Mehr als postmodernes Gewaltgeraune eines Schlangenmenschen? Prolegomena zur Lektüre der »Kritik der Rechte« von Christoph Menke

Die Postmoderne mit ihrem Gewaltgeraune ist eigentlich schon passé. Doch es erscheinen immer wieder neue Texte, die sich mit der Gewalt des Rechts und dem Recht der Gewalt befassen.

Einige Trivialitäten vorab:
1. Der Gewaltbegriff ist so vielfältig, dass man am besten immer dazu sagt, welche Art der Gewalt gemeint ist, physische Gewalt, strukturelle Gewalt (Galtung) oder symbolische Gewalt (Bourdieu). Man kann die Gewalt auch qualifizieren etwa als Staatsgewalt, Polizeigewalt, elterliche Gewalt usw. usw.
2. Mit dem Recht verbindet sich die Vorstellung der physischen (Gewalt) als letztem Sanktions- und Durchsetzungsmittel, mit staatlichem Recht auch die Vorstellung des Gewaltmonopols.
3. Eine Funktion des Rechts besteht darin, physische Gewalt auszuschließen und unkörperliche Gewalt zu begrenzen. Dazu ist freilich die Drohung mit Gewalt und gelegentlich ihr Einsatz erforderlich.
4. Nicht ganz selten ist das sich gewaltfeindlich gebende Recht selbst erst durch einen Gewaltakt zur Herrschaft gekommen.
5. Das Strafrecht kennt den Unterschied zwischen vis absoluta und vis compulsiva. Aber damit sind die Probleme nicht gelöst. [1]Zum Bedeutungswandel des strafrechtlichen Gewaltbegriffs Dietrich Busse in: ders. (Hg.), Diachrone Semantik und Pragmatik, 1991, 259-275.

Die englische und die französische Sprache unterscheiden zwischen force und violence. In beiden Sprachen ist violence eher die körperliche Gewalt. Dennoch sprach Galrung von structural violence und Bourdieu von violence symbolique, wiewohl doch beidegerade eine unkörperliche Gewalt im Blick hatten. Es handelt sich um eine sicher beabsichtigte contradictio in adjectu. Diese rhetorisch immer mitgeführte contradictio bringt den ganzen Gewaltdiskurs zum Schillern. Im Hintergrund steht immer die körperliche Gewalt. Sie macht den Gewaltbegriff zu einem Faszinosum oder gar Mysterium. Thematisiert werden Mythos und Tragödie. Allenfalls noch die Todesstrafe. Bei der Beantwortung konkreter und aktueller Fragen, der Frage etwa, welche und wieviel Gewalt an der Grenze zulässig sein soll, hilft das alles wenig.

Der kanonische Text zu dem schwierigen Verhältnis von Recht und Gewalt stammt von Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt (1920/1921). [2]Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. II.1, 1999, 179-204.

Benjamin hat die Stichworte für die weitere Diskussion geliefert. Er hat insbesondere auch die Verknüpfung des Themas mit Mythologie und Theologie vorgedacht. Sein Essay gipfelt in einer Analogisierung von proletarisch-revolutionärer und göttlicher Gewalt. Eine gute Darstellung und Einordnung bietet Raul Zelik in seinem Blog. [3]Raul Zelik, Wie revolutionär ist die Revolution? Zu Walter Benjamins »Kritik der Gewalt«, Juni 2014.

Die postmoderne amerikanische Diskussion ist vom Mysterium der Gewalt des Rechts fasziniert, ohne dass sie über Benjamin weit hinausgekommen wäre. In der Einleitung zu ihrem Sammelband »Law’s Violence« [4]Austin Sarat/Thomas R. Kearns (Hg.), Law‘s Violence, Ann Arbor 1995. schreiben Sarat und Kearns:

»The essays collected in Law’s Violence explore that mystery. Each recognizes that violence, as a fact and a metaphor, is integral to the constitution of modern law, and that law is a creature of both literal violence, and of imaginings and threats of force, disorder, and pain. Each acknowledges that in the absence of such imaginings and threats there is no law, and that modern law is built on representations of aggression and disruption. Law is, in this sense, an extended meditation on a metaphor.«

Auch in Deutschland wurde Robert M. Covers Essay »Violence and the Word« [5]Yale Law Journal 95, 1985-86, 1601-1629, wieder abgedruckt in dem Band von Martha Minow/Michael Ryan/Austin Sarat (Hg.), Narrative, Violence, and the Law, The Essays of Robert Cover, Ann Arbor 1992. viel beachtet. Covers Text beginnt dramatisch:

»Legal interpretation takes place in a field of pain and death. This is true in several senses. Legal interpretive acts signal and occasion the imposition of violence upon others: A judge articulates her understanding of a text, and as a result, somebody loses his freedom, his property, his children, even his life. Interpretations in law also constitute justifications for violence which has already occurred or which is about to occur. When interpreters have finished their work, they frequently leave behind victims whose lives have been torn apart by these organized, social practices of violence.«

Auch wenn Cover sich nach Umwegen über Folter und Märtyrertum mäßigt (S. 1601),

»If I have exhibited some sense of sympathy for the victims of this violence it is misleading. Very often the balance of terror in this regard is just as I would want it.«

so bleibt doch eine existentialistische Verkopplung von Recht und Gewalt. Sie führt dazu, Rechtsanwendung schlechthin für »gewalttätig« zu halten:

»Legal interpretation is (1) a practical activity, (2) designed to generate credible threats and actual deeds of violence, (3) in an effective way.«

Die Sache wird auch dadurch nicht besser, dass Cover sich auf Milgram beruft, um die institutionalisierte Richterrolle als genuin gewalttätig zu charakterisieren. Das geht so weit, dass Cover an anderer Stelle [6]Robert M. Cover, Nomos and Narrative, The Supreme Court, 1982 Term – Foreword, Harvard Law Review 97, 1983-84, 4-68. Richter schon deshalb als gewaltätig ansieht, weil sie bestimmte Rechtsauffassungen zurückweisen:

»Judges are people of violence. Because of the violence they command, judges characteristically do not create law, but kill it. Theirs is the jurispathic office. Confronting the luxuriant growth of a hundred legal traditions, they assert that this one is law and destroy or try to destroy the rest.« (S. 53)

Dieser pathetische Text wird gerne von Anhängern eines normativen Rechtspluralismus zitiert, denn hinter den »hundred legal traditions« verbergen sich deren Schützlinge.

Im Mittelpunkt von Derridas »Force de Loi« [7]Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, 1991. steht eine »dekonstruktive« Lektüre von Benjamins »Kritik der Gewalt«. Derrida vermeidet es, im Titel von »Violence de Loi« zu sprechen und sucht nach der Gesetzeskraft als einer force juste ou nonviolente. Freilich kommt hier eine neue Mehrdeutigkeit hinein, wenn violence die Bedeutung ungerechter Gewalt erhält, die dann auch wieder unkörperlich sein kann. Es ist immerhin tröstlich, dass Derrida – eher unerwartet – bei seiner Benjamin-Lektüre die Gerechtigkeit, so fern und unerreichbar sie auch sein mag, gegenüber der Gewalt in Schutz nimmt.

In Deutschland hat Christoph Menke den postmodernen Gewaltdiskurs zunächst in der Teubner-Festschrift [8]Recht und Gewalt, in: Soziologische Jurisprudenz. FS für Gunther Teubner, 2009, 83-96. und später in einer Monographie aufgenommen. [9]Christoph Menke, Recht und Gewalt, Köln 2011. Natürlich ist die Gewalt paradox.

»Die erste Feststellung besagt: Das Recht ist das Gegenteil der Gewalt … Die zweite Feststellung besagt: Das Recht ist selbst Gewalt … Beide Feststellungen stehen im Gegensatz zueinander, aber keine von ihnen kann bestritten werden; beide sind wahr.« (Menke 2009 S. 83)

Da haben wir das Paradox. Es resultiert aus einem merkwürdigen Umgang mit dem Wahrheitsbegriff. Mit dem gleichen Recht könnte ich sagen: Menke ist paradox, denn Menke schläft und Menke wacht. Menkes Gewalt-Buch habe ich danach nicht mehr gelesen. [10]Eine ausführliche Rezension von Hendrik Wallat in der »Roten Ruhr Uni«.

Nun ist 2015 von demselben Autor eine »Kritik der Rechte« erschienen. Auch dieses Buch hatte einen Vorläufer. In der Zeitschrift für Rechtssoziologie erschien 2008 der Aufsatz »Subjektive Rechte: Zur Paradoxie der Form«. Ich habe ihn gelesen, aber nicht verstanden, obwohl ich versucht habe, meine Paradoxien-Allergie vorübergehend zu unterdrücken. [11]Auf der Suche nach Verständnishilfe habe ich mit Hilfe von Google Scholar einige Zitationen nachgeschlagen. Aber selbst die üblichen Verdächtigen, die den Aufsatz eigentlich verstanden haben … Continue reading Das war schwierig genug, belässt Menke es doch nicht bei den einfachen Paradoxien der Systemtheorie Luhmanns, sondern arbeitet mit einem dreifachen reentry und der »Parodie der Paradoxie«. Ach nein, das war ein Freudscher Schreibfehler. Richtig heißt es natürlich »Paradoxie der Paradoxie«.

Das eigene Unverständnis zu begründen ist so schwierig wie die Begründung der offensichtlichen Unbegründetheit. Da hilft nur Evidenz, wie sie allein ein Zitat herstellen kann.

»Die Systemtheorie rekonstruiert die paradoxe Struktur des selbstreflexiven Rechts: Die Paradoxie des reflexiven Rechts besteht darin, dass es sich in sich auf sein Anderes bezieht, dass es sich selbst in seinem Unterschied reflektiert. Die Systemtheorie verkennt aber (oder: nimmt nicht ernst genug), dass die Paradoxie hier nicht nur in der logischen Struktur besteht: dass das Recht sich selbst auf sein Anderes bezieht. Der Selbstbezug des Rechts aufs Andere hat nicht nur eine paradoxe Struktur, sondern deshalb auch einen paradoxen Status, eine paradoxe Existenz im Recht. Die paradoxiegenerierende Selbstreflexion des Rechts ist im Recht ebenso anwesend, nämlich: ausgedrückt in der Form des subjektiven Rechts, wie abwesend, nämlich: verstellt durch die Form des subjektiven Rechts. Die Wirklichkeit, die Seinsweise des Paradoxes ist selbst paradox: fort und da, da und fort. Der dekonstruktive Schritt über die Systemtheorie hinaus besteht darin, die Paradoxie der Paradoxie zu denken.« (2008 S. 101)

Ich bewundere diesen Text wie die Kontorsionen eines Schlangenmenschen.

Das Buch wollte ich danach eigentlich nicht mehr anfassen. Aber hat es so viele positive Rezensionen [12]Hannah Bethge vom 27. 1. 2016 in Deutschlandradio Kultur; Marietta Auer, FAZ vom 27. 1. 2016 S. 10 »Sittlichkeit ist halt perdu«; Christoph Fleischmann, WDR 3 vom 6. 11. 2015; Annette Wilmes, … Continue reading erhalten, dass ich es doch zur Hand genommen habe. Ich habe zunächst von hinten zu lesen begonnen. Die letzten fünf Seiten (403-407) stehen unter der Überschrift »Recht und Gewalt« (und sie ersparen vielleicht die Lektüre des gleichnamigen Buches).

»Das Recht hat keine Macht über seine Gewalt. Darin liegt die eigentliche Gewalt – die Gewalt der Gewalt – des Rechts: Die Gewalt der rechtlichen Gewalt ist ihre Unbegrenzbarkeit und Unkontrollierbarkeit.« (S. 403)

Anscheinend kennt der Autor ein »neues Recht«, mit dem alles besser wird. So jedenfalls endet das Buch auf S. 406f:

»Das neue Recht gibt daher das bürgerliche Programm auf gegen die Gewalt – die Gewalt überhaupt – zu sichern. Aber gerade indem das neue Recht die Gewalt der Veränderung übt, bricht es den (›mythischen‹) Wiederholungszwang, dem alle Rechtsgewalt bisher unterliegt. Denn als verändernde dankt die Gewalt, jedes Mal wieder, mit dem Erreichen ihres Ziels ab. Das neue Recht ist daher das Recht, dessen Gewalt darin besteht, sich aufzulösen: die Gewalt, die mit ihrer Ausübung ›sofort […] beginnen wird abzusterben.‹ [13]Dieses Binnenzitat wird in einer Endnote auf Lenin zurückgeführt. Die Gewalt des neuen Rechts ist die Gewalt der Befreiung.«

Da bin ich gespannt, ob das mehr ist als postmodernes Gewaltgeraune. Vielleicht berichte ich darüber. Vielleicht auch nicht.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Zum Bedeutungswandel des strafrechtlichen Gewaltbegriffs Dietrich Busse in: ders. (Hg.), Diachrone Semantik und Pragmatik, 1991, 259-275.
2 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. II.1, 1999, 179-204.
3 Raul Zelik, Wie revolutionär ist die Revolution? Zu Walter Benjamins »Kritik der Gewalt«, Juni 2014.
4 Austin Sarat/Thomas R. Kearns (Hg.), Law‘s Violence, Ann Arbor 1995.
5 Yale Law Journal 95, 1985-86, 1601-1629, wieder abgedruckt in dem Band von Martha Minow/Michael Ryan/Austin Sarat (Hg.), Narrative, Violence, and the Law, The Essays of Robert Cover, Ann Arbor 1992.
6 Robert M. Cover, Nomos and Narrative, The Supreme Court, 1982 Term – Foreword, Harvard Law Review 97, 1983-84, 4-68.
7 Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, 1991.
8 Recht und Gewalt, in: Soziologische Jurisprudenz. FS für Gunther Teubner, 2009, 83-96.
9 Christoph Menke, Recht und Gewalt, Köln 2011.
10 Eine ausführliche Rezension von Hendrik Wallat in der »Roten Ruhr Uni«.
11 Auf der Suche nach Verständnishilfe habe ich mit Hilfe von Google Scholar einige Zitationen nachgeschlagen. Aber selbst die üblichen Verdächtigen, die den Aufsatz eigentlich verstanden haben sollten, begnügen sich mit Sympathiebekundungen.
12 Hannah Bethge vom 27. 1. 2016 in Deutschlandradio Kultur; Marietta Auer, FAZ vom 27. 1. 2016 S. 10 »Sittlichkeit ist halt perdu«; Christoph Fleischmann, WDR 3 vom 6. 11. 2015; Annette Wilmes, Gedanken zu einer neuen Revolution, Deutschlandfunk vom 21.12.2015; Christoph Möllers, Süddeutsche Zeitung vom 22. 12. 2015.
13 Dieses Binnenzitat wird in einer Endnote auf Lenin zurückgeführt.

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In Memoriam Theodor Rasehorn (1918-2016)

Einer Todesanzeige habe ich entnommen, dass Theo Rasehorn am 16. 1. 2016 im Alter von 97 Jahren gestorben ist. Mit seiner 1966 unter dem Pseudonym Xaver Berra erschienenen Streitschrift »Im Paragraphenurm« [1]Xaver Berra, Im Paragraphenturm. Eine Streitschrift zur Entideologisierung der Justiz, Luchterhand, Berlin 1966. hat er das Denken über die Justiz stärker durcheinandergewirbelt als 1906 Gnaeus Flavius (Hermann Kantorowicz) mit dem »Kampf um die Rechtswissenschaft«. Alsbald wurde er von dem Soziologen Wolfgang Kaupen angesprochen, der gerade die Veröffentlichung seiner Dissertation über die »Hüter von Recht und Ordnung« [2]Wolfgang Kaupen, Die Hüter von Recht und Ordnung. Die soziale Herkunft, Erziehung und Ausbildung der deutschen Juristen – eine soziologische Analyse, Lucherhand, Neuwied 1969. vorbereitete. 1971 veröffentlichten beide gemeinsam den Band »Die Justiz zwischen Obrigkeitsstaat und Demokratie « [3]Wolfgang Kaupen/Theo Rasehorn, Die Justiz zwischen Obrigkeitsstaat und Demokratie, Neuwied 1971. So wurde der Richter Rasehorn selbst zum Rechtssoziologen. Als solcher hat er mehr bewirkt, als viele Karrierewissenschaftler.

Eine angemessene Würdigung kann ich so schnell nicht leisten. [4]Ich verweise auf Peter Derleder/Hans-Ernst Böttcher, Theo Rasehorn 80 Jahre, Kritische Justiz 31, 1998, 546-549, sowie den kümmerlichen Wikipedia-Artikel.

Der Rückblick, den Rasehorn sich aus Anlass seines 80. Geburtstags als Zeitzeuge der Nazizeit gegeben hat, zeigt die Motivation hinter seinen rastlosen Rufen nach Klärung und Aufklärung der politischen und sozialen Hintergründe des Handelns der Justiz.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Xaver Berra, Im Paragraphenturm. Eine Streitschrift zur Entideologisierung der Justiz, Luchterhand, Berlin 1966.
2 Wolfgang Kaupen, Die Hüter von Recht und Ordnung. Die soziale Herkunft, Erziehung und Ausbildung der deutschen Juristen – eine soziologische Analyse, Lucherhand, Neuwied 1969.
3 Wolfgang Kaupen/Theo Rasehorn, Die Justiz zwischen Obrigkeitsstaat und Demokratie, Neuwied 1971.
4 Ich verweise auf Peter Derleder/Hans-Ernst Böttcher, Theo Rasehorn 80 Jahre, Kritische Justiz 31, 1998, 546-549, sowie den kümmerlichen Wikipedia-Artikel.

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Paradoxien – Absinth der Rechtstheorie, neu angeboten von Philipp Sahm

In der interessanten Schweizer E-Zeitschrift Ancilla Juris ist soeben ein Artikel von Philipp Sahm mit dem Titel »Paradoxophilia« erschienen. [1]Philipp Sahm, Paradoxophilia, Ancilla Iuris 2015, 99-124. Darin versucht der Autor, offenbar ein Schüler Teubners, die Figur der Paradoxie für die Rechtstheorie zu retten. Dazu holt er sie zwar eine Stufe aus der Sphäre des Übersinnlichen herunter. Er besteht indessen darauf, dass sich letztlich alle Rechtsprobleme, für die zwischen mehreren Lösungsmöglichkeiten zu entscheiden ist, als Paradoxie darstellen lassen.

Sahm ist überzeugt,

»that by sharpening one’s analytical weapons, it is possible to establish a connection between law and paradoxes and speak about them without falling victim to obscurantism or poltergeists.« (S. 1)

Er will zeigen, dass das Rechtsentscheidungen und Paradoxien strukturell analoge Probleme aufweisen, und meint darüber hinaus, Recht sei im Sinne des Gödel-Theorems notwendig unvollständig.

Der Artikel ist gekonnt strukturiert und elegant geschrieben. Er verwertet viel Literatur, darunter manches, was ich nicht kannte. Dennoch: Sahm verkauft Absinth.

Jean Clam hat die (rhetorisch gemeinte) Frage gestellt, »ob nicht das ganze Gerede vom Paradox nichts anderes [sei], als eine hyperbolische Rhetorik von Legitimation suchenden Theorien«. [2]Die Grundparadoxie des Rechts und ihre Ausfaltung, Zeitschrift für Rechtsoziologie 21,2000, 109-143, S. 114. Die Antwort fällt natürlich negativ aus, wenn man sich einen neuen Paradoxiebegriff zurechtbastelt:

»Die wichtigste Einsicht darin, was ein Paradox ist, gründet in der Abwehr der Vorstellung, das Paradox sei ein (logischer) Widerspruch, eine endgültige Hemmung der Denkbewegung, das denkerische Zeugnis der Realunmöglichkeit von etwas.« (Clam S. 133.)

Aber wenn ein Paradox kein Paradox ist, ist es kein Paradox. So bastelt sich auch Sahm Schein-Paradoxien, indem er gängige Entscheidungsprobleme mit hochprozentigem Paradoxietalk übergießt. Das macht zunächst einen hübschen Louche-Effekt und später ist man betrunken. Wenn man am Ende wieder aufwacht, ist nicht ein einziges Problem gelöst oder auch nur klarer zu sehen, dass man nicht mit den alten Begrifflichkeiten von Dezision und Werturteil längst im Blick hatte. Die Kritik an der Luhmann-Teubnerschen Paradoxologie, die Sahm in einer früheren Arbeit jedenfalls in einer Fußnote noch erwähnt hatte, [3]Die Methodenlehre der soziologischen Jurisprudenz Gunther Teubners als eine Methodik der Generalklauseln, 2013, http://ssrn.com/abstract=2284145, S. 8 Fn. 53. wird nunmehr schlicht ignoriert. [4]Meine eigene Kritik der Juristenparadoxologie habe ich in § 12 und 12 der Allgemeinen Rechtslehre (3. Aufl. 2008) S. 102-108 und früher schon in der FS Blankenburg (1998) zu Papier gebracht.

Die Vergleichbarkeit von Paradoxien und Entscheidungssituationen soll sich daraus ergeben, dass in beiden Fällen eine Überfülle von Antwortmöglichkeiten gegeben ist. Beispielhaft werden das Lügner-Paradox und das Sorites-Paradox genannt. Paradoxien seien unentscheidbar, denn »paradoxes provide us with too many good answers«. Das ist aber nur für Rechtsentscheidungen zutreffend. Da gibt es in der Tat (oft) mehrere »vertretbare« Antworten. Und nur das zeigen die angeführten Beispiele aus der Rechtsprechung. Für Paradoxien dagegen gibt es nicht mehrere vertretbare Antworten, sondern entweder handelt es sich schlicht um Nonsens oder sie lassen sich analytisch auflösen. Das Sorites-Paradox ist ein bloßer Sophismus, denn die Haufeneigenschaft ist unabhängig von der Körnerzahl eine Frage der Gestalt; man kann auch sagen, eine gegenüber der Menge der Körner emergente Eigenschaft. [5]Röhl/Röhl, Allg. Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 34. Das Paradox des lügenden Epimenides ist als semantische Antinomie gleichfalls nur ein Pseudoparadox, weil es sprachliche Mehrdeutigkeit ausbeutet. [6]Ebd. S. 94ff. Bleibt die Mehrdeutigkeit verborgen, ergibt sich das irritierende Phänomen der Unentscheidbarkeit: Wenn wir annehmen, es sei wahr, dass der lügende Kreter lügt, so ist der Satz falsch. Lügt er aber, so ist der Satz richtig. Die Antinomie »oszilliert« zwischen den beiden Wahrheitswerten. Wird die Mehrdeutigkeit aber aufgedeckt, so zeigt sich, dass ein Nonsens-Satz vorliegt. Das wird klar, wenn wir den Satz des Epimenides

Ich lüge jetzt.

umformen in den ausführlicheren Ausdruck

Ich sage jetzt einen falschen Satz.

Wenn ohne Einschränkung von einem »Satz« die Rede ist, ist gewöhnlich ein wahrer Satz gemeint. Für »Satz« können wir deshalb »wahrer Satz« einsetzen und erhalten:

Ich sage jetzt einen falschen wahren Satz.

In dieser Form ist der Satz offenbar widersprüchlich. In der verkürzten Fassung der Antinomie ist der Widerspruch jedoch nicht sogleich zu erkennen, weil »Satz« sich auch auf den Satz im grammatischen Sinne beziehen kann, und tatsächlich wird hier ja ein grammatisch korrekter Satz geäußert.

Ein interessanter Effekt ergibt sich, wenn wir den Wahrheitswert vertauschen.

Ich sage jetzt einen wahren Satz.

Ersetzen wir erneut »Satz« durch »wahren Satz«, so ergibt sich:

Ich sage jetzt einen wahren wahren Satz.

Der Satz ist also tautologisch. Paradoxien und Tautologien sind demnach miteinander verwandt. Beide ergeben sich aus der Vermischung von Objektsprache und Metasprache. Ob das eine oder das andere entsteht, hängt davon ab, ob in einem selbstbezüglichen Satz gleiche oder unterschiedliche Wahrheitswerte zusammentreffen.

Sahm bemüht sich zwar, die gängigen »Lösungen« für die angeführten Paradoxien zu referieren, scheut sich aber, den letzten Schritt zu akzeptieren, dass es sich um Sophismen handelt, für die es eine klare analytische Lösung gibt. Vielmehr werde zur Gewinnung einer Antwort stets eine neue Unterscheidung eingeführt. Damit bleibt Sahm, auch wenn der Ausdruck nicht fällt, bei der unter Paradoxologen so beliebten Paradoxieentfaltung, die Paradoxien als solche ontologisiert.

»Paradoxes and legal decision-making situations are equal in terms of their resolvability.« (Sahm S. 105)

Das wäre schlimm, wenn es so wäre. Rechtsprobleme sind keine Sophismen. Es gibt daher allerdings leider auch keine analytischen Lösungen.

»Furthermore, paradoxes and legal decision-making situations are equal in terms of their role as epistemic motors.« (Sahm S. 110)

Nun ja, es mag sein, dass Paradoxien und juristische Entscheidungsprobleme beide zum Nachdenken anregen. Es ist ja auch richtig, dass die in der Literatur gehandelten Paradoxie-Beispiele von unterschiedlicher Schwierigkeit sind und dass im Laufe der Zeit neue Lösungsvorschläge hinzugekommen sind, wie im Falle von Zenos Paradox von Achilles und der Schildkröte, wo sogar Sahm akzeptiert, dass das Paradox heute leicht zu lösen ist. Das hilft aber in der Sache wenig.

»Consequently, legal decision-making situations are paradoxical in the sense that they pose the same problem as paradoxes.« (Sahm S. 119)

Nein, sie stellen ganz andere Probleme, denn die Paradoxien, von denen hier die Rede war, sind logische Kunstfiguren ohne Entsprechungen in der realen Welt. Dort gibt es nur Rückkopplungen, Rekursivität oder Reflexivität, und die sind keineswegs paradox. Paradoxien sind hilfreich, weder um ein neues Licht auf die Offenheit juristischer Entscheidungen zu werfen noch um neue Lösungen zu finden. Vielleicht könnte die Beschäftigung mit Paradoxien das von Wittgenstein formulierte Problem des Regelfolgens oder vielmehr Kripkes Version dieses Problems als Scheinproblem entlarven. Aber Sahm meint eher im Gegenteil, Paradoxologie sei hilfreich, um die Differenz von Norm und Entscheidung aufzudecken. Da fallen die Paradoxien in eine offene Tür, wo sie wohl keinen Schaden mehr anrichten.

»Thus, law seems to be necessarily incomplete and always in need of and open to external completion in order to be applied. One could even consider this as a translation of the Gödelian incompleteness theorem from formal systems into legal systems. The paradoxicality shows the inherent limitations of law and explains why a self-contained and self-sufficient legal system is not possible.« (Sahm S. 120f.)

Die Berufung auf Gödel erinnert an Luhmanns missglückten Rückgriff auf den »Wiedereintritt der Form in die Form« von George Spencr Brown. [7]Dazu Allg. Rechtslehre S. 102ff. Wer sich eingehender mit den Laws of Form von George Spencer Brown beschäftigen will, kann folgendes Buch zu Rate ziehen: Tatjana Schönwälder/Katrin Wille/Thomas … Continue reading Wieso Gödel hier helfen kann, hat Sahm nicht weiter ausgeführt. So bleibt von Gödels Unvollständigkeitssatz nicht mehr als eine Metapher. Es ist deshalb wohl nicht ganz abwegig, an die Kritik von Sokal und Bricmont an der Verwendung von scientific metaphors im Postmodernismus zu erinnern, die besonders auch das Gödel-Theorem im Blick hat. [8]Alan D. Sokal/Jan Bricmont, Fashionable Nonsense. Postmodern Intellectuals‘ Abuse of Science, New York 1998 Zusätzich irritiert, dass hier – wie so oft im Zusammenhang mit Paradoxien – sprachliche Mehrdeutigkeit ins Spiel kommt. Die »Entscheidungsoffenheit« des Rechts wird als Gegensatz zu self-containedness und self-sufficiency begriffen. Die letzteren Ausdrücke bezeichnen, zumal in einem Atemzug mit external completion, wohl eher Autonomie. Entscheidungsoffenheit des Rechts und Autonomie sind aber, jedenfalls nach meinem bisherigen Verständnis, keine Gegensätze.

Mit seiner letzten These gleitet Sahm wieder in die übliche Paradoxologie ab. Die These besagt nämlich, dass die juristische Methode als Paradoxie-Management zu verstehen sei. Da ist es wieder: Paradoxien werden nicht ausgeräumt, sondern sie werden gepflegt, gebügelt, ge- oder entfaltet, kurz, sie werden gemanagt.

Was Sahm höchst kunstvoll als Paradoxie widersprüchlicher Entscheidungsmöglichkeiten vorführt, ist nichts anderes, als das alte Werturteilsproblem in wenig nutzerfreundlicher Verpackung. Wenn man dagegen juristische Entscheidungen als Werturteile einordnet, ist das zwar nur die Benennung eines theoretisch letztlich ungeklärten Vorgangs. Trotzdem gewinnt man damit etwas, nämlich erstens vom Standpunkt der beobachtenden Rechtstheorie die Möglichkeit der Anknüpfung an eine lange (nicht nur) rechtsphilosophische Tradition, zweitens vom Standpunkt der entscheidenden Juristen die Möglichkeit die Möglichkeit zur Einbindung in einen größeren Argumentationszusammenhang und drittens vom Standpunkt sog. Stakeholder die Möglichkeit der Zurechnung der Entscheidung auf bestimmte Personen oder Gruppen mit der Folge, dass die Entscheider Verantwortung übernehmen und alle anderen Kritik üben können.

Die Paradoxologen haben sich eine eigene Sinnwelt aufgebaut, die als Diskurs im Foucaultschen Sinne funktioniert. Wer paradoxologisiert, gehört dazu, und wer dazu gehört, wird gehört. Lese ich doch eben bei Vesting [9]Thomas Vesting, Die Medien des Rechts: Computernetzwerke, 2015, S. 191. ein Ladeur-Zitat [10]Karl-Heinz-Ladeur, Der Staat gegen die Gesellschaft, 2006, S. 225. Ich habe das Zitat und seinen Kontext nicht nachgeprüft., dass die Funktion des Lehrers an öffentlichen Schulen kennzeichnen soll: » ›Vermittler einer symbolischen Ordnung‹ zu sein, ›die Individualität erst auf eine paradoxe Weise durch den Zugang zu einem in der Kultur eingelagerten kollektiven Gedächtnis eröffnen kann.‹ « In die Alltagssprache übersetzt, handelt es sich um eine blanke Trivialität: Der Lehrer öffnet seinen Schülern den Zugang zur Kultur. Kultur ist etwas Überindividuelles. An der Kultur können Schüler ihre (individuelle) Persönlichkeit entwickeln. Die Paradoxie ist in diesem Zusammenhang ebenso überflüssig wie die symbolische Ordnung und das kollektive Gedächtnis. Aber durch die Verwendung solcher hochgestelzten Vokabeln erhalten Texte jene Weihe, die sie für eine Jüngerschar attraktiv macht.

Aus dieser Sinnwelt kann auch Sahm sich nicht befreien. Dennoch ist sein Versuch einer Para-Paradoxologie ein gewisser Fortschritt. Immerhin verzichtet er darauf, das Recht auf den Selbstwiderspruch des radikalen Konstruktivismus festzulegen und Luhmanns berüchtigte Paradoxie des Entscheidens auch nur zu erwähnen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Philipp Sahm, Paradoxophilia, Ancilla Iuris 2015, 99-124.
2 Die Grundparadoxie des Rechts und ihre Ausfaltung, Zeitschrift für Rechtsoziologie 21,2000, 109-143, S. 114.
3 Die Methodenlehre der soziologischen Jurisprudenz Gunther Teubners als eine Methodik der Generalklauseln, 2013, http://ssrn.com/abstract=2284145, S. 8 Fn. 53.
4 Meine eigene Kritik der Juristenparadoxologie habe ich in § 12 und 12 der Allgemeinen Rechtslehre (3. Aufl. 2008) S. 102-108 und früher schon in der FS Blankenburg (1998) zu Papier gebracht.
5 Röhl/Röhl, Allg. Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 34.
6 Ebd. S. 94ff.
7 Dazu Allg. Rechtslehre S. 102ff. Wer sich eingehender mit den Laws of Form von George Spencer Brown beschäftigen will, kann folgendes Buch zu Rate ziehen: Tatjana Schönwälder/Katrin Wille/Thomas Hölscher, George Spencer Brown, Eine Einführung in die »Laws of Form«, 2004. Von S. 245 bis 256 befasst sich Thomas Hölscher mit der Rezeption der Law of Forms durch Niklas Luhmann mit dem Ergebnis, dass Luhmann wohl doch Spencer Brown nicht ganz richtig interpretiert habe. Im Internet (GoogleBooks) verfügbar: Louis H. Kauffmann, Das Prinzip der Unterscheidung. Über George Spencer-Browns »Laws of Form« (1969), in: Dirk Baecker (Hg.), Schlüsselwerke der Systemtheorie, 2005, 173-190.
8 Alan D. Sokal/Jan Bricmont, Fashionable Nonsense. Postmodern Intellectuals‘ Abuse of Science, New York 1998
9 Thomas Vesting, Die Medien des Rechts: Computernetzwerke, 2015, S. 191.
10 Karl-Heinz-Ladeur, Der Staat gegen die Gesellschaft, 2006, S. 225. Ich habe das Zitat und seinen Kontext nicht nachgeprüft.

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In eigener Sache: Wissenschaftsblogging, Linkliste, Blogroll, Veröffentlichungen

Wissenschaftsblogging:
In der Ausbildungszeitschrift JURA [1]Heft 1, 2015, 23-29. berichteten Hannah Birkenkötter und Maximilian Steinbeis über »Rechtswissenschaftliche Blogs in Deutschland – zu Möglichkeiten und Grenzen eines neuen Formats in den Rechtswissenschaften«. Steinbeis ist als Gründer und Herausgeber des Verfassungsblog bekannt. Birkenkötter wird als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungsprojekt »Verfassungsblog« vorgestellt. So ist das Juristenblogging inzwischen in das Stadium der Selbstreflexion eingetreten. Man erfährt, dass am Verfassungsblog 200 Autoren mitschreiben. Dass er sich institutionell auf das Wissenschaftskolleg zu Berlin stützt, wusste man ohnehin schon. Da bleibt mir, der ich erklärter Feind überflüssiger neuer Begriffsschöpfungen bin, nur die Möglichkeit, den Verfassungsblog zum Megablog zu erklären, um ihn in eine andere Klasse zu befördern.

Auf Sozblog hat kürzlich Werner Rammert über das Blogging reflektiert. Braucht man nicht zu lesen. Auch was Rammert über über Thema und Themenpapier des nächsten Soziologentags in Bamberg schreibt: Geschlossene Gesellschaften – ohne Fragezeichen?, ist keine Pflichtlektüre.

Über Wissenschaftsblogs: Im ABA Journal vom 1. 12. 2015 schreibt Molly McDonough über das wirkliche oder vermeintliche Schrumpfen der Law Blogs (Blawgs): What is the State of the Legal Blogosphere? Das BLAWG-Directory des ABA Journals verzeichnet immer über 4000 Law Blogs. (Nachtrag vom 6. 2. 2016)

Links Rechtssoziologie:
New Legal Realism Conversations. Hier geht es um ein Projekt der American Bar Foundation.
Deutschland in Zahlen vom Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln. Vielleicht bewährt sich die Seite, wenn man schnell eimal einige Zahlen braucht. Ausprobieren.
50 Klassiker der Soziologie: Internet-Lexikon zu 50 ausgewählten Autoren der Soziologie aus Österreich. Eine schöne Seite. Aber sie könnte noch viel besser werden, wenn sie Links auf die zahlreichen online verfügbaren Klassikertexte enthielte.
In die Linkliste kommt nur, was frei zugänglich ist. Daher leider nicht die Reihe der Annual Reviews, darin auch seit zehn Jahr der Annual Review of Law and Social Science, wiewohl ich diese Quelle im Hinblick auf auf das Konvergenzthema interessant finde.

Gestrichen wurden:
ASLCH = Association for the Study of Law, Culture and the Humanities: Die Seite mit prominenten Namen ist unergiebig. Sie wurde zuletzt 2011 aktualisiert.
Hotlinks Marshall McLuhan. Die Seite, die von Prof. Bernard J. Hibbitts in Pittsburgh betrieben wurde, gibt es anscheinend nicht mehr.
Soziologie FU Berlin. Es handelt sich um die Lehrstuhlseite von Prof. Dr. Jürgen Gerhards, die einige interessante Aufsätze zum Download anbietet. Auf Dauer aber nicht ergiebig genug.

Links Allgemeine Rechtslehre:
Virtuelle Fachbibliothek Recht: Scheint brauchbar zu sein.
RA Dr. Mewes: Auf der Homepage des Rechtsanwalts Dr. Marc Lothar Mewes (http://marc-mewes.de/) in Hamburg finden sich bemerkenswerte, teils kommentierte Literaturzusammenstellungen zur Privatrechtstheorie, zum Verbraucherschutz und zur Topik sowie eine Sammlung juristischer Witze.

Links zur Globalisierung:
World Bank E-Library.
Es würde zu weit führen, auch noch die weiteren Weltbank-Quellen aufzunehmen. Aber sie seien hier jedenfalls erwähnt.
World Bank Open Knowledge Repository
World DataBank
World Development Indicators
World Development Indicators – Data Query
World Directory of Minorities and Indigenous Peoples
World Urbanization Prospects
Die Links verweisen auf das Datenbank-Infosystem der Universität Konstanz. Dort findet sich jeweils eine kurze Beschreibung der Quelle und ein weiterführender Link.

Blogroll:
»Droit et Société« ist der Blog der gleichnamigen Zeitschrift (die demnächst 30 Jahre alt ist).
Understanding Society ist ein Blog des amerikanischen Sozialphilosophen Daniel Little, der als Kanzler der Universität Michigan-Dearborn aktiv ist. Seit 2007 bietet Little in seinen Postings, der von den Fordwerken geprägten Umgebung der Stadt entsprechend, einen handfest realistischen Blick auf soziologische Theorie. Auf Littles Blog bin ich durch den Blog »Denkstil« von Ralf Keuper aufmerksam geworden. Keuper versteht den Namen seines Blogs als eine Reverenz an den Wissenschaftsphilosophen Ludwik Fleck.

Aus der Blogroll gestrichen:
Den Beck-Blog allein schon, weil es sich um einen Megablog handelt. Aus diesem Grunde fehlt auch der Verfassungsblog.
Gestrichen habe ich auch den Becker-Posner Blog. Nach dem Tode von Gary Becker 2014 hat Posner den Blog eingestellt.
Der Legal Informatics Blog macht Pause und fällt daher bis auf weiteres aus der Blogroll.
PrawfsBlawg ist mir schon zu professionell, unübersichtlich und amerikanisch und wird daher gestrichen.
Telepolis finde ich zwar gelegentlich ganz interessant, ist aber wohl doch schon zu weit von Rechtssoziologie und Rechtstheorie.

Eigene Veröffentlichungen:
Rechtssoziologie als Grundlagenwissenschaft für das öffentliche Recht. Konjunkturen und Flauten, in: Andreas Funke u. a. (Hg.), Konjunkturen in der öffentlich-rechtlichen Grundlagenforschung, Tübingen: Mohr Siebeck 2015, S. 65-102.
Rezension von Julia M. Eckert, Brian Donahoe, Christian Strümpell und Zerrin Özlem Biner (Hrsg.), Law Against the State, Ethnographic Forays into Law’s Transformations, Cambridge: Cambridge University Press, 2012, Zeitschrift für Rechtsoziologie 35, 2015, S. 157-161.
Rezension von Andrea Behrends/Richard Rottenburg/Sung-Joon Park (Hg.), Travelling Models in African Conflict Management, 2014, Zeitschrift für Rechtssoziologie 35, 2015, 301-312. Replik von Andrea Behrends, Sung Joon-Park und Richard Rottenburg, ebd. S. 313-317.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Heft 1, 2015, 23-29.

Ähnliche Themen

Frische Brötchen für die Rechtssoziologie

Jeder kennt ihn, den Backautomaten im Bäckerladen mit der Aufschrift MIWE. MIWE steht für die Michael Wenz GmbH, den wohl wichtigsten deutschen Hersteller von Bäckereimaschinen. Edgar Michael Wenz (1918-1997) hatte als Gebirgsjäger am 2. Weltkrieg teilgenommen (und dabei ein Bein verloren). Nach dem Kriege hatte er Jura studiert, promoviert und war als wissenschaftlicher Assistent tätig, bis er 1951 den 1919 gegründeten väterlichen Backofenbau in Arnstein übernahm und ihn zu einem weltweit tätigen Industrieunternehmen entwickelte. Über die erfolgreiche Tätigkeit als Unternehmer hat er seine Anfänge in der Universität nicht vergessen. Nachdem sein Unternehmen gefestigt war, begann er ab 1980 zunächst als Lehrbeauftragter und später als Honorarprofessor an der Universität Würzburg Rechtssoziologie zu unterrichten. 1984 startete er gemeinsam mit den Professoren Dr. Hasso Hofmann und Dr. Ulrich Weber die Reihe der »Würzburger Vorträge zur Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie«, die dann jeweils als kleine Monographien veröffentlicht wurden. 1990 gründete er eine Stiftung zur Förderung der juristischen Grundlagenfächer. Eine Wenz zugedachte stattliche Festschrift konnte erst nach seinem Tode als Gedächtnisschrift erscheinen. [1]Ulrich Karpen/Ulrich Weber/Dietmar Willoweit, Rechtsforschung, Rechtspolitik und Unternehmertum, Gedächtnisschrift für Prof. Edgar Michael Wenz, Berlin 1999. 1999 gab es in Würzburg auch ein »Gedächtnissymposion für Edgar Michael Wenz«. Daraus ist der bis heute interessante Band »Rechtssoziologie am Ende des 20. Jahrhunderts« [2]Horst Dreier (Hg.), Rechtssoziologie am Ende des 20. Jahrhunderts, Mohr Siebeck, Tübingen, 2000. entstanden. Das Erscheinen des 50. Bandes der Vortragsreihe [3]Thomas Gutmann, Recht als Kultur?, Über die Grenzen des Kulturbegriffs als normatives Argument, Nomos, 2015. Eine vollständige Auzählung aller bisher erschienen Bände der Reihe hier. und das 25-jährige Bestehen der Wenz-Stiftung gaben Anlass zu einem »Würzburger Symposion zur Zukunft von Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie«. So trafen sich denn am 26. 11. 2015 über 50 Vertreter dieser Fächer, um Vorträge von Marietta Auer [4]Rechtsphilosophie als kritische Rechtstheorie: Zur Gegenwartsaufgabe der Grundlagenfächer., Armin Engländer [5]Wozu (noch) Rechtsphilosophie? und Matthias Mahlmann [6]Rechtssoziologie, Rechtpraxis und Gesellschaftstheorie. zu hören, zu diskutieren und am Abend einer postumen Einladung von Edgar Michael Wenz ins Bürgerspital zu folgen, wo Hasso Hofmann vor allem den Teilnehmern, die ihn nicht mehr gekannt hatten, ein lebendiges Bild des Mäzens vor Augen stellte. Das alles geschah auf Initiative und unter der ebenso perfekten wie freundlichen Regie von Horst Dreier als Mitherausgeber der »Würzburger Vorträge« und Vertreter der Wenz-Stiftung.

Ich war nicht fleißig genug, um ein Referat der Vorträge mitzubringen. Umstürzendes habe ich jedenfalls nicht vernommen. Auer zeichnete Entwicklungen der Rechtstheorie nach, die zum Oberbegriff geworden sei und sich bunt-eklektizistisch entwickelt habe. Sie konstatierte eine Fragmentierung der Rechtstheorie durch außerphilosophische Interdisziplinarität und eine Entwicklung hin zu einem allgemeinen Teil der Dogmatik. Die Gegenwartsaufgabe der Rechtsphilosophie beschrieb sie als die einer kritischen Rechtstheorie mit Auslegungs- und Aufklärungsfunktion, Import-, Brücken- und Begrenzungsfunktion. Die auf 30 Minuten limitierte Vortragszeit reichte freilich nicht, um (mir) klar zu machen, wie sich diese Funktionen konkretisieren könnten. Auer stieß auf viel Zustimmung. Problematisiert wurde nur das Verhältnis zur Fachphilosophie. Engländer wurde in der Diskussion eher kritisiert, weil er die Debatte über die Dichotomie von Kognitivismus und Non-Kognitivismus zugunsten des letzteren für erledigt erklärte, um sodann für eine sozialtechnologische Betrachtungsweise im Sinne Hans Alberts zu plädieren. Auch ohne normativen Ansatz, so meinte er, gingen der Rechtsphilosophie die Aufgaben nicht aus. [7]An der Diskussion habe ich mich nicht beteiligt. Ich teile den nichtkognitivistischen Standpunkt Engländers im Hinblick auf die Richtigkeit von Recht und Moral. Aber deshalb erschöpft sich die … Continue reading Mahlmann zeichnete ein ausgewogenes Bild der Möglichkeiten von Rechtssoziologie, um am Ende diesem Fach eine quasi-naturrechtliche Rechtfertigung für eine universale Modernisierung im Sinne einer demokratisch legitimierten, verfassungsmäßig gebundenen, auf Menschenrechte ausgerichteten und international eingebundenen Rechtsstaatlichkeit abzugewinnen. Rottleuthner sah darin anerkennend das Recht als Teil des objektiven Geistes gewürdigt.

Das waren kleine, aber frische Brötchen, die von Helmuth Schultze-Fielitz als Moderator elegant serviert wurden.

Nachtrag vom 3. 12. 2015: Im Text habe ich einen mißverständlichen Satz geändert und eine Fußnote hinzugefügt. Zum Thema passend soeben erschienen: Marietta Auer, Der Kampf um die Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft – Zum 75. Todestag von Hermann Kantorowicz, ZEuP 2015, 773-805.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Ulrich Karpen/Ulrich Weber/Dietmar Willoweit, Rechtsforschung, Rechtspolitik und Unternehmertum, Gedächtnisschrift für Prof. Edgar Michael Wenz, Berlin 1999.
2 Horst Dreier (Hg.), Rechtssoziologie am Ende des 20. Jahrhunderts, Mohr Siebeck, Tübingen, 2000.
3 Thomas Gutmann, Recht als Kultur?, Über die Grenzen des Kulturbegriffs als normatives Argument, Nomos, 2015. Eine vollständige Auzählung aller bisher erschienen Bände der Reihe hier.
4 Rechtsphilosophie als kritische Rechtstheorie: Zur Gegenwartsaufgabe der Grundlagenfächer.
5 Wozu (noch) Rechtsphilosophie?
6 Rechtssoziologie, Rechtpraxis und Gesellschaftstheorie.
7 An der Diskussion habe ich mich nicht beteiligt. Ich teile den nichtkognitivistischen Standpunkt Engländers im Hinblick auf die Richtigkeit von Recht und Moral. Aber deshalb erschöpft sich die Aufgabe der Rechtsphilosophie m. E. nicht in analytischen und sozialtechnologischen Erwägungen. Die Rechtsphilosophie muss darüber hinaus – so klang es auch in der Diskussion an – einen Reflexionsbedarf erfüllen, und sie hat außerdem in moralischen Fragen eine Diskursfunktion im Sinne Foucaults, soll heißen, dass moralische »Wahrheiten« mit Hilfe der Rechtsphilosophie festgezurrt (und irgendwann wieder verworfen) werden. Die Frage ist, ob die Wahrnehmung dieser Aufgaben von der Rechtsphilosophie nur beobachtet werden kann – das ist wohl der Standpunkt Engländers – oder ob deren Erfüllung selbst Rechtsphilosophie genannt werden soll.

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Das Motto des Freirechts: »Non ex regula ius sumatur, sed ex iure quod est regula fiat«

Der letzte Einrag zu casus und regula schloss mit Frage nach der verbindlichen Kraft von Juristenrecht in Rom.

Ähnlich wie heute in Deutschland hatten Urteile in Rom keine präjudizielle Wirkung. [1]Max Kaser, Das Urteil als Rechtsquelle im römischen Recht, in: ders., Römische Rechtsquellen und angewandte Juristenmethode, 1986, 42-64; Fritz Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, … Continue reading. Aber das folgte eigentlich schon daraus, dass die Richter Laien waren und die rechtliche Beurteilung ihrer Fälle aus den Responsen und Consilien der Juristen bezogen. Letzlich war es die Autorität der Juristen, die ihren Entscheidungsvorschlägen Kraft verlieh. Diese Autorität bezogen sie aber aus ihrer Kennerschaft der Vorentscheidungen. Aus solcher Kennerschaft folgte eine gleichförmige und sichere Übung mit der Konsequenz, das »das Recht als solches weitgehend den Charakter allgemeiner Rechtssätze« [2]Wolfgang Waldstein/Johannes Michael Rainer, Römische Rechtsgeschichte, 11. Aufl. 2014, S. 45 Rn. 21. gewann. Anders sieht es Kaser, wenn er schreibt (S. 54f), zwar hätten die »römischen Juristen zum Zweck vereinfachter Darstellung aus vielfacher übereinstimmender Fallpraxis nicht selten gegenständlich meist eng begrenzte Regelsätze« gebildet. Doch diese Regeln hätten nur die Ergebnisse der Fallpraxis zusammengefasst, das heißt also sie hätten keine normative Geltung gehabt. Nun fällt es wohl leichter, im (neuen) Einzelfall von einer bloß induktiv aus (alten) Einzelfällen gewonnenen Regel abzuweichen, als von einem abstrakt verkündeten Gesetz, das mit dem Anspruch auf Befolgung daher kommt. Aber die faktische Folgebereitschaft ist mehr als ein Faktum. Modern gesprochen hört sie auf den Namen Rechtsprechungspositivismus. [3]Namensgebung angelehnt an Schlinks »Bundesverfassungsgerichtspositivismus«; vgl. Christoph Schönberger, Bundesverfassungsgerichtspositivismus – Zu einer Erfolgsformel Bernhard Schlinks, in: … Continue reading Auf Rom bezogen müsste sie Juristenpositivismus heißen.

Dem scheint das Paulus-Zitat im Wege zu stehen. Man kann versuchen, die übliche Lesart und damit das (römische) Regelproblem wegzuinterpretieren. Eine grober Versuch würde das Zitat für in sich unstimmig erklären, weil rerum narratio und causae coniectio sich auf die Sachlage beziehen und nicht auf die Rechtslage. Feiner hat es Richard Böhr versucht. [4]Das Verbot der eigenmächtigen Besitzumwandlung im römischen Privatrecht, 2002, 47ff. Er meint, ius und regula seien auch für Paulus keine Gegensätze gewesen, die regula vielmehr Bestandteil des ius. Deshalb gebe die Paulus-Stelle nichts dafür her, dass juristische Urteile nur induktiv aus der Beurteilung von Fällen gewonnen worden seien. Die Römer hätten praktisch zwei Wege gekannt, um regulae iuris zu gewinnen, nämlich induktiv aus mehreren Entscheidungen und durch Verallgemeinerung besonders überzeugender Einzelfallentscheidungen. Ohne solche Abstraktionen zur Regel könne man sich die Juristenarbeit nicht vorstellen.

Okko Behrends tritt auch hier wieder mit einer prägnanten These hervor: Die Lesart, die den Vorrang des Rechts vor der Regel betont, beruhe auf einer »romantisierenden Heroisierung« der klassischen römischen Jurisprudenz durch die Freirechtsschule, auf die die moderne Romanistik, insbesondere in der Person von Max Kaser, hereingefallen sei. [5]Von der Freirechtsbewegung zum konkreten Ordnungs-und Gestaltungsdenken, in: Ralf Dreier/Wolfgang Sellert (Hg.), Recht und Justiz im »Dritten Reich«, 1989, 34-80, S. 45-50. Zuvor habe man den Satz des Sabinus so verstanden, »daß eine einzelne Rechtsregel immer nur als Ausdruck des gesamten in Betracht kommenden Rechts gilt und daher, wo immer nötig, aus dem gesamten Recht zu korrigieren sei.« [6]Ebd. S. 49.

»Durch den Kunstgriff, das ›ius quod est‹ nicht mehr als die Gesamtheit der in Betracht kommenden Normen der Rechtsordnung, also als vorweg festliegendes Recht im allgemeinen Sinne zu verstehen, sondern auf das Recht des Einzelfalls, auf das Recht der entschiedenen Einzelfälle oder noch konsequenter auf das im Lebensverhältnis des zur Entscheidung stehenden Einzelfalls wirkende Recht zu beziehen, wurde dieser Ausspruch mit großer bis heute andauernder Wirkung zum Programmsatz einer als vorbildlich angesehenen induktiven, nur aus der Erfahrung schöpfenden, und intuitiven, den Umweg über abstrakte Begriffe verschmähenden Rechtsfindung, wie sie das Freirecht den Römern, dem klassischen Juristenvolk, beimaß.« (S. 49f.)

In der Tat scheint der von Paulus angeführte Satz des Sabinus zum Motto der Freirechtsschule geworden zu sein. Lombardi Vallauri meint:

»Wohl das beliebteste Zitat der Freirechtler ist der Spruch des Paulus: non ex regula jus sumatur, sed ex jure quod es regula fiat.« [7]Luigi Lombardi Vallauri, Geschichte des Freirechts, 1971, S. 106.

Lombardi Valluri gibt dazu keine Nachweise, und ich habe nicht weiter nachgeforscht. Okko Behrends verweist auf Eugen Ehrlich und zitiert in Fußnote 46 auf S. 49 aus »Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft«:

»Es beruhen nicht die Entscheidungen auf den Rechtsregeln, sondern die Rechtsregeln werden aus Entscheidungen gezogen. Das Recht, auf dem die Entscheidungen beruhen, ist das ius quod est.« [8]Eugen Ehrlich, Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft, 1903, S. 11 – nicht wie von Behrends angegeben S. 3 –, wieder abgedruckt in: ders., Recht und Leben. Gesammelte Schriften zur … Continue reading.

Aber wenn Ehrlich sich hier auf Paulus/Sabinus bezieht, so kaum, um daraus unmittelbar eine Rechtfertigung für die freie Rechtsfindung abzuleiten. Eher ist das Gegenteil der Fall. Ehrlich war ganz und gar nicht der Auffassung, die römischen Juristen hätten den Umweg zur Rechtsfindung über abstrakte Begriffe und Regeln verschmäht. Vielmehr betont er 1903 – und ebenso zehn Jahre später in dem Kapitel über »Die römische Jurisprudenz« in seiner »Grundlegung der Soziologie des Rechts« von 1913 (dort S. 197-217), dass die außerordentliche Leistung der Römer darin bestanden habe, aus vielen Einzelfallentscheidungen zu allgemeinen Regeln vorzustoßen. Mir scheint, dass Behrends die Differenz zwischen dem »lebenden Recht« und den »Entscheidungsnormen«, die den Kern der Rechtssoziologie Ehrlichs ausmachen, vernachlässigt hat. Bei der Suche nach der regula im römischen Recht geht es um die von Ehrlich so genannten Entscheidungsnormen, und Ehrlich bewundert die römischen Juristen gerade dafür, dass sie das lebende Recht so trefflich in Entscheidungsnormen umgesetzt haben. Und nebenbei erfährt man von Ehrlich beinahe noch mehr über die Regelbildung bei den Römern als in den bisher von mir herangezogenen Texten:

» … auf welchem Wege die Ansichten der Juristen zu einem Bestandteil des vor Gericht verbindlichen Rechts, des ius civile, wurden, … lehrt wohl ein Blick auf die uns erhaltene juristische Literatur. Der Jurist führt seine Ansicht meist sehr bescheiden ein: et puto, magis arbitror, sed magis sentio, aequius est, magis est; nur sehr selten kommen so kräftige Wendungen vor wie existimo constituendum. Daran knüpft die disputatio an, nicht mehr auf dem Forum, sondern in der Literatur: et magis placuit, sed magis visum est, et magis putat Pomponius … et ego puto, secundum Scaevolae sententiam quam puto veram, et magis admittit (Marcellus) tenere eum, et est aequissimum, oder auch mit einer Ablehnung: quae sententia vera non est et a multis notata est, nec utimur Servii sententia; bis sich schließlich die Regel festsetzt: maiores constituerunt, Cassii sententia utimur, Labeo scribit eoque jure utimur, et hoc et Julianus admittit eoque iure utimur, haec Quintus Mucius refert et vera sunt, abolita est enim quorundam veterum sententia. Erst wenn man von einer Regel, die von einem Juristen angesprochen wird, sagen konnte: eoque iure utimur hat sie sich endgültig durchgekämpft.« [9]Grundlegung S. 214f.

Nur auf einem höchst modern anmutenden Umweg rechtfertigt Ehrlich die »freie Rechtsfindung«, nämlich weil die zunächst bei den Römern anzutreffende und mit der Rezeption in die Neuzeit übernommene Idee der Lückenlosigkeit »nie etwas anderes gewesen [sei] als ein Scheingebilde der juristischen Technik« [10]1903 S. 6 = 1967 S. 176.

Ich glaube eher, dass die Paulus-Stelle so gemeint war, wie sie üblicherweise verstanden wird. Dann schließt sich aber die Frage an, ob es sich dabei nur um die affirmative Wiedergabe der Meinung des Sabinus handelt oder ob der Sabinus zugeschriebene Satz die römische Rechtspraxis zutreffend wiedergibt. Der Eindruck, das römische Recht sei reines Fallrecht, geprägt von Judiz oder Urteilskraft, geschaffen aus Intuition oder kraft natürlicher Vernunft (naturaliter ratione) in Verbindung mit der auctoritas der Juristen mag dadurch entstanden sein, dass die meisten überlieferten Fallbeurteilungen nicht mit Gründen versehen sind. Horak hat jedoch gezeigt, dass dieser Eindruck trügt. Tatsächlich haben die Römer so viele Begründungen geliefert, dass er sagen kann:

»Nicht arational und autoritär, wie Schulz glauben machen will, sondern sowohl rational als auch autoritär müssen wir uns die römische Jurisprudenz denken. Sie wird sich darin von unserer heutigen Jurisprudenz nicht allzusehr unterschieden haben, in der oft genug neben den Gründen das Ansehen eines Autors eine entscheidende Rolle spielt.« (S. 75f)

Danach scheint mir, dass man die Sache zwar nicht an der Vokabel regula festmachen darf, dass es aber in der Tat unvorstellbar ist, dass die römischen Juristen keine aus Erfahrung und Überlegung gebildeten Regeln im Kopf gehabt hätten.

Von der römischen unterscheidet sich die moderne Diskussion dadurch, dass meistens einschlägige ausformulierte Normen vorhanden sind. Das hat zur Folge, dass man sich (nur noch) darüber streitet, ob überhaupt vorgängige Regeln möglich sind, denen sich durch Subsumtion eine Entscheidung entnehmen lässt (lex ante casum), oder ob das, was als Rechtsanwendung erscheint, letztlich produktive Rechtserzeugung ist (lex in casu). [11]Zu diesem Gegensatz zwischen einer semantischen und einer konstruktivistischen Schule der Methodenlehre der Eintrag vom 6. Marz 2012 »Postmoderne Methodenlehre I«. Sehr groß ist der Fortschritt nicht. Um es mit dem Schlusswort von Horaks »Rationes Decidendi« zu sagen:

»Wenn die kleine Stichprobe indes nicht sehr trügt, dann zeigt sich, daß seit den Tagen der ausgehenden römischen Republik die Jurisprudenz zwar an Selbsterkenntnis und Selbstkritik ihren Methoden gegenüber sehr viel weiter gekommen ist, daß aber die juristische Praxis und zum Teil auch die Rechtslehre nicht wesentlich anders arbeiten, als es die römischen Juristen getan haben. Es ist zu bezweifeln, ob angesichts der unvermeidlichen Wertungen, ohne die die Jurisprudenz nicht zu existieren vermag, ein höherer Grad an Wissenschaftlichkeit erreicht werden kann. Die römische Jurisprudenz ist groß, weil sie diesen Standard an möglicher Wissenschaftlichkeit schon vor zweitausend Jahren erreicht hat.«

Nach einer langen Periode des Regelskeptizismus darf man heute wohl wieder sagen: Regeln haben Bedeutung und lassen sich anwenden, auch wenn jede Anwendung in irgendeiner, oft minimalen Weise auf die Regel zurückwirkt, indem sie die Regel festigt oder verändert. Nicht alle, aber viele Fälle fordern die Regel heraus, so dass sie im Zuge der Anwendung »übersetzt« wird. [12]Zur Universalität der Interpretationsfähigkeit aller Kommunikation vgl. die Einträge Travelling Models VII: »No transportation without transformation« und »Zur Konvergenz von … Continue reading So war es auch schon bei den Römern. Das moderne Regelverständnis wird jedoch durch einen Gesichspunkt mitbestimmt, der den Römern noch fremd war. Zentral für Kants Freiheitsphilosophie und Ethik ist die Idee, dass man sich sittliches Handeln immer so vorzustellen hat, dass es einer Regel folgt. In die Jurisprudenz findet diese Vorstellung über den Grundsatz der Rechtsanwendungsgleichheit Eingang. Rechtsanwendungsgleichheit setzt die Bereitschaft voraus, auch neuartige Fälle, für die eine Regel fehlt, stets unter dem Gesichtspunkt einer für alle gleichartigen Fälle gültigen Regel zu entscheiden, mag diese Regel auch erst im konkreten Fall zum ersten Mal aufgestellt und als solche nicht einmal ausgesprochen werden. [13]Darauf baut unsere Darstellung der Methodenlehre (Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 604. 665f).

Luhmann hat sich an der Stelle, die Anlass der Überlegungen zu casus und regula war [14]Eintrag vom 20. August 2015: Casus und regula., dem sabinianischen Standpunkt vom Vorrang des Rechts vor der Regel angeschlossen. Damit folgt er kritiklos der freirechtlichen Okkupation des Paulus/Sabinus-Zitats, nach der die regula nicht mehr ist als ein unverbindlicher Entscheidungsvorschlag, dem kein darüber hinausgehender normativer Wert zukommt.

Dieser Ausgangspunkt ist zu brüchig für Luhmanns weitergehende These, im römischen Rechtsdenken habe die Regel selbst als Bedingung für die daraus abzuleitende Entscheidung keiner sie legitimierenden Rechtsquelle bedurft. [15]Das Recht der Gesellschaft S. 523; Zitat am Beginn des Eintrags »Casus und Regula«. Sie lässt sich schwerlich halten. Zwar gab es in Rom keine abstrakte Rechtsquellenlehre, aber durchaus handfeste Vorstellungen von verbindlichen Rechtsquellen, die sich freilich im Laufe der Jahrhunderte verändert haben. [16]Abel Hendy Jones Greenidge, Introduction: Institutes of Roman Law, 1904; Max Kaser, Zur Problematik der römischen Rechtsquellenlehre [1978], wieder abgedruckt in ders., Römische Rechtsquellen und … Continue reading Das zeigt der so genannte Rechtsquellenkatalog des Gaius: Constant autem iura populi Romani ex legibus, plebiscitis, senatus consultis, constitutionibus principum, edictis eorum, qui ius edicendi habent, responsis prudentium. Rechtsquelle im soziologischen Sinne war anfangs vor allem die legitimierende Kraft der Tradition und die Autorität der Juristen, die sich ursprünglich aus dem Priesteramt ableitete. Später kamen Senat, Prätoren und Gerichtsmagistrate hinzu, in der Kaiserzeit dann selbstverständlich der Kaiser und die von ihm abgeleiteten Autoritäten, etwa der Juristen, die das Recht zu respondieren hatten. Und es gab auch innerhalb der Juristen reflektierende Überlegungen zur Rechtfertigung des Rechts. Dazu kursierten etwa Begriffe wie natura und aequitas, consuetudo und auctoritas, mos majorum und ius moribus introductum, voluntas populi oder gar tacitus consensus populi. Ohnehin passt Luhmanns Satz, »daß die Regel selbst als Bedingung für die daraus abzuleitende Entscheidung (k)einer sie legitimierenden Rechtsquelle« bedurft hätte, nicht so ganz zu der von ihm in Fn. 70 auf S. 523 angeführten Paulus-Zitat »non ex regula ius sumatur«. Eine Regel, die es gar nicht gibt, braucht auch keine Legitimation. Doch dann verlagert sich das Legitimationsproblem auf die Entscheider.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Max Kaser, Das Urteil als Rechtsquelle im römischen Recht, in: ders., Römische Rechtsquellen und angewandte Juristenmethode, 1986, 42-64; Fritz Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, 1961, S. 72.
2 Wolfgang Waldstein/Johannes Michael Rainer, Römische Rechtsgeschichte, 11. Aufl. 2014, S. 45 Rn. 21.
3 Namensgebung angelehnt an Schlinks »Bundesverfassungsgerichtspositivismus«; vgl. Christoph Schönberger, Bundesverfassungsgerichtspositivismus – Zu einer Erfolgsformel Bernhard Schlinks, in: Freundesgabe für Bernhard Schlink zum 70. Geburtstag, 2014, 41-49.
4 Das Verbot der eigenmächtigen Besitzumwandlung im römischen Privatrecht, 2002, 47ff.
5 Von der Freirechtsbewegung zum konkreten Ordnungs-und Gestaltungsdenken, in: Ralf Dreier/Wolfgang Sellert (Hg.), Recht und Justiz im »Dritten Reich«, 1989, 34-80, S. 45-50.
6 Ebd. S. 49.
7 Luigi Lombardi Vallauri, Geschichte des Freirechts, 1971, S. 106.
8 Eugen Ehrlich, Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft, 1903, S. 11 – nicht wie von Behrends angegeben S. 3 –, wieder abgedruckt in: ders., Recht und Leben. Gesammelte Schriften zur Rechtstatsachenforschung und zur Freirechtslehre, 1967, S. 170-202, dort S. 180.
9 Grundlegung S. 214f.
10 1903 S. 6 = 1967 S. 176
11 Zu diesem Gegensatz zwischen einer semantischen und einer konstruktivistischen Schule der Methodenlehre der Eintrag vom 6. Marz 2012 »Postmoderne Methodenlehre I«.
12 Zur Universalität der Interpretationsfähigkeit aller Kommunikation vgl. die Einträge Travelling Models VII: »No transportation without transformation« und »Zur Konvergenz von Rezeptionsästhetik und Reader-Response-Theorie«.
13 Darauf baut unsere Darstellung der Methodenlehre (Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 604. 665f).
14 Eintrag vom 20. August 2015: Casus und regula.
15 Das Recht der Gesellschaft S. 523; Zitat am Beginn des Eintrags »Casus und Regula«.
16 Abel Hendy Jones Greenidge, Introduction: Institutes of Roman Law, 1904; Max Kaser, Zur Problematik der römischen Rechtsquellenlehre [1978], wieder abgedruckt in ders., Römische Rechtsquellen und angewandte Juristenmethode, 1986, 9-41.

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Casus und regula: Die Hellenismuskontroverse

Dies ist eine Fortsetzung des Eintrags über »Casus und Regula« vom 20. 8. 2015.

»Non ex regula ius sumatur, sed ex iure quod est regula fiat«, so lautet nach dem Paulus-Zitat des Pomponius die Position der Sabinianer. Dieser Satz trägt so viel Betonung, dass es eine Gegenposition gegeben haben muss. Die findet Peter Stein [1]Peter Stein, Interpretation and Legal Reasoning in Roman Law, Chicago-Kent Law Review 70, 1995, 1539-1556, S. 1553f. Grundlegend Steins Monographie Regulae Iuris, From Juristic Rules to Legal Maxims, … Continue reading bei Labeo:

»The late republican jurists, particularly Quintus Mucius Scaevola, tried to state the civil law in a series of definitiones, which were seen as summary descriptions of the law as revealed in practice. Labeo introduced a new word, regula, as an alternative to definitio. He took this word from grammatical language, where it had decidedly analogist overtones. A regula was something more than a definitio. It was a normative proposition which governed all situations which fell within its rationale. In contrast with definitio, which looked to the past, a regula looked to the future since its ratio was applicable to many cases which had not yet arisen.«

Danach scheint es, als habe Labeo das Konzept der regula eingeführt, die zwar ursprünglich an einem Einzelfall gewonnen wurde, die dann aber als allgemeine Norm Geltung hatte. Aber, so Nörr (S. 31):

»Es ist auffällig, daß es regulae gibt, die in die republikanische Zeit zurückreichen, daß der Ausdruck regula selbst aber in den Juristenschriften frühestens bei Sabinus (Paul. 50.17.1), also etwa in der Mitte des 1. Jahrh. n. Chr., bezeugt ist.«

In diesem Sinne betont Schmidlin [2]Bruno Schmidlin, Horoi, pithana und regulae – Zum Einfluß der Rhetorik und Dialektik auf die juristische Regelbildung, in: Hildegard Temporini/Wolfgang Haase (Hg.), Aufstieg und Niedergang der … Continue reading, dass regula in der frühen Prinzipatszeit noch gar kein technischer juristischer Begriff gewesen sei.

»In der Bedeutung der Einzelregeln scheinen sich die regulae erstmals in der Grammatik eingebürgert zu haben, und zwar offensichtlich in Anlehnung an den griechischen Terminus canon, der auch im Plural, canones, im Sinn von ›Einzelregeln‹ verwendet wird. Auch in dem methodologisch wenig gefestigten Vokabular der Juristen haftet dem Wort regula eine bildhafte Unbestimmtheit an. Noch Celsus bezeichnet die catonianische Regel ganz unbefangen bald als regula, bald als definitio, während der Jurist Maecenius sententia dafür verwendet.« [3]Schmidlin S. 117f.

An dieser Stelle zeigt sich schon, dass die Ausgangsfrage nach dem Verhältnis von casus und regula verfehlt war, denn sie beruht auf dem Vorurteil, die römischen Juristen hätten in der gleichen Weise von regula geredet wie der moderne Jurist von der Regel im Sinne einer Rechtsnorm. [4]Nörr, SZ 89,1972, S. 36; Richard Böhr, Das Verbot der eigenmächtigen Besitzumwandlung im römischen Privatrecht, Ein Beitrag zur rechtshistorischen Spruchregelforschung, 2002, 49f.

Versucht man nachzufassen, greift man in das Wespennest eines Gelehrtenstreits um den Einfluss hellenistischer Philosophie auf die Jurisprudenz der späten Republik und des frühen Prinzipats. An den Fronten stehen Peter Stein und Bruno Schmidlin mit einschlägigen Monographien und abseits Okko Behrends und sein Schüler Martin Avenarius.

Behrends und ihm folgend Avenarius vertreten die Ansicht, dass die vorklassische Tradition der veteres mit der Ermordung des Quintus Mucius Scaevola 82 v. Chr. endete und nunmehr Servius Sulpicius Rufus mit der ars juris eine neue wissenschaftliche Juristentradition begründete, die auf Definitionen und Subsumtion angelegt war. »In seiner ars juris wurde die ars im Sinne des hellenistischen Wissenschaftsbegriffs als τέχνη verstanden. Mit ihr schuf Servius das Recht als regelhafte Ordnung.« [5]Martin Avenarius, Der pseudo-ulpianische liber singularis regularum, 2005, S. 88. Davon seien dann die Prokulianer ausgegangen. Diese These vom Methodenwechsel wird allerdings wohl nicht allgemein akzeptiert. [6]Boudewijn Sirks in seiner Rezension des Buches von Avenarius, Gnomon 80, 2008, S. 325-330, S. 326.

Peter Stein veröffentlichte 1966 »Regulae Juris. From Juristic Rules to Legal Maxims« und verteidigte darin die zuvor insbesondere von Fritz Schulz begründete die Ansicht, die Römer hätten unter dem Einfluss platonischer Dialektik und aristotelischer Philosophie die Jurisprudenz zu einer »hellenistischen Fachwissenschaft« ausgebaut. [7]Fritz Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, 1961, S. 45. Dagegen wandte sich insbesondere Bruno Schmidlin 1970 mit einer Arbeit »Die römischen Rechtsregeln (Versuch einer Typologie)«. [8]Dieter Nörr hat ihr 1972 einen großen Essay in der Savigny-Zeitschrift gewidmet. (Spruchregel und Generalisierung, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 89, 1972, 18-93).

Schulz (S. 44f) spricht von einer hellenistischen Periode der römischen Rechtswissenschaft beginnend mit dem Ende des Zweiten Punischen Krieges (201 v. Chr.) und endend mit der Aufrichtung des Prinzipats des Augustus (31 v. Chr.). Seine klare Position und Darstellung sei zitiert:

»Eine wesentliche Veränderung aber brachte die Übertragung der Dialektik auf die Rechtswissenschaft. Unter der dialektischen Methode verstand Platon kurz gesagt das Studium der Gattungen (genera und species). Die Gattungen sollen erkannt werden durch Trennung (differentia, διαίρεσις) auf der einen Seite und durch ›Synthese des Mannigfaltigen‹ (συναγωγή, σύνθεσις) auf der andern. Aus dem Studium der Gattungen sollen Prinzipien entwickelt werden, die für die verschiedenen Gattungen gelten und die das Verständnis der Einzelerscheinungen erschließen.« (S. 73)

Schulz weist dann darauf hin, dass die führenden Juristen mit der hellenistischen Philosophie vertraut waren, um fortzufahren: (S. 75)

»Die Verwertung der Dialektik in der Jurisprudenz führte zunächst, genau wie in den griechischen Philosophenschulen, zu einem planmäßigen Aufsuchen juristischer genera und species. Die technische Bezeichnung derartiger genetischer Trennungen ist seit Aristoteles ›διαίρεσις‹. Im Lateinischen wird das Wort wiedergegeben mit divisiones, distinctiones oder differentiae.

Nach einigen Beispielen heißt es weiter (S. 76):

»Genau den griechischen Vorbildern entsprechend arbeitet jetzt die römische Jurisprudenz. Pomponius berichtet [D.1,2,2,41]: Quintus Mucius Publii filius pontifex maximus ius civile primus constituit generatim in libros decem et octo redigendo.«

Generatim ist das Attribut, mit dem die dialektische Differenzierungsmethode gekennzeichnet wird. Sie dient den römischen Juristen dazu, System in die Kasuistik zu bringen, indem sie gleiche oder ähnliche Fälle zusammenfassen und Tatbestandselemente, die einen Unterschied machen sollen, als species davon abheben. Die Differenzierung – διαίρεσις – ist jedoch nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zur Regel. »Es gilt jetzt, für die gefundenen genera und species Prinzipien zu entwickeln.« [9]Schulz S. 77. Der Prinzipienbegriff darf hier nicht im Sinne moderner Rechtstheorie verstanden werden. Vielmehr handelt es sich um mehr oder weniger vollständige und mehr oder weniger bestimmte Rechtssätze. Prinzipien sind Grundsätze, die gemeinsam für ein genus gelten. Hier passt der von Karl Larenz geprägte Begriff der rechtssatzförmigen Prinzipien. [10]Zu diesen Röhl/Röhl, Allg. Rechtslehre, 3. Aufl. 2007, S. 284.

Daher kann Schulz fortfahren:

»Diese Prinzipien nennt die griechische Dialektik ὅροι oder κανόνες, die lateinische definitiones oder regulae. Die Übertragung der Dialektik zur Jurisprudenz führt also zur Aufstellung von regulae juris.« (S. 79)

Den Kern des Expertenstreits über die Differenz zwischen Prokulianern und Sabinianern bringt Wieacker (S. 439f) auf den Punkt, wenn er seine eigene Auffassung der von Peter Stein entgegenstellt:

»Danach scheint der weiteste klassische Begriff von regula: Juristenrecht, das durch eine abgeschlossene Diskussion als auctoritas festgestellt ist und daher der Beglaubigung durch Zitate und Argumente nicht mehr bedarf (regula tradita, vulgo dictum, definitio, constitutum). Natürlich liegt es im Wesen solcher Sätze, auf künftige Fälle unstreitig anwendbar zu sein, und die regula steht daher auch im Gegensatz zum jus singulare. [11]Verdunkelt wird der Gegensatz von Einzelfallentscheidung und Regel weiter durch das den Romanisten vertraute Begriffspaar jus commune und jus singulare. Das jus singulare unterscheidet sich vom jus … Continue reading Aber offenbar enthält regula keinen notwendigen Bezug auf eine durch wissenschaftliche Deduktion mit den Mitteln der Dialektik gewonnene Abstraktion oder Verallgemeinerung speziellerer Begriffe. Kürzer: Im Gegensatz zum Vf. [Peter Stein] glauben wir, daß bis zur nachklassischen Zeit regula mit dem Problem der rechtswissenschaftlichen Begriffsbildung durch ὅροι, γένη und εἶδη verhältnismäßig wenig zu tun gehabt hatte.«

Der Streit geht also darum, ob aus dem Einfluss aristotelischer Philosophie eine Regularjurisprudenz entstanden sei, die begonnen habe, das Recht nach genera und species zu ordnen. Noch einmal Wieacker (S. 442):

»Die klassische regula meinte mehr durch gefestigte Autorität unstreitig gewordenes Juristenrecht als zur Axiomatik hinstrebende Verallgemeinerung. Vollends an den Erfolg einer ›Wissenschaftlichen Revolution‹, die die römische Rechtstradition nach den Anweisungen der aristotelischen Wissenschaftslehre zu einem induktiv gewonnenen einheitlichen Ableitungs-zusammenhang umgestaltet hätte, glaubten wir weniger zuversichtlich als der Vf. [Stein].«

Diese von mir so genannte Hellenismuskontroverse hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der durch Theodor Viehweg ausgelösten Topik-Diskussion. Die betraf bekanntlich die Frage, ob man das zeitgenössische Recht in seiner wissenschaftlichen Verarbeitung als System begreifen könne oder ob es besser als rhetorisch-dialogisch-topische Veranstaltung zu charakterisieren sei. Auch Viehweg [12]Topik und Jurispudenz, 5. Aufl. 1974. sprach der römischen Jurisprudenz (und ebenso der modernen) Wissenschaftlichkeit im Sinne Aristotelischer Apodeiktik ab, sah in beiden aber ein anderes aristotelisches Konzept realisiert, nämlich die rhetorische Topik (Dialektik). So ist es kein Zufall, dass Franz Horak am Rande der Hellenismuskontroverse eine ebenso scharfe wie scharfsinnige Viehweg-Kritik formuliert hat. [13]Franz Horak, Rationes decidendi, Entscheidungsbegründungen bei den älteren römischen Juristen bis Labeo, 1969, 45-64. In beiden Fällen sagt man heute: Pauschalurteile sind überholt. Die Dinge sind komplex und die eine wie die andere Vorstellung ist hilfreich, um sie zu verstehen. [14]So für die Hellenismuskontroverse Schmidlin 1976, 102, und für die Topikkontroverse Agnes Launhardt, Topik und Rhetorische Rechtstheorie, Eine Untersuchung zu Rezeption und Relevanz der … Continue reading

Peter Stein und andere gehen wohl in der Tat zu weit, wenn sie bei den Römern die aristotelische Wissenschaftslehre (Apodeiktik) finden. Deren Kennzeichen besteht ja darin, dass sie eine evidente Prämisse an den Anfang setzt, aus der dann durch Deduktion weitere wahre Sätze abgeleitet werden. Davon kann aber im römischen Recht keine Rede sein. Andererseits waren die führenden Juristen mit dem Hellenismus vertraut und daher ist es

»unwahrscheinlich, daß Juristen wie Mucius Scaevola, Servius Sulpicius, Cascellius,. Trebatius, Labeo, deren dialektische Bildung von den Zeitgenossen bezeugt wird, ihr erlerntes Denken vor der Tür der Jurisprudenz ablegten, um nach Art der altväterlichen Kautelarjurisprudenz zu respondieren. … Nur gilt es, sich über das Ausmaß und die Art des Einflusses klar zu werden.« (Schmidlin 1976, 104.)

Schmidlin endet (1976 S. 127):

»Darum erfaßt regula iuris nicht nur Spruchregeln, sondern überhaupt alles, was normative Funktion übernehmen kann und dem funktionalen Sinn einer Rechtsregelung entspricht. Aber auch in den libri regularum vermischen sich die kasuistischen Leitsätze, Definitionen und Worterklärungen. Ihre methodologisch scharf gefaßten Urbilder in den horoi und pithana verschwimmen. Der Vermittlerdienst der dialektischen Aussagenlehre ist abgeschlossen, die regulae haben sich der juristischen Kasuistik assimiliert.«

Letztlich ist es wohl zutreffend, wenn James Gordley [15]James Gordley, The Jurists: A Critical History, Oxford 2013 S. 13. sagt, die Hellenismusthese

»obscure the unique contribution that the Roman jurists made, which was not to borrow from Greek philosophy, but rather to found an intellectual tradition of their own that approached problems in a different way. … Roman legal concepts were not abstract in the same way as those of Greek Philosophy. For the most part, they were taken from ordinary experience.«

Es wäre indessen zu eng, die Auffassungen römischer Juristen zum Verhältnis von Norm und Fall nur aus dem Gegensatz von Prokulianern und Sabinianern herauslesen zu wollen. Die römische Jurisprudenz ist älter. Und sie ist aus Entscheidungen geboren.

»In jeder Entscheidung ist unausgesprochen (undeclaredly) auch schon ein Prinzip für folgende Entscheidungen gegenwärtig. Mit dieser unauffälligen Feststellung des Vf. [Stein] ist schon die erste Wegkreuzung überschritten, an der sich entschied, ob es bei der irrationalen Spontaneität der Rechtsorakel, Gottesurteile oder des Medizinmannes bleiben sollte, der Sackgasse primitiver Kulturen, von der es keinen Weg in den Aufbau höherer und dauernder Gesellschaften gibt; oder ob die Entscheidung auf Vorwegnahme einer dauernden Regel menschlichen Zusammenlebens angelegt sein soll. Sich für diesen Weg entschieden zu haben, der den Weg in die nachmalige Größe des römischen Rechts eröffnete, ist ersichtlich das unermeßliche Verdienst der Pontifikaljurisprudenz.«

So Wieacker in seiner Rezension des eingangs erwähnten Buches von Peter Stein. [16]Franz Wieacker, (Rezension von) Peter Stein, Regulae Iuris. From Juristic Rules to Legal Maxims. University Press, Edinburgh 1966, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. … Continue reading Was Wieacker hier anspricht, ist die implizite Regelhaftigkeit von Entscheidungen.

Auf die erste Stufe impliziter Regelhaftigkeit folgt seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. die nächste, auf der römischen Juristen begannen, »neben der rein kasuistischen Fallbehandlung … das allgemeine Ergebnis der zahllosen Einzelentscheidungen zusammenfassend, abstrakte Rechtsregeln (regulae juris) aufzustellen«. [17]Waldstein/Rainer S. 151. »Generalisierende Rechtssätze [vom Typ nemo sibi causam possessionis ipse mutare potest] formulierten die Römer in großer Zahl.« [18]Böhr 2002, S. 2. Für diesen Vorgang hat Paul Jörs [19]Paul Jörs, Römische Rechtswissenschaft zur Zeit der Republik, I: Bis auf die Catonen. Berlin, 1888, S. 295ff. als Gegenbegriff zur Kasuistik die Bezeichung Regularjurisprudenz eingeführt. Ob diese Benennung angemessen ist, wird allerdings wiederum bestritten. Fritz Schulz meinte, sie müsse verschwinden und durch den Ausdruck »dialektische Jurisprudenz« ersetzt werden. (S. 80) Nörr (S. 19) hat andere Einwände gegen Jörs‘ Begriffsschöpfung:

»Das Wort regula sei der Juristensprache dieser Epoche noch fremd. Was Jörs unter regulae verstehe, sei unsicher. Soweit er damit die die Entscheidung tragenden Prinzipien meine, sei der Ausdruck zu weit, da jede rationale Jurisprudenz von der Verwendung solcher Prinzipien bestimmt sei. Soweit es um die Prägung von juristischen Sentenzen gehe, könne die von Jörs gemeinte Epoche vielleicht besonders produktiv gewesen sein; doch reiche einerseits diese Art der Regelbildung nicht zur Charakterisierung der Epoche aus, zum anderen sei die Verwendung von regulae auch in den folgenden Epochen der römischen Rechtswissenschaft bekannt und gewinne gerade in der Spät- und Nachklassik besondere Bedeutung.«

Man ist sich mindestens einig, dass die Juristen der späten Republik das Zivilrecht in einer Reihe von definitiones festzuhalten versuchten, die als zusammenfassende Beschreibungen der Rechtspraxis gedacht waren. Dazu kamen Abstraktionen wie die Einteilung von Sachen in corporales und incorporales (Gai. inst. 2, 14 = D 1, 8, 1, 1.). Diebstahlsobjekt war bei Scaevola nicht länger ein Pferd, sondern eine Sache. Es wurden verschiedene Formen des Besitzes unterschieden. Aber bei solchen Unterscheidungen mit Hilfe von Begriffen und Gegenbegriffen, Mengen und Teilmengen handelt es sich auf den ersten Blick nur um Differenzierungen, die heute als Schemata der Alltagslogik [20]Manfred Kienpointner, Alltagslogik, 1992, 250 ff. (Definitionsschemata, Genus-Spezies-Schemata, Ganzes-Teil-Schemata, Vergleichsschemata, Gegensatzschemata, Kausalschemata). gelten. Die Bildung unterschiedlicher species erfolgte jedoch im Hinblick darauf, dass sie jeweils unterschiedlichen Regeln gehorchen. Die Regel versteckt sich dabei hinter den Begriffen. [21]Dazu Franz Horak, Rationes decidendi, Entscheidungsbegründungen bei den älteren römischen Juristen bis Labeo, 1969, S. 56 Fn. 42: »Normative Begriffe lassen sich ja als Komplexe von Forderungen … Continue reading Ähnlich liegt es mit Rechtsinstituten. Ein Beispiel wäre die Definition der Dienstbarkeit als einer Duldungspflicht. [22]Pomponius, D 8,1,15,1 (33 ad Sab.): Servitutium non ea natura est, ut aliquid faciat quis, …, sed ut aliquid patiatur aut non faciat. Die Definition begründet nur eine unvollständige Rechtsnorm, aus der erst im Rahmen einer lex contractus Verhaltenspflichten resultieren.

Wenn man sich bei der Suche nach abstrakten Normen im klassischen römischen Recht nicht auf den Ausdruck regula kapriziert, bleibt die Suche nicht erfolglos. Aber hinsichtlich der Frage, ob ob die zahlreich überlieferten regulae als Rechtsquelle normative Bedeutung hatten, eiert die Einschätzung ähnlich herum wie die moderne Diskussion um die Rechtsqualität von Richterrecht. Von der regula wird immer wieder gesagt, sie sei ein »Konzentrat kasuistischer Rechtserfahrungen«, man könne sie mit den Leitsätzen moderner Entscheidungssammlungen vergleichen (z. B. Schmidlin 1976, 118). Noch den zaghaften Versuch Schmidlins, jedenfalls die regulae iuris civilis als »echte« Normen von den einfachen regulae als bloßen Prinzipien oder Rechtsgrundsätzen zu unterscheiden, hat Nörr (S. 38f.) verworfen. [23]Anders wiederum Franz Wieacker, Römische Rechtsgeschichte 1988, S. 593, der die Begriffsbildungen und Rechtsregeln der veteres als »ihrem Inhalt nach normativ (›präskriptiv‹)« bezeichnet und … Continue reading

[Schluss folgt bald.]

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Peter Stein, Interpretation and Legal Reasoning in Roman Law, Chicago-Kent Law Review 70, 1995, 1539-1556, S. 1553f. Grundlegend Steins Monographie Regulae Iuris, From Juristic Rules to Legal Maxims, Edinburgh 1966; vgl. auch ders., Interpretation and Legal Reasoning in Roman Law, Chicago-Kent Law Review 70, 1995, 1539-1556.
2 Bruno Schmidlin, Horoi, pithana und regulae – Zum Einfluß der Rhetorik und Dialektik auf die juristische Regelbildung, in: Hildegard Temporini/Wolfgang Haase (Hg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, 1976, 101-130.
3 Schmidlin S. 117f.
4 Nörr, SZ 89,1972, S. 36; Richard Böhr, Das Verbot der eigenmächtigen Besitzumwandlung im römischen Privatrecht, Ein Beitrag zur rechtshistorischen Spruchregelforschung, 2002, 49f.
5 Martin Avenarius, Der pseudo-ulpianische liber singularis regularum, 2005, S. 88.
6 Boudewijn Sirks in seiner Rezension des Buches von Avenarius, Gnomon 80, 2008, S. 325-330, S. 326.
7 Fritz Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, 1961, S. 45.
8 Dieter Nörr hat ihr 1972 einen großen Essay in der Savigny-Zeitschrift gewidmet. (Spruchregel und Generalisierung, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 89, 1972, 18-93).
9 Schulz S. 77.
10 Zu diesen Röhl/Röhl, Allg. Rechtslehre, 3. Aufl. 2007, S. 284.
11 Verdunkelt wird der Gegensatz von Einzelfallentscheidung und Regel weiter durch das den Romanisten vertraute Begriffspaar jus commune und jus singulare. Das jus singulare unterscheidet sich vom jus commune nicht, wie es gelegentlich den Anschein hat, dadurch, dass ersterem der Regelcharakter fehlt, sondern dass es sich nicht in das allgemeinere System des letzteren einfügt.
12 Topik und Jurispudenz, 5. Aufl. 1974.
13 Franz Horak, Rationes decidendi, Entscheidungsbegründungen bei den älteren römischen Juristen bis Labeo, 1969, 45-64.
14 So für die Hellenismuskontroverse Schmidlin 1976, 102, und für die Topikkontroverse Agnes Launhardt, Topik und Rhetorische Rechtstheorie, Eine Untersuchung zu Rezeption und Relevanz der Rechtstheorie Theodor Viehwegs, 2010. Launhardt wird allerdings der Kritik von Viehwegs Lehre durch Horak nicht gerecht.
15 James Gordley, The Jurists: A Critical History, Oxford 2013 S. 13.
16 Franz Wieacker, (Rezension von) Peter Stein, Regulae Iuris. From Juristic Rules to Legal Maxims. University Press, Edinburgh 1966, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Romanistische Abteilung, 434-443.
17 Waldstein/Rainer S. 151.
18 Böhr 2002, S. 2.
19 Paul Jörs, Römische Rechtswissenschaft zur Zeit der Republik, I: Bis auf die Catonen. Berlin, 1888, S. 295ff.
20 Manfred Kienpointner, Alltagslogik, 1992, 250 ff. (Definitionsschemata, Genus-Spezies-Schemata, Ganzes-Teil-Schemata, Vergleichsschemata, Gegensatzschemata, Kausalschemata).
21 Dazu Franz Horak, Rationes decidendi, Entscheidungsbegründungen bei den älteren römischen Juristen bis Labeo, 1969, S. 56 Fn. 42: »Normative Begriffe lassen sich ja als Komplexe von Forderungen darstellen; sie verlangen bestimmte Handlungen und verbieten andere.«
22 Pomponius, D 8,1,15,1 (33 ad Sab.): Servitutium non ea natura est, ut aliquid faciat quis, …, sed ut aliquid patiatur aut non faciat.
23 Anders wiederum Franz Wieacker, Römische Rechtsgeschichte 1988, S. 593, der die Begriffsbildungen und Rechtsregeln der veteres als »ihrem Inhalt nach normativ (›präskriptiv‹)« bezeichnet und fortfährt: »Erst in der ausgehenden Republik erscheinen als regulae und definitiones auch deskriptive Bestimmungen von Sach- und Rechtsbegriffen, die also (wie die meisten modernen ›Legaldefinitionen‹) bloße Rechtsfolgeverweisungen sind.«

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Rechtssoziologie-online steht seit 2012 im Netz, kommt aber nicht voran. Einer der vielen Gründe liegt darin, dass ich bisher den Ehrgeiz hatte, nur vollständige Para­gra­phen einzustellen. Das hat sich jedoch als zu schwie­rig erwie­sen. Nun habe ich mich entschlossen, künftig auch Para­gra­phen ein­zufü­gen, in denen nur ein­zelne Glie­derungs­punkte aus­ge­füllt sind.

Dazu gab es ein tech­ni­sches Pro­blem, das mich immer wie­der davon abge­hal­ten hat, wei­tere Texte ein­zu­stel­len, das Pro­blem näm­lich, dass die Texte – natür­lich – in Word geschrie­ben und auf­wen­dig for­ma­tiert sind, dass die For­ma­tie­rung aber bei der Über­nahme nach Word­Press ver­lo­ren ging, so dass der Text kom­plett neu for­ma­tiert wer­den musste, was unendlich mühsm ist und mit den Mög­lich­kei­ten, die der WordPress-Editor bie­tet, ohne­hin nicht zufriedenstellend gelingt. Nun habe ich wohl end­lich eine tech­ni­sche Lösung für die­ses Pro­blem gefun­den, und zwar das Plu­gin Google Doc Embed­der, mit dem sich ganz ein­fach PDFs und sogar Word-Dateien ein­stel­len las­sen, die dann am Bild­schirm im Original-Format gele­sen oder her­un­ter­la­den wer­den kön­nen. Ob Word-Datei oder PDF prak­ti­scher ist, ist mir noch nicht klar. Pro­be­weise habe ich § 10 Fou­cault und Bour­dieu als PDF eingestellt.

Auch diese tech­ni­sche Lösung ist längst nicht per­fekt. Zwar zeigt sie die exter­nen Hyper­links, nicht aber interne Ver­wei­sun­gen. Die letz­te­ren müss­ten müh­sam von Hand ein­ge­ge­ben wer­den. Außer­dem fehlt die Mög­lich­keit der Stichwortsuche. Trotzdem, so scheint mir, ein kleiner Fortschritt.

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Am 26. September fand im Landgericht Hannover der Konfliktmanagement-Kongress 2015 mit (Referenten eingeschlossen) über 300 Teilnehmern statt. Die Organisation war perfekt. Zur perfekten Organisation gehört auch die bemerkenswerte Dokumentation des Verlaufs im Internet. [1]Rückblick auf den 12. Konfliktmanagement-Kongress am 25./26.9.2015. Für das leibliche Wohl der Teilnehmer einschließlich Goodies war so überreichlich gesorgt, dass Kritik am Mediationsprojekt in weite Ferne rückte. Aber es lässt sich nicht verbergen: Die Mediation als Alternative zum Gerichtsverfahren ist ein Diffusionsflop. In der Begründung zur Zertifizierten-Mediatoren-Ausbildungs-Verordnung – ZMediatAusbV – des Verbraucherschutzministeriums war von aktuell 7500 ausgebildeten Mediatoren die Rede. Von denen wird erwartet, dass sie jährlich mindestens zwei Mediationsverfahren führen, um ihre Zertifizierung zu behalten. Reiner Ponschab, sicher einer der Kenner der Szene, meinte dazu, dass die dazu erforderlichen 15.000 Fälle im Jahr kaum erreicht werden dürften. [2]Stolpersteine aus dem Weg räumen, Online-Magazin »Dispute Resolution«, o. J. (2014).

In Hannover sollte ich bei dem Versuch helfen, eine Erklärung für die Mediationsabstinenz des Publikums zu finden. Vor zwei Jahren hatte ich insoweit vom zweiten Mediationsparadox gesprochen. Zur Erinnerung: Als Mediationsparadox hatten McEwen und Milburn [3]Craig A. McEwen/Thomas W. Milburn, Explaining a Paradox of Mediation, Negotiation Journal, 1993, 23-36. das bemerkenswerte Phänomen bezeichnet, dass die obligatorische Teilnahme an einem Mediationsverfahren die Erfolgsrate nicht wesentlich beeinträchtigt. Auch hier gilt das von mir so genannte Naturgesetz der Vermittlung, nach dem konstant etwa zwei Drittel aller Mediationsverfahren mit einer Einigung enden, wenn es gelingt, die Parteien an den Verhandlungstisch zu bringen. Als zweites Mediationsparadox bezeichne ich die Beobachtung, dass die Mediation ungenutzt bleibt, obwohl sie doch so erfolgreich, nämlich schneller, besser und billiger als Gerichtsverfahren sein soll.

Eine einfache Erklärung für diesen merkwürdigen Widerspruch ist nicht zu finden. Justus Heck (Universität Bielefeld) versuchte es mit einer Mischung aus Systemtheorie und Neoinstitutionalismus: Die Mediation sei in den letzten Jahrzehnten zu einem wissenschaftlich gestützten Weltprojekt geworden, dem sich niemand entziehen wolle, das aber nur der Außendarstellung von Justiz, Anwaltschaft und anderen Institutionen diene und nicht wirklich gelebt werde. Das mag eine bis zu einem gewissen Grade zutreffende Beschreibung der Mediationsabstinenz sein, erklärt sie aber nicht wirklich.

Auch mir fiel für diese Veranstaltung nicht mehr ein, als die bekannten Hypothesen [4]Vgl. den Eintrag vom 2. März 2010 aufzuzählen und sie geringfügig zu ergänzen. Neu erfunden habe ich eine Verbraucher- schutzhypothese und eine Entmündigungshypothese.

Nach der bekannten Streitkulturhypothese gibt es eine verbreitete kulturelle Disposition gegen Vermittlung und Kompromiss. Insbesondere wir Deutschen sagen uns selbst übertriebene Streitsucht nach. Daher betonen die Befürworter der Mediation, das Ziel aller Anstrengungen müsse eine Veränderung der Streitkultur sein. McEwen und Milburn halten entgegen, dass die Streitkulturhypothese auf einem Zirkelschluss beruhen könnte, weil die Streitkultur erst durch die Beobachtung des Streitverhaltens erschlossen werde. Das ist nicht von der Hand zu weisen, denn nun gibt es eine neue Entwicklung, die an einer verfestigten Streitkultur zweifeln lässt. Seit 2005 hat die die Zahl der Zivilprozesse ganz erstaunlich abgenommen hat, und zwar gegenüber dem Jahr 2000 bei den Amtsgerichten um über 20 % und bei den Landgerichten um knapp 15 %. [5]Prof. Christian Wolf von der Universität in Hannover hat zum Juristentag 2014 eine Zivilprozeßstatistik zusammengestellt, die einen um noch 10 % höheren Rückgang der Amtsgerichtsverfahren … Continue reading Da liegt es nahe, diesen Rückgang auf Alternativen zur Justiz zurückzuführen. Ich kenne allerdings keine Statistik, die einen vergleichbaren Anstieg der Mediationsverfahren zeigt. Um hier wirklich von einer Entlastungsfunktion der Alternativverfahren sprechen zu können, müsste man möglichst viele andere Gründe für den Rückgang der Prozessflut ausschließen.

Einen solchen Grund benennt meine Verbraucherschutzhypothese. In den Anfangszeiten der Alternativenbewegung suchte man nach einer einfachen und kostengünstigen Alternative besonders auch für Verbraucherstreitigkeiten, die nur schwer Zugang zu den Gerichten fanden. In vielen Gewerbezweigen wurden dazu so genannte Schieds- und Schlichtungsstellen eingerichtet. Aber auch die waren letztlich kein echter Erfolg. Im Laufe er letzten Jahrzehnte hat sich auf diesem Gebiet jedoch viel geändert. Das gilt zunächst für das materielle Recht, das die Rechte der Verbraucher in vieler hinsichtlich erheblich gestärkt hat mit der Folge, dass die Anbieter begründeten Beschwerden auch ohne Nachhilfe eher nachkommen. Das ist ein Gesichtspunkt, der m. E. unterschätzt wird. Die Rechtslage ist für die Verbraucher heute relativ klar und günstig. Und die größeren Unternehmen haben gelernt, dass Kulanz ein gutes Marketing ist. Außerdem gibt es jetzt für besonders streitanfällige Branchen hochkarätig besetzte Ombudsmänner und Beschwerdestellen, die viele Fälle auf sich ziehen und sie ganz überwiegend auch im Verbraucherinteresse erledigen. Das geschieht in einem objektiven Prüfungsverfahren. Mit Mediation hat das nichts mehr zu tun. Die Mediation wäre für die auf der Passivseite beteiligten Anbieter von Waren und Dienstleistungen viel zu aufwendig, fordert sie doch die Anwesenheit mindestens eines Bevollmächtigten in einer Präsenzverhandlung. [6]Eine Form des Verbraucherschutzes ist auch das Verbraucherinsolvenzverfahren. In demselben Zeitraum, in dem die Eingänge beim Amtsgericht um 20 % zurückgegangen sind, ist die Anzahl der … Continue reading

Die Entmündigungsthese – vielleicht gibt es einen prägnanteren Namen [7]Z. B. Autarkiehypothese oder Selbständigkeitshypothese. – besagt, dass Menschen sich entmündigt fühlen, wenn man ihnen zumutet, für Kompetenzen, die sie sich selbst zutrauen, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Man ist zwar durchaus bereit, sich abstrakt über Kommunikationsprobleme, Verhandlungstechniken und auch über psychische Probleme, zu informieren, ist jedoch von der eigenen Kompetenz so überzeugt, dass man sich konkret nicht gerne helfen lässt. Deshalb geht man mit eigenen Problemen nicht gerne zum Psychologen oder gar zum Psychiater. Zumal Anwälte und Geschäftsleute sind davon überzeugt, dass sie selbst kommunizieren und verhandeln können. Und wer dazu noch erlebt hat, wie schnell man in einer arrangierten Gruppe von der Prozessdynamik erfasst wird, obwohl man überzeugt war, man könne an dem Prozess bloß als Beobachter teilnehmen, der wird befürchten, durch eine Mediation irgendwie manipuliert zu werden. Solche Befürchtungen wirken, auch wenn sie nicht zutreffen.

Die von Maurits Barendrecht [8]Understanding the Market for Justice. (TISCO Working Paper Series on Civil Law and Conflict Resolution Systems, 06/2009. übernommene Transaktions- kostenhypothese habe ich noch etwas ausgebaut. Anschließend vertiefte der Psychologe Peter Fischer aus Regensburg diese Hypothese auf seine Art, indem er zunächst erklärte, etwa 70 % aller Handlungsentschlüsse seien durch Abwägung von positiven und negativen Erwartungen begründet, und sodann einige negative Erwartungen aufzählte, die mit der Aussicht auf ein Mediationsverfahren verbunden sein könnten. Dazu gehöre neben der Furcht vor dem Unbekannten des Verfahrens auch die Scheu vor einer direkten Kommunikation mit dem Streitgegner. Zu meiner Entmündigungsthese verwies Fischer auf die Psychotherapie. Auch dieses Angebot sei vor einigen Jahren in Deutschland, anders als in den USA, kaum angenommen worden. Inzwischen gebe es eine rege Nachfrage, so dass man auf Therapieplätze mehrere Monate warten müsse. Mediation könnte sich ähnlich entwickeln.

Meine vorsichtigen Hinweise, dass in der Literatur durchaus auch kritische Stellungnahmen zu Mediation zu finden seien [9]Vgl. den Eintrag »Mit harten Bandagen in die Mediation?«., führte zu keiner Nachfrage, und auch mein Fazit stieß auf taube Ohren. Als Ergebnis hatte ich festgehalten: Die angeführten Hypothesen sind mehr oder weniger plausibel. Aber keine hat für sich genommen hinreichende Erklärungskraft, und wahrscheinlich reichen auch alle zusammen noch nicht aus, um die Mediationsabstinenz zu erklären. Vor allem aber zeigen sie keinen Ausweg, wie man der Mediationsverweigerung anders als durch Druck beikommen könnte. Diesen Ausweg hat kürzlich Eidenmüller in einem großen Aufsatz in der Juristenzeitung vorgeschlagen. [10]Obligatorische außergerichtliche Streitbeilegung: Eine contradictio in adiecto?, Juristenzeitung, 2015, 539-547. Damit redet er einem m. E. unerträglichen Paternalismus das Wort (und entfernt sich von seiner früheren, relativ liberalen Stellungnahme zum Paternalismusproblem [11]Liberaler Paternalismus, Juristenzeitung 2011, 814-821; dazu der Eintrag »Kirste und Eidenmüller über Selbstbestimmungsrecht und Paternalismus«.).

Bisher konnte man sich trösten: Gut Ding will Weile haben. Der Gütegedanke braucht Zeit, um sich durchzusetzen. Heute kann man wohl sagen, dass die Zeit für einen solchen »In-the-Long-Run-Optimismus« abgelaufen ist. Die vielen Versuche, den Gütegedanken zu institutionalisieren, die im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu beobachten waren, mag man vergessen, weil die historische Kontinuität nicht gegeben ist. Aber nun sind wieder 40 Jahre vergangen, in denen aus Wissenschaft und Rechtspolitik, von Professionen und aus der Zivilgesellschaft kontinuierlich für die außergerichtliche Streitbeilegung geworben wurde. Deshalb ist es jetzt wohl an der Zeit, dass die Rechtspolitik aus dem Mediationstraum erwacht und die weitere Entwicklung den freien Kräften überlässt. Genug gefördert. Entweder die Sache lebt aus sich heraus, oder sie taugt nicht viel.

Die Justizministerin Niewisch-Lennartz hatte in ihrer Eröffnungsrede die Frage gestellt, wer denn Schuld daran trage, dass die Mediation nicht ankomme, ob es an »den« Rechtsanwälten oder »der« Justiz läge? Ob Konzepte zur Mediationsverpflichtung helfen könnten? Um eine gründliche Diskussion führen zu können, müsse man grundlegende Forschungsarbeit leisten. Bericht Kieper. Am Ende des Forums 5 stellte die Moderatorin Beatrice Rösler ein Projekt mit dem (mir) rätselhaften Namen GANDALF vor, dass von der der Deutschen Stiftung Mediation [12]Die Stiftung präsentiert sich auf einer gut gestalteten Webseite. Aber wer dahinter steckt und wer GANDOLF ist, erfährt man dort nicht. getragen wird. Mit dem Projekt soll wissenschaftlich und interdisziplinär untersucht werden, warum sich Mediation in Deutschland so schwer tut. Meinen Einwand, es sei zur Sache schon so viel geforscht, dass keine grundsätzlich neuen Einsichten zu erwarten seien, wollte niemand mehr hören. Sinnvoll wäre eine Metastudie, die die zahlreich vorhandenen Einzeluntersuchungen unter den Leitgesichtspunkten der soziologischen Diffusionstheorie ordnet und zusammenfasst.

Nun endlich zu der in der Überschrift angekündigten »Invisibilisierung« des Mediationsparadoxes. In meinem »Impulsvortrag« hatte ich McEwen und Milburn (S. 31) zitiert mit dem Satz »The paradox of mediation is that it offers disputing parties precisely what they do not want when they most need it.« und dazu ironisch angemerkt, das sei nun schon das dritte Mediationsparadox. Doch das wurde, wie der zusammenfassende Bericht über das Forum zeigt [13]Robert Glunz, Konfliktmanagementkongress 2015 – Forum 5 Warum kommt Mediation nicht an? – Kann die Wissenschaft das Paradoxon lösen?., ernst und wichtig genommen, weil, um es mit Christian Morgenstern zu sagen, »nicht sein kann, was nicht sein darf«. Irgendwie muss das (zweite) Mediationsparadox aus der Welt. Die gängige Invisibilisierungsstrategie wurde – ganz unbeabsichtigt – von Jakob Tröndle vorgetragen: [14]Das ist meine leicht missbräuchliche Verwendung seines lesenswerten Vortrags »Mediationsdefizit« – Voraussetzungen eines Problems. Das Mediationsprojekt oder – im kulturwissenschaftlichen Jargon – der Mediationsdiskurs war und ist so erfolgreich, dass die ausbleibende Nachfrage als Mediationsdefizit erscheint. Das gelte aber nur, wenn man den Blick eng auf das »idealtypische Mediationssetting« richte. Wirkung und Verbreitung von Mediation müssten »nicht eins zu eins mit den Anwendungszahlen« typischer Mediationsverfahren gleichgesetzt werden. »Mediation entfaltet ihre Wirkung auf unsere Gesellschaft wohl vorwiegend indirekt, das heißt über den Transfer, den Mediatorinnen und Mediatoren aus ihren Ausbildungen in ihre bisherigen Arbeitsfelder und auch ihre private Lebensgestaltung mitnehmen.« Damit schlug Tröndle eine Richtung ein, in die Stephan Breidenbach vorangegangen war. Von einer Jubiläumsveranstaltung »10 Jahre Master-Studiengang Mediation an der Europa-Universität Viadrina« heißt es:

»In seinem Impulsvortrag am Vorabend des Kongresses steckte Prof. Dr. Stephan Breidenbach den thematischen Rahmen ab: In einer persönlichen Rückschau betonte er insbesondere die Bedeutung des geschulten Blickes auf individuelle Interessen als ›evolutionären Schritt‹ mit gesellschaftstransformatorischer Wirkung. Bei der weiteren Entwicklung der Mediation in Deutschland müsse die Mediation über die Fokussierung auf Konflikte hinausgehen und als Verfahren zur Begleitung komplexer Entscheidungsprozesse verstanden, gelehrt und praktiziert werden. Es sei an der Zeit, dass ausgebildete Mediatoren nicht ›den Konflikt‹, sondern ›das Leben‹ als Lern- und Anwendungsfeld begriffen.«

So wird das (zweite) Mediationsparadox hinter evolutionärem Fortschritt unsichtbar gemacht.

Noch mehr Mediationsparadoxien (Nachtrag vom 17. Oktober 2015)

Erst im Anschluss an die Hannoveraner Tagung habe ich von Justus Heck den Artikel »Mediationsforschung als Selbstbeschreibung. Ein soziologischer Kommentar« gelesen, der in der Zeitschrift »Perspektive Mediation« [15]Die Zeitschrift erscheint im elibrary Verlag Österreich und ist nicht frei zugnglich. 2015 Heft 1 S. 26-31 erschienen ist. Darin stellt Heck einige Probleme der Mediation in relativ aufwendiger theoretischer Verpackung als »Paradoxien« dar. Er hält die Verpackung für notwendig, weil Selbstbeschreibungen einschließlich Reflexionsthorien immer affirmativ seien. Ob das schlechthin zutrifft, wage ich zu bezweifeln. [16]Ein Gegenbeispiel gibt ein Artikel von David A. Hoffmann, auf den Heck sich stützt: Paradoxes of Mediation, American Bar Association Magazine – Fall/Winter 2002. Dort stellt sich der Autor Hoffman … Continue reading Aber richtig ist sicher, dass die gängige Mediationsforschung affirmativ ist und daher viele Probleme nicht in den Blick bekommt. Daher ist Hecks »Fremdbeschreibung« verdienstvoll. Das Grundproblem findet Heck in dem »Paradox aus Mediatorintervention und Selbstbestimmung der Parteien«, ein anderes in der bei den Beteiligten geweckten Erwartung, es könnten nach dem Muster des »berüchtigten Orangen-Beispiels« alle ohne Zugeständnisse aus dem Verfahren herauskommen.

Das erste Heft der Zeitschrift für Rechtssoziologie soll 2016 als Themenheft zur »Soziologie der Mediation« erscheinen. Darin ist auch ein Beitrag von Justus Heck über »Den beteiligten Unbeteiligten. Wie vermittelnde Dritte Konflikte transformieren« vorgesehen. Ich habe diesen Beitrag schon gelesen, und fand das der Mühe wert, kann aber natürlich hier nichts vorweg nehmen.

2. Nachtrag vom 18. 10. 2015: Eben finde ich auf SSRN ein Manuskript von Lydia R. Nussbaum, Mediation as Regulation: Expanding State Governance Over Private Disputes, das für den Utah Law Review 2016 bestimmt ist. Nussbaum beschreibt für die USA als De-facto-Entwicklung, was Eidenmüller sich für Deutschland wünscht, die breite Institutionalisierung der Mediation als obligatorisch. Das Manuskript ist so lang, dass ich es nicht wirklich gelesen habe.

3. Nachtrag vom 17. 11. 2015: Das Bundesjustizamt hat (schon im Oktober) eine Ausschreibung zu Vergabe eines Forschungsvorhabens zum Thema »Evaluierung des Mediationsgesetzes« veröffentlicht.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Rückblick auf den 12. Konfliktmanagement-Kongress am 25./26.9.2015.
2 Stolpersteine aus dem Weg räumen, Online-Magazin »Dispute Resolution«, o. J. (2014).
3 Craig A. McEwen/Thomas W. Milburn, Explaining a Paradox of Mediation, Negotiation Journal, 1993, 23-36.
4 Vgl. den Eintrag vom 2. März 2010
5 Prof. Christian Wolf von der Universität in Hannover hat zum Juristentag 2014 eine Zivilprozeßstatistik zusammengestellt, die einen um noch 10 % höheren Rückgang der Amtsgerichtsverfahren ausweist. (Zivilprozess in Zahlen). Das liegt allerdings daran, dass er als Basisjahr 1995 gewählt hat, das Jahr mit den höchsten Eingängen überhaupt. In jedem Fall ist der Rückgang der Prozessflut bemerkenswert.
6 Eine Form des Verbraucherschutzes ist auch das Verbraucherinsolvenzverfahren. In demselben Zeitraum, in dem die Eingänge beim Amtsgericht um 20 % zurückgegangen sind, ist die Anzahl der Verbraucherinsolvenzen auf bis zu 150.000 jährlich gestiegen. Das sind wiederum fast 20 % der jährlichen Amtsgerichtsklagen. Ob und wie da ein Zusammenhang besteht, vermag ich nicht zu sagen. Ziemlich sicher ist nur: Wer Insolvenz anmeldet, wird kaum noch klagen.
7 Z. B. Autarkiehypothese oder Selbständigkeitshypothese.
8 Understanding the Market for Justice. (TISCO Working Paper Series on Civil Law and Conflict Resolution Systems, 06/2009.
9 Vgl. den Eintrag »Mit harten Bandagen in die Mediation?«.
10 Obligatorische außergerichtliche Streitbeilegung: Eine contradictio in adiecto?, Juristenzeitung, 2015, 539-547.
11 Liberaler Paternalismus, Juristenzeitung 2011, 814-821; dazu der Eintrag »Kirste und Eidenmüller über Selbstbestimmungsrecht und Paternalismus«.
12 Die Stiftung präsentiert sich auf einer gut gestalteten Webseite. Aber wer dahinter steckt und wer GANDOLF ist, erfährt man dort nicht.
13 Robert Glunz, Konfliktmanagementkongress 2015 – Forum 5 Warum kommt Mediation nicht an? – Kann die Wissenschaft das Paradoxon lösen?.
14 Das ist meine leicht missbräuchliche Verwendung seines lesenswerten Vortrags »Mediationsdefizit« – Voraussetzungen eines Problems.
15 Die Zeitschrift erscheint im elibrary Verlag Österreich und ist nicht frei zugnglich.
16 Ein Gegenbeispiel gibt ein Artikel von David A. Hoffmann, auf den Heck sich stützt: Paradoxes of Mediation, American Bar Association Magazine – Fall/Winter 2002. Dort stellt sich der Autor Hoffman selbst als Mediator vor. Ich zitiere diese Arbeit (die ich bisher nicht kannte) nach einem im Internet verfügbaren PDF.

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Berliner Rechtssoziologie-Kongress: Versprechungen gehalten

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Anmerkungen

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1 In Buchform mit ISBN-Nr. (978-907230-25-1) herausgegeben von Josef Estermann und Christian Boulanger.

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