Gleichheit und Inklusion

Die Rechtstheorie bekommt die Gleichheit nur schwer oder gar nicht in den Griff, zumal nachdem Gleichheit im politischen Diskurs weitgehend gleichbedeutend mit Gerechtigkeit verwendet wird. Heute fand sich in der heimlichen Juristenzeitung (die inzwischen die meisten ihrer interessanten Artikel im kostenpflichtigen Archiv verschwinden lässt) ein wunderbar polemischer Artikel, der auch im Netz offen zugänglich ist [1]Christian Geyer, Eine unglaubliche Gleichmacherei, FAZ Nr. 147 vom 22. Juli 2014 S. 9. Bevor ich den Artikel zur Lektüre empfehle, hier in Kürze, was die Allgemeine Rechtslehre zur Gleichheit im Recht zu sagen hat:

Zunächst sind die Allgemeinheit des Gesetzes, die Gleichheit vor dem Gesetz und die Gleichbehandlung durch das Gesetz zu unterscheiden. Allgemeinheit des Gesetzes fordert nur, dass persönliche Eigenschaften der Betroffenen nicht von Fall zu Fall unterschiedlich berücksichtigt werden. »Abstrakt« könnte das allgemeine Gesetz die unterschiedliche Behandlung von Männern und Frauen oder gar von Freien und Sklaven zulassen.

Art. 3 der Erklärung der Menschenrechte von 1793 sagte:

Touts les hommes sont égaux par la nature et devant la lois.

Mit der Gleichheit vor dem Gesetz war zunächst nur Rechtsanwendungsgleichheit gemeint, denn das Gesetz war hier als Ausdruck des Gemeinwillens im Sinne der volonté générale Rousseaus gedacht, die per definitionem Ausdruck der Gerechtigkeit ist. Aus der naturrechtlichen Gleichheitsvorstellung folgte die politische Forderung, dass bestimmte persönliche Eigenschaften weder abstrakt bei der Gesetzgebung noch konkret bei der Gesetzesanwendung einen Unterschied machen sollen. In der französischen Revolution bezog sich die Forderung nach égalité zunächst auf Standesunterschiede. In der Formulierung hat Art. 3 I GG nur das »devant la lois« aufgenommen:

»Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.«

Gemeint ist aber darüber hinaus auch die Forderung nach Gleichbehandlung durch das Gesetz (Rechtssetzungsgleichheit). Den Katalog der modernen Diskriminie¬rungsverbote enthält Art. 3 III 1 GG: Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Hei¬mat und Herkunft, Glauben, religiöse und politische Anschauungen oder eine kör¬perliche Behinderung sind keine geeigneten Anknüpfungspunkte für Ungleichbe¬handlung.

Aus der Forderung nach Gleichbehandlung durch das Gesetz ist die Forderung nach Gleichheit im Rechtsverkehr geworden. Sie hat ihren Ausdruck im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) vom 14. 8. 2006 gefunden, mit dem Deutschland die drei Europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien umgesetzt hat.

Gleichbehandlung durch das Gesetz führt zu dem als paradox empfundenen Ergebnis, dass in vielen Situationen Ungleiches gleich behandelt werden muss. Daher gilt das Prinzip der Gleichbehandlung uneingeschränkt nur für die negative Diskriminierung. Dagegen hat sich in den letzten 50 Jahren der Gedanke durchgesetzt, dass eine positive Diskriminierung, d. h. der Ausgleich vorrechtlich gegebener Benachteiligungen, zulässig sei, wie sie in Europa durch Frauenförderung, in den USA durch »affirmative action« zugunsten der nicht weißen Bevölkerung oder in Indien zugunsten der unteren Kasten geschieht.

Noch einen Schritt weiter geht die Forderung nach Inklusion, die durch die UN-Behindertenrechtskonvention zum Tagesthema geworden ist. Soziale Institutionen und Veranstaltungen aller Art sollen Menschen grundsätzlich ohne Rücksicht auf persönliche Eigenschaften inkludieren. Die Vielfalt menschlicher Persönlichkeiten soll in jeder Situation selbstverständlich sein und nicht als Defizit definiert werden. Ein an sich vorhandener Förderbedarf soll nicht zu einer Separierung führen, weil diese die Teilhabe an der Gesellschaft einschränkt. Das meist erörterte Beispiel ist die Aufnahme von Schulkindern mit körperlichen oder geistigen Behinderungen oder Verhaltensstörungen in die Regelschule. Ob solche Inklusion funktionieren kann, ist zurzeit ein großes Thema. Dazu also die markante Stellungnahme von Christian Geier.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Christian Geyer, Eine unglaubliche Gleichmacherei, FAZ Nr. 147 vom 22. Juli 2014 S. 9.

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Luhmanns Rechtsgeltungslehre: Hierarchie und Heterarchie in der Autopoiese des Rechts

Im Eintrag vom 21. 4. 2014 hatte ich festgehalten, dass es mit der Universalität des Funktionssystems Recht nicht so weit her ist, denn bei Bedarf werden dazu Teilsysteme und Subsysteme eingebaut und die Leitunterscheidung des Systems, der Recht/Unrecht-Code, dadurch entwertet, dass eben doch nicht alle Rechtskommunikationen wirklich zählen. Heute will ich mich mit der Frage befassen, ob sich mit Hilfe von Luhmanns Systemtheorie der heterarchische oder Netzwerkcharakter des Rechts begründen lässt, den postmoderne Rechtstheorie behauptet:

»Das Recht … bei Luhmann nimmt grundsätzlich die Form eines kooperativen Netzwerks von privaten Rechtsakten und öffentlichen Rechtsentscheiden an.« [1]Thomas Vesting/Ino Augsberg, Einleitung der Herausgeber: »Das Recht der Netzwerkgesellschaft«. Zu Karl-Heinz Ladeurs Rechts- und Gesellschaftstheorie, in: Karl Heinz Ladeur, Das Recht der … Continue reading

Dafür gibt es in Luhmanns Texten insbesondere zwei Anknüpfungspunkte, nämlich die Zurückweisung von Hierarchien und die Beschreibung des Systems als rekursive Verknüpfung von Rechtskommunikationen.

Aus der Sicht der Systemtheorie ist oder war die Hierarchie – neben der sektoriellen und der funktionalen – eine der drei allgemeinen Differenzierungen der Gesellschaft. Mit Normhierarchien, die in der Rechtstheorie interessieren, hat diese soziale Hierarchie nichts zu tun. Zu den Grundlagen der Systemtheorie gehört ferner die Annahme, dass zwischen den funktional differenzierten Teilsystemen der Gesellschaft, zu denen ja auch das Recht zählt, kein hierarchisches Verhältnis besteht. Auch das ragt nicht in die Rechtstheorie hinein. Zurückgewiesen wird ferner die »alteuropäische Vorstellung« einer die »allgemeinen kosmologischen Hierarchie des Wesens der Dinge« und als juristische Version die Hierarchie von »ewigem Recht, Naturrecht und positivem Recht« die »allgemeinen kosmologischen Hierarchie des Wesens der Dinge« (RdG S. 21, 27, 39). Darauf bezieht sich die Feststellung RdG S. 539, »daß es keine ausgeglichene, harmonische Beschreibung mehr gegeben hat, seitdem man auf das Hierarchiemodell der Rechtsquellen verzichten mußte«. Dort ist die Rechtstheorie schon längst angekommen. Von Normenhierarchien handelt schließlich das folgende Zitat aus dem Aufsatz »Die Einheit des Rechtssystems« von 1983:

»Die Normqualität eines jeden Elements verdankt sich der Normqualität anderer Elemente, für die das gleiche gilt. Es kann also keine Normhierarchien geben.« [2]Rechtstheorie 14, 1983, 129-154, S. 140.

Als rechtstheoretische Aussage wäre das Unsinn, denn – das ist der Kern der Stufenbaulehre – jede Norm bezieht ihre Normqualität aus einer hierarchisch übergeordneten Norm. Das wusste natürlich auch Luhmann. In dem Zitat geht es um den Kern der Systemtheorie, nämlich die Kommunikation, deren operativer Vollzug die Autopoiese des Rechts ausmacht. Es geht um die Zirkulation des Rechtsgeltungssymbols, für die »im Vollzug der Operation zwischen Information, Mitteilung und Verstehen« [3]RdG S. 51. nur Anschlussfähigkeit vorausgesetzt wird. Kausalität und Deduktion sind hier fehl am Platze.

»Die Autopoiesis operiert jenseits aller Deduktion und jenseits aller Kausalität.« [4]Ebd. S. 141.

Das heißt wohl, dass für den soziologischen Beobachter Deduktion und damit auch (logische) Normenhierarchien nicht erkennbar sind. Für die Anschlussfähigkeit braucht es keine hierarchische Ordnung von Kommunikationsangeboten. Die Vernetzung der Rechtskommunikationen ist, wie Luhmann betont, eine bloße Form. Luhmanns Beschreibung der Kommunikation als Synthese von Information, Mitteilung und Verstehen spart den inhaltlichen Aspekt der Anschlusskommunikation aus, denn der spielt sich im psychischen System ab, dass über die Sprache mit dem sozialen System strukturell verkoppelt ist. Der Inhalt spielt nur insoweit eine Rolle, als es sich eben um Recht handeln muss, damit die Anschlussfähigkeit gegeben ist. Der konkrete Inhalt ist insoweit ohne Bedeutung. Was dann aber aus dem »Anschluss« wird, hängt dann doch von dem Inhalt der Mitteilung ab. Erst aus diesem Inhalt folgt ggfs. eine Über- oder Unterordnung, wenn er mit anderen Inhalten abgeglichen wird.

»Nur kognitiv, nicht normativ ist der Richter vom Gesetz abhängig: Er muß feststellen, ob es erlassen ist oder nicht, kann sich hier täuschen und muß sich dann korrigieren.« [5]Ebd. S. 142

Ich muss gestehen, dass ich nicht wirklich begreife, was Normativität hier zu bedeuten hat. Ich entnehme dem Text nur, dass es aus der Binnenperspektive der Jurisprudenz eben doch bei der (kognitiven) Vorstellung der Möglichkeit der Deduktion aus Normen und damit auch aus Normhierarchien verbleibt. Der Inhalt der Anschlusskommunikation wird nicht allein dadurch ausgefüllt, dass sie auf eine Kommunikation reagiert, die den Rechtscode nutzt, sondern sie hängt von dem weitergehenden Inhalt der auslösenden Kommunikation ab, und dieser Inhalt kann auch darin bestehen, dass eine Norm Überordnung über eine andere für sich in Anspruch nimmt. Würde die Stadt Bochum durch Satzung eine kommunale Grunderwerbsteuer einführen, würde spätestens das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen den Steuerbescheid aufheben, weil er gegen übergeordnetes Recht verstößt. Auch die darin liegende Zurückweisung einer Rechtskommunikation ist ein »Anschluss«. Und er transportiert auch Geltung, nämlich die Geltung der grundgesetzlichen Kompetenzregeln für die Steuererhebung.

Der langen Rede kurzer Sinn: Es mag sein, dass man durch das systemtheoretische Fernrohr nur wahrnimmt, in welchem Verkehrsnetz = Funktionssystem die Kommunikationen abgewickelt werden. In die Vehikel, die in diesen Netzen verkehren, will die Theorie nicht hineinsehen. Und deshalb macht sie auch keine Aussage darüber, welche Inhalte dort transportiert werden. Zur Begründung des heterarchischen oder Netzwerkcharakters des Rechts taugt die Theorie nicht.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Thomas Vesting/Ino Augsberg, Einleitung der Herausgeber: »Das Recht der Netzwerkgesellschaft«. Zu Karl-Heinz Ladeurs Rechts- und Gesellschaftstheorie, in: Karl Heinz Ladeur, Das Recht der Netzwerkgesellschaft. Ausgewählte Aufsätze 2013, S. 1-28, S. 13.
2 Rechtstheorie 14, 1983, 129-154, S. 140.
3 RdG S. 51.
4 Ebd. S. 141.
5 Ebd. S. 142

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Globale Modernisierung: Die World Trade Organization wird zur World Tourism Organization

Gestern war ich in Münster, wo vor Gästen der Kolleg-Forschergruppe »Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik« deren Fellow Professor Dr. Volker Schmidt (National University of Singapore, Department of Sociology) sein neues Buch »Global Modernity, A Conceptual Sketch« [1]Basingstoke 2014, ISBN 9781137435804, 100 S. zur Diskussion stellte. Vielleicht komme ich noch dazu, eine kleine Besprechung des Buches zu schreiben. Es ist eine Besprechung wert. Aber Rezensionen sind mühsam. Daher bringe ich heute nur einen Gedanken zu Papier, der mir gestern Abend (nach Weingenuss) durch den Kopf ging. Zuvor nur zwei Bemerkungen zu diesem Buch. Erstens: Die Forschergruppe hat die Modernisierungstheorie vor allem unter dem Gesichtspunkt einer »normativen Moderne« im Blick, den ihr Leiter, Thomas Gutmann, ausarbeitet. Zweitens: Schmidt entwickelt auf der Grundlage der Systemtheorie ein Konzept, das die dritte Phase der Modernisierung erfassen soll. In der ersten Phase lag der Schwerpunkt der Modernisierung in Europa, und hier am Ende in England. In der zweiten Phase verlagerte er sich in die USA. Noch immer sprechen Kritiker der Modernisierungstheorie von einem westlichen Modell. Sie haben – so Schmidt – noch nicht wahrgenommen, dass sich der Schwerpunkt der Entwicklung nach Asien verlagert hat und dass die Modernisierung zu einem definitiv globalen Prozess geworden ist. [2]Auf frühere Beiträge Schmidts zur Modernisierungstheorie habe ich im Eintrag vom 24. 9. 2012 Hingewiesen: Kritik der Konvergenzthese III: Eisenstadts »Vielfalt der Moderne«[ … Continue reading

Nun zu meinem Hirngespinst. Im Raum (ganz hinten in der Ecke) stand die These, dass Europa an Gewicht verliere, und auf die Frage, warum das so bedeutsam sei, erhielt ich zu Antwort, dass Europa dann etwa in der WTO an Verhandlungsmacht verliere und sich, wie heute die Entwicklungsländer, die Regeln des Welthandels aus anderen Regionen der Welt diktieren lassen müsse. Meine Überlegung dazu: Bis es soweit kommt, interessiert der Welthandel kaum noch. Eine Folge der unaufhaltsam fortschreitenden Modernisierung wird sein, dass in nicht allzu ferner Zukunft die Regionen der Welt was ihre Versorgung mit materiellen Gütern betrifft, autark sein werden. Der Welthandel wird schrumpfen, denn Rohstoffe verlieren an Bedeutung. Öl, Kohle und Gas werden durch erneuerbare Energien ersetzt, die lokal gewonnen werden können. Andere Rohstoffe werden recycelt oder substituiert. Billigarbeitskräfte, die Hemden nähen und Handys zusammenbauen, wird es auf Dauer nirgends mehr geben. Die Produktion wird daher an den Ort des Verbrauchs zurückgeholt und dort weitgehend automatisiert. Landwirtschaftliche Produkte aller Art, soweit sie nicht gentechnisch den jeweiligen klimatischen Verhältnissen angepasst werden können, lassen sich nach holländischem Vorbild im Treibhaus ziehen. Wirtschaftliche Autarkie war immer wieder Traum der Politik. Die Modernisierung könnte aus dem Traum Wirklichkeit werden lassen – und aus der World Trade Organization wird dann vielleicht die World Tourism Organization [3]Die gibt es schon als UNWTO. Aber dadurch lasse ich mir meinen Gag nicht verderben..

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Basingstoke 2014, ISBN 9781137435804, 100 S.
2 Auf frühere Beiträge Schmidts zur Modernisierungstheorie habe ich im Eintrag vom 24. 9. 2012 Hingewiesen: Kritik der Konvergenzthese III: Eisenstadts »Vielfalt der Moderne«[ https://www.rsozblog.de/kritik-der-konvergenzthese-iii-eisenstadts-vielfalt-der-moderne/].
3 Die gibt es schon als UNWTO. Aber dadurch lasse ich mir meinen Gag nicht verderben.

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Die Ukraine historisch: Das lebende Recht der Bukowina – Idylle oder Elend?

Die Ukraine beherrscht zurzeit die Medien. Was dort geschieht, ist nach den Maßstäben der Merkel-Republik kaum verständlich. Immer wieder müssen wir uns bewusst machen, dass viele Ereignisse sich nur durch Gefühle erklären lassen, die historisch – und das heißt auch ethnisch, religiös, sozial und durch Gewalt – geprägt worden sind.

1913 erschien Eugen Ehrlichs »Grundlegung der Soziologie des Rechts« Aus diesem Anlass hatte ich zusammen mit Stefan Machura einen Artikel über Ehrlichs Rechtspluralismus geschrieben, der im Dezember 2013 in der Juristenzeitung erschienen ist [1]Klaus F. Röhl/Stefan Machura, 100 Jahre Rechtssoziologie: Eugen Ehrlichs Rechtspluralismus heute, Juristenzeitung 2013, 1117-1128. Natürlich gab es im Jubiläumsjahr mehr Würdigungen für Ehrlich: … Continue reading Nun habe ich zufällig im Bücherschrank meines Bruders ein Buch gefunden, das mir zu denken gibt. Es handelt sich um Martin Pollack, Der Kaiser von Amerika. Die große Flucht aus Galizien, Paul Zsolnay Verlag Wien 2010, als DTV-Taschenbuch 2013.

Galizien, bis zum Ende des ersten Weltkriegs ein österreichisches Kronland, setzte sich aus Teilen Polens und der westlichen Ukraine zusammen. Bis zum Großpolnischen Aufstand 1848 gehörte auch die Bukowina Ehrlichs zu Galizien. Danach wurde sie selbständiges Kronland. Der südliche Teil der Bukowina gehört heute zu Rumänien. Die Nordbukowina mit Czernowitz, wo Ehrlich zu Hause war, ist Teil der Ukraine.

Martin Pollock schildert in seinem Buch, wie etwa zwischen 1870 und dem ersten Weltkrieg Hunderttausende verarmter Menschen, in die USA und teilweise auch nach Kanada und Brasilien auswanderten, man muss sagen, ausgewandert wurden. Eine gute Inhaltsangabe bietet die (namenlose) Rezension der NZZ vom 15. 12. 2010. [2]Eine Rezension von Jörg Plath für Arte-TV unter http://www.arte.tv/de/pollack-martin-kaiser-von-amerika/3655690.html.

Das »galizische Elend« war sprichwörtlich. Etwa ab 1870 wuchs die Bevölkerung Galiziens enorm, von etwa 5,5 Millionen auf 8,2 Millionen Einwohner 1914. Da die große Masse von der Landwirtschaft lebte, die durch rückständige Bewirtschaftungsmethoden und die Realteilung im Erbfall zunehmend verelendete, gingen die Menschen in großer Zahl als Saisonarbeiter nach Deutschland, Frankreich oder Dänemark, oder sie wanderten aus nach Übersee. Der Anteil der Juden an der Bevölkerung lag bei 10 %. Zwischen 1880 und 1910 wanderten insgesamt 236.504 von ihnen in die Vereinigten Staaten aus.

Pollacks Buch ist von der Kritik gelobt worden, weil es ein Sachbuch mit literarischem Anspruch sei, dass diesen Anspruch mit der Schilderung von persönlichen Schicksalen realisiert. Ich kann dieses Lob nicht ganz teilen. Die persönlichen Schicksale bleiben blass; sie beschränken sich auf wenige Daten über Herkunft, Hin- und manchmal Rückfahrt nach Amerika und einige allgemeine Bemerkungen über unfallträchtige Arbeit in Bergbau und Stahlindustrie. In keines dieser Schicksale habe ich mich wirklich hineinversetzen können, auch nicht in das des Mendel Beck, der planlos durch das ganze Buch herumgeistert. Aber auch als Sachbuch ist der Band nicht wirklich informativ. Das Kapitel über »Das galizische Elend in Ziffern« ist unergiebig. Aus Wikipedia-Artikeln über Galizien und über Auswanderung erfährt man mehr. Bessere Informationen zur Bukowina bietet eine Internetseite von Prof. Dr. Peter Maser/Münster mit der Überschrift »Galizien: Grenzlandschaft des alten und neuen Europa«. Und dennoch: Pollocks Buch hat mich bewegt und kommt mir jetzt wieder in den Sinn, wo ich jeden Tag über die Ukraine höre und lese. Nicht nur deshalb ist es aktuell. Es schärft auch den Blick für die Armutsfluchtbewegung aus Afrika.

Aus Pollocks Buch erfährt man naturgemäß wenig über das »lebende Recht der Bukowina«. Immerhin: Auf S. 43 ff (»Handel mit delikatem Fleisch«) liest man einiges über Prostitution und den florierenden Mädchenhandel [3]Auf einer Internetseite, die aus der Universität Lemberg kommt, heißt es dazu: »Sozusagen ein ›Nebenprodukt‹ der organisierten Emigration war der Mädchenhandel – nach seriösen Schätzungen … Continue reading, auf S. 59 (»Zum Engelmachen unterbracht«) über die gängige Abtreibungspraxis. Und auf S. 109 ff (»Ein Massenprozess«) erfährt man von einer Justizaktion gegen 65 betrügerische Auswanderungsagenten und korrupte Beamte, von denen 31 verurteilt wurden. Viele seiner Informationen hat der Autor anscheinend aus den Prozessakten. Leider sind die Informationen über den Prozess über das halbe Buch verstreut. [4]In der Judaica-Sammlung der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main (Freimann-Sammlung) findet sich eine zeitgenössische Zusammenstellung von antisemitischen Prozessberichten aus verschiedenen … Continue reading Harmlos dagegen S. 73f: Eier, Butter und Käse gehören traditionell der Bäuerin, die Bienen und ihre Produkt hingegen sind Eigentum des Mannes. Beides wird verkauft, um mit dem Erlös die wichtigsten Anschaffungen zu tätigen. Ich überlege mir aber, ob der Hintergrund des »galizischen Elends« in irgendeiner Weise die Bewertung von Ehrlichs Rechtspluralismus tangiert. Kein Wunder, dass in dem geschundenen Galizien das offizielle Recht der österreichischen Monarchie keine gute Chance hatte. Ehrlich kannte natürlich das »galizische Elend«, insbesondere das der Juden [5]In einem Vortrag aus dem Jahre 1909 empfahl er zur Abhilfe die Assimilierung der Juden und die Industrialisierung der Bukowina: Die Aufgaben der Sozialpolitik im österreichischen Osten (Juden- und … Continue reading Sein »lebendes Recht« erscheint vor diesem Hintergrund jedoch eher wie eine Idylle.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Klaus F. Röhl/Stefan Machura, 100 Jahre Rechtssoziologie: Eugen Ehrlichs Rechtspluralismus heute, Juristenzeitung 2013, 1117-1128. Natürlich gab es im Jubiläumsjahr mehr Würdigungen für Ehrlich: Mikhail Antonov, Eugen Ehrlich – State Law and Law Enforcement in Societal Systems, Rechtstheorie 44Heft 3, 275-286; Hubert Rottleuthner, Das Lebende Recht bei Eugen Ehrlich und Ernst Hirsch, Zeitschrift für Rechtssoziologie 33, 2012/191-206. In demselben Heft (S. 322-325) bespricht Stefan Machura den von Heinz Barta/Michael Ganner/Voithofer Caroline herausgegebenen Sammelband »Zu Eugen Ehrlichs 150. Geburtstag und 90. Todestag« Innsbruck 2013.
2 Eine Rezension von Jörg Plath für Arte-TV unter http://www.arte.tv/de/pollack-martin-kaiser-von-amerika/3655690.html.
3 Auf einer Internetseite, die aus der Universität Lemberg kommt, heißt es dazu: »Sozusagen ein ›Nebenprodukt‹ der organisierten Emigration war der Mädchenhandel – nach seriösen Schätzungen wurden pro Jahr mindestens 10.000 Mädchen aus Galizien an Bordelle in Südamerika, Ägypten oder auch Indien verkauft. Die österreichischen Behörden sahen dem Treiben der Auswanderungsagenten weitgehend tatenlos zu, sie wollten bloß verhindern, dass wehrpflichtige Personen das Land verließen. Nur in einzelnen, besonders krassen Fällen wurden Agenten zur Verantwortung gezogen«.
4 In der Judaica-Sammlung der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main (Freimann-Sammlung) findet sich eine zeitgenössische Zusammenstellung von antisemitischen Prozessberichten aus verschiedenen Zeitungen.
5 In einem Vortrag aus dem Jahre 1909 empfahl er zur Abhilfe die Assimilierung der Juden und die Industrialisierung der Bukowina: Die Aufgaben der Sozialpolitik im österreichischen Osten (Juden- und Bauernfrage), in: Eugen Ehrlich, Politische Schriften, hrsg. von Manfred Rehbinder, 2007, 131-151.

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Luhmanns Rechtsgeltungslehre: Statik und Dynamik, Prozess und Struktur

Der Eintrag vom 21. 4. 2014 endete mit der Feststellung, dass Luhmanns Theorie der Rechtsgeltung keine universale Geltung für das Rechtssystem schlechthin behauptet, sondern dass sie sich stets nur in einem Rechtssystem im engeren Sinne oder gar nur in einem Entscheidungssystem realisiert, so dass wir an unserem Ausgangspunkt, der Relativität der Rechtsquellenlehre festhalten, können. Dieser Eintrag wendet sich der Frage zu, ob das Symbol der zirkulierenden Rechtsgeltung geeignet ist, den Begriff der Rechtsquelle zu ersetzen, wie es Luhmann angedeutet hat:

»Im Anschluß an eine Terminologie, die Talcott Parsons in seiner Theorie symbolisch generalisierter Tauschmedien benutzt, kann man auch von einem im System zirkulierenden Symbol sprechen und damit die Metapher der Quelle durch die Metapher des Zirkulierens ersetzen. Wenn man eine Rechtsnorm als geltend bezeichnet, symbolisiert das mithin die Anschlussfähigkeit im System. …: Das Recht hält sich, so könnte man sagen, am Symbol der Rechtsgeltung fest und reidentifiziert sich damit von Situation zu Situation neu. Die Einheit des Systems kommt darin zum Ausdruck, dass es nur eine Geltung gibt, so wie es nur eine Währung gibt.« [1]Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 279; ähnlich, aber ohne Anspruch auf Ersatz der Rechtsquellenmetapher RdG S. 107.

Um die Einheit des Systems herzustellen gäbe es vielleicht noch andere Rezepte, z. B. Kelsens Grundnorm. Das Ergebnis wäre eine hierarchische Struktur. Struktur ist statisch. Genau davon will Luhmann wegkommen. Das Recht als Kommunikationssystem ändert »seinen eigenen Zustand von Moment zu Moment«. Es ist ständig in Bewegung:

»Das System besteht nur aus zeitgebundenen Ereignissen, nicht aus festen Bestandteilen (Atomen, Individuen) etc. Es realisiert sich in der Form dynamischer Stabilität durch geregelte Reproduktion. Als operativ geschlossenes System kann es seinen eigenen Zustand nur durch Änderung seines Zustandes bestimmen. Es muß als eine historische Maschine begriffen werden, die sich von Moment zu Moment in eine andere Maschine verwandelt, sich von Moment zu Moment neu konstruiert; und dies ausschließlich mit systemeigenen Operationen, die eine Doppelfunktion erfüllen, nämlich einerseits die Reproduktion zu vollziehen und zugleich die dafür Strukturen (Normen) zu bestimmen, zu ändern, zu vergessen.« [2]Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 279; ähnlich RdG S. 107.

Die »historische Maschine« Recht arbeitet, indem sie das Recht in der Gestalt von Rechtskommunikationen wie einen Kettenbrief anbietet. Der Empfänger kann ihn liegen lassen, ihn unverändert oder mit anderem Inhalt weiterleiten.

»Was immer sich ändert, ändert sich als Änderung des geltenden Rechts. Jede Änderung muß an den gegebenen Rechtszustand anknüpfen. Geltung heißt mit anderen Worten, daß, was immer mit dem Recht geschieht, passen muß, also eingepasst werden muß. … Geltung ist das Symbol für die Selbstreproduktion des Rechts. Und Zirkulation heißt dann nichts weiter als: daß das Geltungssymbol in jeder rechtlichen Operation, die es in Anspruch nimmt, weitergereicht werden muß, damit weitere Operationen an den dadurch gegebenen Zustand anknüpfen können.« [3]Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 1991, 273-286, S. 279f.

Hier noch einmal eine Formulierung aus RdG (S. 102):

»Wir verlagern das Problem deshalb auf die operative Ebene und sehen im Symbol der Rechtsgeltung nur den Vollzug des Übergangs von einem Rechtszustand in einen anderen, also nur die Einheit der Differenz eines vorher und nachher geltenden Rechtszustands.«

So abstrakt formuliert, kann man dem nur beipflichten. Wer wollte bestreiten, dass die (soziale) Welt sich mit jeder Sekunde, durch jede Handlung und durch jede Kommunikation, und sei es auch nur minimal, bewegt.

Der Gedanke, dass Gesetze »leben«, das heißt, dass sie durch die Praxis laufend neu »interpretiert« werden, ist auch der juristischen Diskussion nicht fremd. So ist im Untertitel von Peter Häberles bekanntem Aufsatz über »Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten« (JZ 1975, 297-305) von »prozessualer« Verfassungsinterpretation die Rede, und seine These lautet: »Wer die Norm ›lebt‹, interpretiert sie auch (mit).« Praxis bedeutet dabei nicht nur die Anwendung einer Norm in Gerichtsurteilen, sondern jede Berufung auf darauf durch Behörden und Parlamentarier, Bürger und ihre Anwälte, Sachverständige und Interessenvertreter, die Zivilgesellschaft und die Medienöffentlichkeit.

Aber mit dieser Einsicht ist wenig gewonnen. Das ist, als wenn wir uns über den Rhein informieren wollen und dazu in Köln auf einer Brücke stehen und sehen, wie darunter ständig neues Wasser fließt. Das wird auf die Dauer ziemlich langweilig. Was wirklich interessiert, sind Wassermenge und Wasserqualität, Strömungsgeschwindigkeit und Wasserstand, und zwar nicht nur für hier und heute, sondern für das ganze Jahr und für den ganzen Rhein. Was interessiert ist, mit anderen Worten, nicht die Dynamik an sich, sondern ihre Struktur. Analog steht es um das Recht.

Es hilft dem Juristen wenig, wenn die Rechtsgeltung ins Fließen gebracht wird, wenn die Unterscheidungen zwischen geltendem und deshalb anzuwendendem Recht, der Genese solchen Rechts und seiner Durchsetzung, in der historischen Maschine zermahlen werden. Mindestens vorübergehend müssen solche Unterscheidungen festgehalten werden, auch wenn man weiß, dass laufend Veränderungen stattfinden und dass auch die eigene Entscheidungstätigkeit oder gar nur das eigene Interpretationsbemühen wiederum als Mini-Bagatellvariation in das historische Geschehen eingehen. Der langen Rede kurzer Sinn: Luhmanns Theorie der Rechtsgeltung als zirkulierendes Symbol ist eine soziologische Beschreibung des Rechtsgeschehens, von der sich die praxisorientierte Reflexionstheorie des Rechts absetzen muss. Als Grundlage der Rechtsquellentheorie eignet sie sich nicht. Und das hat natürlich auch Luhmann nicht verkannt. Ich wiederhole noch einmal aus dem Zitat von RdG S. 98:

»Im Unterschied zu Reflexionstheorien … handelt es sich bei einem solchen Symbol nicht um eine Beschreibung des Systems, sondern um eine operative Funktion. Das Symbol leistet also nicht eine Verknüpfung von Beobachtungen, sondern eine Verknüpfung von Operationen – obwohl natürlich alle Operationen im System beobachtet und beschrieben werden können und somit auch das Systemsymbol selbst.«

Dieser Gesichtspunkt wird RdG S. 523 wieder aufgenommen:

»… die Frage, was denn als Recht gilt bzw. nicht gilt. Wir hatten diese Frage auf unsere Weise bereits mit der Theorie des im geschlossenen System zirkulierenden Geltungssymbols beantwortet. Aber das ist eine externe Beschreibung, keine justitiable Selbstbeschreibung des Systems. Deshalb muß man die Positivität des Rechts und den rechtstheoretischen Positivismus als im System fungierende Selbstbeschreibung unterscheiden. Der rechtstheoretische Positivismus beantwortet die Geltungsfrage mit Hilfe des Begriffs der Rechtsquelle.«

Nach einer schönen Paraphrase zur Quellenmetapher geht es S. 524 weiter:

»… wird sie zum Begriff für die begründete Geltung abstrakter rechtlicher Normen. Der theoretische Gewinn liegt auf der Hand. Der Begriff der Rechtsquelle erlaubt eine einfache Identifikation des geltenden Rechts und erspart jede weitere Frage nach der Natur des Rechts, dem Wesen des Rechts oder auch den Kriterien der Abgrenzung von Recht und Sitte, Recht und Moral.«

Für die Reflexionstheorien des Rechts und ihre Rechtsquellenlehre bedarf es danach keiner Umstellung auf »Zirkulation«.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 279; ähnlich, aber ohne Anspruch auf Ersatz der Rechtsquellenmetapher RdG S. 107.
2 Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 279; ähnlich RdG S. 107.
3 Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 1991, 273-286, S. 279f.

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Luhmanns Rechtsgeltungslehre: Ein Rechtssystem oder viele?

Wer in der Rechtstheorie etwas auf sich hält, fordert eine neue Rechtsquellenlehre. [1]Z. B. Thomas Vesting, Rechtstheorie, 2007, Rn. 184. Wie sie aussehen soll, scheint klar zu sein: heterarchisch und pluralistisch. Was das konkret bedeutet, bleibt allerdings ziemlich offen. Wir sehen bei der Überarbeitung der Allgemeinen Rechtslehre [2]Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008. noch nicht so klar, ob und wie die Rechtsquellenlehre zu erneuern ist.

Wir sind immerhin entschlossen, die Relativität der Rechtsquellenlehre zu betonen. Es gibt – so unser Ausgangspunkt – keinen universellen Rechtsbegriff, und daher gibt es auch keine universelle Rechtsquellenlehre. Die Rechtsquellenlehre ist vielmehr relativ zu dem Rechtssystem, für das sie maßgeblich sein soll. Dieses Rechtssystem wiederum wird durch ein Gerichtssystem individualisiert. Es ist die Aufgabe der Rechtsquellenlehre, den Richtern auf ihre Frage zu antworten: Wonach sollen wir judizieren? Ungeachtet aller inneren Differenziertheit betrachten wir das staatliche Gerichtssystem als eine Einheit und gelangen so zu einer Rechtsquellenlehre für eben dieses Gerichtssystem. Aus der Abhängigkeit der Rechtsquellenlehre vom Gerichtssystem folgt, dass jeder Staat über seine eigene Rechtsquellenlehre verfügt. Darüber hinaus haben staatsunabhängige und/oder übernationale Gerichtssysteme ihre eigenen Rechtsquellen.

Andererseits stehen alle Rechtsquellenlehren vor ähnlichen Problemen. Sie müssen mehr oder weniger alle die gleichen Elemente verarbeiten und deren Verhältnis zueinander klären: Staatliche Gesetze und internationale Rechtsregeln, juristische Lehrmeinungen, naturrechtliche Forderungen, richterliche Präjudizien, autonome Satzungen, administrative, technische und soziale Normen (Gewohnheitsrecht, Verkehrssitte, Handelsbrauch, Geschäftsbedingungen, betriebliche Übung) Soft Law verschiedener Provenienz und gesellschaftliche Erwartungen, kurzum das ganze Angebot, das heute unter dem Titel des Rechtspluralismus vorgestellt wird.

Die übliche Antwort auf die Frage, wonach die Gerichte judizieren sollen, lautet: Nach geltendem Recht. Damit baut die Rechtsquellenlehre auf einer Theorie der Rechtsgeltung auf. Das ist jedoch nur beschränkt hilfreich, weil das Problem der Rechtsgeltung meistens abstrakt philosophisch für das Recht schlechthin erörtert wird, also nicht im Hinblick auf ein bestimmtes abgrenzbares Rechtssystem. Zu einer Rechtsquellenlehre passen deshalb nur solche Theorien, die die Geltung der Normen gerade des Rechtssystems begründen, für das die Rechtsquellenlehre maßgeblich sein soll. Diesen Anforderungen genügen praktisch Kelsens Theorie der Grundnorm und Harts Anerkennungslehre.

Eine der Fragen, die die Rechtsquellenlehre umtreibt, ist die nach der Existenz transnationalen Rechts oder gar eines Weltrechts. Besonders in diesem Zusammenhang wird häufig die Rechtsgeltungstheorie Luhmanns herangezogen, stets affirmativ und oft als so selbstverständlich, dass nicht einmal auf ihre Quelle verwiesen wird.

»Was wir hier beobachten, ist ein sich selbst reproduzierender Rechtsdiskurs globalen Ausmaßes, der seine Grenzen durch Benutzung des binären Codes Recht/Unrecht schließt und sich selbst durch Prozessieren eines Symbols globaler (nicht: nationaler) Geltung reproduziert.« [3]Gunther Teubner, Globale Bukowina: Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus, Rechtshistorisches Journal 15, 1996, 255-290, Hier zitiert nach der Internetfassung … Continue reading.

Bei Fischer-Lescano/Teubner, Regimekollisionen, 2006, 42 ist zu lesen:

»Ein einheitliches Weltrecht reproduziert sich durch die Autopoiese von Rechtsoperationen, die … letztlich alle auf die binäre Codierung von Recht/Unrecht ausgerichtet sind. Nur gründet sich die Einheit des Weltrechts nicht mehr strukturell wie im Nationalstaat auf gerichtshierarchisch abgesicherter Konsistenz des Normgefüges, sondern bloß noch prozessual auf den Verknüpfungsmodus der Rechtsoperationen, über den auch ganz heterogene Rechtsordnungen verbindliche Rechtsgeltung transferieren.«

Und noch ein drittes Beispiel:

»Jenseits der nationalen Rechtsordnungen und des Völkerrechts ist eine neue transnationale Form des Rechts im Entstehen begriffen. … Dieses transnationale Recht ist jedoch intern fragmentiert, es entsteht im Kontext partikularer Regimes. Diese Regimes operieren zwar in einem einheitlichen Medium der Rechtsgeltung, sind aber auf der Ebene ihrer Rechtsanwendungsregeln voneinander unabhängig.« [4]Moritz Renner, Zwingendes Rechts, 2011, 293.

Ich habe nirgends eine ausführliche Darstellung und Würdigung von Luhmanns Geltungslehre gefunden. Deshalb will ich versuchen, sie mir selbst aus seinen Texten zu erschließen, und zwar vor allem unter dem Aspekt, ob diese Geltungslehre ein universelles Rechtssystem postuliert oder ob sie viele Rechtssysteme akzeptiert. Dabei ist von vornherein klar, dass Luhmanns Geltungstheorie eine soziologische Beobachtertheorie und keine juristische Reflexionstheorie bildet. Das betont Luhmann doppelt. [5]Das Recht der Gesellschaft = RdG, 1993, 98 und 523. Bei denen, die diese Theorie heranziehen ist das nicht immer so klar. Auch Luhmann selbst kann der Versuchung, aus der soziologischen Theorie Konsequenzen für die juristische Rechtsquellenlehre abzuleiten, nicht ganz widerstehen. [6]Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 282. Darauf wird zurückzukommen sein.

Keine Frage auch: Die funktionale Differenzierung der Gesellschaft in die großen Teilsysteme, von denen das Recht eines darstellt, wird bisher immer noch von der sektoriell-territorialen Differenzierung überlagert. 1971 hatte Luhmann darauf hingewiesen, es bestehe eine zunehmende Diskrepanz zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Kommunikation, die längst zur Weltgesellschaft zusammengewachsen seien, und dem positiven Recht, das immer noch innerhalb territorialer Grenzen als nationales Recht in Geltung gesetzt werde. [7]Niklas Luhmann, Die Weltgesellschaft, ARSP 57, 1971, 1-35. Die von Luhmann wiederholt betonte Einheit des Rechtssystems ist oder war die Einheit vieler nationaler Rechtssysteme. Wollten wir Luhmann folgen, so wäre die Suche nach einem universellen Weltrechtssystem müßig. Er meinte, das Rechtssystem habe sich im Hinblick auf die Erfordernisse des territorial begrenzten Nationalstaates in einem komplizierten Kopplungsverhältnis mit der Politik entwickelt, so dass schwer vorstellbar sei, wie es auf Weltebene eine Entsprechung finden könne. Die Summe seiner Rechtssoziologie, das »Recht der Gesellschaft« von 1993 endet mit der Prognose:

»Es kann daher durchaus sein, daß die gegenwärtige Prominenz des Rechtssystems und die Angewiesenheit der Gesellschaft selbst und der meisten ihrer Funktionssysteme auf ein Funktionieren des Rechtscodes nichts weiter ist als eine europäische Anomalie, die sich in der Evolution einer Weltgesellschaft abschwächen wird.«

Die Nach-Luhmann-Generation der Systemtheorie will diese Prognose nicht akzeptieren. Sie geht davon aus, dass die Weltgesellschaft ebenso wie bisher die Staaten auf das Funktionieren des Rechtscodes angewiesen sei und postuliert die laufende Schwächung der territorialen Rechtssysteme zugunsten eines transnationalen Rechtssystems. Für die Entstehung und Existenz dieses transnationalen Rechts spielt das »Symbol« oder »Medium« der Rechtsgeltung eine wichtige Rolle.
Die zentrale Textstelle, mit der Luhmann seine Geltungstheorie vorstellt, findet sich im »Recht der Gesellschaft« (RdG) 1993, S. 98:

»Ebenso wie andere Funktionssysteme verfügt auch das Rechtssystem über ein Symbol, das die Einheit des Systems im Wechsel seiner Operationen erzeugt. Im Unterschied zu Reflexionstheorien … handelt es sich bei einem solchen Symbol nicht um eine Beschreibung des Systems, sondern um eine operative Funktion. Das Symbol leistet also nicht eine Verknüpfung von Beobachtungen, sondern eine Verknüpfung von Operationen – obwohl natürlich alle Operationen im System beobachtet und beschrieben werden können und somit auch das Systemsymbol selbst. Die operative Symbolisierung setzt tiefer an als die Beobachtungen, sie ist für den Fortgang von Operation zu Operation, also für das Herstellen von rekursiven Bezügen und für das Finden von Anschlußoperationen unentbehrlich – was immer dann ein Beobachter daran zu unterscheiden und zu bezeichnen vermag. Den Begriff ›Symbol‹ wählen wir deshalb, weil es darum geht, in der Verschiedenheit der Operation die Einheit des Systems zu wahren und zu reproduzieren. Dies leistet im Rechtssystem das Symbol der Rechtsgeltung. … Ebenso wie Geld ist auch Geltung ein Symbol … ›Geltung‹ symbolisiert, … wie das Geld, nur die Akzeptanz der Kommunikation, also nur die Autopoiesis der Kommunikationen des Rechtssystems.«

Die Autopoiesis des Rechtssystems funktioniert dadurch, dass Rechtskommunikationen an Rechtskommunikationen (und nur an solche) anschließen. Rechtskommunikationen sind daran erkennbar, dass sie die Leitunterscheidung (den »Code«) von Recht und Unrecht verwenden. Schwierigkeiten bereitet (mir) zunächst die Frage, was genau es heißt, auf den Recht/Unrecht-Code zu abzustellen.

Von »Recht« zu reden genügt nicht, um sich im Rechtssystem zu bewegen. Verwende ich den Code, wenn ich ihn hier erwähne und problematisiere? Sicher nicht. Auch der Rechtshistoriker, der Rechtsentwicklungen beschreibt und deutet, hat seine Mitteilungen nicht nach Recht und Unrecht codiert.

»In der Umwelt des Rechts kann es zwar Sinnverweisungen auf das Recht geben – etwa Rechtsunterricht, Reportage über Gerichtsfälle in Zeitungen –, aber keine Operationen, die durch Zuordnung der Werte Recht bzw. Unrecht hat an der Reproduktion des Rechtssystems mitwirken.« [8]Die Codierung des Rechtssystems, Rechtstheorie 1986, 171-203, S. 178.

Recht hat eine normative Funktion, und deshalb gehört

»ins Rechtsystem selbst nur … eine Kommunikation, die eine Zuordnung der Werte ›Recht‹ und ›Unrecht‹ behauptet; denn nur eine solche Kommunikation sucht und behauptet eine rekurrente Vernetzung im Rechtssystem«. [9]RdG S. 67.

Zur Verwendung des Codes gehört also, dass der Kommunizierende eine Rechtsbehauptung aufstellt, wie trivial auch immer sie sei. Es kommt nicht darauf an, wer kommuniziert, also darauf, ob der Kommunizierende eine besondere Rolle im Rechtsystem – als Richter, Anwalt usw. – ausfüllt. Auch der Laie kann an der Rechtskommunikation teilnehmen. Es kommt auch nicht darauf an, ob der Kommunizierende ein Recht für sich in Anspruch nimmt, ein Recht für andere geltend macht oder ganz abstrakt darüber redet, dass dieses oder jenes als Recht anzusehen sei. Es kommt weiter nicht darauf an, ob aktuell geltendes Recht behauptet (oder bestritten) wird oder ob die Änderung bestimmter Normen vorgeschlagen oder gar gefordert wird. [10]RdG S. 68 So gehört eine Gesetzesinitiative des Bundesrats ebenso zur Rechtskommunikation wie ein Leserbrief, der sie kritisiert. Luhmann lässt daran eigentlich keinen Zweifel. In dem Aufsatz »Die Codierung des Rechtssystems« von 1986 [11]Rechtstheorie 17, 1986, 171-203. unterscheidet er zwischen dem von ihm gemeinten Rechtssystem und Organisationssystemen des Rechts, nämlich solchen die »mit professioneller Sachkunde durch dafür eingerichtete Organisationen Recht erkenn[en] und Entscheidungen über Recht herbeiführ[en]«. Weiter ist zu lesen

»Nicht nur der organisatorisch-professionelle Komplex, sondern alle Kommunikationen, die auf den Rechtscode Bezug nehmen, sind Operationen des Rechtssystems – gleichgültig ob es sich um bindende Entscheidungen handelt, oder um ›private‹ Rechtsbehauptungen, um kautelarische Vorsorge für Rechtspositionen oder um Versuche, sich angesichts eines drohenden Rechtsstreites zu verständigen. Alle rechtlich codierten Kommunikationen ordnen sich eben durch die Zuordnung zu diesem Code dem Rechtssystem ein. Dies kann nur entweder geschehen oder nicht geschehen, es gibt keine Halbheiten oder Zwischenzustände.« [12]S. 178..

Das ist deutlich. In Fn. 9 spricht Luhmann von der für die Theorie autopoietischer Systeme fundamentalen »Alles-oder-Nichts Annahme«. Das Rechtssystem verträgt also auch Trivialkommunikation. Doch transportiert diese auch das Symbol der Rechtsgeltung? Zweifel kommen auf, wenn zu lesen ist:

»Wir verlagern das Problem deshalb auf die operative Ebene und sehen im Symbol der Rechtsgeltung nur den Vollzug des Übergangs von einem Rechtszustand in einen anderen, also nur die Einheit der Differenz eines vorher und nachher geltenden Rechtszustands.« [13]RdG S. 102

Passt das noch für alle Rechtskommunikationen? Die Zweifel werden verstärkt, wenn es in einem älteren Aufsatz Luhmanns heißt:

»daß Ereignisse nur dann die Qualität einer Elementareinheit des Rechtssystems erhalten können, wenn sie die Rechtslage ändern. … die Selbstreproduktion des Rechts vollzieht sich als Rechtsänderung, als Übertragung der Qualität normativer Geltung auf partiell neue Erwartungen. Das Recht befindet sich mithin in ständiger Bagatellvariation, und die bewährten Großfiguren wie Vertrag und Gesetz sind nur ausdifferenzierte Formen dieses Geschehens.« [14]Die Einheit des Rechtssystems, Rechtstheorie 14, 1983, 129-154, S. 136.

Bisher war ich davon ausgegangen, dass jede Rechtskommunikation in dem oben ausgeführten Sinne eine »Elementareinheit des Rechtssystems« bildet, und zwar auch die triviale Rechtskommunikation, also etwa der Leserbrief, der zu einer rechtspolitischen Frage Stellung nimmt, oder der Jammer meines Nachbarn, das Gericht, das ihn verurteilt habe, habe falsch entschieden. Wie könnte solche Trivialkommunikation das Symbol der Rechtsgeltung pflegen? Laien können dieses Symbol immerhin in Rechtsgeschäften weiterreichen. Sonst »zirkuliert« es wohl doch eher in der professionellen Rechtskommunikation oder gar im Organisationssystem »Recht«, denn

»bei Vermehrung unkoordinierter Normprojektionen [wird] der Punkt erreicht, an dem eine quasi naturwüchsige Reflexivität im normativen Erwarten normativen Erwartens keine Lösungen mehr liefert und ersetzt werden muß durch die Ausdifferenzierung eines organisierten Entscheidungssystems im Recht, das dann die Blicke auf sich zieht und ein Netzwerk von offiziell geltenden Normen entwickelt«. [15]RdG S. 162.

Daher entsteht als

»Bedingung einer universellen und verläßlich erwartbaren Codierung nach Recht/Unrecht, im Rechtssystem ein engerer Bereich des rechtlich verbindlichen Entscheidens – sei es zur Feststellung, sei es zu zur Änderung des Rechts. Hier handelt es sich um ein organisiertes Teilsystem, das heißt um ein System, das sich durch die Unterscheidung von Mitgliedern/Nichtmitgliedern ausdifferenziert und die Mitglieder in ihrer Mitgliedschaftsrolle verpflichtet, Entscheidungen zu produzieren, die sich nach den (innerhalb der Organisation änderbaren) Programmen des Systems, also nach den Rechtsnormen richten. Wir haben für dieses Entscheidungssystem des Rechtssystems nur Bezeichnungen für die dann wieder differenzierten Subsysteme, nämlich Gerichte und Parlamente …, aber keine Bezeichnung für die Einheit dieses Systems. Wir werden deshalb von einem organisierten Entscheidungssystem des Rechtssystems sprechen« [16]RdG S. 144f.

Das Entscheidungssystem ist also ein Teilsystem des Rechtssystems überhaupt und verfügt seinerseits über diverse Subsysteme. Luhmann nennt nur Gerichte und Parlamente. Aber man wird auch Verwaltungen, die Anwaltschaft und die Rechtswissenschaft als Subsysteme dieses Teilsystems einordnen dürfen. Wenn dem so ist, das heißt, wenn das Entscheidungssystem die Gestalt von einer oder mehreren Organisationen hat, dann gibt es so viele Entscheidungssysteme wie es Gerichtssysteme gibt, nämlich mindestens in jedem Staat eines, daneben weitere im übernationalen Raum und vielleicht auch innerhalb der Staaten.

Es bleibt auch nicht dabei, dass jede Rechtskommunikation zählt, wie trivial und laienhaft sie auch immer sei. Erforderlich ist vielmehr ein qualifiziertes Rechtshandeln.

»Die wichtigste theoretische Konsequenz ist: daß Ereignisse nur dann die Qualität einer Elementareinheit des Rechtssystems erhalten können, wenn sie die Rechtslage ändern. Der Grund der Einheitszuschreibung ist eben, daß man dadurch die Differenz von Kontinuität und Diskontinuität operationalisiert und daß man daraufhin im Normalfalle hinreichend leicht und hinreichend rasch feststellen kann, was sich durch ein bestimmtes Rechtshandeln geändert hat. … die Selbstreproduktion des Rechts vollzieht sich als Rechtsänderung, als Übertragung der Qualität normativer Geltung auf partiell neue Erwartungen. Das Recht befindet sich in beständiger Bagatellvariation, und die bewährten Großfiguren wie Vertrag oder Gesetz sind nur ausdifferenzierte Formen dieses Geschehens.« [17]Die Einheit des Rechtssystems, Rechtstheorie 14, 1983, 129-154, S. 135f.

Deutlicher noch ist RdG S. 107 f:

»Nicht jede Rechtskommunikation transportiert allerdings Geltung in diesem Sinne, zum Beispiel nicht das bloße Anmelden von Rechtsansprüchen. Es muß sich um rechtswirksame Entscheidungen handeln. Diese liegen aber nicht nur in den Entscheidungen des Gesetzgebers und der Gerichte, sondern in breitestem Umfang auch in der Gründung von Korporationen und in Verträgen, die in die Rechtslage eingreifen und sie ändern. Es genügen einseitig verbindliche Erklärungen (zum Beispiel Testamente), nicht aber bloße Fakten, die Rechtsfolgen auslösen – etwa der Tod eines Erblassers oder eine strafbare Handlung. Ähnlich wie im Wirtschaftssystem die Geldzahlung ist auch im Rechtssystem der Geltungstransfer nicht identisch mit der Gesamtheit der Systemoperationen; aber es handelt sich um diejenigen Operationen, die die Autopoiesis des Systems vollziehen und ohne die die Ausdifferenzierung eines operativ geschlossenen Rechtssystems nicht möglich wäre.«

Aus dem umfassenden Kommunikationssystem des Rechts wird damit ein »Rechtssystem im engeren Sinne« [18]Gralf-Peter Calliess, Systemtheorie: Luhmann/Teubner, in: Sonja Buckel u. a. (Hg.), Neue Theorien des Rechts, 2006, 57-75, S. 62. herausgehoben. Von dem großen universellen Rechtssystem bleibt nicht viel übrig, und wir können an unserem Ausgangspunkt festhalten. Wenn wir in einer (als Reflexionstheorie des Rechts systemtheoretisch angeleiteten) Rechtstheorie von Rechtsgeltung reden, reden wir über Rechtsgeltung im Entscheidungssystem. Aufgabe der Rechtsquellenlehre ist es dann, das für ein bestimmtes Entscheidungssystem geltende Recht zusammenzustellen. Das bedeutet also, die Rechtsquellenlehre ist relativ zu dem jeweiligen Entscheidungs- bzw. Gerichtssystem. Von der »Gesamtheit der Systemoperationen« dürfen wir getrost die große Masse vergessen und uns auf die herkömmlich dem Recht zugeordneten Elemente konzentrieren.

Damit ist Luhmanns Geltungstheorie aber nicht erschöpft. Immerhin soll das zirkulierende Geltungssymbol, wie Luhmann andeutet [19]Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 279., den Rechtsquellenbegriff ersetzen und deshalb verlangt dieser Eintrag nach Fortsetzung.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Z. B. Thomas Vesting, Rechtstheorie, 2007, Rn. 184.
2 Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008.
3 Gunther Teubner, Globale Bukowina: Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus, Rechtshistorisches Journal 15, 1996, 255-290, Hier zitiert nach der Internetfassung http://www.jura.uni-frankfurt.de/42828668/BUKOWINA_DT.pdf, dort S. 13.
4 Moritz Renner, Zwingendes Rechts, 2011, 293.
5 Das Recht der Gesellschaft = RdG, 1993, 98 und 523.
6 Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 282.
7 Niklas Luhmann, Die Weltgesellschaft, ARSP 57, 1971, 1-35.
8 Die Codierung des Rechtssystems, Rechtstheorie 1986, 171-203, S. 178.
9 RdG S. 67.
10 RdG S. 68
11 Rechtstheorie 17, 1986, 171-203.
12 S. 178.
13 RdG S. 102
14 Die Einheit des Rechtssystems, Rechtstheorie 14, 1983, 129-154, S. 136.
15 RdG S. 162.
16 RdG S. 144f.
17 Die Einheit des Rechtssystems, Rechtstheorie 14, 1983, 129-154, S. 135f.
18 Gralf-Peter Calliess, Systemtheorie: Luhmann/Teubner, in: Sonja Buckel u. a. (Hg.), Neue Theorien des Rechts, 2006, 57-75, S. 62.
19 Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 279.

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»Erotisches Kapital«: Nachträge statt Fortsetzung

Die Fortsetzung des Eintrags vom 24. 2. lässt schon über einen Monat auf sich warten. Der Grund ist simpel. Ich habe mich mit dem Thema übernommen, und zwar gleich mehrfach. Erstens braucht es für eine handfeste ökonomische Analyse sozialer Beziehungen Kompetenz und Übung, an denen es mangelt. Zweitens müsste man, um den »Markt« mit seinen Akteuren, Ressourcen und Bedürfnissen handfest zu beschreiben, wohl doch tiefer in die Literatur über Sexualität im Allgemeinen und Besonderen einsteigen, als ich Lust habe. Drittens stößt man überall auf foucaultischen Konstruktivismus, der mir eher fernliegt. Und viertens steht man bei diesem Thema stets ganz nahe an dem Abgrund feministischer Verdammnis. Ich will versuchen, mich jedenfalls oberflächlich aus der Affäre zu ziehen. Heute reicht es aber nur zu zwei Nachträgen, die immerhin zeigen mögen, dass ich das Thema nicht aufgegeben habe.
1. Ausgangspunkt war die Annahme, dass die männliche Nachfrage nach sexuellen Begegnungen mit Frauen das Angebot = weibliche Nachfrage um etwa das Zehnfache übersteigt. In den letzten Wochen häufen sich in den Gazetten, ausgelöst wohl durch ein Buch »Die versteckte Lust der Frauen« (das ich nicht gelesen habe), Berichte, nach denen Frauen in ihrem sexuellen Appetit mit den Männern gleichgezogen hätten [1]Angeführt werden Daniel Bergner, Die versteckte Lust der Frauen. Ein Forschungsbericht, 2014; sowie Volkmar Sigusch, Sexualitäten, Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten, 2013.. Es hat sich in den letzten Jahrzehnten viel verändert. Aber darauf will ich mich nicht einlassen, denn die patriarchalische Sozialstruktur, die es zu erklären gilt, ist älter. Die Frage lautet, um sie noch einmal zu wiederholen, warum es Frauen im Laufe der Geschichte nicht gelungen ist, ihre überlegene Position auf dem Markt der sexuellen Beziehungen in Status und Macht umzusetzen.
2. Aus dem Leserkreis bin ich auf zwei Rezensionen des Hakim-Buchs aufmerksam gemacht worden: Andreas Schmitz/Hans-Peter Blossfeld, Rezension von Catherine Hakim: Erotic Capital: The Power of Attraction in the Boardroom and the Bedroom, New York: Basic Books, 2011, in: European Sociological Review, März 2012. Zur deutschen Übersetzung des Buches haben dieselben Autoren ihre Rezension der der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 64, 2012, 836-838, veröffentlicht.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Angeführt werden Daniel Bergner, Die versteckte Lust der Frauen. Ein Forschungsbericht, 2014; sowie Volkmar Sigusch, Sexualitäten, Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten, 2013.

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»Erotisches Kapital« und »Sexdefizit«: Auf dem Weg zur ökonomischen Analyse des Geschlechterverhältnisses

Wo bleibt die Frauenpower? Mit dieser Frage und der Ankündigung einer Fortsetzung endete der Eintrag vom 29. 12. 2013. Ich hatte zwar schon einige Literatur gesammelt und eine gewisse Vorstellung, wie es weitergehen könnte, hatte aber nicht bedacht, dass ich zunächst einigen Prämissen, die sich vielleicht als Vorurteile herausstellen könnten, gründlicher nachgehen müsste. Diese Arbeit will und kann ich nicht leisten. Deshalb begnüge ich mich damit, diese Prämissen hier offen zu legen.

1. Der sexnegative Feminismus, der in jedem Geschlechtsverkehr eine kleine Vergewaltigung erblickt, ist ein Eigentor.
2. Der Belohnungswert sexueller Befriedigung ist für Frauen an sich nicht geringer als für Männer.
3. Weil der Verkehr für Frauen andere Folgen haben kann als für Männer, hat die Evolution Frau und Mann mit einem unterschiedlichen Appetenzverhalten hinsichtlich sexueller Kontakte mit dem anderen Geschlecht ausgestattet.

Dies vorausgeschickt, lässt sich mit einiger Sicherheit sagen, dass die männliche Nachfrage nach Sexualität größer ist als das weibliche Angebot.

Hakim, die viele Quellen ausgewertet hat, kommt zu dem Ergebnis, »dass der männliche Bedarf an sexueller Betätigung und sexueller Vielfalt über das ganze Leben gesehen im Durchschnitt zwei bis zehnmal höher ist als das sexuelle Interesse von Frauen« [1]Catherine Hakim, Erotisches Kapital, 2011, S. 73. Ich will und kann die Quellen, auf die Hakim und andere sich stützen, nicht prüfen und diskutieren. [2]Zusätzlich habe ich nur noch Roy F. Baumeister/Kathleen R. Catanese/Kathleen D. Vohs, Is There a Gender Difference in Strength of Sex Drive? Views, Conceptual Distinctions, and a Review of Relevant … Continue reading Nur einen ganz kleinen Zweifel will ich anmelden. Wenn in den zitierten Untersuchungen immer wieder davon die Rede ist, Männer berichteten über zehnmal so viele Sexualpartner wie Frauen, dann stellt sich doch die Frage, wo diese Partner(innen) in der Statistik bleiben. Eine gewisse Bestätigung für den männlichen Nachfrageüberhang liefert immerhin die Tatsache, dass Prostitution ein weibliches Phänomen ist, mag es hier und da auch Strichjungen oder Callboys geben. Eine Nebenrolle spielen Männer, die das weibliche Geschlecht angenommen haben. Die Nachfrage kommt praktisch ausschließlich von der Männerseite.

Den männlichen Nachfrageüberhang bezeichnet Hakim als Sexdefizit. Frauen sind damit Anbieter eines knappen Gutes. Dieses Angebot hat Hakim auf den Begriff des erotischen Kapitals gebracht.

Wenn dem so ist – und davon gehe ich aus –, drängt sich die Frage auf, warum Frauen den Nachfrageüberhang auf der Männerseite oder umgekehrt ihr erotisches Kapital nicht in einen Machtgewinn umsetzen können. Wo also bleibt die Frauenpower? Selbstverständlich kommt es immer wieder vor, dass Frauen ihre sexuelle Attraktivität benutzen, um dadurch Vorteile jenseits einer bloß sexuellen Beziehung zu erlangen. Soziologisch geht es jedoch um die Frage, ob und wie der männliche Überhang an Nachfrage nach Sexualität strukturell auf das Geschlechterverhältnis einwirkt. Nach der Situationslogik des Tausches könnte man vermuten, dass sich die Sozialstruktur ganz allgemein im Sine eines Matriarchats und einer Diskriminierung der Männer entwickelt hätte. Aber soziale Institutionen entwickeln sich nicht ohne weiteres »logisch«. Vielleicht hilft die ökonomische Analyse des Geschlechterverhältnisses hier weiter.

Der Begriff der Sexualökonomie ist durch den Psychoanalytiker Wilhelm Reich vorgeprägt oder gar belastet. Reich gründete 1934 im dänischen Exil eine Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie, die vier Jahre Bestand hatte. [3]Wikipedia, Artkel »Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie« Das sollte aber kein Hindernis sein, diesen Begriff unbefangen für eine ökonomische Analyse der Sexualbeziehungen zu verwenden. Dabei sollte klar sein, dass es allenfalls am Rande wie bei der Prostitution um einen direkten Tausch von Sexualität gegen Geld oder andere materielle Werte geht, sondern viel allgemeiner um sozialen Tausch, bei dem Angebot und Nachfrage nach Sexualität im weitesten Sinne eine Rolle spielen.

Die ökonomische Analyse des Geschlechterverhältnisses nach dem Vorbild der Arbeiten von Gary Becker hat sich bisher auf die Partnerwahl und die Arbeitsverteilung innerhalb der Ehe konzentriert. Dabei wurden die sexuellen Beziehungen als solche nicht in Rechnung gestellt. Das beginnt sich jetzt zu ändern. Auf der einen Seite sind es Psychologen, die die weibliche Sexualität als Handlungsressource in den Blick nehmen. [4]Roy F. Baumeister/Kathleen D. Vohs, Sexual Economics: Sex as Female Resource for Social Exchange in Heterosexual Interactions, Personality and Social Psychology Review 8, 2004, 339-363; dies., Sexual … Continue reading Sie ordnen sich selbst nicht der ökonomischen Analyse, sondern der sozialen Austauschtheorie zu. Auf der anderen Seite sind es Soziologen, an ihrer Spitze Hakim [5]Catherine Hakim, Erotic Capital, European Sociological Review 26, 2010, 499-518., die analog zu den Begriffen Sozialkapital, Humankapital und kulturelles Kapital das Konzept des erotischen Kapitals entwickeln.

Den Begriff des sexuellen Kapitals hatte bereits Robert T. Michael als Erweiterung des Konzepts »Gesundheitskapital« zur Debatte gestellt. [6]Robert T. Michael, Sexual Capital: An Extension of Grossman’s Concept of Health Capital, Journal of Health Economics 23, 2004, 643-652. Michael definiert: »A person’s sexual capital will be defined as the present value of flow of benefits from sexual enjoyment over the remaining lifetime.«, um dann zu erklären, welchen Risiken dieses Kapital ausgesetzt ist – vor allem dem Risiko der Ansteckung mit HIV beim Geschlechtsverkehr – und mit welchen Kosten es erhalten werden muss. Die Definition erfasst deshalb auch nur den Gebrauchswert des Sexualkapitals, nicht seinen Tauschwert, um den es geht, wenn Angebot und Nachfrage zur Debatte stehen.

Hakims Konzept ist eine offene Analogie zu Bourdieus Trias von ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital [7]Pierre Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 183-198.. Doch sie gibt dieser Analogie eine individualistische Färbung, mit der die Fragestellung, um die es mir geht, nicht zu beantworten ist. Mindestens die populäre oder gar populistische Ausschlachtung des Konzepts durch das nachfolgende Buch lässt sich aus gutem Grund kritisieren, denn sie läuft darauf hinaus, den Einzelkampf mit den »Waffen einer Frau« zu legitimieren. [8]Aus der feministischen Szene gab es wütende Kommentare, z. B. auf dem Blog »Another Angry Woman« Eine ernsthafte Rezension habe ich nicht gefunden. Immerhin war Hakim im WZB zu einer … Continue reading Ganz abgesehen davon, dass eine solche Aufwertung des (individuellen) erotischen Kapitals eine Mehrheit von Minderbemittelten zurücklässt, sind Paarbeziehungen und andere Begegnungen zwischen Frau und Mann sehr viel komplexer. Das ändert aber nichts daran, dass sich solche Beziehungen und Begegnungen mit den Instrumenten der Tauschtheorie und/oder der ökonomischen Analyse untersuchen lassen. Darüber will ich nach Möglichkeit in einem weiteren Beitrag berichten.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Catherine Hakim, Erotisches Kapital, 2011, S. 73.
2 Zusätzlich habe ich nur noch Roy F. Baumeister/Kathleen R. Catanese/Kathleen D. Vohs, Is There a Gender Difference in Strength of Sex Drive? Views, Conceptual Distinctions, and a Review of Relevant Evidence, Personality and Social Psychology Review 5, 2001, 242-273, herangezogen.
3 Wikipedia, Artkel »Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie«
4 Roy F. Baumeister/Kathleen D. Vohs, Sexual Economics: Sex as Female Resource for Social Exchange in Heterosexual Interactions, Personality and Social Psychology Review 8, 2004, 339-363; dies., Sexual Economics, Culture, Men, and Modern Sexual Trends, Society 49, 2012, 520-524; Kathleen D. Vohs/Jannine Lasaleta, Heterosexual Sexual Behavior Is Governed by Social Exchange and Basic Economic Principles: Sexual Economics Theory, Minnesota Journal of Law, Science & Technology 9, 2008, 785-802.
5 Catherine Hakim, Erotic Capital, European Sociological Review 26, 2010, 499-518.
6 Robert T. Michael, Sexual Capital: An Extension of Grossman’s Concept of Health Capital, Journal of Health Economics 23, 2004, 643-652.
7 Pierre Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 183-198.
8 Aus der feministischen Szene gab es wütende Kommentare, z. B. auf dem Blog »Another Angry Woman« Eine ernsthafte Rezension habe ich nicht gefunden. Immerhin war Hakim im WZB zu einer Vortragsveranstaltung eingeladen, und auch die FAZ hielt das Buch für wichtig genug, um es kurz (von Thomas Karlauf am 8. 110. 2011) besprechen zu lassen.

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Schupperts Patchwork-Methode

Hoffmann-Riem hatte mir kürzlich einen Beitrag zu einem Kolloquium geschickt, mit dem im Oktober 2011 der Abschied Schupperts von einer Forschungsprofessur im WZB gefeiert wurde. [1]Umbauten im Hause des Rechts angesichts des Wandels von Staatlichkeit, in: Verabschiedung und Wiederentdeckung des Staates, hg. von Andreas Voßkuhle, Christian Bumke und Florian Meinel = Der Staat, … Continue reading Darin skizziert er eingangs die Schreibweise Schupperts:

»Der mit den Beiträgen dieses Bandes Geehrte – ich kürze ihn im Folgenden als GFS ab – hat in seinen vielen Büchern und Aufsätzen eine Arbeitsmethode genutzt, die manche Vertreter seiner Disziplin mit einer gewissen Verachtung (vielleicht auch geheimem Neid) zur Kenntnis nehmen, die aber für sein Anliegen besonders geeignet ist: Er baut Texte von Autoren aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen im Originalton in seine Analysen ein, kleidet sie aber durch einleitende und überleitende Kommentare nach Maßgabe der Schuppert’schen Haute Couture ein. Dies ist die offene Patchwork-Methode.«

Ich bin meinerseits schon dabei, diese Methode zu kopieren, indem ich Hoffmann-Riem ausführlich zitiere. Bevor ich damit fortfahre – denn Hoffmann-Riem hat mehr dazu zu sagen – will ich die Methode durch Bilder der ersten vier Seiten von Schupperts Buch, das ich im vorigen Eintrag besprochen habe, »Der Rechtsstaat unter den Bedingungen informaler Staatlichkeit«, illustrieren. Es handelt sich um das Eingangskapitel mit den Seiten 15 bis 18. Die Bilder sollen nur einen Eindruck vom Layout vermitteln und sind deshalb kaum lesbar. Zuerst die Seite 15:
Schuppert_S_15
Sie enthält – ohne Überschriften – zehn Zeilen Eigentext und 23 Zeilen Zitat. Auf den Seiten 16 und 17 sodann zähle ich 32 Zeilen Eigentext und 53 Zeilen Zitat:

Schuppert_S_ 16-17
Auf Seite 18 schließlich kann man den Eigentext ohne Zählung überblicken.
Schuppert_S_18
Er besteht aus fünf Zeilen. Die Zitate dagegen haben 23 Zeilen. Insgesamt komme ich auf 47 Zeilen Eigentext und 99 Zeilen Fremdtext. Das ist grob gesprochen ein Verhältnis 1:2.

Die Zitate gewinnen dadurch zusätzliches Gewicht, dass sie von nur zwei Autoren stammen. Die ersten vier Zitate mit zusammen 45 Zeilen sind von Friedrich Schoch. [2]Entformalisierung staatlichen Handelns, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, 2005, § 37. Die vier Zitate auf S. 17 und 18, zusammen 54 Zeilen, sind von Horst Dreier. [3]Informales Verwaltungshandeln, Staatswissenschaften und Staatspraxis 4, 1993, 647-681, S. 658f. Ich habe sie nicht an Hand der Quellen überprüft.

Von einem Plagiat kann natürlich keine Rede sein, denn die Zitate werden klar und deutlich ausgewiesen. Hoffmann-Riem spricht deshalb von der offenen Patch-Work-Methode und sagt von ihr:

»Sie unterscheidet sich wohltuend von der im Wissenschaftsbetrieb nicht unüblichen verdeckten Patchwork-Methode. Über dieser schwebt allerdings seit kurzem das Damoklesschwert der Denunziation durch Computerfreaks – mit dem weiteren Risiko anschließender Entkleidung von Titeln und Ehrenzeichen. GFS braucht Aktivitäten wie die von GuttenPlag Wiki nicht zu befürchten.«

Auch urheberrechtlich halten sich die Anführungen im Rahmen des Zitatrechts nach § 51 Abs. 2 UrhG, denn eine Längenbegrenzung greift erst, wenn das Zitat im Verhältnis zu dem zitierten Werk unverhältnismäßig lang ist. Das Verhältnis der Gesamtsumme der Zitate zum eigenen Text interessiert nicht. Ich zitiere, jetzt aus einem Kommentar:

»Grundsätzlich ist ein Zitat … dann zulässig, wenn es als Beleg für eine vertretene Auffassung, zur Darstellung übereinstimmender oder abweichender Meinungen, zum besseren Verständnis der eigenen Ausführungen oder sonst zur Begründung oder Vertiefung des Dargelegten dient und nicht nur als beliebig austauschbares ›Anhängsel‹ ohne konkrete Belegfunktion. Nicht erforderlich ist, dass das Zitat ausschließlich zu einem solchen zulässigen Zweck angeführt wird.« [4]Raue/Hegemann in: Hoeren/Sieber/Holznagel, Multimediarecht, Rn. 83 zu § 51 UrhG, nach Beck-online.

Zitate, die die eigene Ansicht nicht nur bestätigen, sondern auch deren eigenständige Ausformulierung erübrigen, gehen danach in Ordnung. Auch die »gute wissenschaftliche Praxis« gibt nichts her. [5]Ich habe die »Richtlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis und zur Vermeidung wissenschaftlichen Fehlverhaltens an der Universität Hamburg« durchgesehen. Es bleibt also dabei, dass vielleicht, wie Hoffmann-Riem meint, einige Kollegen das Verfahren Schupperts mit einer gewissen Verachtung zur Kenntnis nehmen. Neid könnte wohl nur daher rühren, dass sie es selbst nicht wagen.

An dieser Stelle gestatte ich mir eine kleine Abschweifung. Schon vor über einem Jahr hat mir Frau Cottier aus Basel ein Exemplar des von ihr zusammen mit Andrea Büchler verfassten Bandes »Legal Gender Studies« [6]Andrea Büchler/Michelle Cottier, Legal Gender Studies – Rechtliche Geschlechterstudien. Eine kommentierte Quellensammlung, Dike Verlag Zürich/Nomos-Verlag Baden-Baden 2012. dediziert. Er trägt den Untertitel »Eine kommentierte Quellensammlung«. Das ist wirklich ein schönes Buch. Ich habe es schon oft zu Rate gezogen, sei es um mich vorläufig zu orientieren, sei es, um wichtige Literatur aufzufinden. Eigentlich hätte ich längst eine Besprechung dieses Bandes schreiben wollen. Das kann ich hier nicht nachholen. Ich erwähne das Buch aus einem anderen Grunde. Die Verfasserinnen haben sich die Mühe gemacht, für jeden einzelnen der wohl etwa 140 zitierten Texte die Abdruckgenehmigung von Autor und Verlag einzuholen. Wozu eigentlich? Ihre Kommentierungen sind so gehaltvoll, dass die abgedruckten Texte jedenfalls nach deutschem Recht alle als Zitat durchgehen müssten.

Zurück also zu der kommentierten Quellensammlung von Schuppert. Hoffmann-Riem weiß auch zu erklären, warum die befürchtete »Verachtung« nicht als Kritik geäußert wird:

»Die offene Patchwork-Methode hat in der Community der transdisziplinär kommunizierenden Wissenschaftler noch einen weiteren Vorteil. Die mit ihr verbundene Verleihung einer Art Adelstitel an einen Autor, dessen Text GFS als Kronzeuge für wichtige Erkenntnisse im Originalton und unter Nennung des Autors und meist mit begleitenden freundlichen Worten zur Bedeutung des Beitrags aufgreift, nährt das Selbstbewusstsein (vielleicht auch die Eitelkeit) des so Geadelten.«

Nun ja, ob sich Schoch und Dreier geadelt fühlen, mag dahinstehen. Vielleicht ist der Effekt gerade umgekehrt der einer Autoritätsleihe für die eigene Meinung.

Die Patchwork Methode hat weiter den Vorzug, dass der ständige Wechsel verschiedener Textarten Ermüdungserscheinungen vorbeugt. Sie ist damit leserfreundlich und pädagogisch anregend. Insofern hat die Methode ein Vorbild im Casebook, das ja aus Ausschnitten aus Urteilen mit verbindenden Erläuterungen besteht. Analog könnte man vielleicht von Bookbook sprechen. Die pädagogische Absicht zeigt sich auch darin, dass er in jedem Absatz für einen oder mehrere Begriffe oder Phrasen Fettdruck vorsieht. in meinen uralten »Hinweisen zur BGB-Übung« hatte ich noch geschrieben (S. 2):

Verzichten Sie auf Fettdruck, Unterstreichung, Kursivschrift und Wechsel der Schriftgröße. Sonst wirkt das Schriftbild unruhig und der Leser wird meinen, Sie könnten sich allein mit Hilfe des Wortes nicht ausdrücken.

Aber im Lehrbuch verwende ich auch gerne Fettdruck. Das gilt auch für die Wahl von kursiv für Zitate. Ob man dann allerdings innerhalb der Zitate Teile des fremden Textes fetten darf, darüber lässt sich streiten.

Schließlich ist die offene Patchwork-Methode, jedenfalls aus der Feder von Schuppert, wissenschaftlich wertvoll.

»GFS nutzt eine besonders anspruchsvolle Spezies des wissenschaftlichen Patchworks. Die im Original zitierten Quellen sind nur die Bebilderung oder Plausibilisierung einer von GFS eigenständig entwickelten, theoretisch-konzeptionell ansprüchlichen Ausdeutung und Systematisierung wissenschaftlicher Befunde. Die reflektierte Bestandsaufnahme nutzt GFS als Basis, um den Staus quo bisherigen Wissens möglichst zu überwinden und neue Anstöße zu geben.«

Auf den vier Seiten aus Schupperts Buch, die ich hier herangezogen habe, lässt sich Hoffmann-Riems Urteil nicht ohne weiteres nachvollziehen, heißt es doch im Anschluss an das letzte Zitat: »Dieser Analyse ist nichts hinzuzufügen.« Sieht man aber auf das ganze Buch, so kann man ihm sicher Wissenschaftlichkeit bescheinigen. In Jurisprudenz und Sozialwissenschaften sind wir insoweit ja bescheiden.

Was folgt aus alledem? Für mich selbst ziehe ich die Konsequenz, künftig mehr nach der offenen Patch-Work-Methode zu arbeiten. Vor allem aber empfehle ich diese Methode für Qualifikationsarbeiten bis hin zur Dissertation. Vor Jahr und Tag habe ich auf die Schwierigkeit hingewiesen, Qualifikationsarbeiten zu stellen, die die Studenten nicht überfordern und sie dadurch in Versuchung bringen, mit der verdeckten Patch-Work-Methode zu arbeiten. [7]Rechtssoziologisches zum Urheberrecht?, Eintrag vom 1. Juli 2009.8 »Eine angemessene Aufgabe wäre vielleicht heute die Erstellung einer schlüssigen Kompilation zu vorgegebenen Themen (natürlich mit Quellenangaben).« So habe ich damals geschrieben. Diesen Vorschlag kann ich heute bekräftigen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Umbauten im Hause des Rechts angesichts des Wandels von Staatlichkeit, in: Verabschiedung und Wiederentdeckung des Staates, hg. von Andreas Voßkuhle, Christian Bumke und Florian Meinel = Der Staat, Beiheft 21, 2013, 347-370; alle Zitate von S. 347f.
2 Entformalisierung staatlichen Handelns, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, 2005, § 37.
3 Informales Verwaltungshandeln, Staatswissenschaften und Staatspraxis 4, 1993, 647-681, S. 658f.
4 Raue/Hegemann in: Hoeren/Sieber/Holznagel, Multimediarecht, Rn. 83 zu § 51 UrhG, nach Beck-online.
5 Ich habe die »Richtlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis und zur Vermeidung wissenschaftlichen Fehlverhaltens an der Universität Hamburg« durchgesehen.
6 Andrea Büchler/Michelle Cottier, Legal Gender Studies – Rechtliche Geschlechterstudien. Eine kommentierte Quellensammlung, Dike Verlag Zürich/Nomos-Verlag Baden-Baden 2012.
7 Rechtssoziologisches zum Urheberrecht?, Eintrag vom 1. Juli 2009.8

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Schuppert zur informalen Staatlichkeit

Eben habe ich, zwei Jahre zu spät, von Gunnar Folke Schuppert den mit 193 Seiten ebenso schmalen wie gehaltvollen Band »Der Rechtsstaat unter den Bedingungen informaler Staatlichkeit« gelesen. Der Untertitel lautet »Beobachtungen und Überlegungen zum Verhältnis formeller und informeller Institutionen« [1]Nomos. Baden-Baden.2011, ISBN 978-3832964566, 34,- EUR. Zu spät, weil sonst Rechtssoziologie-online § 78 Korruption und der Beitrag zur Bryde-Festschrift leichter zu formulieren gewesen wären und auch andere Akzente erhalten hätten.

Ich bezweifle allerdings – so Schupperts Ausgangsthese –, dass es einen »Megatrend einer zunehmenden Informalisierung des Staatshandelns« (S. 15 ff) gibt. Es ist wohl zutreffend, dass formale und informale Staatlichkeit Endpunkte einer gleitenden Skala bilden (S. 17). Aber für die Trendbehauptung fehlt es an einer hinreichenden Operationalisierung dieser Skala. Stattdessen bietet Schuppert sechs Diskurse über die Tugend des Formalen und den diskreten Charme des Informalen«. Dabei handelt es sich um sechs kommentierte Quellensammlungen, die man jeder Rechtsoziologievorlesung zugrunde legen könnte. Aber den Megatrend belegen sie nicht. Dass der »hierarchisch-bürokratische Rechtsstaat« der formale Endpunkt und der »kooperative Verhandlungsstaat« das informale Gegenstück bilde, lässt sich bezweifeln, und zwar gerade mit der zweiten wichtigen These Schupperts, dass formale Staatlichkeit ohne stützende informale Strukturen nicht funktionsfähig sei.

Nicht zufällig ist S. 29 im ersten Diskurs von der »Entdeckung« des informalen Verfassungsstaats (durch Schulze-Fielitz) die Rede. Nach den informalen Strukturen, die den »hierarchisch-bürokratischen Rechtsstaat« funktionsfähig machten, hat Schuppert nicht ernstlich gesucht. Der Abschnitt über den »informalen Verfassungsstaat« (S. 29-35) ist ein gelungenes Lehrbuchkapitel über den politischen Prozess des Law-Making. Aber das (formale) Recht hat seine Inhalte schon immer aus informellen Quellen bezogen. Für die Gegenwart scheint mir bemerkenswert, dass gerade auch der informelle Prozess der politischen Willensbildung sich zunehmend formalisiert und dadurch beschreibbar wird als »Elefantenrunden, Hartz-Kommission, Atomkonsensgespräche« (Morlok-Zitat S. 33), oder als das Wirken bekannter politischer Netzwerke, angemeldeter Lobbyisten oder des verschriftlichten Wissensinputs durch die Bürokratie. Dabei geht der direkte Bezug all dieser informellen Rechtsbildungsprozesse auf den formellen Vorgang der Rechtserzeugung nicht verloren.

Nicht anders liegt es mit dem informalen Rechtsstaat (2. Diskurs; S. 36-42). Auch hier preist Schuppert die »folgenschwere verwaltungswissenschaftliche Entdeckung« ohne zu bedenken, dass der Zustand vor dieser Entdeckung nicht weniger informal gewesen sein könnte. Auch insoweit wage ich, einen Megatrend zu bestreiten, wiewohl ich selbst einmal in dieser Richtung gedacht habe. Was hier als Trend erscheint, ist letztlich wohl doch nur Ergebnis der sozialwissenschaftlichen Aufklärung darüber, wieweit eine bürokratische Programmimplementation überhaupt möglich ist. Warum zitiert Schuppert nicht Edgar Grande?

»Die Studie von Holzinger et al. (2009) kommt für den Bereich der europäischen Umweltpolitik zu dem Ergebnis, dass die Bedeutung der new modes of governance weit geringer ist als gemeinhin angenommen. Der Anteil „weicher Steuerungsinstrumente“ hat in den vergangenen zwanzig Jahren zwar tatsächlich zugenommen, die überwiegende Zahl der europäischen Umweltpolitiken basiert jedoch nach wie vor auf alten, rechtsförmigen Steuerungsinstrumenten. Das Verhältnis von alten und neuen Steuerungsinstrumenten liegt bei etwa 80 Prozent zu 20 Prozent; und auch der Trend hin zu den new modes of governance ist in diesem Politikbereich nicht so ausgeprägt wie manche glaubten. Dieses Beispiel macht auch deutlich, wie wichtig es ist, empirisch gesicherte ›baselines‹ zur Bewertung von institutionellen Entwicklungen zu haben.« [2]Edgar Grande, Governance-Forschung in der Governance-Falle? – Eine kritische Bestandsaufnahme, Politische Vierteljahresschrift 53, 2012, 565-592, S. 575.

Auch hier gilt, dass die Reflexion über die Informalität den Beginn ihrer Formalisierung bedeutet.

Der dritte Diskurs (S. 43-55) befasst sich mit der »Formalisierung oder Informalisierung der internationalen Beziehungen«. Dazu wage ich nicht, Stellung zu nehmen. Mein laienhafter Eindruck ist jedoch der einer außerordentlichen Verdichtung des Völkerrechts, die ich eher als Formalisierung interpretieren würde. Der vierte Diskurs betrifft das Phänomen des Soft Law. Hier problematisiert Schuppert das »Verhältnis der Begriffspaare ›hard und soft‹ zu formal und informal‹ « mit dem Ergebnis, dass Soft Law immerhin Verrechtlichung und insofern Formalisierung bedeutet, und er weist auch auf den als hardening of soft law geläufigen Vorgang hin. Der fünfte Exkurs behandelt den klassischen Rechtspluralismus (68-70). Da ist zwar informelles Recht anzutreffen, aber keine Ausbreitungstendenz. Eine Ausbreitungstendenz behauptet aber auch der sechste und letzte Exkurs nicht, in dem von informal justice im Sinne alternativer Konfliktregelung die Rede ist. Auffällig ist, dass Schuppert sich hier ganz auf die Situation in den Entwicklungsländern beschränkt. Dort gibt es wohl so etwas wie eine pluralistische Wende, was aber nur bedeutet, dass sich formalisierte Gerichtsverfahren in diesen Ländern nicht so einfach durchsetzen lassen, wie es sich Entwicklungshelfer zeitweise vorgestellt hatten. [3]Vgl. die drei Aufsätze im Hague Journal on the Rule of Law Heft 1, 2011: Brian Z. Tamanaha, The Rule of Law and Legal Pluralism in Development (S. 1-17); Julio Faundez, Legal Pluralism and … Continue reading In Deutschland und wohl auch in den anderen Industriestaaten waren Jahrzehnte anhaltende Bemühungen der Rechtspolitik zur Förderung alternativer Konfliktregelung schlicht erfolglos [4]Z. B. Klaus F. Röhl/Matthias Weiß, Die obligatorische Streitschlichtung in der Praxis,2005., obwohl die geballte sozialwissenschaftlich orientierte Rechtsforschung solche Politik massiv unterstützte. [5]Dazu hier auf Rsozblog »Das zweite Mediations-Paradox: Erfolgreich, schneller, billiger und besser, aber ungenutzt« sowie »Noch einmal: Das zweite Mediationsparadox«.

Der »kooperative Verhandlungsstaat« bedeutet nicht den Abbau formalen Rechts, soweit und solange nicht eine gegenläufige Informalität institutionalisiert ist. Das aber nun finde ich so interessant und wichtig an diesem Buch, dass und wie Schuppert die Möglichkeit und reale Existenz von informellen Gegenordnungen darstellt. Das geschieht am Beispiel der Korruption und ihrer Verwandtschaft, des Klientelismus und Patrimonialismus (S. 145 ff). Hier ist Schuppert erneut ein Lehrbuchkapitel zur Rechtssoziologie gelungen. Aber selbst in den Entwicklungsländern geht der Trend wohl in die umgekehrte Richtung. Informalität war dort immer. Die weltweite Verbreitung formaler Institutionen hat dort zunächst dazu geführt, dass sich die informalen Institutionen gewandelt haben. Aber der Trend geht wohl doch dahin, sie einzugrenzen.

Ich habe das Buch aufmerksam und mit Interesse gelesen und, wie gesagt, die Darstellung von stützender und gegenläufiger Informalität fand ich eindrucksvoll. Dennoch – das ist nun einmal die Eigendynamik von Buchbesprechungen – will ich mit zwei kritischen Bemerkungen (vorläufig) schließen. Die erste lässt sich auch als Kompliment verstehen. Schuppert, der sonst auf Governance fixiert ist, verzichtet in Buchtitel und Zwischenüberschriften ganz auf diesen Begriff. Im Text freilich kommt er, wenig überraschend, dann zwar doch wieder vor. Aber – dass bestätigt meine Einschätzung – dort kann man ihn überall folgenlos streichen. Die zweite Bemerkung ist wirklich kritisch. Sie betrifft auf S. 171 ff. die Suche nach dem »richtigen« Rechtsstaatskonzept. Es ist sicher zutreffend, dass man mit einem rein formalen Rechtsstaatskonzept – jetzt verstanden als Gegensatz nicht zu informell [6]Der Unterschied von formal und formell bzw. informal und informell bei Schuppert und auch sonst ist mir nicht ganz klar und ich kann ihn hier auch nicht klären. Im Hinterkopf habe ich nur die … Continue reading, sondern zu material oder substantiell – nicht auskommt. Aber hier als Argument – unter Bezugnahme auf Dieter Grimm – das Versagen formalen Rechts gegenüber dem Nationalsozialismus anzuführen, scheint mir eine grobe Unterschätzung der inhärenten Qualität der Rechtsförmigkeit zu sein. Dass die nationalsozialistische Machtergreifung formal nicht zu beanstanden gewesen sei (S. 172), halte ich für falsch. Hitler hat sich seine Macht nicht, wie so oft zu hören, auf legalem Wege verschafft. Bevor am 23. März 1933 über das Ermächtigungsgesetz abgestimmt wurde, hatte er die dem Reichstag angehörenden Kommunisten verhaften lassen und die sozialdemokratischen Abgeordneten so eingeschüchtert, dass von einem Gesetzesbeschluss, der diesen Namen verdient, nicht die Rede sein konnte. [7]Vgl. Wolfgang Meyer-Hesemann, Legalität und Revolution – Zur Verklärung der nationalsozialistischen Machtergreifung als »Legale Revolution«, in: Peter Salje (Hg.), Recht und Unrecht im … Continue reading

Diese kurzen Bemerkungen sollen genügen, um zu zeigen, dass ich Schupperts Buch wegen seines Inhalts schätze. Das ist notwendig, denn ich will eigentlich gar keine Besprechung des Inhalts abliefern, sondern mich mit der speziellen Darstellungsweise Schupperts befassen. Dazu im nächsten Eintrag.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Nomos. Baden-Baden.2011, ISBN 978-3832964566, 34,- EUR.
2 Edgar Grande, Governance-Forschung in der Governance-Falle? – Eine kritische Bestandsaufnahme, Politische Vierteljahresschrift 53, 2012, 565-592, S. 575.
3 Vgl. die drei Aufsätze im Hague Journal on the Rule of Law Heft 1, 2011: Brian Z. Tamanaha, The Rule of Law and Legal Pluralism in Development (S. 1-17); Julio Faundez, Legal Pluralism and International Development Agencies: State Building or Legal Reform? (S. 18-38); H. Patrick Glenn, Sustainable Diversity in Law (S. 39-56); Lauren Benton, Historical Perspectives on Legal Pluralism (S. 57-69).
4 Z. B. Klaus F. Röhl/Matthias Weiß, Die obligatorische Streitschlichtung in der Praxis,2005.
5 Dazu hier auf Rsozblog »Das zweite Mediations-Paradox: Erfolgreich, schneller, billiger und besser, aber ungenutzt« sowie »Noch einmal: Das zweite Mediationsparadox«.
6 Der Unterschied von formal und formell bzw. informal und informell bei Schuppert und auch sonst ist mir nicht ganz klar und ich kann ihn hier auch nicht klären. Im Hinterkopf habe ich nur die Sprachverwendung bei Max Weber. Formal ist bei ihm der Gegenbegriff zu material. Dagegen bezeichnet Weber, der juristischen Tradition entsprechend, das Verfahrensrecht als formell und das Sachrecht als materiell. Es gibt deshalb »formales« formelles Recht in Gestalt etwa eines ritualisierten Verfahrens. Und es gibt »formales« materielles Recht, nämlich in Gestalt der Begriffsjurisprudenz oder eines Präjudizienrechts.
7 Vgl. Wolfgang Meyer-Hesemann, Legalität und Revolution – Zur Verklärung der nationalsozialistischen Machtergreifung als »Legale Revolution«, in: Peter Salje (Hg.), Recht und Unrecht im Nationalsozialismus, 1985, 110-136.

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