Luhmanns Rechtsgeltungslehre: Statik und Dynamik, Prozess und Struktur

Der Eintrag vom 21. 4. 2014 endete mit der Feststellung, dass Luhmanns Theorie der Rechtsgeltung keine universale Geltung für das Rechtssystem schlechthin behauptet, sondern dass sie sich stets nur in einem Rechtssystem im engeren Sinne oder gar nur in einem Entscheidungssystem realisiert, so dass wir an unserem Ausgangspunkt, der Relativität der Rechtsquellenlehre festhalten, können. Dieser Eintrag wendet sich der Frage zu, ob das Symbol der zirkulierenden Rechtsgeltung geeignet ist, den Begriff der Rechtsquelle zu ersetzen, wie es Luhmann angedeutet hat:

»Im Anschluß an eine Terminologie, die Talcott Parsons in seiner Theorie symbolisch generalisierter Tauschmedien benutzt, kann man auch von einem im System zirkulierenden Symbol sprechen und damit die Metapher der Quelle durch die Metapher des Zirkulierens ersetzen. Wenn man eine Rechtsnorm als geltend bezeichnet, symbolisiert das mithin die Anschlussfähigkeit im System. …: Das Recht hält sich, so könnte man sagen, am Symbol der Rechtsgeltung fest und reidentifiziert sich damit von Situation zu Situation neu. Die Einheit des Systems kommt darin zum Ausdruck, dass es nur eine Geltung gibt, so wie es nur eine Währung gibt.« [1]Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 279; ähnlich, aber ohne Anspruch auf Ersatz der Rechtsquellenmetapher RdG S. 107.

Um die Einheit des Systems herzustellen gäbe es vielleicht noch andere Rezepte, z. B. Kelsens Grundnorm. Das Ergebnis wäre eine hierarchische Struktur. Struktur ist statisch. Genau davon will Luhmann wegkommen. Das Recht als Kommunikationssystem ändert »seinen eigenen Zustand von Moment zu Moment«. Es ist ständig in Bewegung:

»Das System besteht nur aus zeitgebundenen Ereignissen, nicht aus festen Bestandteilen (Atomen, Individuen) etc. Es realisiert sich in der Form dynamischer Stabilität durch geregelte Reproduktion. Als operativ geschlossenes System kann es seinen eigenen Zustand nur durch Änderung seines Zustandes bestimmen. Es muß als eine historische Maschine begriffen werden, die sich von Moment zu Moment in eine andere Maschine verwandelt, sich von Moment zu Moment neu konstruiert; und dies ausschließlich mit systemeigenen Operationen, die eine Doppelfunktion erfüllen, nämlich einerseits die Reproduktion zu vollziehen und zugleich die dafür Strukturen (Normen) zu bestimmen, zu ändern, zu vergessen.« [2]Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 279; ähnlich RdG S. 107.

Die »historische Maschine« Recht arbeitet, indem sie das Recht in der Gestalt von Rechtskommunikationen wie einen Kettenbrief anbietet. Der Empfänger kann ihn liegen lassen, ihn unverändert oder mit anderem Inhalt weiterleiten.

»Was immer sich ändert, ändert sich als Änderung des geltenden Rechts. Jede Änderung muß an den gegebenen Rechtszustand anknüpfen. Geltung heißt mit anderen Worten, daß, was immer mit dem Recht geschieht, passen muß, also eingepasst werden muß. … Geltung ist das Symbol für die Selbstreproduktion des Rechts. Und Zirkulation heißt dann nichts weiter als: daß das Geltungssymbol in jeder rechtlichen Operation, die es in Anspruch nimmt, weitergereicht werden muß, damit weitere Operationen an den dadurch gegebenen Zustand anknüpfen können.« [3]Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 1991, 273-286, S. 279f.

Hier noch einmal eine Formulierung aus RdG (S. 102):

»Wir verlagern das Problem deshalb auf die operative Ebene und sehen im Symbol der Rechtsgeltung nur den Vollzug des Übergangs von einem Rechtszustand in einen anderen, also nur die Einheit der Differenz eines vorher und nachher geltenden Rechtszustands.«

So abstrakt formuliert, kann man dem nur beipflichten. Wer wollte bestreiten, dass die (soziale) Welt sich mit jeder Sekunde, durch jede Handlung und durch jede Kommunikation, und sei es auch nur minimal, bewegt.

Der Gedanke, dass Gesetze »leben«, das heißt, dass sie durch die Praxis laufend neu »interpretiert« werden, ist auch der juristischen Diskussion nicht fremd. So ist im Untertitel von Peter Häberles bekanntem Aufsatz über »Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten« (JZ 1975, 297-305) von »prozessualer« Verfassungsinterpretation die Rede, und seine These lautet: »Wer die Norm ›lebt‹, interpretiert sie auch (mit).« Praxis bedeutet dabei nicht nur die Anwendung einer Norm in Gerichtsurteilen, sondern jede Berufung auf darauf durch Behörden und Parlamentarier, Bürger und ihre Anwälte, Sachverständige und Interessenvertreter, die Zivilgesellschaft und die Medienöffentlichkeit.

Aber mit dieser Einsicht ist wenig gewonnen. Das ist, als wenn wir uns über den Rhein informieren wollen und dazu in Köln auf einer Brücke stehen und sehen, wie darunter ständig neues Wasser fließt. Das wird auf die Dauer ziemlich langweilig. Was wirklich interessiert, sind Wassermenge und Wasserqualität, Strömungsgeschwindigkeit und Wasserstand, und zwar nicht nur für hier und heute, sondern für das ganze Jahr und für den ganzen Rhein. Was interessiert ist, mit anderen Worten, nicht die Dynamik an sich, sondern ihre Struktur. Analog steht es um das Recht.

Es hilft dem Juristen wenig, wenn die Rechtsgeltung ins Fließen gebracht wird, wenn die Unterscheidungen zwischen geltendem und deshalb anzuwendendem Recht, der Genese solchen Rechts und seiner Durchsetzung, in der historischen Maschine zermahlen werden. Mindestens vorübergehend müssen solche Unterscheidungen festgehalten werden, auch wenn man weiß, dass laufend Veränderungen stattfinden und dass auch die eigene Entscheidungstätigkeit oder gar nur das eigene Interpretationsbemühen wiederum als Mini-Bagatellvariation in das historische Geschehen eingehen. Der langen Rede kurzer Sinn: Luhmanns Theorie der Rechtsgeltung als zirkulierendes Symbol ist eine soziologische Beschreibung des Rechtsgeschehens, von der sich die praxisorientierte Reflexionstheorie des Rechts absetzen muss. Als Grundlage der Rechtsquellentheorie eignet sie sich nicht. Und das hat natürlich auch Luhmann nicht verkannt. Ich wiederhole noch einmal aus dem Zitat von RdG S. 98:

»Im Unterschied zu Reflexionstheorien … handelt es sich bei einem solchen Symbol nicht um eine Beschreibung des Systems, sondern um eine operative Funktion. Das Symbol leistet also nicht eine Verknüpfung von Beobachtungen, sondern eine Verknüpfung von Operationen – obwohl natürlich alle Operationen im System beobachtet und beschrieben werden können und somit auch das Systemsymbol selbst.«

Dieser Gesichtspunkt wird RdG S. 523 wieder aufgenommen:

»… die Frage, was denn als Recht gilt bzw. nicht gilt. Wir hatten diese Frage auf unsere Weise bereits mit der Theorie des im geschlossenen System zirkulierenden Geltungssymbols beantwortet. Aber das ist eine externe Beschreibung, keine justitiable Selbstbeschreibung des Systems. Deshalb muß man die Positivität des Rechts und den rechtstheoretischen Positivismus als im System fungierende Selbstbeschreibung unterscheiden. Der rechtstheoretische Positivismus beantwortet die Geltungsfrage mit Hilfe des Begriffs der Rechtsquelle.«

Nach einer schönen Paraphrase zur Quellenmetapher geht es S. 524 weiter:

»… wird sie zum Begriff für die begründete Geltung abstrakter rechtlicher Normen. Der theoretische Gewinn liegt auf der Hand. Der Begriff der Rechtsquelle erlaubt eine einfache Identifikation des geltenden Rechts und erspart jede weitere Frage nach der Natur des Rechts, dem Wesen des Rechts oder auch den Kriterien der Abgrenzung von Recht und Sitte, Recht und Moral.«

Für die Reflexionstheorien des Rechts und ihre Rechtsquellenlehre bedarf es danach keiner Umstellung auf »Zirkulation«.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 279; ähnlich, aber ohne Anspruch auf Ersatz der Rechtsquellenmetapher RdG S. 107.
2 Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 279; ähnlich RdG S. 107.
3 Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 1991, 273-286, S. 279f.

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Luhmanns Rechtsgeltungslehre: Ein Rechtssystem oder viele?

Wer in der Rechtstheorie etwas auf sich hält, fordert eine neue Rechtsquellenlehre. [1]Z. B. Thomas Vesting, Rechtstheorie, 2007, Rn. 184. Wie sie aussehen soll, scheint klar zu sein: heterarchisch und pluralistisch. Was das konkret bedeutet, bleibt allerdings ziemlich offen. Wir sehen bei der Überarbeitung der Allgemeinen Rechtslehre [2]Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008. noch nicht so klar, ob und wie die Rechtsquellenlehre zu erneuern ist.

Wir sind immerhin entschlossen, die Relativität der Rechtsquellenlehre zu betonen. Es gibt – so unser Ausgangspunkt – keinen universellen Rechtsbegriff, und daher gibt es auch keine universelle Rechtsquellenlehre. Die Rechtsquellenlehre ist vielmehr relativ zu dem Rechtssystem, für das sie maßgeblich sein soll. Dieses Rechtssystem wiederum wird durch ein Gerichtssystem individualisiert. Es ist die Aufgabe der Rechtsquellenlehre, den Richtern auf ihre Frage zu antworten: Wonach sollen wir judizieren? Ungeachtet aller inneren Differenziertheit betrachten wir das staatliche Gerichtssystem als eine Einheit und gelangen so zu einer Rechtsquellenlehre für eben dieses Gerichtssystem. Aus der Abhängigkeit der Rechtsquellenlehre vom Gerichtssystem folgt, dass jeder Staat über seine eigene Rechtsquellenlehre verfügt. Darüber hinaus haben staatsunabhängige und/oder übernationale Gerichtssysteme ihre eigenen Rechtsquellen.

Andererseits stehen alle Rechtsquellenlehren vor ähnlichen Problemen. Sie müssen mehr oder weniger alle die gleichen Elemente verarbeiten und deren Verhältnis zueinander klären: Staatliche Gesetze und internationale Rechtsregeln, juristische Lehrmeinungen, naturrechtliche Forderungen, richterliche Präjudizien, autonome Satzungen, administrative, technische und soziale Normen (Gewohnheitsrecht, Verkehrssitte, Handelsbrauch, Geschäftsbedingungen, betriebliche Übung) Soft Law verschiedener Provenienz und gesellschaftliche Erwartungen, kurzum das ganze Angebot, das heute unter dem Titel des Rechtspluralismus vorgestellt wird.

Die übliche Antwort auf die Frage, wonach die Gerichte judizieren sollen, lautet: Nach geltendem Recht. Damit baut die Rechtsquellenlehre auf einer Theorie der Rechtsgeltung auf. Das ist jedoch nur beschränkt hilfreich, weil das Problem der Rechtsgeltung meistens abstrakt philosophisch für das Recht schlechthin erörtert wird, also nicht im Hinblick auf ein bestimmtes abgrenzbares Rechtssystem. Zu einer Rechtsquellenlehre passen deshalb nur solche Theorien, die die Geltung der Normen gerade des Rechtssystems begründen, für das die Rechtsquellenlehre maßgeblich sein soll. Diesen Anforderungen genügen praktisch Kelsens Theorie der Grundnorm und Harts Anerkennungslehre.

Eine der Fragen, die die Rechtsquellenlehre umtreibt, ist die nach der Existenz transnationalen Rechts oder gar eines Weltrechts. Besonders in diesem Zusammenhang wird häufig die Rechtsgeltungstheorie Luhmanns herangezogen, stets affirmativ und oft als so selbstverständlich, dass nicht einmal auf ihre Quelle verwiesen wird.

»Was wir hier beobachten, ist ein sich selbst reproduzierender Rechtsdiskurs globalen Ausmaßes, der seine Grenzen durch Benutzung des binären Codes Recht/Unrecht schließt und sich selbst durch Prozessieren eines Symbols globaler (nicht: nationaler) Geltung reproduziert.« [3]Gunther Teubner, Globale Bukowina: Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus, Rechtshistorisches Journal 15, 1996, 255-290, Hier zitiert nach der Internetfassung … Continue reading.

Bei Fischer-Lescano/Teubner, Regimekollisionen, 2006, 42 ist zu lesen:

»Ein einheitliches Weltrecht reproduziert sich durch die Autopoiese von Rechtsoperationen, die … letztlich alle auf die binäre Codierung von Recht/Unrecht ausgerichtet sind. Nur gründet sich die Einheit des Weltrechts nicht mehr strukturell wie im Nationalstaat auf gerichtshierarchisch abgesicherter Konsistenz des Normgefüges, sondern bloß noch prozessual auf den Verknüpfungsmodus der Rechtsoperationen, über den auch ganz heterogene Rechtsordnungen verbindliche Rechtsgeltung transferieren.«

Und noch ein drittes Beispiel:

»Jenseits der nationalen Rechtsordnungen und des Völkerrechts ist eine neue transnationale Form des Rechts im Entstehen begriffen. … Dieses transnationale Recht ist jedoch intern fragmentiert, es entsteht im Kontext partikularer Regimes. Diese Regimes operieren zwar in einem einheitlichen Medium der Rechtsgeltung, sind aber auf der Ebene ihrer Rechtsanwendungsregeln voneinander unabhängig.« [4]Moritz Renner, Zwingendes Rechts, 2011, 293.

Ich habe nirgends eine ausführliche Darstellung und Würdigung von Luhmanns Geltungslehre gefunden. Deshalb will ich versuchen, sie mir selbst aus seinen Texten zu erschließen, und zwar vor allem unter dem Aspekt, ob diese Geltungslehre ein universelles Rechtssystem postuliert oder ob sie viele Rechtssysteme akzeptiert. Dabei ist von vornherein klar, dass Luhmanns Geltungstheorie eine soziologische Beobachtertheorie und keine juristische Reflexionstheorie bildet. Das betont Luhmann doppelt. [5]Das Recht der Gesellschaft = RdG, 1993, 98 und 523. Bei denen, die diese Theorie heranziehen ist das nicht immer so klar. Auch Luhmann selbst kann der Versuchung, aus der soziologischen Theorie Konsequenzen für die juristische Rechtsquellenlehre abzuleiten, nicht ganz widerstehen. [6]Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 282. Darauf wird zurückzukommen sein.

Keine Frage auch: Die funktionale Differenzierung der Gesellschaft in die großen Teilsysteme, von denen das Recht eines darstellt, wird bisher immer noch von der sektoriell-territorialen Differenzierung überlagert. 1971 hatte Luhmann darauf hingewiesen, es bestehe eine zunehmende Diskrepanz zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Kommunikation, die längst zur Weltgesellschaft zusammengewachsen seien, und dem positiven Recht, das immer noch innerhalb territorialer Grenzen als nationales Recht in Geltung gesetzt werde. [7]Niklas Luhmann, Die Weltgesellschaft, ARSP 57, 1971, 1-35. Die von Luhmann wiederholt betonte Einheit des Rechtssystems ist oder war die Einheit vieler nationaler Rechtssysteme. Wollten wir Luhmann folgen, so wäre die Suche nach einem universellen Weltrechtssystem müßig. Er meinte, das Rechtssystem habe sich im Hinblick auf die Erfordernisse des territorial begrenzten Nationalstaates in einem komplizierten Kopplungsverhältnis mit der Politik entwickelt, so dass schwer vorstellbar sei, wie es auf Weltebene eine Entsprechung finden könne. Die Summe seiner Rechtssoziologie, das »Recht der Gesellschaft« von 1993 endet mit der Prognose:

»Es kann daher durchaus sein, daß die gegenwärtige Prominenz des Rechtssystems und die Angewiesenheit der Gesellschaft selbst und der meisten ihrer Funktionssysteme auf ein Funktionieren des Rechtscodes nichts weiter ist als eine europäische Anomalie, die sich in der Evolution einer Weltgesellschaft abschwächen wird.«

Die Nach-Luhmann-Generation der Systemtheorie will diese Prognose nicht akzeptieren. Sie geht davon aus, dass die Weltgesellschaft ebenso wie bisher die Staaten auf das Funktionieren des Rechtscodes angewiesen sei und postuliert die laufende Schwächung der territorialen Rechtssysteme zugunsten eines transnationalen Rechtssystems. Für die Entstehung und Existenz dieses transnationalen Rechts spielt das »Symbol« oder »Medium« der Rechtsgeltung eine wichtige Rolle.
Die zentrale Textstelle, mit der Luhmann seine Geltungstheorie vorstellt, findet sich im »Recht der Gesellschaft« (RdG) 1993, S. 98:

»Ebenso wie andere Funktionssysteme verfügt auch das Rechtssystem über ein Symbol, das die Einheit des Systems im Wechsel seiner Operationen erzeugt. Im Unterschied zu Reflexionstheorien … handelt es sich bei einem solchen Symbol nicht um eine Beschreibung des Systems, sondern um eine operative Funktion. Das Symbol leistet also nicht eine Verknüpfung von Beobachtungen, sondern eine Verknüpfung von Operationen – obwohl natürlich alle Operationen im System beobachtet und beschrieben werden können und somit auch das Systemsymbol selbst. Die operative Symbolisierung setzt tiefer an als die Beobachtungen, sie ist für den Fortgang von Operation zu Operation, also für das Herstellen von rekursiven Bezügen und für das Finden von Anschlußoperationen unentbehrlich – was immer dann ein Beobachter daran zu unterscheiden und zu bezeichnen vermag. Den Begriff ›Symbol‹ wählen wir deshalb, weil es darum geht, in der Verschiedenheit der Operation die Einheit des Systems zu wahren und zu reproduzieren. Dies leistet im Rechtssystem das Symbol der Rechtsgeltung. … Ebenso wie Geld ist auch Geltung ein Symbol … ›Geltung‹ symbolisiert, … wie das Geld, nur die Akzeptanz der Kommunikation, also nur die Autopoiesis der Kommunikationen des Rechtssystems.«

Die Autopoiesis des Rechtssystems funktioniert dadurch, dass Rechtskommunikationen an Rechtskommunikationen (und nur an solche) anschließen. Rechtskommunikationen sind daran erkennbar, dass sie die Leitunterscheidung (den »Code«) von Recht und Unrecht verwenden. Schwierigkeiten bereitet (mir) zunächst die Frage, was genau es heißt, auf den Recht/Unrecht-Code zu abzustellen.

Von »Recht« zu reden genügt nicht, um sich im Rechtssystem zu bewegen. Verwende ich den Code, wenn ich ihn hier erwähne und problematisiere? Sicher nicht. Auch der Rechtshistoriker, der Rechtsentwicklungen beschreibt und deutet, hat seine Mitteilungen nicht nach Recht und Unrecht codiert.

»In der Umwelt des Rechts kann es zwar Sinnverweisungen auf das Recht geben – etwa Rechtsunterricht, Reportage über Gerichtsfälle in Zeitungen –, aber keine Operationen, die durch Zuordnung der Werte Recht bzw. Unrecht hat an der Reproduktion des Rechtssystems mitwirken.« [8]Die Codierung des Rechtssystems, Rechtstheorie 1986, 171-203, S. 178.

Recht hat eine normative Funktion, und deshalb gehört

»ins Rechtsystem selbst nur … eine Kommunikation, die eine Zuordnung der Werte ›Recht‹ und ›Unrecht‹ behauptet; denn nur eine solche Kommunikation sucht und behauptet eine rekurrente Vernetzung im Rechtssystem«. [9]RdG S. 67.

Zur Verwendung des Codes gehört also, dass der Kommunizierende eine Rechtsbehauptung aufstellt, wie trivial auch immer sie sei. Es kommt nicht darauf an, wer kommuniziert, also darauf, ob der Kommunizierende eine besondere Rolle im Rechtsystem – als Richter, Anwalt usw. – ausfüllt. Auch der Laie kann an der Rechtskommunikation teilnehmen. Es kommt auch nicht darauf an, ob der Kommunizierende ein Recht für sich in Anspruch nimmt, ein Recht für andere geltend macht oder ganz abstrakt darüber redet, dass dieses oder jenes als Recht anzusehen sei. Es kommt weiter nicht darauf an, ob aktuell geltendes Recht behauptet (oder bestritten) wird oder ob die Änderung bestimmter Normen vorgeschlagen oder gar gefordert wird. [10]RdG S. 68 So gehört eine Gesetzesinitiative des Bundesrats ebenso zur Rechtskommunikation wie ein Leserbrief, der sie kritisiert. Luhmann lässt daran eigentlich keinen Zweifel. In dem Aufsatz »Die Codierung des Rechtssystems« von 1986 [11]Rechtstheorie 17, 1986, 171-203. unterscheidet er zwischen dem von ihm gemeinten Rechtssystem und Organisationssystemen des Rechts, nämlich solchen die »mit professioneller Sachkunde durch dafür eingerichtete Organisationen Recht erkenn[en] und Entscheidungen über Recht herbeiführ[en]«. Weiter ist zu lesen

»Nicht nur der organisatorisch-professionelle Komplex, sondern alle Kommunikationen, die auf den Rechtscode Bezug nehmen, sind Operationen des Rechtssystems – gleichgültig ob es sich um bindende Entscheidungen handelt, oder um ›private‹ Rechtsbehauptungen, um kautelarische Vorsorge für Rechtspositionen oder um Versuche, sich angesichts eines drohenden Rechtsstreites zu verständigen. Alle rechtlich codierten Kommunikationen ordnen sich eben durch die Zuordnung zu diesem Code dem Rechtssystem ein. Dies kann nur entweder geschehen oder nicht geschehen, es gibt keine Halbheiten oder Zwischenzustände.« [12]S. 178..

Das ist deutlich. In Fn. 9 spricht Luhmann von der für die Theorie autopoietischer Systeme fundamentalen »Alles-oder-Nichts Annahme«. Das Rechtssystem verträgt also auch Trivialkommunikation. Doch transportiert diese auch das Symbol der Rechtsgeltung? Zweifel kommen auf, wenn zu lesen ist:

»Wir verlagern das Problem deshalb auf die operative Ebene und sehen im Symbol der Rechtsgeltung nur den Vollzug des Übergangs von einem Rechtszustand in einen anderen, also nur die Einheit der Differenz eines vorher und nachher geltenden Rechtszustands.« [13]RdG S. 102

Passt das noch für alle Rechtskommunikationen? Die Zweifel werden verstärkt, wenn es in einem älteren Aufsatz Luhmanns heißt:

»daß Ereignisse nur dann die Qualität einer Elementareinheit des Rechtssystems erhalten können, wenn sie die Rechtslage ändern. … die Selbstreproduktion des Rechts vollzieht sich als Rechtsänderung, als Übertragung der Qualität normativer Geltung auf partiell neue Erwartungen. Das Recht befindet sich mithin in ständiger Bagatellvariation, und die bewährten Großfiguren wie Vertrag und Gesetz sind nur ausdifferenzierte Formen dieses Geschehens.« [14]Die Einheit des Rechtssystems, Rechtstheorie 14, 1983, 129-154, S. 136.

Bisher war ich davon ausgegangen, dass jede Rechtskommunikation in dem oben ausgeführten Sinne eine »Elementareinheit des Rechtssystems« bildet, und zwar auch die triviale Rechtskommunikation, also etwa der Leserbrief, der zu einer rechtspolitischen Frage Stellung nimmt, oder der Jammer meines Nachbarn, das Gericht, das ihn verurteilt habe, habe falsch entschieden. Wie könnte solche Trivialkommunikation das Symbol der Rechtsgeltung pflegen? Laien können dieses Symbol immerhin in Rechtsgeschäften weiterreichen. Sonst »zirkuliert« es wohl doch eher in der professionellen Rechtskommunikation oder gar im Organisationssystem »Recht«, denn

»bei Vermehrung unkoordinierter Normprojektionen [wird] der Punkt erreicht, an dem eine quasi naturwüchsige Reflexivität im normativen Erwarten normativen Erwartens keine Lösungen mehr liefert und ersetzt werden muß durch die Ausdifferenzierung eines organisierten Entscheidungssystems im Recht, das dann die Blicke auf sich zieht und ein Netzwerk von offiziell geltenden Normen entwickelt«. [15]RdG S. 162.

Daher entsteht als

»Bedingung einer universellen und verläßlich erwartbaren Codierung nach Recht/Unrecht, im Rechtssystem ein engerer Bereich des rechtlich verbindlichen Entscheidens – sei es zur Feststellung, sei es zu zur Änderung des Rechts. Hier handelt es sich um ein organisiertes Teilsystem, das heißt um ein System, das sich durch die Unterscheidung von Mitgliedern/Nichtmitgliedern ausdifferenziert und die Mitglieder in ihrer Mitgliedschaftsrolle verpflichtet, Entscheidungen zu produzieren, die sich nach den (innerhalb der Organisation änderbaren) Programmen des Systems, also nach den Rechtsnormen richten. Wir haben für dieses Entscheidungssystem des Rechtssystems nur Bezeichnungen für die dann wieder differenzierten Subsysteme, nämlich Gerichte und Parlamente …, aber keine Bezeichnung für die Einheit dieses Systems. Wir werden deshalb von einem organisierten Entscheidungssystem des Rechtssystems sprechen« [16]RdG S. 144f.

Das Entscheidungssystem ist also ein Teilsystem des Rechtssystems überhaupt und verfügt seinerseits über diverse Subsysteme. Luhmann nennt nur Gerichte und Parlamente. Aber man wird auch Verwaltungen, die Anwaltschaft und die Rechtswissenschaft als Subsysteme dieses Teilsystems einordnen dürfen. Wenn dem so ist, das heißt, wenn das Entscheidungssystem die Gestalt von einer oder mehreren Organisationen hat, dann gibt es so viele Entscheidungssysteme wie es Gerichtssysteme gibt, nämlich mindestens in jedem Staat eines, daneben weitere im übernationalen Raum und vielleicht auch innerhalb der Staaten.

Es bleibt auch nicht dabei, dass jede Rechtskommunikation zählt, wie trivial und laienhaft sie auch immer sei. Erforderlich ist vielmehr ein qualifiziertes Rechtshandeln.

»Die wichtigste theoretische Konsequenz ist: daß Ereignisse nur dann die Qualität einer Elementareinheit des Rechtssystems erhalten können, wenn sie die Rechtslage ändern. Der Grund der Einheitszuschreibung ist eben, daß man dadurch die Differenz von Kontinuität und Diskontinuität operationalisiert und daß man daraufhin im Normalfalle hinreichend leicht und hinreichend rasch feststellen kann, was sich durch ein bestimmtes Rechtshandeln geändert hat. … die Selbstreproduktion des Rechts vollzieht sich als Rechtsänderung, als Übertragung der Qualität normativer Geltung auf partiell neue Erwartungen. Das Recht befindet sich in beständiger Bagatellvariation, und die bewährten Großfiguren wie Vertrag oder Gesetz sind nur ausdifferenzierte Formen dieses Geschehens.« [17]Die Einheit des Rechtssystems, Rechtstheorie 14, 1983, 129-154, S. 135f.

Deutlicher noch ist RdG S. 107 f:

»Nicht jede Rechtskommunikation transportiert allerdings Geltung in diesem Sinne, zum Beispiel nicht das bloße Anmelden von Rechtsansprüchen. Es muß sich um rechtswirksame Entscheidungen handeln. Diese liegen aber nicht nur in den Entscheidungen des Gesetzgebers und der Gerichte, sondern in breitestem Umfang auch in der Gründung von Korporationen und in Verträgen, die in die Rechtslage eingreifen und sie ändern. Es genügen einseitig verbindliche Erklärungen (zum Beispiel Testamente), nicht aber bloße Fakten, die Rechtsfolgen auslösen – etwa der Tod eines Erblassers oder eine strafbare Handlung. Ähnlich wie im Wirtschaftssystem die Geldzahlung ist auch im Rechtssystem der Geltungstransfer nicht identisch mit der Gesamtheit der Systemoperationen; aber es handelt sich um diejenigen Operationen, die die Autopoiesis des Systems vollziehen und ohne die die Ausdifferenzierung eines operativ geschlossenen Rechtssystems nicht möglich wäre.«

Aus dem umfassenden Kommunikationssystem des Rechts wird damit ein »Rechtssystem im engeren Sinne« [18]Gralf-Peter Calliess, Systemtheorie: Luhmann/Teubner, in: Sonja Buckel u. a. (Hg.), Neue Theorien des Rechts, 2006, 57-75, S. 62. herausgehoben. Von dem großen universellen Rechtssystem bleibt nicht viel übrig, und wir können an unserem Ausgangspunkt festhalten. Wenn wir in einer (als Reflexionstheorie des Rechts systemtheoretisch angeleiteten) Rechtstheorie von Rechtsgeltung reden, reden wir über Rechtsgeltung im Entscheidungssystem. Aufgabe der Rechtsquellenlehre ist es dann, das für ein bestimmtes Entscheidungssystem geltende Recht zusammenzustellen. Das bedeutet also, die Rechtsquellenlehre ist relativ zu dem jeweiligen Entscheidungs- bzw. Gerichtssystem. Von der »Gesamtheit der Systemoperationen« dürfen wir getrost die große Masse vergessen und uns auf die herkömmlich dem Recht zugeordneten Elemente konzentrieren.

Damit ist Luhmanns Geltungstheorie aber nicht erschöpft. Immerhin soll das zirkulierende Geltungssymbol, wie Luhmann andeutet [19]Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 279., den Rechtsquellenbegriff ersetzen und deshalb verlangt dieser Eintrag nach Fortsetzung.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Z. B. Thomas Vesting, Rechtstheorie, 2007, Rn. 184.
2 Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008.
3 Gunther Teubner, Globale Bukowina: Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus, Rechtshistorisches Journal 15, 1996, 255-290, Hier zitiert nach der Internetfassung http://www.jura.uni-frankfurt.de/42828668/BUKOWINA_DT.pdf, dort S. 13.
4 Moritz Renner, Zwingendes Rechts, 2011, 293.
5 Das Recht der Gesellschaft = RdG, 1993, 98 und 523.
6 Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 282.
7 Niklas Luhmann, Die Weltgesellschaft, ARSP 57, 1971, 1-35.
8 Die Codierung des Rechtssystems, Rechtstheorie 1986, 171-203, S. 178.
9 RdG S. 67.
10 RdG S. 68
11 Rechtstheorie 17, 1986, 171-203.
12 S. 178.
13 RdG S. 102
14 Die Einheit des Rechtssystems, Rechtstheorie 14, 1983, 129-154, S. 136.
15 RdG S. 162.
16 RdG S. 144f.
17 Die Einheit des Rechtssystems, Rechtstheorie 14, 1983, 129-154, S. 135f.
18 Gralf-Peter Calliess, Systemtheorie: Luhmann/Teubner, in: Sonja Buckel u. a. (Hg.), Neue Theorien des Rechts, 2006, 57-75, S. 62.
19 Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 279.

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»Erotisches Kapital«: Nachträge statt Fortsetzung

Die Fortsetzung des Eintrags vom 24. 2. lässt schon über einen Monat auf sich warten. Der Grund ist simpel. Ich habe mich mit dem Thema übernommen, und zwar gleich mehrfach. Erstens braucht es für eine handfeste ökonomische Analyse sozialer Beziehungen Kompetenz und Übung, an denen es mangelt. Zweitens müsste man, um den »Markt« mit seinen Akteuren, Ressourcen und Bedürfnissen handfest zu beschreiben, wohl doch tiefer in die Literatur über Sexualität im Allgemeinen und Besonderen einsteigen, als ich Lust habe. Drittens stößt man überall auf foucaultischen Konstruktivismus, der mir eher fernliegt. Und viertens steht man bei diesem Thema stets ganz nahe an dem Abgrund feministischer Verdammnis. Ich will versuchen, mich jedenfalls oberflächlich aus der Affäre zu ziehen. Heute reicht es aber nur zu zwei Nachträgen, die immerhin zeigen mögen, dass ich das Thema nicht aufgegeben habe.
1. Ausgangspunkt war die Annahme, dass die männliche Nachfrage nach sexuellen Begegnungen mit Frauen das Angebot = weibliche Nachfrage um etwa das Zehnfache übersteigt. In den letzten Wochen häufen sich in den Gazetten, ausgelöst wohl durch ein Buch »Die versteckte Lust der Frauen« (das ich nicht gelesen habe), Berichte, nach denen Frauen in ihrem sexuellen Appetit mit den Männern gleichgezogen hätten [1]Angeführt werden Daniel Bergner, Die versteckte Lust der Frauen. Ein Forschungsbericht, 2014; sowie Volkmar Sigusch, Sexualitäten, Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten, 2013.. Es hat sich in den letzten Jahrzehnten viel verändert. Aber darauf will ich mich nicht einlassen, denn die patriarchalische Sozialstruktur, die es zu erklären gilt, ist älter. Die Frage lautet, um sie noch einmal zu wiederholen, warum es Frauen im Laufe der Geschichte nicht gelungen ist, ihre überlegene Position auf dem Markt der sexuellen Beziehungen in Status und Macht umzusetzen.
2. Aus dem Leserkreis bin ich auf zwei Rezensionen des Hakim-Buchs aufmerksam gemacht worden: Andreas Schmitz/Hans-Peter Blossfeld, Rezension von Catherine Hakim: Erotic Capital: The Power of Attraction in the Boardroom and the Bedroom, New York: Basic Books, 2011, in: European Sociological Review, März 2012. Zur deutschen Übersetzung des Buches haben dieselben Autoren ihre Rezension der der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 64, 2012, 836-838, veröffentlicht.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Angeführt werden Daniel Bergner, Die versteckte Lust der Frauen. Ein Forschungsbericht, 2014; sowie Volkmar Sigusch, Sexualitäten, Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten, 2013.

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Wo bleibt die Frauenpower? Mit dieser Frage und der Ankündigung einer Fortsetzung endete der Eintrag vom 29. 12. 2013. Ich hatte zwar schon einige Literatur gesammelt und eine gewisse Vorstellung, wie es weitergehen könnte, hatte aber nicht bedacht, dass ich zunächst einigen Prämissen, die sich vielleicht als Vorurteile herausstellen könnten, gründlicher nachgehen müsste. Diese Arbeit will und kann ich nicht leisten. Deshalb begnüge ich mich damit, diese Prämissen hier offen zu legen.

1. Der sexnegative Feminismus, der in jedem Geschlechtsverkehr eine kleine Vergewaltigung erblickt, ist ein Eigentor.
2. Der Belohnungswert sexueller Befriedigung ist für Frauen an sich nicht geringer als für Männer.
3. Weil der Verkehr für Frauen andere Folgen haben kann als für Männer, hat die Evolution Frau und Mann mit einem unterschiedlichen Appetenzverhalten hinsichtlich sexueller Kontakte mit dem anderen Geschlecht ausgestattet.

Dies vorausgeschickt, lässt sich mit einiger Sicherheit sagen, dass die männliche Nachfrage nach Sexualität größer ist als das weibliche Angebot.

Hakim, die viele Quellen ausgewertet hat, kommt zu dem Ergebnis, »dass der männliche Bedarf an sexueller Betätigung und sexueller Vielfalt über das ganze Leben gesehen im Durchschnitt zwei bis zehnmal höher ist als das sexuelle Interesse von Frauen« [1]Catherine Hakim, Erotisches Kapital, 2011, S. 73. Ich will und kann die Quellen, auf die Hakim und andere sich stützen, nicht prüfen und diskutieren. [2]Zusätzlich habe ich nur noch Roy F. Baumeister/Kathleen R. Catanese/Kathleen D. Vohs, Is There a Gender Difference in Strength of Sex Drive? Views, Conceptual Distinctions, and a Review of Relevant … Continue reading Nur einen ganz kleinen Zweifel will ich anmelden. Wenn in den zitierten Untersuchungen immer wieder davon die Rede ist, Männer berichteten über zehnmal so viele Sexualpartner wie Frauen, dann stellt sich doch die Frage, wo diese Partner(innen) in der Statistik bleiben. Eine gewisse Bestätigung für den männlichen Nachfrageüberhang liefert immerhin die Tatsache, dass Prostitution ein weibliches Phänomen ist, mag es hier und da auch Strichjungen oder Callboys geben. Eine Nebenrolle spielen Männer, die das weibliche Geschlecht angenommen haben. Die Nachfrage kommt praktisch ausschließlich von der Männerseite.

Den männlichen Nachfrageüberhang bezeichnet Hakim als Sexdefizit. Frauen sind damit Anbieter eines knappen Gutes. Dieses Angebot hat Hakim auf den Begriff des erotischen Kapitals gebracht.

Wenn dem so ist – und davon gehe ich aus –, drängt sich die Frage auf, warum Frauen den Nachfrageüberhang auf der Männerseite oder umgekehrt ihr erotisches Kapital nicht in einen Machtgewinn umsetzen können. Wo also bleibt die Frauenpower? Selbstverständlich kommt es immer wieder vor, dass Frauen ihre sexuelle Attraktivität benutzen, um dadurch Vorteile jenseits einer bloß sexuellen Beziehung zu erlangen. Soziologisch geht es jedoch um die Frage, ob und wie der männliche Überhang an Nachfrage nach Sexualität strukturell auf das Geschlechterverhältnis einwirkt. Nach der Situationslogik des Tausches könnte man vermuten, dass sich die Sozialstruktur ganz allgemein im Sine eines Matriarchats und einer Diskriminierung der Männer entwickelt hätte. Aber soziale Institutionen entwickeln sich nicht ohne weiteres »logisch«. Vielleicht hilft die ökonomische Analyse des Geschlechterverhältnisses hier weiter.

Der Begriff der Sexualökonomie ist durch den Psychoanalytiker Wilhelm Reich vorgeprägt oder gar belastet. Reich gründete 1934 im dänischen Exil eine Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie, die vier Jahre Bestand hatte. [3]Wikipedia, Artkel »Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie« Das sollte aber kein Hindernis sein, diesen Begriff unbefangen für eine ökonomische Analyse der Sexualbeziehungen zu verwenden. Dabei sollte klar sein, dass es allenfalls am Rande wie bei der Prostitution um einen direkten Tausch von Sexualität gegen Geld oder andere materielle Werte geht, sondern viel allgemeiner um sozialen Tausch, bei dem Angebot und Nachfrage nach Sexualität im weitesten Sinne eine Rolle spielen.

Die ökonomische Analyse des Geschlechterverhältnisses nach dem Vorbild der Arbeiten von Gary Becker hat sich bisher auf die Partnerwahl und die Arbeitsverteilung innerhalb der Ehe konzentriert. Dabei wurden die sexuellen Beziehungen als solche nicht in Rechnung gestellt. Das beginnt sich jetzt zu ändern. Auf der einen Seite sind es Psychologen, die die weibliche Sexualität als Handlungsressource in den Blick nehmen. [4]Roy F. Baumeister/Kathleen D. Vohs, Sexual Economics: Sex as Female Resource for Social Exchange in Heterosexual Interactions, Personality and Social Psychology Review 8, 2004, 339-363; dies., Sexual … Continue reading Sie ordnen sich selbst nicht der ökonomischen Analyse, sondern der sozialen Austauschtheorie zu. Auf der anderen Seite sind es Soziologen, an ihrer Spitze Hakim [5]Catherine Hakim, Erotic Capital, European Sociological Review 26, 2010, 499-518., die analog zu den Begriffen Sozialkapital, Humankapital und kulturelles Kapital das Konzept des erotischen Kapitals entwickeln.

Den Begriff des sexuellen Kapitals hatte bereits Robert T. Michael als Erweiterung des Konzepts »Gesundheitskapital« zur Debatte gestellt. [6]Robert T. Michael, Sexual Capital: An Extension of Grossman’s Concept of Health Capital, Journal of Health Economics 23, 2004, 643-652. Michael definiert: »A person’s sexual capital will be defined as the present value of flow of benefits from sexual enjoyment over the remaining lifetime.«, um dann zu erklären, welchen Risiken dieses Kapital ausgesetzt ist – vor allem dem Risiko der Ansteckung mit HIV beim Geschlechtsverkehr – und mit welchen Kosten es erhalten werden muss. Die Definition erfasst deshalb auch nur den Gebrauchswert des Sexualkapitals, nicht seinen Tauschwert, um den es geht, wenn Angebot und Nachfrage zur Debatte stehen.

Hakims Konzept ist eine offene Analogie zu Bourdieus Trias von ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital [7]Pierre Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 183-198.. Doch sie gibt dieser Analogie eine individualistische Färbung, mit der die Fragestellung, um die es mir geht, nicht zu beantworten ist. Mindestens die populäre oder gar populistische Ausschlachtung des Konzepts durch das nachfolgende Buch lässt sich aus gutem Grund kritisieren, denn sie läuft darauf hinaus, den Einzelkampf mit den »Waffen einer Frau« zu legitimieren. [8]Aus der feministischen Szene gab es wütende Kommentare, z. B. auf dem Blog »Another Angry Woman« Eine ernsthafte Rezension habe ich nicht gefunden. Immerhin war Hakim im WZB zu einer … Continue reading Ganz abgesehen davon, dass eine solche Aufwertung des (individuellen) erotischen Kapitals eine Mehrheit von Minderbemittelten zurücklässt, sind Paarbeziehungen und andere Begegnungen zwischen Frau und Mann sehr viel komplexer. Das ändert aber nichts daran, dass sich solche Beziehungen und Begegnungen mit den Instrumenten der Tauschtheorie und/oder der ökonomischen Analyse untersuchen lassen. Darüber will ich nach Möglichkeit in einem weiteren Beitrag berichten.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Catherine Hakim, Erotisches Kapital, 2011, S. 73.
2 Zusätzlich habe ich nur noch Roy F. Baumeister/Kathleen R. Catanese/Kathleen D. Vohs, Is There a Gender Difference in Strength of Sex Drive? Views, Conceptual Distinctions, and a Review of Relevant Evidence, Personality and Social Psychology Review 5, 2001, 242-273, herangezogen.
3 Wikipedia, Artkel »Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie«
4 Roy F. Baumeister/Kathleen D. Vohs, Sexual Economics: Sex as Female Resource for Social Exchange in Heterosexual Interactions, Personality and Social Psychology Review 8, 2004, 339-363; dies., Sexual Economics, Culture, Men, and Modern Sexual Trends, Society 49, 2012, 520-524; Kathleen D. Vohs/Jannine Lasaleta, Heterosexual Sexual Behavior Is Governed by Social Exchange and Basic Economic Principles: Sexual Economics Theory, Minnesota Journal of Law, Science & Technology 9, 2008, 785-802.
5 Catherine Hakim, Erotic Capital, European Sociological Review 26, 2010, 499-518.
6 Robert T. Michael, Sexual Capital: An Extension of Grossman’s Concept of Health Capital, Journal of Health Economics 23, 2004, 643-652.
7 Pierre Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 183-198.
8 Aus der feministischen Szene gab es wütende Kommentare, z. B. auf dem Blog »Another Angry Woman« Eine ernsthafte Rezension habe ich nicht gefunden. Immerhin war Hakim im WZB zu einer Vortragsveranstaltung eingeladen, und auch die FAZ hielt das Buch für wichtig genug, um es kurz (von Thomas Karlauf am 8. 110. 2011) besprechen zu lassen.

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Schupperts Patchwork-Methode

Hoffmann-Riem hatte mir kürzlich einen Beitrag zu einem Kolloquium geschickt, mit dem im Oktober 2011 der Abschied Schupperts von einer Forschungsprofessur im WZB gefeiert wurde. [1]Umbauten im Hause des Rechts angesichts des Wandels von Staatlichkeit, in: Verabschiedung und Wiederentdeckung des Staates, hg. von Andreas Voßkuhle, Christian Bumke und Florian Meinel = Der Staat, … Continue reading Darin skizziert er eingangs die Schreibweise Schupperts:

»Der mit den Beiträgen dieses Bandes Geehrte – ich kürze ihn im Folgenden als GFS ab – hat in seinen vielen Büchern und Aufsätzen eine Arbeitsmethode genutzt, die manche Vertreter seiner Disziplin mit einer gewissen Verachtung (vielleicht auch geheimem Neid) zur Kenntnis nehmen, die aber für sein Anliegen besonders geeignet ist: Er baut Texte von Autoren aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen im Originalton in seine Analysen ein, kleidet sie aber durch einleitende und überleitende Kommentare nach Maßgabe der Schuppert’schen Haute Couture ein. Dies ist die offene Patchwork-Methode.«

Ich bin meinerseits schon dabei, diese Methode zu kopieren, indem ich Hoffmann-Riem ausführlich zitiere. Bevor ich damit fortfahre – denn Hoffmann-Riem hat mehr dazu zu sagen – will ich die Methode durch Bilder der ersten vier Seiten von Schupperts Buch, das ich im vorigen Eintrag besprochen habe, »Der Rechtsstaat unter den Bedingungen informaler Staatlichkeit«, illustrieren. Es handelt sich um das Eingangskapitel mit den Seiten 15 bis 18. Die Bilder sollen nur einen Eindruck vom Layout vermitteln und sind deshalb kaum lesbar. Zuerst die Seite 15:
Schuppert_S_15
Sie enthält – ohne Überschriften – zehn Zeilen Eigentext und 23 Zeilen Zitat. Auf den Seiten 16 und 17 sodann zähle ich 32 Zeilen Eigentext und 53 Zeilen Zitat:

Schuppert_S_ 16-17
Auf Seite 18 schließlich kann man den Eigentext ohne Zählung überblicken.
Schuppert_S_18
Er besteht aus fünf Zeilen. Die Zitate dagegen haben 23 Zeilen. Insgesamt komme ich auf 47 Zeilen Eigentext und 99 Zeilen Fremdtext. Das ist grob gesprochen ein Verhältnis 1:2.

Die Zitate gewinnen dadurch zusätzliches Gewicht, dass sie von nur zwei Autoren stammen. Die ersten vier Zitate mit zusammen 45 Zeilen sind von Friedrich Schoch. [2]Entformalisierung staatlichen Handelns, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, 2005, § 37. Die vier Zitate auf S. 17 und 18, zusammen 54 Zeilen, sind von Horst Dreier. [3]Informales Verwaltungshandeln, Staatswissenschaften und Staatspraxis 4, 1993, 647-681, S. 658f. Ich habe sie nicht an Hand der Quellen überprüft.

Von einem Plagiat kann natürlich keine Rede sein, denn die Zitate werden klar und deutlich ausgewiesen. Hoffmann-Riem spricht deshalb von der offenen Patch-Work-Methode und sagt von ihr:

»Sie unterscheidet sich wohltuend von der im Wissenschaftsbetrieb nicht unüblichen verdeckten Patchwork-Methode. Über dieser schwebt allerdings seit kurzem das Damoklesschwert der Denunziation durch Computerfreaks – mit dem weiteren Risiko anschließender Entkleidung von Titeln und Ehrenzeichen. GFS braucht Aktivitäten wie die von GuttenPlag Wiki nicht zu befürchten.«

Auch urheberrechtlich halten sich die Anführungen im Rahmen des Zitatrechts nach § 51 Abs. 2 UrhG, denn eine Längenbegrenzung greift erst, wenn das Zitat im Verhältnis zu dem zitierten Werk unverhältnismäßig lang ist. Das Verhältnis der Gesamtsumme der Zitate zum eigenen Text interessiert nicht. Ich zitiere, jetzt aus einem Kommentar:

»Grundsätzlich ist ein Zitat … dann zulässig, wenn es als Beleg für eine vertretene Auffassung, zur Darstellung übereinstimmender oder abweichender Meinungen, zum besseren Verständnis der eigenen Ausführungen oder sonst zur Begründung oder Vertiefung des Dargelegten dient und nicht nur als beliebig austauschbares ›Anhängsel‹ ohne konkrete Belegfunktion. Nicht erforderlich ist, dass das Zitat ausschließlich zu einem solchen zulässigen Zweck angeführt wird.« [4]Raue/Hegemann in: Hoeren/Sieber/Holznagel, Multimediarecht, Rn. 83 zu § 51 UrhG, nach Beck-online.

Zitate, die die eigene Ansicht nicht nur bestätigen, sondern auch deren eigenständige Ausformulierung erübrigen, gehen danach in Ordnung. Auch die »gute wissenschaftliche Praxis« gibt nichts her. [5]Ich habe die »Richtlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis und zur Vermeidung wissenschaftlichen Fehlverhaltens an der Universität Hamburg« durchgesehen. Es bleibt also dabei, dass vielleicht, wie Hoffmann-Riem meint, einige Kollegen das Verfahren Schupperts mit einer gewissen Verachtung zur Kenntnis nehmen. Neid könnte wohl nur daher rühren, dass sie es selbst nicht wagen.

An dieser Stelle gestatte ich mir eine kleine Abschweifung. Schon vor über einem Jahr hat mir Frau Cottier aus Basel ein Exemplar des von ihr zusammen mit Andrea Büchler verfassten Bandes »Legal Gender Studies« [6]Andrea Büchler/Michelle Cottier, Legal Gender Studies – Rechtliche Geschlechterstudien. Eine kommentierte Quellensammlung, Dike Verlag Zürich/Nomos-Verlag Baden-Baden 2012. dediziert. Er trägt den Untertitel »Eine kommentierte Quellensammlung«. Das ist wirklich ein schönes Buch. Ich habe es schon oft zu Rate gezogen, sei es um mich vorläufig zu orientieren, sei es, um wichtige Literatur aufzufinden. Eigentlich hätte ich längst eine Besprechung dieses Bandes schreiben wollen. Das kann ich hier nicht nachholen. Ich erwähne das Buch aus einem anderen Grunde. Die Verfasserinnen haben sich die Mühe gemacht, für jeden einzelnen der wohl etwa 140 zitierten Texte die Abdruckgenehmigung von Autor und Verlag einzuholen. Wozu eigentlich? Ihre Kommentierungen sind so gehaltvoll, dass die abgedruckten Texte jedenfalls nach deutschem Recht alle als Zitat durchgehen müssten.

Zurück also zu der kommentierten Quellensammlung von Schuppert. Hoffmann-Riem weiß auch zu erklären, warum die befürchtete »Verachtung« nicht als Kritik geäußert wird:

»Die offene Patchwork-Methode hat in der Community der transdisziplinär kommunizierenden Wissenschaftler noch einen weiteren Vorteil. Die mit ihr verbundene Verleihung einer Art Adelstitel an einen Autor, dessen Text GFS als Kronzeuge für wichtige Erkenntnisse im Originalton und unter Nennung des Autors und meist mit begleitenden freundlichen Worten zur Bedeutung des Beitrags aufgreift, nährt das Selbstbewusstsein (vielleicht auch die Eitelkeit) des so Geadelten.«

Nun ja, ob sich Schoch und Dreier geadelt fühlen, mag dahinstehen. Vielleicht ist der Effekt gerade umgekehrt der einer Autoritätsleihe für die eigene Meinung.

Die Patchwork Methode hat weiter den Vorzug, dass der ständige Wechsel verschiedener Textarten Ermüdungserscheinungen vorbeugt. Sie ist damit leserfreundlich und pädagogisch anregend. Insofern hat die Methode ein Vorbild im Casebook, das ja aus Ausschnitten aus Urteilen mit verbindenden Erläuterungen besteht. Analog könnte man vielleicht von Bookbook sprechen. Die pädagogische Absicht zeigt sich auch darin, dass er in jedem Absatz für einen oder mehrere Begriffe oder Phrasen Fettdruck vorsieht. in meinen uralten »Hinweisen zur BGB-Übung« hatte ich noch geschrieben (S. 2):

Verzichten Sie auf Fettdruck, Unterstreichung, Kursivschrift und Wechsel der Schriftgröße. Sonst wirkt das Schriftbild unruhig und der Leser wird meinen, Sie könnten sich allein mit Hilfe des Wortes nicht ausdrücken.

Aber im Lehrbuch verwende ich auch gerne Fettdruck. Das gilt auch für die Wahl von kursiv für Zitate. Ob man dann allerdings innerhalb der Zitate Teile des fremden Textes fetten darf, darüber lässt sich streiten.

Schließlich ist die offene Patchwork-Methode, jedenfalls aus der Feder von Schuppert, wissenschaftlich wertvoll.

»GFS nutzt eine besonders anspruchsvolle Spezies des wissenschaftlichen Patchworks. Die im Original zitierten Quellen sind nur die Bebilderung oder Plausibilisierung einer von GFS eigenständig entwickelten, theoretisch-konzeptionell ansprüchlichen Ausdeutung und Systematisierung wissenschaftlicher Befunde. Die reflektierte Bestandsaufnahme nutzt GFS als Basis, um den Staus quo bisherigen Wissens möglichst zu überwinden und neue Anstöße zu geben.«

Auf den vier Seiten aus Schupperts Buch, die ich hier herangezogen habe, lässt sich Hoffmann-Riems Urteil nicht ohne weiteres nachvollziehen, heißt es doch im Anschluss an das letzte Zitat: »Dieser Analyse ist nichts hinzuzufügen.« Sieht man aber auf das ganze Buch, so kann man ihm sicher Wissenschaftlichkeit bescheinigen. In Jurisprudenz und Sozialwissenschaften sind wir insoweit ja bescheiden.

Was folgt aus alledem? Für mich selbst ziehe ich die Konsequenz, künftig mehr nach der offenen Patch-Work-Methode zu arbeiten. Vor allem aber empfehle ich diese Methode für Qualifikationsarbeiten bis hin zur Dissertation. Vor Jahr und Tag habe ich auf die Schwierigkeit hingewiesen, Qualifikationsarbeiten zu stellen, die die Studenten nicht überfordern und sie dadurch in Versuchung bringen, mit der verdeckten Patch-Work-Methode zu arbeiten. [7]Rechtssoziologisches zum Urheberrecht?, Eintrag vom 1. Juli 2009.8 »Eine angemessene Aufgabe wäre vielleicht heute die Erstellung einer schlüssigen Kompilation zu vorgegebenen Themen (natürlich mit Quellenangaben).« So habe ich damals geschrieben. Diesen Vorschlag kann ich heute bekräftigen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Umbauten im Hause des Rechts angesichts des Wandels von Staatlichkeit, in: Verabschiedung und Wiederentdeckung des Staates, hg. von Andreas Voßkuhle, Christian Bumke und Florian Meinel = Der Staat, Beiheft 21, 2013, 347-370; alle Zitate von S. 347f.
2 Entformalisierung staatlichen Handelns, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, 2005, § 37.
3 Informales Verwaltungshandeln, Staatswissenschaften und Staatspraxis 4, 1993, 647-681, S. 658f.
4 Raue/Hegemann in: Hoeren/Sieber/Holznagel, Multimediarecht, Rn. 83 zu § 51 UrhG, nach Beck-online.
5 Ich habe die »Richtlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis und zur Vermeidung wissenschaftlichen Fehlverhaltens an der Universität Hamburg« durchgesehen.
6 Andrea Büchler/Michelle Cottier, Legal Gender Studies – Rechtliche Geschlechterstudien. Eine kommentierte Quellensammlung, Dike Verlag Zürich/Nomos-Verlag Baden-Baden 2012.
7 Rechtssoziologisches zum Urheberrecht?, Eintrag vom 1. Juli 2009.8

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Schuppert zur informalen Staatlichkeit

Eben habe ich, zwei Jahre zu spät, von Gunnar Folke Schuppert den mit 193 Seiten ebenso schmalen wie gehaltvollen Band »Der Rechtsstaat unter den Bedingungen informaler Staatlichkeit« gelesen. Der Untertitel lautet »Beobachtungen und Überlegungen zum Verhältnis formeller und informeller Institutionen« [1]Nomos. Baden-Baden.2011, ISBN 978-3832964566, 34,- EUR. Zu spät, weil sonst Rechtssoziologie-online § 78 Korruption und der Beitrag zur Bryde-Festschrift leichter zu formulieren gewesen wären und auch andere Akzente erhalten hätten.

Ich bezweifle allerdings – so Schupperts Ausgangsthese –, dass es einen »Megatrend einer zunehmenden Informalisierung des Staatshandelns« (S. 15 ff) gibt. Es ist wohl zutreffend, dass formale und informale Staatlichkeit Endpunkte einer gleitenden Skala bilden (S. 17). Aber für die Trendbehauptung fehlt es an einer hinreichenden Operationalisierung dieser Skala. Stattdessen bietet Schuppert sechs Diskurse über die Tugend des Formalen und den diskreten Charme des Informalen«. Dabei handelt es sich um sechs kommentierte Quellensammlungen, die man jeder Rechtsoziologievorlesung zugrunde legen könnte. Aber den Megatrend belegen sie nicht. Dass der »hierarchisch-bürokratische Rechtsstaat« der formale Endpunkt und der »kooperative Verhandlungsstaat« das informale Gegenstück bilde, lässt sich bezweifeln, und zwar gerade mit der zweiten wichtigen These Schupperts, dass formale Staatlichkeit ohne stützende informale Strukturen nicht funktionsfähig sei.

Nicht zufällig ist S. 29 im ersten Diskurs von der »Entdeckung« des informalen Verfassungsstaats (durch Schulze-Fielitz) die Rede. Nach den informalen Strukturen, die den »hierarchisch-bürokratischen Rechtsstaat« funktionsfähig machten, hat Schuppert nicht ernstlich gesucht. Der Abschnitt über den »informalen Verfassungsstaat« (S. 29-35) ist ein gelungenes Lehrbuchkapitel über den politischen Prozess des Law-Making. Aber das (formale) Recht hat seine Inhalte schon immer aus informellen Quellen bezogen. Für die Gegenwart scheint mir bemerkenswert, dass gerade auch der informelle Prozess der politischen Willensbildung sich zunehmend formalisiert und dadurch beschreibbar wird als »Elefantenrunden, Hartz-Kommission, Atomkonsensgespräche« (Morlok-Zitat S. 33), oder als das Wirken bekannter politischer Netzwerke, angemeldeter Lobbyisten oder des verschriftlichten Wissensinputs durch die Bürokratie. Dabei geht der direkte Bezug all dieser informellen Rechtsbildungsprozesse auf den formellen Vorgang der Rechtserzeugung nicht verloren.

Nicht anders liegt es mit dem informalen Rechtsstaat (2. Diskurs; S. 36-42). Auch hier preist Schuppert die »folgenschwere verwaltungswissenschaftliche Entdeckung« ohne zu bedenken, dass der Zustand vor dieser Entdeckung nicht weniger informal gewesen sein könnte. Auch insoweit wage ich, einen Megatrend zu bestreiten, wiewohl ich selbst einmal in dieser Richtung gedacht habe. Was hier als Trend erscheint, ist letztlich wohl doch nur Ergebnis der sozialwissenschaftlichen Aufklärung darüber, wieweit eine bürokratische Programmimplementation überhaupt möglich ist. Warum zitiert Schuppert nicht Edgar Grande?

»Die Studie von Holzinger et al. (2009) kommt für den Bereich der europäischen Umweltpolitik zu dem Ergebnis, dass die Bedeutung der new modes of governance weit geringer ist als gemeinhin angenommen. Der Anteil „weicher Steuerungsinstrumente“ hat in den vergangenen zwanzig Jahren zwar tatsächlich zugenommen, die überwiegende Zahl der europäischen Umweltpolitiken basiert jedoch nach wie vor auf alten, rechtsförmigen Steuerungsinstrumenten. Das Verhältnis von alten und neuen Steuerungsinstrumenten liegt bei etwa 80 Prozent zu 20 Prozent; und auch der Trend hin zu den new modes of governance ist in diesem Politikbereich nicht so ausgeprägt wie manche glaubten. Dieses Beispiel macht auch deutlich, wie wichtig es ist, empirisch gesicherte ›baselines‹ zur Bewertung von institutionellen Entwicklungen zu haben.« [2]Edgar Grande, Governance-Forschung in der Governance-Falle? – Eine kritische Bestandsaufnahme, Politische Vierteljahresschrift 53, 2012, 565-592, S. 575.

Auch hier gilt, dass die Reflexion über die Informalität den Beginn ihrer Formalisierung bedeutet.

Der dritte Diskurs (S. 43-55) befasst sich mit der »Formalisierung oder Informalisierung der internationalen Beziehungen«. Dazu wage ich nicht, Stellung zu nehmen. Mein laienhafter Eindruck ist jedoch der einer außerordentlichen Verdichtung des Völkerrechts, die ich eher als Formalisierung interpretieren würde. Der vierte Diskurs betrifft das Phänomen des Soft Law. Hier problematisiert Schuppert das »Verhältnis der Begriffspaare ›hard und soft‹ zu formal und informal‹ « mit dem Ergebnis, dass Soft Law immerhin Verrechtlichung und insofern Formalisierung bedeutet, und er weist auch auf den als hardening of soft law geläufigen Vorgang hin. Der fünfte Exkurs behandelt den klassischen Rechtspluralismus (68-70). Da ist zwar informelles Recht anzutreffen, aber keine Ausbreitungstendenz. Eine Ausbreitungstendenz behauptet aber auch der sechste und letzte Exkurs nicht, in dem von informal justice im Sinne alternativer Konfliktregelung die Rede ist. Auffällig ist, dass Schuppert sich hier ganz auf die Situation in den Entwicklungsländern beschränkt. Dort gibt es wohl so etwas wie eine pluralistische Wende, was aber nur bedeutet, dass sich formalisierte Gerichtsverfahren in diesen Ländern nicht so einfach durchsetzen lassen, wie es sich Entwicklungshelfer zeitweise vorgestellt hatten. [3]Vgl. die drei Aufsätze im Hague Journal on the Rule of Law Heft 1, 2011: Brian Z. Tamanaha, The Rule of Law and Legal Pluralism in Development (S. 1-17); Julio Faundez, Legal Pluralism and … Continue reading In Deutschland und wohl auch in den anderen Industriestaaten waren Jahrzehnte anhaltende Bemühungen der Rechtspolitik zur Förderung alternativer Konfliktregelung schlicht erfolglos [4]Z. B. Klaus F. Röhl/Matthias Weiß, Die obligatorische Streitschlichtung in der Praxis,2005., obwohl die geballte sozialwissenschaftlich orientierte Rechtsforschung solche Politik massiv unterstützte. [5]Dazu hier auf Rsozblog »Das zweite Mediations-Paradox: Erfolgreich, schneller, billiger und besser, aber ungenutzt« sowie »Noch einmal: Das zweite Mediationsparadox«.

Der »kooperative Verhandlungsstaat« bedeutet nicht den Abbau formalen Rechts, soweit und solange nicht eine gegenläufige Informalität institutionalisiert ist. Das aber nun finde ich so interessant und wichtig an diesem Buch, dass und wie Schuppert die Möglichkeit und reale Existenz von informellen Gegenordnungen darstellt. Das geschieht am Beispiel der Korruption und ihrer Verwandtschaft, des Klientelismus und Patrimonialismus (S. 145 ff). Hier ist Schuppert erneut ein Lehrbuchkapitel zur Rechtssoziologie gelungen. Aber selbst in den Entwicklungsländern geht der Trend wohl in die umgekehrte Richtung. Informalität war dort immer. Die weltweite Verbreitung formaler Institutionen hat dort zunächst dazu geführt, dass sich die informalen Institutionen gewandelt haben. Aber der Trend geht wohl doch dahin, sie einzugrenzen.

Ich habe das Buch aufmerksam und mit Interesse gelesen und, wie gesagt, die Darstellung von stützender und gegenläufiger Informalität fand ich eindrucksvoll. Dennoch – das ist nun einmal die Eigendynamik von Buchbesprechungen – will ich mit zwei kritischen Bemerkungen (vorläufig) schließen. Die erste lässt sich auch als Kompliment verstehen. Schuppert, der sonst auf Governance fixiert ist, verzichtet in Buchtitel und Zwischenüberschriften ganz auf diesen Begriff. Im Text freilich kommt er, wenig überraschend, dann zwar doch wieder vor. Aber – dass bestätigt meine Einschätzung – dort kann man ihn überall folgenlos streichen. Die zweite Bemerkung ist wirklich kritisch. Sie betrifft auf S. 171 ff. die Suche nach dem »richtigen« Rechtsstaatskonzept. Es ist sicher zutreffend, dass man mit einem rein formalen Rechtsstaatskonzept – jetzt verstanden als Gegensatz nicht zu informell [6]Der Unterschied von formal und formell bzw. informal und informell bei Schuppert und auch sonst ist mir nicht ganz klar und ich kann ihn hier auch nicht klären. Im Hinterkopf habe ich nur die … Continue reading, sondern zu material oder substantiell – nicht auskommt. Aber hier als Argument – unter Bezugnahme auf Dieter Grimm – das Versagen formalen Rechts gegenüber dem Nationalsozialismus anzuführen, scheint mir eine grobe Unterschätzung der inhärenten Qualität der Rechtsförmigkeit zu sein. Dass die nationalsozialistische Machtergreifung formal nicht zu beanstanden gewesen sei (S. 172), halte ich für falsch. Hitler hat sich seine Macht nicht, wie so oft zu hören, auf legalem Wege verschafft. Bevor am 23. März 1933 über das Ermächtigungsgesetz abgestimmt wurde, hatte er die dem Reichstag angehörenden Kommunisten verhaften lassen und die sozialdemokratischen Abgeordneten so eingeschüchtert, dass von einem Gesetzesbeschluss, der diesen Namen verdient, nicht die Rede sein konnte. [7]Vgl. Wolfgang Meyer-Hesemann, Legalität und Revolution – Zur Verklärung der nationalsozialistischen Machtergreifung als »Legale Revolution«, in: Peter Salje (Hg.), Recht und Unrecht im … Continue reading

Diese kurzen Bemerkungen sollen genügen, um zu zeigen, dass ich Schupperts Buch wegen seines Inhalts schätze. Das ist notwendig, denn ich will eigentlich gar keine Besprechung des Inhalts abliefern, sondern mich mit der speziellen Darstellungsweise Schupperts befassen. Dazu im nächsten Eintrag.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Nomos. Baden-Baden.2011, ISBN 978-3832964566, 34,- EUR.
2 Edgar Grande, Governance-Forschung in der Governance-Falle? – Eine kritische Bestandsaufnahme, Politische Vierteljahresschrift 53, 2012, 565-592, S. 575.
3 Vgl. die drei Aufsätze im Hague Journal on the Rule of Law Heft 1, 2011: Brian Z. Tamanaha, The Rule of Law and Legal Pluralism in Development (S. 1-17); Julio Faundez, Legal Pluralism and International Development Agencies: State Building or Legal Reform? (S. 18-38); H. Patrick Glenn, Sustainable Diversity in Law (S. 39-56); Lauren Benton, Historical Perspectives on Legal Pluralism (S. 57-69).
4 Z. B. Klaus F. Röhl/Matthias Weiß, Die obligatorische Streitschlichtung in der Praxis,2005.
5 Dazu hier auf Rsozblog »Das zweite Mediations-Paradox: Erfolgreich, schneller, billiger und besser, aber ungenutzt« sowie »Noch einmal: Das zweite Mediationsparadox«.
6 Der Unterschied von formal und formell bzw. informal und informell bei Schuppert und auch sonst ist mir nicht ganz klar und ich kann ihn hier auch nicht klären. Im Hinterkopf habe ich nur die Sprachverwendung bei Max Weber. Formal ist bei ihm der Gegenbegriff zu material. Dagegen bezeichnet Weber, der juristischen Tradition entsprechend, das Verfahrensrecht als formell und das Sachrecht als materiell. Es gibt deshalb »formales« formelles Recht in Gestalt etwa eines ritualisierten Verfahrens. Und es gibt »formales« materielles Recht, nämlich in Gestalt der Begriffsjurisprudenz oder eines Präjudizienrechts.
7 Vgl. Wolfgang Meyer-Hesemann, Legalität und Revolution – Zur Verklärung der nationalsozialistischen Machtergreifung als »Legale Revolution«, in: Peter Salje (Hg.), Recht und Unrecht im Nationalsozialismus, 1985, 110-136.

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Prostitution und Frauenpower

Die aktuelle Debatte um die Kriminalisierung der Prostitution interessiert mich nicht wirklich. Und so habe ich auch nicht alle Zeitungsbeiträge und schon gar nicht das Buch von Alice Schwarzer gelesen. Gelesen habe ich aber, was Martha Nussbaum in der Stanford Encyclopedia of Philosophy über »Feminist Perspectives on Sex Markets« schreibt. Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Für die Rechtssoziologie interessiert aber die empirische Basis der Diskussion. Interessanter noch wäre eine prinzipielle Verzerrung der Diskussion, die auf die Wahrnehmung des Geschlechterverhältnisses im Allgemeinen zurückwirken könnte. Eine solche Verzerrung könnte durch eine ökonomische Analyse der Sexualität zu Tage treten.
Gegenüber der Prostitution sind zwei gegensätzliche Positionen denkbar und werden vertreten, eine prohibitionistische und eine individualistisch-liberale. [1]Ausführlich und differenziert Joachim Renzikowski, Reglementierung von Prostitution: Ziele und Probleme – eine kritische Betrachtung des Prostitutionsgesetzes. Gutachten im Auftrag des BMFSFJ, o. … Continue reading Die eine sieht in der Bezahlung von sexuellen Diensten eine Form der Gewaltausübung gegen Frauen und eine unmoralische Kommodifizierung der Sexualität. Konsequenz ist die Ächtung der Prostitution und ihre Bekämpfung, insbesondere auch mit strafrechtlichen Mitteln. Diese Auffassung ist so weit verbreitet, dass von einem moralischen Kreuzzug gegen die Prostitution [2]Ronald Weitzer, Moral Crusade Against Prostitution, Society 43, 2006, 3-38. die Rede ist. Heimat vieler Kreuzritter ist Schweden, von wo aus sie das »Schwedische Modell« in Europa und darüber hinaus zu verbreiten suchen. Man staunt, dass sich auch DER SPIEGEL, der sich sonst viel auf seine Liberalität zugutehält, der Kriminalisierungskampagne angeschlossen hat. [3]Dazu erfrischend und voller Information die Stellungnahme des Frankfurter Huren-Unterstützungsvereins Doña Carmen vom 29. 5. 2013.
Die andere individualistische Auffassung betont die Autonomie der Frauen, und damit deren Recht, auch sexuelle Dienstleistungen anzubieten. Sie ist der Ansicht, dass eine Entkriminalisierung den betroffenen Frauen helfen würde. Selbstverständlich besteht Einigkeit, dass bestimmte Begleiterscheinungen der Prostitution kriminalisiert bleiben und bekämpft werden müssen. Das gilt vor allem für Frauenhandel. Aber schon bei der Frage nach zulässigen Organisationsformen der Prostitution (Bordell, Zuhälter) scheiden sich die Geister, und kaum weniger umstritten ist, wieweit rechtlich nicht verbotene Prostitution öffentlich sichtbar werden darf.
Die aktuelle Debatte stützt sich auf die These, dass die Legalisierung der Prostitution in Deutschland insofern einen perversen Effekt gehabt habe, als nicht nur allgemein der Sexmarkt gewachsen, sondern insbesondere auch die illegalen Begleiterscheinungen Frauenhandel und Zwangsprostitution zugenommen hätten. »Liberale Gesetzgebung scheint ›moderne Sklaverei‹ zu begünstigen«, so wird eine neuere Studie aus der London School of Economics [4]Seo-Young Cho /Axel Dreher/Eric Neumayer, Does Legalized Prostitution Increase Human Trafficking? World Development 41, 2012, 67-82. angepriesen [5]In einer Pressemeldung der Universität Heidelberg.. Henning und Walentowitz sind der Herkunft der von den Autoren verwendeten Daten nachgegangen mit dem Ergebnis »bei Licht betrachtet handelt es sich um Datenmüll – bestens geeignet allerdings, um politisch opportune Botschaften zu verbreiten«. [6]Juanita Henning/Gerhard Walentowitz, 10 Jahre Prostitutionsgesetz: Mehr Menschenhandel durch Legalisierung von Prostitution? Ein aktuelles Lehrstück über den Umgang von Wissenschaft mit dem Thema … Continue reading Nicht weniger kritisch äußert sich Tim Worstall in FORBES vom 15. 6. 2013. Sein Hauptargument lautet, da werde nicht sauber zwischen Frauenhandel und illegaler Immigration prostitutionswilliger Frauen unterschieden. Der Artikel endet:
»Finally, there’s simply the sheer implausibility of the claims that 30% of all prostitutes are trafficked (sex slavery). Prostitution is the ultimate in personal services: it really is one thing where the supplier and the customer have to meet in person. There’s a claim (not one this paper makes) for the UK that 25,000 such sex slaves are in such servitude in any one year. The idea that none of them ever indicate their plight to any of the hundreds of thousands of men who make up their clientele, or that if they do none of those men reports it to police, is simply fantastical. No one with any experience of real live human beings could possibly believe it.«
Auch sonst bleibt die empirische Basis der aktuellen Diskussion dürftig. Sie kann sich allenfalls auf Einzelfallberichte berufen. Eindrucksvoll ist ein Bericht von Martin Wittmann in der Heimlichen Juristenzeitung vom 11. 4. 2008 »Prostituierte aus Nigeria: Bestellt verraten und verkauft«. Die vom Bundesfamilienministerium in Auftrag gegebene Untersuchung über »Auswirkungen des Prostitutionsgesetzes« von 2005 [7]Cornelia Helfferich/Barbara Kavemann/Beate Leopold/Heike Rabe, Untersuchung zu den Auswirkungen des Prostitutionsgesetzes, hg. vom Bundesministerium für Familie usw., Berlin 2005, online: … Continue reading ist zu langweilig, um alle 309 Seiten gründlich zu lesen. Langweilig ist auch das APuZ-Themenheft »Prostitution« vom Februar 2013. Immerhin erfährt man da, dass es keine belastbaren Zahlen zum Menschenhandel gibt, ferner dass nach Befragungen von Sexarbeiterinnen aus Bulgarien und Rumänien der weitaus größte Teil von ihnen aus freier Entscheidung zum Erwerb des Lebensunterhaltes der Prostitution nachgeht. [8]Barbara Kavemann/Elfriede Steffan, Zehn Jahre Prostitutionsgesetz und die Kontroverse um die Auswirkungen, APuZ 63, 9/2013, S. 9ff, 14.
In Schweden ist die Prostitution seit 1999 durch eine Strafandrohung für Freier indirekt verboten. Außerdem ist Zuhälterei und die Vermietung von Räumen zu Prostitutionszwecken unter Strafe gestellt. Es hat wiederholt amtlich veranlasste Gesetzesevaluierungen gegeben, alle mit dem Ergebnis, dass Freier abgeschreckt würden, die Prostitution abgenommen habe, dass der Menschenhandel zu Prostitutionszwecken zurückgegangen sei und dass die Einstellung des Publikums im Sinne des Gesetzes verändert habe. Ich kann die schwedischen Veröffentlichungen nicht lesen und beziehe mich daher auf Susanne Dodillet und Petra Östergren, die ausführen, dass die vorliegenden Daten solche Erfolgsmeldungen nicht stützen. [9]Susanne Dodillet/Petra Östergren, The Swedish Sex Purchase Act: Claimed Success and Documented Effects, Manuskript, 2011. Zudem gebe es eine ganze Reihe für die eigentlich schutzbefohlenen Sexarbeiterinnen negative Effekte. Strafe und intensive Verfolgung vertreiben gerade die Freier, die Prostituierten am wenigsten belasten. Stattdessen wächst die Zahl der risikobereiten Kunden, die sich ohnehin in der Kriminalitätszone bewegen und daher kaum abzuschrecken sind. Die Preise verfallen und die Bereitschaft zu ungeschütztem Sex und zu problematischen Praktiken steigt.
Dürftig scheint die empirische Basis auch zu sein, wenn man das sprichwörtlich älteste Gewerbe der Welt allgemeiner als Marktgeschehen betrachtet. Da wird mit großen Zahlen herumgeworfen, deren Quelle ebenso unklar ist wie eine brauchbare Interpretation. Gerheim hält in der Einleitung seines Buches über »Die Produktion des Freiers« (2012) einleitend fest, es ist »lediglich eine einzige quantitative Studie … zu verzeichnen, die von einem Annäherungswert von 18 % dauerhaft aktiver Prostitutionskunden der geschlechtsreifen männlichen Bevölkerung« ausgehe. »Die spärlichen anderen Daten bezüglich des Prostitutionsfeldes, wie 1.200.000 Kunden pro Tag, 400.000 Sexarbeiterinnen, davon ca 60 % Migrantinnen, 14,5 Mrd. Euro Jahresumsatz« … entpuppten sich bei genauerer Betrachtung lediglich als Schätzwerte oder Hochrechnung, die zum Teil auf Daten aus den 80er Jahren basierten. Gerheim resümiert, »dass zur Zeit keine verlässlichen und abgesicherten quantitativen Primärdaten über das soziale Feld der Prostitution existieren.« (S. 7)
Die beste »Marktstudie« ist wohl noch immer eine Untersuchung von Steven D. Levitt und Sudhir Alladi Venkatesh aus Chicago von 2007 zu sein: An Empirical Analysis of Street-Level Prostitution. Ich habe sie nur als Manuskript im Internet gefunden, das sich selbst als vorläufig bezeichnet. Einige der provozierenden Ergebnisse lauten etwa:
Verbrechen haben Täter und Opfer. Der Täter sucht nach einem Opfer, während potentielle Opfer möglichst vermeiden, mit ihnen zusammenzutreffen. Bei der Prostitution gibt es diese Rollenverteilung nicht. Beide suchen den Kontakt, weil beide glauben, davon zu profitieren. Und deshalb funktioniert Prostitution eben wie andere Märkte auch. Was die Preisfindung betrifft, so gibt es gängige Tarife. Im Einzelfall wird aber auch ein bißchen gehandelt, und vor allem gibt es Diskriminierung: Unappetitliche Kunden und Kunden einer anderen Rasse müssen mehr zahlen.
Der Prostitutionsmarkt ist räumlich konzentrierter als der Markt für Drogen. Das liegt einerseits daran, dass Dealer viele Kunden kennen, während Prostituierte sich an unbekannte Kunden wenden. Und es liegt andererseits daran, dass Drogenhandel viel stärker verfolgt wird, so dass räumliche Konzentration auch die Polizei leichter auf die Spur bringen würde. Auf Stundenlohn umgerechnet verdienten Prostituierte etwa drei Mal so viel wie ungelernte Arbeitskräfte. Arbeiteten sie mit einem Zuhälter, war ihr Einkommen um annähernd 50 % höher. Auch die Kunden fahren besser mit einem Zuhälter, denn diese legen Wert auf guten Service, damit die Kunden wiederkommen. In Chicago, wo die Prostitution strafbar ist, kam es doch nur relativ selten zu Strafanzeigen. Viele Polizisten verzichten darauf, wenn sie dafür umsonst bedient werden.
Auch das ist aber nur von begrenztem Interesse. Interessanter ist schon die Frage, ob das Phänomen der Prostitution nicht bloß Ausfluss der allgemeinen Marktlage im Geschlechterverhältnis ist, die durch einen männlichen Nachfrageüberhang gekennzeichnet ist. Spannend wäre aber zu wissen, warum – im Falle einer bejahenden Antwort – die Frauen ihre überlegene Marktposition nicht besser nutzen können. Wo bleibt die Frauenpower? Vielleicht kann ich dieser Frage in einem späteren Eintrag nachgehen.

Fortsetzung: »Erotisches Kapital« und »Sexdefizit«: Auf dem Weg zur ökonomischen Analyse des Geschlechterverhältnisses.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Ausführlich und differenziert Joachim Renzikowski, Reglementierung von Prostitution: Ziele und Probleme – eine kritische Betrachtung des Prostitutionsgesetzes. Gutachten im Auftrag des BMFSFJ, o. J.
2 Ronald Weitzer, Moral Crusade Against Prostitution, Society 43, 2006, 3-38.
3 Dazu erfrischend und voller Information die Stellungnahme des Frankfurter Huren-Unterstützungsvereins Doña Carmen vom 29. 5. 2013.
4 Seo-Young Cho /Axel Dreher/Eric Neumayer, Does Legalized Prostitution Increase Human Trafficking? World Development 41, 2012, 67-82.
5 In einer Pressemeldung der Universität Heidelberg.
6 Juanita Henning/Gerhard Walentowitz, 10 Jahre Prostitutionsgesetz: Mehr Menschenhandel durch Legalisierung von Prostitution? Ein aktuelles Lehrstück über den Umgang von Wissenschaft mit dem Thema »Menschenhandel«, Kritische Justiz , 2012, 460-465.
7 Cornelia Helfferich/Barbara Kavemann/Beate Leopold/Heike Rabe, Untersuchung zu den Auswirkungen des Prostitutionsgesetzes, hg. vom Bundesministerium für Familie usw., Berlin 2005, online: www.bmfsfj.de/doku/Publikationen/prostitutionsgesetz/.
8 Barbara Kavemann/Elfriede Steffan, Zehn Jahre Prostitutionsgesetz und die Kontroverse um die Auswirkungen, APuZ 63, 9/2013, S. 9ff, 14.
9 Susanne Dodillet/Petra Östergren, The Swedish Sex Purchase Act: Claimed Success and Documented Effects, Manuskript, 2011.

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Die Vielfalt des Einfalls

Da glaubte ich, mit der Einfalt der Vielfalt einen hübschen neuen Gedanken gefunden zu haben. Und nun muss ich, wie so oft, feststellen, dass vielleicht nicht die Formulierung, aber doch der Gedanke über 100 Jahre alt ist. Der Gedanke von der Konformität des Strebens nach Einzigartigkeit findet sich nämlich schon in Georg Simmels berühmten, aber mir bislang unbekannten Aufsatz über die Mode, den ich hier aus dem Internet [1]Dem Soziologischen Institut der Universität Zürich sei Dank. zitiere: [2]Der Aufsatz muss schon vor 1900 entstanden sein, denn in der bei Suhrkamp erschienenen Gesamtausgabe ist er in Band 5 »Aufsätze und Abhandlungen 1894-1900« wieder abgedruckt.
»Aus jener Tatsache nun, dass die Mode als solche eben noch nicht allgemein verbreitet sein kann, quillt für den Einzelnen die Befriedigung, dass sie an ihm immerhin noch etwas Besonderes und Auffälliges darstellt, während er doch zugleich innerlich sich nicht nur von einer Gesamtheit getragen fühlt, die das Gleiche tut, sondern außerdem auch noch von einer, die nach dem Gleichen strebt.«
Bei der Einfalt der Vielfalt, die ich meine, geht es allerdings nicht mehr, wie bei der Mode, um ein (scheinbar individuelles) Subjektmanagement, sondern darum, Vielfalt oder Pluralität zum Standard der Modernität geworden ist.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Dem Soziologischen Institut der Universität Zürich sei Dank.
2 Der Aufsatz muss schon vor 1900 entstanden sein, denn in der bei Suhrkamp erschienenen Gesamtausgabe ist er in Band 5 »Aufsätze und Abhandlungen 1894-1900« wieder abgedruckt.

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Rechtssoziologie unter fremden Namen: Ornithologen gegen Vandalismus

Die Wirksamkeit von Verhaltensnormen ist ein zentrales Thema der Rechtssoziologie, das freilich zugunsten der komplexeren Frage nach der Wirkung von Recht etwas in den Hintergrund geraten ist. Aber mit Verhaltensnormen fängt alles an, und hier wiederum mit elementaren Normen wie dem Verbot von Sachbeschädigung und Diebstahl, die mit strafrechtlichen und zivilrechtlichen Sanktionen bewehrt sind.
Während Ökonomen darauf abstellen, dass Menschen in erster Linie auf Belohnungen und Strafen reagieren, betonen Soziologen, Psychologen und Anthropologen, dass kompliziertere Motivationsbündel und die situative Verflechtung der Variablen für die Befolgung von Rechtsnormen maßgeblich sind. Man gehorcht dem Recht, wenn man die dahinter stehende Autorität anerkennt, sich von ihnen respektvoll behandelt fühlt und die sachlichen Anforderungen des Rechts als richtig (legitim) akzeptiert. Das ist in vielen Einzeluntersuchungen bestätigt worden. [1]Verwiesen sei hier nur auf Tom Tyler, Why People Obey the Law, Yale University Press 1990; ders./Jeffrey Fagan, Legitimacy and Cooperation: Why Do People Help the Police Fight Crime in Their … Continue reading
Dass auch Ornithologen zu solcher Forschung beitragen, ist neu. Kein Wunder, wenn sie gar nicht bemerken, dass sie sich hier im Bereich der Rechtssoziologie bewegen. Deshalb ist ihre Arbeit aber nicht weniger interessant. [2]Clarin, B.-M., Bitzilekis, E., Siemers, B. M. and Goerlitz, H.: Personal Messages Reduce Vandalism and Theft of Unattended Scientific Equipment. Methods in Ecology and Evolution. Online … Continue reading
Ornithologen und andere Tierforscher platzieren nicht selten mehr oder weniger auffällige materielle Objekte in der Natur, wo sie nicht bewacht und geschützt werden können. Es geht um Fallen, Kameras, Mess- und Funkgeräte usw. Nicht selten fallen diese Gegenstände dem Vandalismus zum Opfer. Forscher vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Seewiesen wollten nun wissen, ob der Umgangston von Hinweisschildern an der Ausrüstung Vandalismus verhindern kann. Dazu legten sie 60 Attrappen in vier Münchner Stadtparks aus.
Vandalismuswarnung
Tatsächlich fanden sie, dass freundlich beschriftete Ausrüstung eher in Ruhe gelassen wurde als solche mit einem neutralen oder gar drohenden Schild (Pressemitteilung vom 26. 11. 2013) [http://www.mpg.de/7628338/vandalismus]. Bei diesen gab es 36 Einwirkungen auf das Gerät. Bei den neutral beschrifteten Geräten wurden 57 Einwirkungen gezählt, bei denen mit Sanktionsdrohung 67. Das ist Wasser auf die Mühlen Tom Tylers. Allerdings geht es hier nicht bloß um respektvolle Behandlung der potentiellen Täter, sondern um eine Personalisierung derart, dass als Opfer ein individueller Diplomand erscheint und nicht bloß eine anonyme Organisation. Vielleicht wirkt auch das niedliche Eichhörnchen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Verwiesen sei hier nur auf Tom Tyler, Why People Obey the Law, Yale University Press 1990; ders./Jeffrey Fagan, Legitimacy and Cooperation: Why Do People Help the Police Fight Crime in Their Communities, Ohio State Journal of Criminal Law 6, 2008, 231-275.
2 Clarin, B.-M., Bitzilekis, E., Siemers, B. M. and Goerlitz, H.:
Personal Messages Reduce Vandalism and Theft of Unattended Scientific Equipment. Methods in Ecology and Evolution. Online Veröffentlichung 26.11.2013.

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Rechtspluralismus und Governance

Für eine juristische Zeitschrift präpariere ich gerade einen Artikel über Eugen Ehrlich und den Rechtspluralismus. Anlass ist natürlich das Jubiläumsjahr von Ehrlichs Rechtssoziologie. Bei der Durchsicht der Literatur ist mir aufgefallen, dass unter den Stichworten Rechtspluralismus und Governance weitgehend dieselben Phänomene behandelt werden, dass aber – jedenfalls soweit ich sehe – die Überschneidung oder der Unterschied zwischen den beiden Konzepten nirgends deutlich ausgeführt wird. Wenn in Texten zum Rechtspluralismus der Governancebegriff erwähnt wird, so geschieht das doch meistens nur beiläufig, und umgekehrt. Besserung versprach ein Papier von Franz und Keebet von Benda-Beckmann, indem die Projektgruppe Rechtspluralismus am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle vorgestellt wurde. Dort las man: »Wir entwickeln Ideen für ein besseres analytisches Verständnis rechtsethnologischer Begriffe und theoretischer Annahmen, wie zu den Begriffen Recht, Rechtspluralismus, governance, Transnationalisierung von Recht, Vermögensrechte, und zu Akteur-Struktur-Fragen unter Bedingungen von Rechtspluralismus.« Julia Eckert, die dieses Thema bearbeiten sollte, hat ihren Beitrag 2004 im Journal of Legal Pluralism unter der Überschrift »Urban Governance and Emergent Forms of Legal Pluralism in Mumbai« (Bd. S. 29-60) abgeliefert. Aber so richtig bin ich daraus nicht schlau geworden, warum das Konzept das Legal Pluralism nicht genügt.

2010 erschien ein Franz von Benda-Beckmann, Keebet von Benda-Beckmann und Julia Eckert herausgegebener Band »Rules and Laws of Ruling: On the Governance of Law« (Ashgate, Farnham, 2010), der viele Beiträge enthält, die governance im Titel tragen. Wenn ich im Eingangskapitel der Herausgeber den Abschnitt »Governance and Legal Pluralism« (S. 3-6) lese, entsteht bei mir der Eindruck, dass Governance und Legal Pluralism weitgehend dasselbe Konzept verfolgen, Governance allerdings mehr mit dem Akzent auf der Schwäche staatlicher Regulierung überhaupt und zumal unter den Bedingungen der Globalisierung, der klassische Rechtspluralismus dagegen mehr mit dem Blick auf traditionale, noch nicht voll von der Modernisierung erfasste Gesellschaften. Governance richtet den Blick etwas mehr auf die Akteure als auf Normen und Prozesse. Dabei rücken Staat und Verwaltungen ein wenig mehr in den Mittelpunkt als im klassischen Rechtspluralismus. Zwar betonen die Ethnologen, sie wollten nur das analytische Konzept von governance übernehmen, nicht das normative Konzept von good governance. Aber auch hinter diesem Konzept steckt ein Erkenntnisinteresse, das stärker auf pazifizierende Ordnung gerichtet ist als der rechtsanthropologische Pluralismus. Dieser Schwenk zeigt sich bei Franz von Benda-Beckmann, Pluralismus von Recht und Ordnung, Behemoth 2008, 58-67.

2012 ist in der Reihe Ethnoskripts des Instituts für Ethnologie der Universität Hamburg ein Schwerpunktheft »Governance« erschienen. Der Governance-Begriff, so Schweitzer [1]Warum Governance? Über den Nutzen des Governance-Ansatzes für die Ethnologie und den Nutzen der Ethnologie für die Governance-Forschung«. einleitend, überwinde den zentralen Antagonismus zwischen Gesellschaft und Staat. Da sehe ich keinen Unterschied zum Rechtspluralismus. Governance könne als Brückenbegriff eine integrative Wirkung haben. Juristen erinnern sich daran, dass dasselbe auch in der Diskussion um die Reform des Verwaltungsrechts gesagt wurde. Governance schaffe, so Schweitzer, einen Rahmen für den Austausch zwischen den Disziplinen. Solche Beteuerungen sind bei Juristen inflationär [2]Röhl/Röhl, Allg. Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 60 f. mit Nachweisen.. Dass umgekehrt die Governance-Forschung allerhand von der Ethnologie lernen kann, das allerdings glaube ich gerne.

Im Mittelpunkt des Heftes steht ein Beitrag von Julia Eckert, Andrea Behrends und Andreas Dafinger »Governance – and the State: An Anthropological Approach«, der einen ethnologischen Governance-Begriff entwickelt [3]Schweitzer S. 7.. Eingangs (S. 14 f.) dort: »This concept of governance leaves behind conventional distinctions between state, civil society and the economy, between public and private and does not privilege one organization or institution, like the state, as the “natural” or “right” centre of governance. Rather, it opens up the analysis of domination, rule or government to the interdependencies between different actors that shape these, the processes within which constellations of power between such governmental actors emerge and consolidate.« Das liest sich wie eine Definition von legal pluralism. Das Governance-Konzept soll sich besser für eine vergleichende Erforschung von Normbildungs- und Verteilungsprozessen eignen [4]Eckert u. a. S. 14. Die Beispiele aus den Feldforschungen der drei Autoren überzeugen mich davon nicht. Weiter wird dann Foucaults Gouvernementalität bemüht. Das ist wohl notwendig, wenn man den Anschluss an die Kulturwissenschaften gewinnen will (S. 6), ist in der Sache aber auch kein Fortschritt.

Ich kann nach alledem nicht erkennen, warum die Ethnologen dem Governance-Begriff nachlaufen, es sei denn um an dem Momentum, mit dem dieser Begriff sich durchgesetzt hat, zu partizipieren. Ich staune, dass die Ethnologen sich nicht stark machen und selbstbewusster sagen: Ihr Newcomer von Governance, was ihr könnt, machen wir schon lange. Das Governance-Konzept ist ein modernisierter Rechtspluralismus mit politpraktischem Erkenntnisinteresse. So hat die Politikwissenschaftlerin Holzinger ihr Pluralismus-Projekt konsequent auf Governance umgestellt. [5]Traditionale Governance und moderne Staatlichkeit[http://www.polver.uni-konstanz.de/holzinger/forschung/drittmittelprojekte/traditionale-governance-und-moderne-staatlichkeit/; vgl. dazu auch meinen … Continue reading

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Warum Governance? Über den Nutzen des Governance-Ansatzes für die Ethnologie und den Nutzen der Ethnologie für die Governance-Forschung«.
2 Röhl/Röhl, Allg. Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 60 f. mit Nachweisen.
3 Schweitzer S. 7.
4 Eckert u. a. S. 14
5 Traditionale Governance und moderne Staatlichkeit[http://www.polver.uni-konstanz.de/holzinger/forschung/drittmittelprojekte/traditionale-governance-und-moderne-staatlichkeit/; vgl. dazu auch meinen Eintrag vom 14. Juli 2012.

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