DFG fördert Raubkopie

Was Plagiate anbetrifft, bin ich leidgeprüft. Zwei Mal mussten Bücher eingestampft werden, weil sie komplette Kapitel meiner Rechtssoziologie übernommen hatten. 2002 hatte ein Student, der in Fribourg/Schweiz (u. a. bei den Professoren Niggli und Amstutz) studierte, für Lernzwecke eine Zusammenfassung des Buches auf 99 Seiten verfasst und ins Netz gestellt. Nachdem ich diese Arbeit im Internet fand, habe ich sie nachträglich gebilligt und selbst noch einmal ins Netz gestellt.

Nun bin ich auf eine Webseite gestoßen, die vier Paragraphen unserer Allgemeinen Rechtslehre, nämlich § 22 Die Struktur der Rechtsnorm (S. 189-198), § 24 Von der sozialen Norm zum Recht (S. 204-217), § 54 Das Recht als dogmatisches System (S. 438-443) sowie § 56 Die Einheit der Rechtsordnung (S. 451-456) als PDF anbietet: http://www.sfb-governance.de/teilprojekte/projekte_phase_1/projektbereich_a/a3/teama3/VL_OS/. Die Veröffentlichung stammt aus dem von der DFG geförderten Sonderforschungsbereich »Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit« und ist Teil einer Vorlesung Juristische Methodenlehre von Matthias Kötter. Auch andere Autoren sind betroffen (Hoerster, Ino Augsberg, Rüthers van Aaken, Grimm). Vielleicht sind die aber gefragt worden. Wir nicht. Jedenfalls befinden wir uns da in guter Gesellschaft.

Als Autor weiß man nicht so recht, ob man sich über solche Raubkopien empören oder freuen soll, denn eigentlich liegt darin ja eine gewisse Anerkennung des Textes. Vor etwa einem Jahr habe ich im Netz eine Kopie unserer Darstellung der Diskurstheorie aus § 21 der Allg. Rechtslehre gefunden, die man nur gegen Entgelt herunterladen konnte. Das schien mir dann doch so kühn, dass ich dem Verlag Mitteilung gemacht habe. Da die 3. Aufl. von 2008 ohnehin ausverkauft ist, lohnt sich Aufregung nicht mehr. Jetzt ist es eher lustig, wie man in Berlin mit dem Urheberrecht umgeht.

Ich hoffe immerhin, die Berliner haben aus unserem Text etwas gelernt. Besonders § 24 ist einschlägig mit einer ausführlichen Darstellung des Rechtspluralismus und unser Stellungnahme zum Wandel der Staatlichkeit.
(Eintrag am 30. 9. 2013 geändert.)

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Amstutz über den unkritisch normativen Luhmann

Dieser Eintrag befasst sich etwas näher mit dem abschließenden Beitrag der Mitherausgebers Marc Amstutz in dem am 16. 8. hier angezeigten Sammelband »Kritische Systemtheorie.  Zur Evolution einer normativen Theorie«, der 2013 im Transcript-Verlag Bielefeld erschienen ist. Der Beitrag trägt den Titel »Der zweite Text. Für eine Kritische Systemtheorie des Rechts« (S. 365-401). Die Überschrift rührt daher, das Amstutz nach dem Vorbild Althussers [1]Lire le Capital, 1965. Luhmanns Texte, insbesondere »Das Recht der Gesellschaft« (RdG), einer dekonstruktiven Zweitlektüre unterzieht.

Bei der Erstlektüre von RdG kann Amstutz kein kritisches Potenzial der Systemtheorie entdecken. Er entdeckt dafür eine Paradoxie, nämlich die »Paradoxie der ›dynamischen Beständigkeit‹ des Rechts« (S. 376). Gemeint ist das Phänomen, dass Rechtsnormen, wiewohl sie doch von Luhmann als kontrafaktisch stabil qualifiziert worden sind, sich im Zeitlauf verändern. Nichts da von Paradoxie, denn Stabilität und Wandel sind keine Gegensätze. Kurzfristige Stabilität und langfristiger Wandel sind ebenso miteinander verträglich wie allgemeine Stabilität und punktuelle Veränderung. Und es handelt sich schon gar nicht um ein Sein-Sollen-Problem, wie Amstutz (S. 376) andeutet, denn auch die stabilisierenden Normen selbst sind reale Erwartungen und damit Fakten. Wie so oft wird auch hier eine Paradoxie konstruiert, indem der Doppelsinn von Worten ausgebeutet wird. Hier wird sogar mit doppeltem Doppelsinn manipuliert, nämlich zuerst mit Homonymie von Norm als »geltend« gedachtem Sollenssatz und als faktischer Erwartung und andererseits mit der Verwendung des Normbegriffs in der rechtssoziologischen Fremdbeschreibung des Rechts und dem Gebrauch des gleichlautenden Ausdrucks in der rechtstheoretischen Selbstbeschreibung.

Nur wenn man das Charity-Prinzip (Davidson) durch ein Malevolence-Prinzip ersetzt, kann man Luhmanns Theorie-Design die »Behauptung« zu entnehmen, dass die Normativität des Rechts von der Faktizität gesellschaftlicher Prozesse unabhängig« sei (S. 377). Kaum besser ist die These, dass für Luhmanns »unkritische Systemtheorie des Rechts Interpretation ausschließlicher Kontext des Textes [sei]. D. h. der Kontext des Textes erstreckt sich danach nicht auf Faktisches, sondern erfasst bloß interpretative Aussagen über das Recht, also nur Normatives.« (S. 378) Das Luhmann-Zitat, auf das Amstutz sich beruft (RdG S. 256), steht in einem mediensoziologischen Zusammenhang, dem man eine solche Aussage schwerlich entnehmen kann. In dem Zitat deutet Luhmann sogar an, wie der nichttextliche Kontext die Interpretation beeinflusst, nämlich auf dem Umweg über die Menschen, die die Texte handhaben, passe »sich das Recht, auch bei fixierten Texten, evolutionären Änderungen der Gesellschaft an«. Amstutz interpretiert diesen Hinweis in seinem Sinne dahin, das »Wie« und »Wer« der Interpretation betreffe nur deren institutionelle Seite, vernachlässigt aber Luhmanns Hinweis auf die Anpassung des Rechts an evolutionäre Änderungen der Gesellschaft und schlägt sich sein eigenes Argument aus der Hand mit dem Fußnotenhinweis, dass sich Interpretation nicht beschränken oder kanalisieren lasse. Dass Amstutz sich den unkritischen Luhmann als Dummie aufbaut, wird vollends deutlich in der Behauptung, Luhmann habe nicht akzeptieren können, »dass über den Weg der Interpretation Fakten die Bedeutung von Normen (mit-)bestimmen, ohne sich zu der Behauptung, »dass Normen sich nicht aus Fakten ›ableiten‹ lassen« in Widerspruch zu setzen. Was Amstutz hier als Luhmanns eigene Meinung ausgibt, erweist sich an der zitierten Stelle (RdG S. 12) als Referat eines Axioms der Rechtstheorie.

Mit einer Paradoxie ist es nicht getan. Das nächste wird gefaltet, weil die Systemtheorie »eine Beschreibung vornimmt, die im Beschriebenen selbst abläuft« (S. 380). Amstutz konzediert dass Luhmann die daraus entstehenden Rückwirkungen »natürlich« geläufig waren (S. 367). Aber Luhmann sei der Wirkung der »Beschreibung im Beschriebenen« als Kritik selbst nicht weiter nachgegangen. Er habe vielmehr betont, dass die Systemtheorie keinen externen Wertstandpunkt für Kritik bereithalte und auch keine Anweisungen für die Abänderung kritikwürdiger Zustände liefere. Die Systemtheorie basiere auf der »Annahme, dass eine Beschreibung von Fakten keinerlei kritische Bedeutung haben« könne (S. 376). Die unkritische »Beobachtung der Effekte von Beobachtungen« sei die »verhängnisvolle Konsequenz« aus der architektonischen Anlage der Systemtheorie als Beobachtungstheorie (S. 367).

Die Frage, ob das Veränderungspotential der Systemtheorie als Kritik zu verstehen sei, habe »Luhmann radikal verneint. Mit einem kaltblütigen Argument, Systemtheorie könne nicht Kritik sein, ›denn dafür fehle es […] in einer funktional differenzierten Gesellschaft an der Autorität einer Metaposition‹ «. Das Luhmann-Zitat stammt aus seiner Bielefelder Abschiedsvorlesung von 1993, in der er sich mit der Frage der Kritikfähigkeit der Systemtheorie auseinandersetzte. [2]»Was ist der Fall?« und »Was steckt dahinter?« – Die zwei Soziologien und die Gesellschaftstheorie, Zeitschrift für Soziologie 22, 1993, 245-260. Zunächst verteidigt er dort ausführlich seine Paradoxologie, um dann zu sagen: »Es braucht nicht viel Argumente, um plausibel zu machen, daß die Soziologie die Gesellschaft nur in der Gesellschaft beschreiben kann.« Luhmann verneint dort aber nach meiner Erstlektüre nicht eigentlich die Kritikfähigkeit der Systemtheorie, sondern die Möglichkeit, dass Soziologie die Gesellschaft als solche beschreibt, eben weil sie selbst keinen Standpunkt außerhalb der Gesellschaft hat. Dagegen könne sie durchaus gegenüber einzelnen Funktionssystemen einen externen Beobachtungsstandpunkt einnehmen und »damit gleichsam ein Überschußpotential für Strukturvariation erzeugen, das den beobachteten Systemen Anregungen für Auswahl geben kann«. Den Unterschied der kritischen Qualität im Vergleich zur der von Amstutz bevorzugten Auslösung »kritischer Selbstreflexionsoperationen« durch den Aufweis von »realen Widersprüchen« vermag ich nicht zu erkennen.

Ein unbefangener Anhänger Luhmanns hätte wohl kein Problem, der Systemtheorie ein kritisches Potenzial zuzutrauen. Es kommt allerdings nicht aus der Theorie als solcher, sondern aus einer gelungenen Gesellschaftsanalyse, die unvermeidlich auch Zustände beleuchtet, welche kritische Reaktionen provozieren. Es spricht auch nichts dagegen, eine analytisch-deskriptive Theorie in kritischer Absicht zu handhaben. Seit Theodore Roosevelt die »Erforscher des Elends und der Korruption« als »Schmutzaufwirbler« denunzieren wollte, ist muckraking zum Ehrentitel empirischer Soziologie geworden. Kritische Absichten verbinden sich oft mit einem Wunschbild der Gesellschaft, das in der soziologischen Theorie nichts verloren hat. Solche Kritik wird von Amstutz als »alteuropäisch« (S. 385) abqualifiziert. Auch Luhmann hat diesen Kritikbegriff in RdG S. 1115 ff kritisiert, und Amstutz stellt dementsprechend fest, die Luhmannsche Systemtheorie wolle »keine normative Kritik sein« (S. 386). Aber dann wird der Systemtheorie mit einem Zitat aus GdG S. 1119 doch wieder Normativismus unterstellt. Das Zitat lautet: »[A]uch wenn man sieht, dass die Strukturen des Gesellschaftssystems zu kaum erträglichen Folgen führen, liefert eine solche Beschreibung kein Rezept für die Herstellung eines anderen Gegenstandes der Gesellschaft [soweit das Zitat bei Amstutz; weiter geht es:], sondern nur eine Verlagerung von Aufmerksamkeiten und Empfindlichkeiten in der Gesellschaft. Nimmt man ›kritisch‹ in diesem Sinne, heißt das zunächst, daß die Soziologie die Position eines Beobachters zweiter Ordnung annimmt.« Ich verstehe Luhmann so, dass das Erträglichkeitsurteil eines des beobachtenden Soziologen ist, das der den Beobachter beobachtende (System-)Theoretiker als solches nicht übernimmt.

Ich hätte danach keine Probleme, Luhmanns »Systemtheorie als ›Ferment‹ einer Transformation der Gesellschaft« anzusehen, wiewohl sie selbst keinen Kritikmaßstab anbietet. Doch Amstutz baut hier wieder ein Paradox auf: Die gesuchte Theorie soll »zugleich Analyse und Kritik sein« und dieses Paradox soll »dahingehend entfaltet werden, dass die Analyse den Maßstab der Kritik nicht ›von außen‹ … nimmt, sondern aus den analysierten Verhältnissen selbst entwickelt« (S. 388). Gesucht wird eine »nichtnormative Kritik, die normativ bedeutsam ist« [3]Dazu wird Rahel Jaeggi zitiert: Was ist Ideologiekritik?, in: dies./Tilo Wesche (Hg.), Was ist Kritik?, 2009, 266-295.. Gefunden wird sie mit Hilfe Adornos »aus der systemischen Analyse von Selbstwidersprüchen der Realität [durch die] unmittelbar selbstreflexive Operationen der Kritik dieser Realität ausgelöst werden« (S. 388 f.). Letztlich entspreche dieses Vorgehen marxistischen Vorstellungen (S. 389). In der Tat, die Suche nach gesellschaftlichen Widersprüchen war ein Kernelement des Marxismus. Amstutz ist allerdings weit davon entfernt, die Gesellschaftsdiagnose des Marxismus wieder aufzunehmen. Als Beispiel dienen ihm vielmehr widersprüchliche Rollenzumutungen an die Rechtswissenschaft. Er demonstriert die »Widersprüchlichkeit« der Rechtswissenschaft vor dem Hintergrund der Wertlosigkeitsthese Julius von Kirchmanns. Dieser entnimmt er die Anweisung, »mit dem Widerspruch von Faktischem und Normativem konstruktiv umzugehen« (S. 393), während er Luhmanns Systemtheorie die Anweisung entnommen hatte, »die Differenz von Faktischem und Normativem in der Rechtsarbeit aufrechtzuerhalten« (S. 391). Das ist ein ungewolltes Beispiel für die von Jaeggi behandelte Ideologiekritik: Kryptonormativität bei Luhmann. Was Luhmann als Funktion des Rechts analysiert hatte, wird ihm als geheimer Wunsch ausgelegt.

Der »Realwiderspruch« auf den alles hinausläuft, wird anschließend (S. 398) so formuliert: »Die Strategie der Trennung von Sein und Sollen (Fakten/Normen), die von den vorherrschenden Auffassungen im Rechtssystem verfolgt wird, entfremdet das Recht von der Gesellschaft. Sie leugnet und invisibilisiert den Widerspruch, dass das Recht die Durkheimschen fait sociaux als irrelevant taxiert, so doch Recht seinen Daseinsgrund im Dienst an der Gesellschaft findet.« Es mag dahinstehen, ob die Anführung der faits sociaux an dieser Stelle nicht eher unpassend ist und nur als rhetorischer Hilferuf bei einer unbestrittenen Autorität fungiert. Von Interesse ist, wie denn nun der Widerspruch durch »Selbstreflexion« Kritikmaßstäbe produziert. Hier ist die Lösung: »Die … Kritische Systemtheorie des Rechts setzt an eine in den gegenwärtigen Strukturen des Rechtssystems nur latent mitgeführte, also nicht aktualisierte und im Vergleich zum vorherrschenden Modell alternative Möglichkeit, den Rechtsbetrieb zu beschreiben an. Diese latente Beschreibungsmöglichkeit beruht – im Unterschied zur These der unüberbrückbaren Diskrepanz von Fakten und Normen – auf der Beobachtung, dass das Rechtssystem auf der Basis von Erwartungen – d. h. von Strukturen anderer Sozialsysteme – operiert.« (S. 399). Anknüpfungspunkt ist dabei das »natürliche Recht« im Sinne von Kirchmanns, nämlich das Rechtsgefühl, das sich »schon für eine Antwort entschieden, ehe noch die wissenschaftliche Untersuchung begonnen hat« [4]Von Kirchmann nach Amstutz S. 392.. Das Verhältnis dieser Erwartungen zu den Rechtsnormen wird als Supplement im Sinne Derridas charakterisiert. Das hilft mir jedenfalls nicht viel weiter, denn die »Logik des Supplements« ist mir auch nach dem Studium der ausführlichen Darstellung, die Amstutz ihr früher [5]Rechtsgenesis: Ursprungsparadox und supplément, ZfRSoz 29, 2008, 125-151, S. 131-140. gewidmet hat, nicht zugänglich. Die Rechtswissenschaft habe die Aufgabe, dieses Supplement über ihre strukturelle Ankopplung als Dauerirritation in das Rechtssystem weiterzuleiten.

Damit die Lösung gelinge, so meint Amstutz, müsse zuvor die »Komplikation« der Systemzugehörigkeit der Rechtswissenschaft ausgeräumt werden. Gehört die Rechtswissenschaft zum Funktionssystem des Rechts mit seinem Recht-Unrecht-Code oder zum Wissenschaftssystem, das mit dem Wahrheitscode operiert? (S. 380-384). Nach der herkömmlichen Systemtheorie ist nicht klar, ob sie dem Rechtssystem oder dem Wissenschaftssystem zuzurechnen ist. Amstutz entscheidet sich weder für das eine noch für das andere, sondern zieht sich mit der Annahme einer strukturellen Kopplung zwischen Wissenschaft und Rechtssystem aus der Affäre. Diese Komplikation ist eher künstlich, weil Amstutz den Wissenschaftscharakter der Rechtswissenschaft offen lassen will. Das ist verständlich. Unverständlich ist jedoch, wie in diesem Zusammenhang Luhmann zitiert wird, denn die Stellen aus RdG, die Amstutz als Luhmanns Stellungnahme gegen die »Einheitsthese« zitiert (S. 416 f.), beziehen sich auf das Verhältnis von Recht und Politik.

Man könnte meinen, Amstutz habe mit dem Konzept einer Kritischen Systemtheorie des Rechts die Problematik einer soziologischen Jurisprudenz oder allgemeiner der Interdisziplinarität angesprochen, ein Problemkreis, der auch gerne als Frage nach »Recht im Kontext« behandelt wird. Amstutz hält Luhmann ja vor, er habe das juristische Entscheidungssystem allein auf den rechtstextlichen und rechtsnormativen Kontext verpflichten wollen. Luhmann hatte die Thematik in relativ frühen Arbeiten insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Folgenberücksichtigung im Recht behandelt. [6]Funktionale Methode und juristische Entscheidung, AöR 94 (1969), 1 = ders., Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, 273; Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974. Speziell im Hinblick auf das normative Miterwarten juristischer Entscheidungen durch die umgebende Gesellschaft hat er sich 1993 noch einmal dezidiert geäußert. »Das Entscheidungssystem kann die Bedingung normativen Miterwartens nicht in die Form verbindlicher Entscheidungsprämissen bringen. … Juristisch kommt es darauf nicht an.  … Die Entscheidungsorganisationen des Rechtssystems können ihre eigene Einbettung in eine motivationale Rechtskultur nicht kontrollieren; und sie bemerken deshalb auch nicht, wenn sie damit beginnen, diese gesellschaftlichen Grundlagen ihrer Tätigkeit einem Prozeß der Erosion auszusetzen.« [7]RdG S. 148. Diese Stelle wurde von Amstutz 2008 ausführlich zitiert (ZfRSoz 29, 2008, S. 139.) Ich habe diese Luhmann-Texte bisher als funktionale Analyse ohne normativen Unterton verstanden. Amstutz ist nicht der erste, der sie ideologiekritisch hinterfragt. Damit schwächt er im Grund ihr kritisches Potenzial; denn deutlicher als an der zitierten Stelle geschehen, lässt sich wohl kaum sagen, dass das gesellschaftliche Entscheidungssystem ständig in Gefahr ist, sich von seiner gesellschaftlichen Basis zu entfremden.

Der Gedanke, dass nicht das juristische Entscheidungssystem, sondern die Rechtswissenschaft das geeignete »Medium« (S. 400) für Interdisziplinarität sein könnte, ist nicht neu. Die etablierte Jurisprudenz geht in dieser Richtung allerdings bisher nicht weiter als etwa das Bundesverfassungsgericht. Da müsste wohl eine andere Rechtswissenschaft her, um den Gerichten das »natürliche Recht« in Gestalt der Erwartungen des Publikums vorzuhalten.

»Wie verfährt die Kritische Systemtheorie des Rechts um ›Gärstoff‹ für Kritik im und für das Rechtssystem zu sein?« (S. 384) Gärstoff gibt es genug. Interessanter wäre die Frage nach dem Gärprozess. Wie lässt er sich einleiten, erhalten und steuern? Auf diese Grundfrage aller Winzer gibt die Kritische Systemtheorie keine Antwort. Dafür gibt sie sich mit voller Kraft der Täuschung hin, dass man durch die Benennung gesellschaftlicher Zustände als Widerspruch der Kryptonormativität empirischer Sozialforschung entgehen und so eine »nicht normative, aber normativ bedeutsame Kritik« üben könne.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Lire le Capital, 1965.
2 »Was ist der Fall?« und »Was steckt dahinter?« – Die zwei Soziologien und die Gesellschaftstheorie, Zeitschrift für Soziologie 22, 1993, 245-260.
3 Dazu wird Rahel Jaeggi zitiert: Was ist Ideologiekritik?, in: dies./Tilo Wesche (Hg.), Was ist Kritik?, 2009, 266-295.
4 Von Kirchmann nach Amstutz S. 392.
5 Rechtsgenesis: Ursprungsparadox und supplément, ZfRSoz 29, 2008, 125-151, S. 131-140.
6 Funktionale Methode und juristische Entscheidung, AöR 94 (1969), 1 = ders., Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, 273; Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974.
7 RdG S. 148. Diese Stelle wurde von Amstutz 2008 ausführlich zitiert (ZfRSoz 29, 2008, S. 139.)

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Paradoxologen unter sich. Anmerkungen zu Amstutz/Fischer-Lescano (Hg.), Kritische Systemtheorie

Wiederbelebungsversuche bei absterbenden Theorien sind nicht verboten. Es ist jedoch eher unwahrscheinlich, dass sich eine langsam vergreisende Großtheorie verjüngen lässt, indem man ihr die Überbleibsel einer bereits abgestorbenen einpflanzt. Im konkreten Fall geht es darum, Luhmanns Systemtheorie mit der Kritischen Theorie Frankfurter Schule zu reanimieren. Das ist das Ziel des von Marc Amstutz und Andreas Fischer-Lescano herausgegebenen Sammelbands »Kritische Systemtheorie. Zur Evolution einer normativen Theorie«, der 2013 im Transcript-Verlag Bielefeld erschienen ist. Zu bewundern sind auf 406 Seiten eine Einleitung und siebzehn Beiträge voller Paradoxien-Origami.

Luhmanns Systemtheorie war groß, ja sie war die größte der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Warum ich Luhmann für so bedeutend halte, habe ich in einem Eintrag vom 8. 8. 2011 ausgeführt [1]Warum ist Luhmann so bedeutend und warum gehe ich auf Distanz?. Aber langsam wird seine Theorie zur Geschichte, denn sie lebte von der außerordentlichen Persönlichkeit ihres Autors. Ihre Zukunftsfähigkeit hat Luhmann selbst untergraben, weil er einem ungebremsten Konstruktivismus huldigte, weil er sich nicht damit begnügte, auf Rekursivität oder Reflexivität abzustellen, sondern die bei der Beobachtung von Beobachtung unvermeidliche Selbstreferenz zu Paradoxien hochstilisierte, und weil er sich von Spencer-Brown verleiten ließ, Paradoxien für annehmbar zu halten. Hinzu kommt die geradezu dogmatische Systemvorstellung, die mit der Trias von Interaktion, Organisation und Gesellschaft und ihrer autopoietischen Geschlossenheit zur Quelle schönster Begriffssoziologie geworden ist, die der Begriffsjurisprudenz des ausgehenden 19. Jahrhunderts nicht nachsteht. Ihre Blüten kann man bei Gunther Teubner bewundern, wenn er aus einem paradoxen Prozess die Selbstvalidierung des Vertrages ableitet oder aus Vertrag und Organisation per Re-Entry Netzwerkhybride kreiert. Was von Luhmann bleiben wird, ist – neben einer selbstbezogenen Luhmannhermeneutik – eine trivialisierte Systemtheorie, die vor allem auf die von Luhmann geschaffene Begrifflichkeit zurückgreift. Wie nützlich auch eine Volksausgabe der der Systemtheorie sein kann, zeigt in seinem Beitrag Lars Viellechner [2]Das Recht der Weltgesellschaft: Systemtheoretische Beschreibung und Kritik, S. 285-304.. Auf 20 Seiten gelingt ihm ein klares Bild des »Rechts der Weltgesellschaft«, das ohne die Faltung von Paradoxien auskommt und auf Kritik verzichtet.  Im Übrigen sind wir alle so geschichtsbewusst, dass wir noch über Jahrzehnte Luhmann unsere Fußnotenreferenz erweisen werden.

Mit der Kritischen Theorie Frankfurter Schule liegt es etwas anders. Sie stieß auf offene Ohren, weil sie auf Bausteine und Vokabular des Marxismus zurückgriff. Sie erwarb sich große Verdienste durch die Kritik des Faschismus, und zeitweise wurde sie auch politisch relevant. Überdauert hat vor allem die kritische Attitüde. Ein referierbares Theoriegebäude hat die Kritische Theorie kaum hinterlassen. Geblieben ist Habermas, der sich aber schon früh von der Kritischen Theorie emanzipiert hat [3]Claus Grossner, Der letzte Richter der Kritischen Theorie?, Die Zeit vom 13. 3. 1970..

Nun also soll die Systemtheorie durch die Kritische aufgefrischt werden. Restauratoren sind in diesem Falle nicht Soziologen oder Philosophen, sondern Juristen, allen voran Amstutz, Fischer-Lescano und Teubner. Sie plädieren für das, was Juristen ein »objektive« Auslegung der Systemtheorie nennen würden. Nicht »die mögliche Motivlage der wichtigsten Denker der modernen Systemtheorie« sei maßgeblich, sondern allein der mögliche Anschluss von Kommunikation an Kommunikation« sei entscheidend [4]Amstutz/Fischer-Lescano, Einleitung S. 8.. Juristen können alles hinbiegen und hinkriegen. Die Einleitung und die meisten Autoren versichern sich durch viel Selbstreferenz, dass das Vorhaben gelingen wird.

Was man von einer Kritischen Systemtheorie zu erwarten hat, liegt beinahe auf der Hand, nämlich eine Paradoxologie, die Beliebigkeiten Tür und Tor öffnet. Sozialen Systemen aller Art, vor allem aber den großen Funktionssystemen, wird als Konsequenz ihrer autopoietischen Geschlossenheit eine spezifische Eigenlogik zugeschrieben. Wo immer sich die Systeme begegnen und überkreuzen, geraten unverträgliche Eigenlogiken aneinander, oder vielmehr sie geraten in Widerspruch. Organisationen etwa lassen sich als Subsystem einem bestimmten Funktionssystem zuordnen mit der Folge, dass sie den paradoxen Anforderungen unterschiedlicher Funktionslogiken ausgesetzt sind. [5]Martin Herberg, Organisationsversagen und organisatinale Pathologien, 237-253, S. 242.  Liegen die Widersprüche nicht als offene Konflikte zu Tage, sind sie also »invisibilisiert«, dann werden sie eben hervorgezogen. Auch die nichtintendierten Nebenfolgen absichtsvoller Handlungen sind immer für eine Auffaltung zum Paradox gut. Notfalls greift man auf ein Ursprungsparadox zurück. Die Konstatierung von Widersprüchen gilt Paradoxologen per se als ein Akt der Kritik, ohne dass es dazu eines externen normativen Standpunktes bedürfte. Bei der Beobachtung des Rechts finden sie den Verlust etatistischer Einheit, Pluralisierung des Rechts, Fragmentierung der Gesellschaft und konfligierende Binnenrationalitäten oder Eigenlogiken in den Fragmenten. Ein Grundfehler der Paradoxologen liegt darin, dass sie nicht zwischen Selbstreferenz als logischer Kunstfigur einerseits und Rückkopplung und Rekursivität als realen Phänomenen andererseits unterscheiden [6]Zu dieser Unterscheidung ausführlich Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, 94 ff, 104 ff.. Er geht darauf zurück, dass der epistemologisch durchaus gerechtfertigte Antifundamentalismus fundamentalistisch auf die operative Ebene der Praxis übertragen wird.

Fischer-Lescano ist in dem hier angezeigten Band mit der überarbeiteten Fassung eines Beitrags vertreten, den er bereits in der Teubner-Festschrift »Soziologische Jurisprudenz« (2009) publiziert hatte. Teubner wiederum lässt einen Aufsatz abdrucken, der bereits 2008 in der Zeitschrift für Rechtssoziologie erschienen ist [7]Selbstsubversive Gerechtigkeit: Kontingenz- oder Transzendenzformel des Rechts?, ZfRSoz 29, 2008, 9-36. Ich werde mich daher mit kritischen Anmerkungen in einem weiteren Eintrag auf den (originalen) Schlussbeitrag von Marc Amstutz »Der zweite Text. Für eine Kritische Systemtheorie des Rechts« (S. 365-401) konzentrieren.

Nachtrag vom 4. 3. 2015: Andreas Fischer-Lescano [8]Systemtheorie als kritische Gesellschaftstheorie, S. 13-37, S. 14 Fn. 4 vindiziert die »Kreationsrechte« für »Kritische Systemtheorie« für Rudolf Wiethölter. In einem Zeitalter, in dem man für Plagiate aller Art, auch für Ideenplagiate, so empfindlich geworden ist, sollte die Urheberschaft Poul Kjaer zugerechnet werden. Sein Aufsatz »Systems in Context. On the Outcome of the Habermas/Luhmann-Debate« (Ancilla Juris, 2006, 66-77) endet:

»In sum, one outcome of the Habermas/Luhmann debate is that the late Habermas’ discourse theory can be regarded as a normative superstructure to Luhmann’s descriptive theory of society. But a second is that, beyond the tendency to the two theoretical complexes’ convergence, a complete fusion, through the development of a fully fledged inter‐systemic“ and „critical“ systems theory, could provide a viable basis for further theoretical development. Such a theory might provide an optimal frame for the continuing reformulation of legal theory.«

Immerhin wird Kjaer von Fischer-Lescano in Fn. 3 erwähnt.

Nachtrag vom 12. 10. 2016: Neue Literatur: Kolja Möller/Jasmin Siri (Hg.), Systemtheorie und Gesellschaftskritik. Perspektiven der Kritischen Systemtheorie, Bielefeld 2016.

Nachtrag vom 9. 1. 2021: Heute kann man die gründliche Luhmann-Kritik von Linda Nell (Die multiple Differenzierung des Rechts, 2020) hinzunehmen. Nell meint, »die fundamentale Inkommensurabilität von Kritischer Theorie und Systemtheorie [dürfe] nicht hinweggewischt werden«, und verweist dazu  auf den Habermas/Luhmann-Band von 1971 (Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie). Nell urteilt (S. 204):

»Das Projekt der kritischen Systemtheorie zielt nicht, wie eigentlich behauptet, auf die Zusammenführung zweier Gesellschaftstheorien, die ohnehin inkommensurabel bleiben müssen, sondern auf die handlungstheoretische Beseitigung des Monismus funktionaler Differenzierung

Von Nell jetzt auch der Bogpost Kann es eine Kritische Systemtheorie geben? Zur Frage der rechtssoziologischen Differenzierungstheorie.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Warum ist Luhmann so bedeutend und warum gehe ich auf Distanz?
2 Das Recht der Weltgesellschaft: Systemtheoretische Beschreibung und Kritik, S. 285-304.
3 Claus Grossner, Der letzte Richter der Kritischen Theorie?, Die Zeit vom 13. 3. 1970.
4 Amstutz/Fischer-Lescano, Einleitung S. 8.
5 Martin Herberg, Organisationsversagen und organisatinale Pathologien, 237-253, S. 242.
6 Zu dieser Unterscheidung ausführlich Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, 94 ff, 104 ff.
7 Selbstsubversive Gerechtigkeit: Kontingenz- oder Transzendenzformel des Rechts?, ZfRSoz 29, 2008, 9-36.
8 Systemtheorie als kritische Gesellschaftstheorie, S. 13-37, S. 14 Fn. 4

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In eigener Sache: »Zur Rede vom multisensorischen Recht« nunmehr in der ZfRSoz

In verschiedenen Einträgen hatte ich über die von Colette Brunschwig in München veranstalteten Tagungen zum »Multisensorischen Recht« berichtet. [1]Difficile est satiram non scribereMultisensorisches Recht – taugt nicht einmal für die Kulturwissenschaften; »Rechtsvisualisierung« auf dem Internationalen Rechtsinformatik Symposium. Aus diesen Einträgen und weiterem Material ist nun der Aufsatz »Zur Rede vom multisensorischen Recht: Ein kumulativer Tagungsbericht« geworden, der in der Zeitschrift für Rechtssoziologie 33, 2012/13, S. 51-75 erschienen ist.

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Nachtrag zu: Homo juridicus – nice guy oder bad man?

Jetzt habe ich auch den Text von Giorgio Del Vecchio »Der ›Homo Iuridicus‹ und die Unzulänglichkeit des Rechts als Lebensregel« erhalten. Er wurde 1937 in Band II der in Belgrad (Beograd) erschienenen Zeitschrift »Philosophia« (S. 55-86) und gleichzeitig als Sonderdruck veröffentlicht. Die Einleitung umreißt recht genau die Fragestellung, die ich in dem vorhergehenden Eintrag vom 10. Juni 2013 behandeln wollte, so dass ich sie hier ausführlich zitiere:

»Bekanntlich haben die Wirtschaftswissenschaftler die hypothetische Gestalt eines ›homo oeconomicus‹ entworfen, um die grundlegenden Gedanken ihrer Wissenschaft bildhaft darzustellen. Das heißt, sie haben einen Menschen angenommen, der in all seinen Handlungen ausschließlich durch das Motiv des wirtschaftlichen Interesses bestimmt wird. Obwohl es nicht zu verkennen ist und von den Wirtschaftswissenschaftlern selbst zugegeben wird, dass in der Wirklichkeit die Wirtschaft als Motiv zusammentrifft und sich verflicht mit vielen anderen Motiven, so gestattet (wenigstens nach der Annahme der Wirtschaftswissenschaftler) eine begriffliche Abstraktion doch die Ermittelung des Verhaltens, das ein Mensch bei ausschließlicher Bestimmung durch jenes Motiv unter gewissen äußeren Umständen einschlagen würde. Auf Grund eines ähnlichen hypothetischen Verfahrens könnte man viele andere abstrakte Gestalten von Menschen entwerfen, welche durch eine einzige Art von Motiven bestimmt werden und man könnte dabei beispielsweise von einem ›homo religiosus‹, einem ›homo moralis‹ und ähnlichem sprechen. Vorausgesetzt, daß man vermeidet, solche hypothetischen Gestalten mit der Wirklichkeit irrtümlich zu verwechseln und ihnen allen den nämlichen normativen Wertcharakter zuzuteilen, ist nicht zu leugnen, daß sie einem gewissen wissenschaftlichen Bedürfnis genügen und eine gewisse wissenschaftliche Funktion erfüllen können. Deshalb ist es nicht zwecklos, zu fragen, ob wir nicht etwa die Gestalt eines homo iuridicus entwerfen können und welches deren genauerer Umriss und Gehalt ist.

Eine kurze Überlegung zeigt, daß mit diesem Ausdruck verschiedene Gebilde gemeint sein können. Er kann einen Menschen kennzeichnen, der angenommenermaßen sich stets innerhalb der Schranken des Rechts hält und derart nie mit einem Rechtssatz in Konflikt gerät. Er kann weiter einen Menschen kennzeichnen, der im höchsten Maße all die Rechte ausübt, welche ihm zustehen, und der auf keines der juristischen Machtmittel verzichtet, welche von den Rechtssätzen zu seiner Verfügung bereitgestellt worden sind. Schließlich kann jener Ausdruck einen Menschen kennzeichnen, der sich ausschließlich der Verteidigung des Rechtes widmet, d. h. der Aufgabe, jede Verletzung der Rechtssätze zu verhüten oder niederzuschlagen, von welcher Seite diese auch kommen mag. In allen diesen Fällen bildet das Recht stets das grundlegende Motiv für ein menschliches Handeln. Aber gerade die verschiedenen Möglichkeiten der Anwendung, welche der Begriff des homo iuridicus offen läßt, weisen uns auf das hin, was wir in den folgenden Betrachtungen klarlegen wollen, daß nämlich das Recht für sich allein unzulänglich ist, um das menschliche Leben zu ordnen. Damit wird sich auch Gelegenheit bieten, von einem bestimmten Gesichtspunkte aus, die Wesenselemente des Rechts durch einen Vergleich mit den anderen Regeln des sozialen Lebens und mit den Naturgesetzen näher zu bestimmen.«

Del Vecchio unterscheidet also drei homines juridici. Der erste ist der Rechtskonformist, der zweite der Rechthaber und der dritte der Rechtsaktivist. Anschließend legt del Vecchio in einem auch in der deutschen Übersetzung noch glänzend formulierten Essay nach Art einer Allgemeinen Rechtslehre dar, dass viele Rechtsnormen nicht kategorisch gemeint sind, sondern hypothetisch oder instrumentell, so dass man von ihnen nur Gebrauch macht, wenn man einen außerrechtlichen Zweck verfolgt. Vor allem aber referiert er verschiedene Möglichkeiten der Unterscheidung von Recht und Moral, mit dem Ergebnis, dass das Recht ein ethisches Minimum darstelle, um am Ende festzustellen, dass das menschliche Leben nicht allein in der Form des Rechts geregelt werden könne, weil weder Moral noch Recht für sich allein bestehen können.

»Der Mensch, welcher niemals eine Rechtspflicht verletzt (der homo juridicus in der ersten Bedeutung dieses Begriffs), kann trotzdem arm an Weisheit und Menschlichkeit sein. Eine solche Erscheinung kann deshalb niemals ein wertvolles ideal darstellen. … (Es wäre) ein schwerer Paralogismus zu glauben, es sei immer moralisch erlaubt, von seinem Rechte uneingeschränkt Gebrauch zu machen. … (Das Recht ist nur ein ethisches Minimum. Deshalb) müssen wir auch die These zurückweisen, was es in jedem Falle die volle Billigung verdiene, wenn man das eigene Recht bis zum äußersten ausnützt. Die Figur des homo juridicus in diesem zweiten Sinne stellt gleichfalls kein wirkliches Ideal der Vernunft dar …« (S. 80)

Aber auch »der der Kampf gegen juristisches Unrecht kann kein ausreichendes Lebensideal« sein (S. 81). Denn ebenso wenig wie das Recht selbst einen Maßstab dafür enthält, wie weit man sich auf sein Recht berufen soll, liefert es einen Maßstab dafür, wann es angemessen ist, zur Verteidigung des Rechts anzutreten. Stets muss man die Moral zur Hilfe rufen. All dem wird man gerne beipflichten. Aber mit dieser Wendung ins Normative entfällt die Vergleichbarkeit mit dem homo oeconomicus (und homo sociologus), den ich mir nach der einleitenden Fragestellung erhofft hatte.

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Hominiden gibt es reichlich. Wikipedia bietet eine Liste der mit homo verbundenen Epitheta, und zwar auch solcher philosophisch-anthropologischer Art. Darunter befindet sich natürlich der homo oeconomicus. Aber auch Dahrendorfs homo sociologicus ist präsent, ebenso Cassirers symbolischer Mensch als homo symbolicus. Dagegen fehlt der homo juridicus.

Thomas Raiser hat ihn 2011 für die Rottleuthner-Festschrift dingfest gemacht. [1]Thomas Raiser, Homo oeconomic, homo sociologicus, homo juridicus: Leitbilder wissenschaftlicher Forschung?, in: Matthias Mahlmann (Hg.), Gesellschaft und Gerechtigkeit, Festschrift für Hubert … Continue reading Man wird ihm gerne beipflichten, wenn er sagt, in der aktuellen Jurisprudenz sei der Begriff des homo juridicus nicht eingeführt und üblich. Dagegen möchte ich widersprechen, wenn er fortfährt, »schon die allgemeine Aufgabe des Rechts, generell geltende Gebote und Verbote aufzustellen, (spreche) für die Notwendigkeit einer derartigen Figur« (S. 353). Für Raiser ist der homo juridicus das mit Menschenwürde begabte Rechtsubjekt. Was mit der Benennung als homo juridicus gewonnen werden soll, vermag ich nicht zu erkennen.

Homo juridicus ist in der Tat kein gängiger Rechtsbegriff. Aber man hat den Ausdruck wiederholt benutzt, um ihn mit mancherlei philosophisch-anthropologischen Konnotationen zu verbinden. Dadurch ist die Worthülse verbraucht. Dazu hier ein Schnelldurchgang durch einige Verwendungen.
Zu Anfang war der homo juridicus ridens. [2]Jacob Katzenstein, Der lachende Jurist, Dresden 1908. Aber der ist vergessen. 1937 hatte sich Giorgio del Vecchio Gedanken über den »Homo Iuridicus und die Unzulänglichkeit des Rechts als Lebensregel« gemacht [3]Giorgio Del Vecchio, Der »Homo Iuridicus« und die Unzulänglichkeit des Rechts als Lebensregel, Verlag: Beograd, 1937. Ich habe das Buch bisher nicht einsehen können, und so muss ich es auslassen.

Homo juridicus könnte rechtstechnisch für das Rechtssubjekt stehen, als »homo juridicus, der die formale Voraussetzung für den homo oeconomicus bzw. homo criminalis ist« [4]Moritz Rinn, Aktivieren und Strafen, 2009, S. 184 [oops.uni-oldenburg.de/936/1/rinakt09.pdf]. Dann wäre die besondere Benennung aber überflüssig. Die Autoren, die Rechtsubjekte als homines juridici auszeichnen, wollen damit eine spezifische Subjektqualität andeuten.

Wenn man den homo juridicus gugelt, stößt man zuerst auf ein Buch von Alain Supiot, das ihn im Titel trägt [5]Alain Supiot, Essai sur la fonction anthropologique du Droit, Paris, Seuil, 2005, englisch als: Homo Juridicus: On the Anthropological Function of the Law, Alain Supiot, London:Verso, 2007. Supiot beschreibt im Grunde einen homo symbolicus, dem erst das Recht, das irgendwo in der Mitte zwischen instrumentell-technischem und Naturrecht angesiedelt wird, zu seiner Subjektivität verhilft. Der homo juridicus ist das Rechtssubjekt, wie es in langer Tradition durch Normen und Werte des Rechts geformt wurde. Er verknüpft die biologische und die symbolische Dimension des Menschen. Damit wendet sich Supiot in erster Linie gegen ein neoliberal geprägtes technisch-instrumentelles Rechtsverständnis. [6]Dazu die ebenso informative wie kritische Besprechung von Robert Knox in: Historial Materialism 17, Nr. 2, 2009, 286-299. Kritisch ist Knox vor allem deshalb, weil Supiot seiner Ansicht nach … Continue reading

Man wundert sich, dass der Franzose nicht auf Michel Foucault zurückgeht, denn dieser hatte in der Auseinandersetzung mit dem Liberalismus bzw. Neoliberalismus in seiner Vorlesung am Collège de France im Studienjahr 1978-79 den homo juridicus oder homo legalis als Rechtssubjekt dem interessengeleiteten homo oeconomicus entgegengesetzt. [7]Inhaltsreferat bei Ernst-Joachim Mestmäcker, Soziale Marktwirtschaft – eine Theorie für den Finanzmarkt nach der Krise?, in: Eberhard Kempf u. a. (Hg.), Ökonomie versus Recht im Finanzmarkt?, … Continue reading Der moderne Mensch, so Foucault, habe eine Doppelnatur als homo oeconomicus und homo juridicus oder legalis. Als oeconomicus sei er Träger von Interessen, als juridicus Rechtssubjekt. Das Rechtssubjekt leite seine Existenz von der Souveränität des Staates ab, während der oeconomicus ein Naturgeschöpf sei, das keinen Souverän dulde. Angesichts des auf ökonomische Effizienz angelegten (Selbst-)Managements des oecomicus gerate der juridicus ständig ins Hintertreffen.

Im Anschluss an Foucault entwickelt Louiza Odysseos die Vorstellung eines homo juridicus, der durch eine spezifische Subjektivität ausgezeichnet ist, die ihn sozusagen reif für das Zeitalter der Menschenrechte macht. [8]Louiza Odysseos, Human Rights, Liberal Ontogenesis and Freedom: Producing a Subject for Neoliberalism?, Millennium – Journal of International Studies OnlineFirst, 7. April 2010 … Continue reading

1994 hatten Michael Hutter und Gunther Teubner den homo juridicus im Blick [9]Michael Hutter/Gunther Teubner, Der Gesellschaft fette Beute: Homo juridicus und homo oeconomicus als kommunikationserhaltende Fiktionen, in: Peter Fuchs/Andreas Göbel (Hg.), Der Mensch, das Medium … Continue reading, aber nicht als Rechtssubjekt, sondern als empirischen Typus und theoretisches Konstrukt. Sie überlegten, wie man sich ihn als Parallele zum homo oeconomicus vorstellen könne. Zu diesem Zweck stellten sie den homo juridicus als reasonable man vor, also als »verständigen Rechtsgenossen« [10]Jutta Limbach, Der verständige Rechtsgenosse, 1977. »Sind die Handlungsmotive des homo oeconomicus und des homo juridicus reale psychische Sachverhalte, die man mit den Mitteln empirischer Sozialforschung abfragen kann? Oder sind sie reine analytische Konstrukte der Wirtschafts- und Rechtswissenschaften, die sich zwar in der Prognose bewähren müssen, denen aber selbst kein Realitätsgehalt zukommt?« (S. 110). Hutter und Teubner wollten schon »diese Alternative selbst zurückweisen und »behaupten stattdessen: Die Realität des rational actor … ist eine kommunikative Fiktion der Rechts- und der Wirtschaftspraxis selbst.« (S. 110). Natürlich zeige die Empirie, dass es den rational Handelnden homo juridicus ebenso wenig gebe wie den oeconomicus. Ich würde allerdings schon bezweifeln, dass die Parallelisierung von homo oeconomicus und homo juridicus überhaupt angemessen ist. Der reasonable man, der den homo juridicus ausfüllen soll, ist von vornherein nicht als rational actor gedacht, sondern als ein normatives Leitbild, das Klugheit einfordert, und zwar Klugheit in erster Linie gar nicht im Hinblick auf den Inhalt oder die Einhaltung von Rechtsnormen, sondern Klugheit im Hinblick auf Maßnahmen zur Schadensverhütung oder zur Einschätzung des Kindeswohls u. a. m. Die Parallelisierung stimmt aber auch deshalb nicht, weil die spezifische Rationalität des homo oeconomicus schlechthin in jeder Entscheidungssituation gefragt ist, während der »verständige Rechtsgenosse« nur in Ausnahmesituationen zum Einsatz kommt, in denen Klugheitsurteile oder Abwägungen gefordert sind. Bei dieser Ausgangslage wird der homo juridicus auch als »Realfiktion«, die »für die strukturelle Kopplung von kommunikativen Operationen in Wirtschaft und Recht mit den dazu simultan ablaufenden psychischen Operationen« sorgt, nicht besser, sondern gerät zu einer kunstvollen begriffssoziologischen Konstruktion.

Es gibt keine der ökonomischen vergleichbare juristische Rationalität, die sich von der sozialen Einbettung des Rechts lösen könnte. Als empirischer Durchschnittstyp wäre homo juridicus nur eine Spezies des homo sociologicus, der – mehr oder weniger – in rechtlich geprägten Rollenerwartungen zappelt. Das wäre dann der homo legalis, von dem bei Lucke [11]Doris Lucke, Normerosion als Akzeptanzproblem. Der Abschied vom »homo legalis«?, in: Monika Frommel u. a. (Hg.), Normenerosion, 1996, S. 57-74. die Rede ist und den Lucke verabschiedet hat, weil er, politikerfahren und demokratieerprobt, die Akzeptanz von Rechtsnormen von Partizipation und/oder informierter Einwilligung abhängig mache. [12]Lucke a. a. O. S. 65.

Der räsonierende und entscheidende Jurist als rational actor, vergleichbar dem homo oeconomicus, wäre als solcher wohl nur ein automatum juridicum. Als empirisch gedachtes Gegenmodell zum homo oeconomicus kann am besten der durch O. W. Holmes sprichwörtlich gewordene »bad man« herhalten, der berechnend bis an die Grenzen geht.

»If you want to know the law and nothing else, you must look at it as a bad man, who cares only for the material consequences which such knowledge enables him to predict, not a good one, who finds his reason for conduct whether inside the law or outside of it, in the vaguer sanction of conscience.« [13]The Path of Law, 1897.

Dieser Bösewicht ist ein rational actor. Das wäre mein Kandidat für den homo juridicus. Aber da verzichte ich lieber ganz.

Nachtrag: Jörg Risse, Der Homo iuridicus – ein gefährliches Trugbild. Wie Heuristiken richterliche Entscheidungen beeinflussen, 2018, 2848-2853. Risse verwendet den Begriff des homo juridicus für die idee des Juristen als als rationalen, vom Recht geleiteten Entscheider, um dieses Bild dann mit Hilfe von Kahnemann, Tversky usw. zu demontieren. Überflüssig.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Thomas Raiser, Homo oeconomic, homo sociologicus, homo juridicus: Leitbilder wissenschaftlicher Forschung?, in: Matthias Mahlmann (Hg.), Gesellschaft und Gerechtigkeit, Festschrift für Hubert Rottleuthner, 2011, 347-356.
2 Jacob Katzenstein, Der lachende Jurist, Dresden 1908.
3 Giorgio Del Vecchio, Der »Homo Iuridicus« und die Unzulänglichkeit des Rechts als Lebensregel, Verlag: Beograd, 1937.
4 Moritz Rinn, Aktivieren und Strafen, 2009, S. 184 [oops.uni-oldenburg.de/936/1/rinakt09.pdf].
5 Alain Supiot, Essai sur la fonction anthropologique du Droit, Paris, Seuil, 2005, englisch als: Homo Juridicus: On the Anthropological Function of the Law, Alain Supiot, London:Verso, 2007.
6 Dazu die ebenso informative wie kritische Besprechung von Robert Knox in: Historial Materialism 17, Nr. 2, 2009, 286-299. Kritisch ist Knox vor allem deshalb, weil Supiot seiner Ansicht nach Paschukanis nicht richtig würdigt. Eine weitere Rezension von Jerome Brown lässt nicht erkennen, warum das Buch seinen Titel trägt und zeigt damit, dass dieser nicht viel zur Sache tut (Industrial and Labor Relations Review 61, 2008, 582-583.
7 Inhaltsreferat bei Ernst-Joachim Mestmäcker, Soziale Marktwirtschaft – eine Theorie für den Finanzmarkt nach der Krise?, in: Eberhard Kempf u. a. (Hg.), Ökonomie versus Recht im Finanzmarkt?, 2011, S. 13-18.
8 Louiza Odysseos, Human Rights, Liberal Ontogenesis and Freedom: Producing a Subject for Neoliberalism?, Millennium – Journal of International Studies OnlineFirst, 7. April 2010 (doi:10.1177/0305829810364876).
9 Michael Hutter/Gunther Teubner, Der Gesellschaft fette Beute: Homo juridicus und homo oeconomicus als kommunikationserhaltende Fiktionen, in: Peter Fuchs/Andreas Göbel (Hg.), Der Mensch, das Medium der Gesellschaft?, 1994, 110-145.
10 Jutta Limbach, Der verständige Rechtsgenosse, 1977.
11 Doris Lucke, Normerosion als Akzeptanzproblem. Der Abschied vom »homo legalis«?, in: Monika Frommel u. a. (Hg.), Normenerosion, 1996, S. 57-74.
12 Lucke a. a. O. S. 65.
13 The Path of Law, 1897.

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Von der Dunbar-Zahl zur Geburtstags-Nummer

Als wir vor langer Zeit nach Bochum übersiedelten, fiel uns auf, dass im Ruhr-Gebiet viele in größerer Runde, als wir sie gewohnt waren, ihren 40. Geburtstag feierten. (Es dauerte, bis wir merkten, dass das jetzt auch unser Alter war.) Heute kommen wir von der (wunderbaren) Feier eines 70. Geburtstages nach Hause. In diesem Jahr war es der fünfte in der Preisklasse zwischen 70 und 80, zu dem wir eingeladen waren. Und jedes Mal lag die Zahl der Gäste zwischen 70 und 80. Da drängt sich doch die Frage nach einer Gesetzmäßigkeit auf. Es bietet sich eine Ableitung von der Dunbar-Zahl an. Die besagt, dass die Evolution den Menschen so ausgestattet habe, dass er nur – was heißt hier »nur«? – zu etwa 150 anderen persönliche Beziehungen unterhalten könne. [1]Robin I. M. Dunbar, Coevolution of Neocortical Size, Group Size and Language in Humans, Behavioral and Brain Sciences 16, 1993, 681-735. Die gesuchte Gesetzmäßigkeit geht anscheinend dahin, dass »große« persönliche Jubiläen, soziale, physische und monetäre Gesundheit vorausgesetzt, mit der halben Dunbar-Crowd gefeiert werden. Ich bin sicher, dass die BBN (Big Birthday Number) keinen Eingang in die soziologische Literatur finden wird. Deshalb habe ich sie hier festgehalten.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Robin I. M. Dunbar, Coevolution of Neocortical Size, Group Size and Language in Humans, Behavioral and Brain Sciences 16, 1993, 681-735.

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Pflanzenwürde – Menschenwürde

Art. 120 der Schweizerischen Bundesverfassung trägt die Überschrift »Gentechnologie im Ausserhumanbereich« und lautet:

(1) Der Mensch und seine Umwelt sind vor Missbräuchen der Gentechnologie geschützt.

(2) Der Bund erlässt Vorschriften über den Umgang mit Keim- und Erbgut von Tieren, Pflanzen und anderen Organismen. Er trägt dabei der Würde der Kreatur sowie der Sicherheit von Mensch, Tier und Umwelt Rechnung und schützt die genetische Vielfalt der Tier- und Pflanzenarten.

Daran schließt eine rechtspolitische Diskussion über den rechtlichen Schutz der Pflanzenwürde. [1]Darauf bin ich durch den Artikel »Die Würde der Pflanzen ist unantastbar« von Thomas Thiel in der Heimlichen Juristenzeitung vom 17. 4. 2013 S. N4 aufmerksam geworden. Thiel wiederum bezieht sich … Continue reading 2008 erschien ein Bericht der Eidgenössischen Ethikkommission für die Biotechnologie im Ausserhumanbereich (EKAH) über »Die Würde der Kreatur bei Pflanzen«.

Die Kommission unterschied zwischen fünf möglichen Antworten auf die Frage nach der moralischen Qualität von Pflanzen:

  1.  Theozentrismus: Grundlage dieser Position ist der Gedanke eines Schöpfergottes und damit verbunden der Geschöpflichkeit aller Lebewesen. Was um seiner selbst zählt, ist Gott. Alle Lebewesen zählen kraft ihrer Beziehung zu Gott.
  2. Ratiozentrismus: Diese Position macht die Frage, ob Wesen um ihrer selbst zählen, von ihrer (potentiellen) Vernunftfähigkeit und ihrem abstrakten Sprachvermögen abhängig.
  3. Pathozentrismus: Diese Position stellt auf die Empfindungsfähigkeit von Lebewesen ab. Sie zählen moralisch um ihrer selbst willen, wenn sie empfindungsfähig sind und etwas in irgendeiner Form als gut oder schlecht erfahren können.
  4. Biozentrismus: Lebewesen sind moralisch um ihrer selbst zu berücksichtigen, weil sie leben.
  5.  Anthropozentrismus: Diese Position verwies die Kommission allerdings in eine Fußnote, denn dahinter verberge sich entweder ein theozentrisches oder ein ratiozentrisches Verständnis.

Kummer ergänzt die Liste in Anlehnung an Frankena [2]William K. Frankena, Ethik und die Umwelt, in: Angelika Krebs (Hg.), Naturethik. Grundtexte zur gegenwärtigen tier- und ökoethischen Diskussion. Frankfurt 1997, 271-295, 271. um drei weitere Positionen:

  1. Egozentrismus: Gemeint ist ein ethischer Egoismus, wonach das moralische Werturteil ausschließlich auf das Interesse des Handelnden bezogen ist.
  2. Holismus, das heißt, die Ausdehnung des Eigenwerts auf das gesamte ökologische Zusammenspiel dieser Erde und damit auf alle Lebewesen.
  3. Naturam sequere.

Doch solche wunderbaren Auflistungen helfen nicht wirklich weiter. Mir hilft es dagegen, Kant ein wenig ausführlicher zu zitieren, und zwar einige Stellen aus der Grundlegung der Metaphysik der Sitten, die zur Begründung des kategorischen Imperativs dienen.

Der kategorische Imperativ ist ein Stück der Lehre Kants von der Autonomie des Menschen. Sie besagt, dass wir dem Gebot einer Autorität niemals blind gehorchen dürfen, ja dass wir uns nicht einmal einer übermenschlichen Autorität als einem moralischen Gesetzgeber blind unterwerfen sollen. Wenn wir dem Befehl einer Autorität gegenüberstehen, sind doch immer nur wir selbst es, die auf unsere eigene Verantwortung entscheiden, ob dieser Befehl moralisch oder unmoralisch ist. Eine Autorität kann die Macht besitzen, ihre Befehle durchzusetzen, ohne dass wir ihr Widerstand leisten können. Aber wenn und solange es uns physisch möglich ist, unsere Handlungsweise zu wählen, liegt die Verantwortung bei uns.

Freiheit ist die Befugnis, keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Beistimmung habe geben können.

Das Gewissen des Menschen ist die einzige Autorität. Kants Ethik ist aber nicht auf diesen Satz beschränkt. Er versucht auch festzustellen, was unser Gewissen von uns fordert. Diese Forderung ist der berühmte kategorische Imperativ. Er verlangt nach Maximen, die sich zu einer Gesetzgebung (das ist unjuristisch gemeint) für alle vernünftig wollenden Wesen eignen.

Handle so, als ob die Maxime deines Handelns durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte.

Oder in einer anderen Formulierung:

Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.

Dieser kategorische Imperativ ist das Sittengesetz Kants. Er ist ein Gebot, dessen Absender und Adressat identisch sind. Ein Versprechen etwa soll ich nicht halten, damit ich selbst auch in den Genuss gehaltener Verträge komme. Das Motiv, das den Menschen zur Beachtung des Sittengesetzes veranlasst, darf stets nur die Achtung vor dem Gesetz selbst sein, von Kant auch Pflicht genannt.

Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung für’s Gesetz. Zum Objekte als Wirkung meiner vorhabenden Handlung kann ich zwar Neigung haben, aber niemals Achtung, eben darum, weil sie bloß eine Wirkung und nicht Tätigkeit eines Willens ist.

Schiller hat über diese Vorstellung gespottet:

Gerne diene ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung. Und so wurmt es mich oft, daß ich nicht tugendhaft bin. Da ist kein anderer Rat, du mußt suchen, sie zu verachten und mit Abscheu alsdann tun, wie die Pflicht dir gebeut.

Doch Kant meint, das Sittengesetz wäre entwürdigt, wenn es um irgendwelcher äußerlicher Vorteile erfüllt würde. Das Sittengesetz hat Würde, weil es absolut in sich selbst wertvoll und die Bedingung ist, um deren Willen anderes wertvoll werden kann.

Die Gesetzgebung selbst aber, die allen Wert bestimmt, muß eben darum eine Würde, d. i. unbedingten, unvergleichbaren Wert haben, für welchen das Wort Achtung allein den geziemenden Ausdruck der Schätzung abgibt, die ein vernünftiges Wesen über sie anzustellen hat. Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.

Die Würde des Gesetzes geht nun aber auf den Menschen über, der – soweit unsere Erfahrung reicht – allein bestimmt und befähigt ist, sich nach diesem Gesetz selbst zu bestimmen, sein Träger zu sein und sich mit ihm zu identifizieren.

Die Vernunft bezieht also jeder Maxime des Willens als allgemein gesetzgebend auf jeden anderen Willen und auch auf jede Handlung gegen sich selbst, und dies zwar nicht um irgendeines anderen praktischen Beweggrundes oder künftigen Vorteils willen, sondern aus der Idee der  W ü r d e  eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht, als dem, daß es zugleich selbst gibt. Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anders, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde …

Daher ist Achtung vor der Würde des Menschen für Kant das inhaltliche Prinzip der Sittenlehre. Daher formuliert Kant den kategorischen Imperativ auch so:

Handele so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.

Man kann darüber streiten, ob Kants Beispiele für den kategorischen Imperativ den von ihm selbst gesetzten Anforderungen genügen. Das ist kaum der Fall. Man muss wohl akzeptieren, dass der kategorische Imperativ letztlich inhaltsleer ist. Aber schön ist er doch. Vor allem aber steckt mehr dahinter als Ratiozentrismus. Kant hebt zwar immer wieder die Vernunftnatur des Menschen hervor. Aber in diesem Zusammenhang ist Vernunft nicht bloß instrumentell oder analytisch, sondern praktisch im Kantischen Sinne, das heißt zu ethischer Selbstbesinnung fähig. Damit aus der Selbstbesinnung Selbstbestimmung werden kann, geht sie mit Freiheit einher, so problematisch diese im Hinblick auf das unumstößliche Kausalgesetz auch sein mag.

Wir haben den bestimmten Begriff der Sittlichkeit auf die Idee der Freiheit zuletzt zurückgeführt; diese aber konnten wir, als etwas Wirkliches, nicht einmal in uns selbst und in der menschlichen Natur beweisen; wir sahen nur, daß wir sie voraussetzen müssen, wenn wir uns ein Wesen als vernünftig und mit Bewußtsein seiner Kausalität in Ansehung der Handlungen, d. i. mit einem Willen begabt, uns denken wollen, und so finden wir, daß wir aus eben demselben Grunde jedem mit Vernunft und Willen begabten Wesen diese Eigenschaft, sich unter der Idee seiner Freiheit zum Handeln zu bestimmen, beilegen müssen.

Es läuft auf einen Taschenspielertrick hinaus, wenn Kant die Freiheit mit der Unterscheidung des homo noumenon vom homo phainomenon zu retten versucht.

Um des Willen muß ein vernünftiges Wesen sich selbst, als Intelligenz, nicht als zur Sinnen- sondern zur Verstandeswelt gehörig ansehen; mithin hat es zwei Standpunkte, daraus sie sich selbst betrachten und Gesetze des Gebrauchs seiner Kräfte, folglich aller seiner Handlungen erkennen kann, einmal, sofern es zur Sinnenwelt gehört, unter Naturgesetzen (Heteronomie), zweitens als zur intelligibelen Welt gehörig, unter Gesetzen, von der Natur unabhängig, nicht empirisch, sondern bloß in der Vernunft gegründet sein.

So versucht Kant sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen:

Du kannst, denn du sollst.

Und dennoch: Die Idee der Freiheit ist schön. Ich gönne »Würde« nur solcher Kreatur, die mit Kant die Idee der Freiheit teilen kann. Tiere und Pflanzen verdienen es nicht, dass man ihnen unter Berufung auf Kant Würde zubilligt.

Nicht einmal die metaphorische Verwendung des Würdebegriffs, wie Kummer sie immerhin für zulässig hält, ist für Tiere und Pflanzen angebracht. Damit wird die Menschenwürde verschlissen. Die rechtlichen Konsequenzen sind fraglos sehr begrenzt. Jede willkürliche oder auch nur vermeidbare Schädigung von Tieren und Pflanzen wäre danach unmoralisch und müsste wohl auch rechtlich verboten sein. Der Jainismus verwirft jede Tötung von Tieren. Aber so weit gehen nicht einmal westliche Vegetarier. Auch in der Schweiz kommt wohl niemand auf die Idee, dass man Pflanzen nicht mehr essen und aus ihnen keine Rohstoffe mehr gewinnen dürfe. Tierwürde und Pflanzenwürde könnte nie in dem Sinne absolut geschützt werden wie die Menschenwürde. Wollte man auch nur die Begrifflichkeit akzeptieren, geriete der strikte Schutz der Menschenwürde in Gefahr.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Darauf bin ich durch den Artikel »Die Würde der Pflanzen ist unantastbar« von Thomas Thiel in der Heimlichen Juristenzeitung vom 17. 4. 2013 S. N4 aufmerksam geworden. Thiel wiederum bezieht sich auf einen Aufsatz des Jesuiten, Biologen und Naturphilosophen Christian Kummer »Pflanzenwürde: Zu einem Scheinargument in der Gentechnikdebatte, der in Stimmen der Zeit Jg. 138, 2013, Heft 1 abgedruckt sein soll, mir aber bisher nicht zugänglich war.
2 William K. Frankena, Ethik und die Umwelt, in: Angelika Krebs (Hg.), Naturethik. Grundtexte zur gegenwärtigen tier- und ökoethischen Diskussion. Frankfurt 1997, 271-295, 271.

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