f) auf den Punkt, wenn er seine eigene Auffassung der von Peter Stein entgegenstellt:
»Danach scheint der weiteste klassische Begriff von regula: Juristenrecht, das durch eine abgeschlossene Diskussion als auctoritas festgestellt ist und daher der Beglaubigung durch Zitate und Argumente nicht mehr bedarf (regula tradita, vulgo dictum, definitio, constitutum). Natürlich liegt es im Wesen solcher Sätze, auf künftige Fälle unstreitig anwendbar zu sein, und die regula steht daher auch im Gegensatz zum jus singulare. Aber offenbar enthält regula keinen notwendigen Bezug auf eine durch wissenschaftliche Deduktion mit den Mitteln der Dialektik gewonnene Abstraktion oder Verallgemeinerung speziellerer Begriffe. Kürzer: Im Gegensatz zum Vf. [Peter Stein] glauben wir, daß bis zur nachklassischen Zeit regula mit dem Problem der rechtswissenschaftlichen Begriffsbildung durch ὅροι, γένη und εἶδη verhältnismäßig wenig zu tun gehabt hatte.«
Der Streit geht also darum, ob aus dem Einfluss aristotelischer Philosophie eine Regularjurisprudenz entstanden sei, die begonnen habe, das Recht nach genera und species zu ordnen. Noch einmal Wieacker (S. 442):
»Die klassische regula meinte mehr durch gefestigte Autorität unstreitig gewordenes Juristenrecht als zur Axiomatik hinstrebende Verallgemeinerung. Vollends an den Erfolg einer ›Wissenschaftlichen Revolution‹, die die römische Rechtstradition nach den Anweisungen der aristotelischen Wissenschaftslehre zu einem induktiv gewonnenen einheitlichen Ableitungs-zusammenhang umgestaltet hätte, glaubten wir weniger zuversichtlich als der Vf. [Stein].«
Diese von mir so genannte Hellenismuskontroverse hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der durch Theodor Viehweg ausgelösten Topik-Diskussion. Die betraf bekanntlich die Frage, ob man das zeitgenössische Recht in seiner wissenschaftlichen Verarbeitung als System begreifen könne oder ob es besser als rhetorisch-dialogisch-topische Veranstaltung zu charakterisieren sei. Auch Viehweg sprach der römischen Jurisprudenz (und ebenso der modernen) Wissenschaftlichkeit im Sinne Aristotelischer Apodeiktik ab, sah in beiden aber ein anderes aristotelisches Konzept realisiert, nämlich die rhetorische Topik (Dialektik). So ist es kein Zufall, dass Franz Horak am Rande der Hellenismuskontroverse eine ebenso scharfe wie scharfsinnige Viehweg-Kritik formuliert hat. In beiden Fällen sagt man heute: Pauschalurteile sind überholt. Die Dinge sind komplex und die eine wie die andere Vorstellung ist hilfreich, um sie zu verstehen.
Peter Stein und andere gehen wohl in der Tat zu weit, wenn sie bei den Römern die aristotelische Wissenschaftslehre (Apodeiktik) finden. Deren Kennzeichen besteht ja darin, dass sie eine evidente Prämisse an den Anfang setzt, aus der dann durch Deduktion weitere wahre Sätze abgeleitet werden. Davon kann aber im römischen Recht keine Rede sein. Andererseits waren die führenden Juristen mit dem Hellenismus vertraut und daher ist es
»unwahrscheinlich, daß Juristen wie Mucius Scaevola, Servius Sulpicius, Cascellius,. Trebatius, Labeo, deren dialektische Bildung von den Zeitgenossen bezeugt wird, ihr erlerntes Denken vor der Tür der Jurisprudenz ablegten, um nach Art der altväterlichen Kautelarjurisprudenz zu respondieren. … Nur gilt es, sich über das Ausmaß und die Art des Einflusses klar zu werden.« (Schmidlin 1976, 104.)
Schmidlin endet (1976 S. 127):
»Darum erfaßt regula iuris nicht nur Spruchregeln, sondern überhaupt alles, was normative Funktion übernehmen kann und dem funktionalen Sinn einer Rechtsregelung entspricht. Aber auch in den libri regularum vermischen sich die kasuistischen Leitsätze, Definitionen und Worterklärungen. Ihre methodologisch scharf gefaßten Urbilder in den horoi und pithana verschwimmen. Der Vermittlerdienst der dialektischen Aussagenlehre ist abgeschlossen, die regulae haben sich der juristischen Kasuistik assimiliert.«
Letztlich ist es wohl zutreffend, wenn James Gordley sagt, die Hellenismusthese
»obscure the unique contribution that the Roman jurists made, which was not to borrow from Greek philosophy, but rather to found an intellectual tradition of their own that approached problems in a different way. … Roman legal concepts were not abstract in the same way as those of Greek Philosophy. For the most part, they were taken from ordinary experience.«
Es wäre indessen zu eng, die Auffassungen römischer Juristen zum Verhältnis von Norm und Fall nur aus dem Gegensatz von Prokulianern und Sabinianern herauslesen zu wollen. Die römische Jurisprudenz ist älter. Und sie ist aus Entscheidungen geboren.
»In jeder Entscheidung ist unausgesprochen (undeclaredly) auch schon ein Prinzip für folgende Entscheidungen gegenwärtig. Mit dieser unauffälligen Feststellung des Vf. [Stein] ist schon die erste Wegkreuzung überschritten, an der sich entschied, ob es bei der irrationalen Spontaneität der Rechtsorakel, Gottesurteile oder des Medizinmannes bleiben sollte, der Sackgasse primitiver Kulturen, von der es keinen Weg in den Aufbau höherer und dauernder Gesellschaften gibt; oder ob die Entscheidung auf Vorwegnahme einer dauernden Regel menschlichen Zusammenlebens angelegt sein soll. Sich für diesen Weg entschieden zu haben, der den Weg in die nachmalige Größe des römischen Rechts eröffnete, ist ersichtlich das unermeßliche Verdienst der Pontifikaljurisprudenz.«
So Wieacker in seiner Rezension des eingangs erwähnten Buches von Peter Stein. Was Wieacker hier anspricht, ist die implizite Regelhaftigkeit von Entscheidungen.
Auf die erste Stufe impliziter Regelhaftigkeit folgt seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. die nächste, auf der römischen Juristen begannen, »neben der rein kasuistischen Fallbehandlung … das allgemeine Ergebnis der zahllosen Einzelentscheidungen zusammenfassend, abstrakte Rechtsregeln (regulae juris) aufzustellen«. »Generalisierende Rechtssätze [vom Typ nemo sibi causam possessionis ipse mutare potest] formulierten die Römer in großer Zahl.« Für diesen Vorgang hat Paul Jörs als Gegenbegriff zur Kasuistik die Bezeichung Regularjurisprudenz eingeführt. Ob diese Benennung angemessen ist, wird allerdings wiederum bestritten. Fritz Schulz meinte, sie müsse verschwinden und durch den Ausdruck »dialektische Jurisprudenz« ersetzt werden. (S. 80) Nörr (S. 19) hat andere Einwände gegen Jörs‘ Begriffsschöpfung:
»Das Wort regula sei der Juristensprache dieser Epoche noch fremd. Was Jörs unter regulae verstehe, sei unsicher. Soweit er damit die die Entscheidung tragenden Prinzipien meine, sei der Ausdruck zu weit, da jede rationale Jurisprudenz von der Verwendung solcher Prinzipien bestimmt sei. Soweit es um die Prägung von juristischen Sentenzen gehe, könne die von Jörs gemeinte Epoche vielleicht besonders produktiv gewesen sein; doch reiche einerseits diese Art der Regelbildung nicht zur Charakterisierung der Epoche aus, zum anderen sei die Verwendung von regulae auch in den folgenden Epochen der römischen Rechtswissenschaft bekannt und gewinne gerade in der Spät- und Nachklassik besondere Bedeutung.«
Man ist sich mindestens einig, dass die Juristen der späten Republik das Zivilrecht in einer Reihe von definitiones festzuhalten versuchten, die als zusammenfassende Beschreibungen der Rechtspraxis gedacht waren. Dazu kamen Abstraktionen wie die Einteilung von Sachen in corporales und incorporales (Gai. inst. 2, 14 = D 1, 8, 1, 1.). Diebstahlsobjekt war bei Scaevola nicht länger ein Pferd, sondern eine Sache. Es wurden verschiedene Formen des Besitzes unterschieden. Aber bei solchen Unterscheidungen mit Hilfe von Begriffen und Gegenbegriffen, Mengen und Teilmengen handelt es sich auf den ersten Blick nur um Differenzierungen, die heute als Schemata der Alltagslogik gelten. Die Bildung unterschiedlicher species erfolgte jedoch im Hinblick darauf, dass sie jeweils unterschiedlichen Regeln gehorchen. Die Regel versteckt sich dabei hinter den Begriffen. Ähnlich liegt es mit Rechtsinstituten. Ein Beispiel wäre die Definition der Dienstbarkeit als einer Duldungspflicht. Die Definition begründet nur eine unvollständige Rechtsnorm, aus der erst im Rahmen einer lex contractus Verhaltenspflichten resultieren.
Wenn man sich bei der Suche nach abstrakten Normen im klassischen römischen Recht nicht auf den Ausdruck regula kapriziert, bleibt die Suche nicht erfolglos. Aber hinsichtlich der Frage, ob ob die zahlreich überlieferten regulae als Rechtsquelle normative Bedeutung hatten, eiert die Einschätzung ähnlich herum wie die moderne Diskussion um die Rechtsqualität von Richterrecht. Von der regula wird immer wieder gesagt, sie sei ein »Konzentrat kasuistischer Rechtserfahrungen«, man könne sie mit den Leitsätzen moderner Entscheidungssammlungen vergleichen (z. B. Schmidlin 1976, 118). Noch den zaghaften Versuch Schmidlins, jedenfalls die regulae iuris civilis als »echte« Normen von den einfachen regulae als bloßen Prinzipien oder Rechtsgrundsätzen zu unterscheiden, hat Nörr (S. 38f.) verworfen.
[Schluss folgt bald.]
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