Kleine Welt, Große Welt

Von 1967 stammt Stanley Milgrams erstes Briefexperiment, mit dem er das Small-World-Phänomen populär machte. [1]Stanley Milgram, The Small World Problem, Psychology Today 1, 1967, 61-67. Das zweite folgte 1969 zusammen mit Jeffrey Travers. [2]Jeffrey Travers/Stanley Milgram, An Experimental Study of the Small World Problem, Sociometry 32, 1969, 425-443. In einer Nachfolgeuntersuchung haben Peter Sheridan Dodds, Roby Muhamad und Duncan J. … Continue reading In diesem Beitrag geht es darum, dass die Rede von der Kleinen Welt insofern zweideutig ist, als sie offen lässt, ob die Welt ein einziges Netzwerk bildet oder sich aus vielen Netzwerken zusammensetzt.
Milgram versuchte 1967 mit einem Experiment, den sozialen Abstand zwischen zwei beliebigen Personen zu ermitteln. Zu diesem Zweck verteilte er an zufällig ausgewählte Probanden in Omaha (Nebraska) und Wichita (Kansas) Briefe, die an unbekannte Dritte in Boston (Massachusetts) gerichtet waren. Die Versuchspersonen sollten den Brief persönlich an einen Bekannten weitergeben, der ihrer Ansicht nach der Zielperson näher stand. Dieser Mittelsmann sollte ebenso verfahren, bis der Brief sein Ziel erreichte. Nur 64 von 296 Briefen erreichten ihr Ziel, und zwar mit zwei bis zehn Zwischenstationen. Die durchschnittliche Pfadlänge betrug 5,2. Darauf bezieht sich der Slogan »six degrees of separation« [3]Nach dem Titel eines Theaterstücks von John Guare, 1990.. So entstand die Vorstellung einer kleinen Welt (small world), in der grundsätzlich jeder Mensch auf dieser Welt über sechs Ecken mit jedem anderen bekannt ist. Dabei handelt es aber wohl eher um eine Wunschvorstellung. [4]Zur Kritik Judith S. Kleinfeld, The Small World Problem, Society 2002, 61-66. Auch wenn es zwischen den vielen verschiedenen Netzen Brücken geben mag, so sind diese doch längst nicht von allen Knoten erreichbar. Realistischer ist deshalb das Bild einer Welt, die in viele Teilnetze separiert ist.
Netzwerke haben meistens eine modulare Struktur, d. h. sie verfügen über mehrere relativ selbständige Teile, die Subnetz(werk)e in einem größeren Netz bilden. Eine scharfe Unterscheidung zwischen selbständigen Netzen, Subnetzen und gelegentlich auch bloßen Clustern und Cliquen lässt sich nur bei der modellhaften Darstellung in Graphen treffen. Für technische Netze, z. B. für das Internet ist von einem Subnetz die Rede, wenn die Knotenmenge eines Netzsegments untereinander so verbunden ist, dass sie auch ein selbständiges Netz bilden kann, wenn die Verbindung zu anderen Netzteilen oder zu einem größeren Netzverbund aber so gestaltet ist, dass die Abkopplung oder der Zusammenbruch des Subnetzes nicht zu einer Beeinträchtigung oder gar zum Zusammenbruch anderer Netzteile oder des ganzen Netzes führt. Bei realen sozialen Netzwerken verschwimmen die Grenzen.
In einem Graphen kennt man Komponenten. Eine Komponente besteht aus einem oder mehreren Knoten, die untereinander vernetzt sind, die zu anderen aber keine Verbindung haben. Mit einem realen Netzwerk verbindet sich aber die Vorstellung, dass alle Knoten mindestens indirekt miteinander verbunden sind. Von einem sozialen Netzwerk erwartet man in der Regel sogar eine gewisse Mindestdichte. Man betrachtet daher Gruppierungen, die im Graph modellhaft als Teilnetze erscheinen, als selbständig, auch wenn zwischen ihnen eine Brücke besteht, weil diese Brücke für die Masse der Netzknoten schwer zu finden ist. Deshalb ist die Rede von der Kleinen Welt zweideutig. Bei Milgram bezog sie sich auf die ganze reale Welt. Man kann sich diese Welt allerdings kaum als ein einziges soziales Netz vorstellen. Viel näher liegt der Gedanke an eine Ansammlung von vielen selbständigen Netzwerken, die sich teilweise überschneiden. Als selbständig erscheint ein Netzwerk, wenn die Konnektivität zwischen seinen Knoten eine relative Stärke erreicht. Eine einzelne Brücke in eine andere Knotenmenge reicht dann nicht aus, um beide Mengen als einheitliches Netzwerk erscheinen zu lassen. Trotzdem bleibt es bei der Kleinen Welt. Über die Knoten und Kanten mit Brückenfunktion sind die separaten Netze so miteinander verbunden, dass der Weg von einem beliebigen Punkt auf der Welt zu irgendeinem anderen oft über etwa sechs Netze hergestellt werden kann. Das Kleine-Welt-Phänomen gilt aber auch – und das ist praktisch wichtiger – innerhalb der selbständigen oder Teilnetze. Auch hier ist der längste Pfad zwischen zwei Kanten mit durchschnittlich sechs bis sieben im Hinblick auf die oft große Zahl der Knoten und ihre relativ geringe Vernetzung immer noch überraschend kurz.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Stanley Milgram, The Small World Problem, Psychology Today 1, 1967, 61-67.
2 Jeffrey Travers/Stanley Milgram, An Experimental Study of the Small World Problem, Sociometry 32, 1969, 425-443. In einer Nachfolgeuntersuchung haben Peter Sheridan Dodds, Roby Muhamad und Duncan J. Watts 60.000 Email-User veranlasst, 18 Zielpersonen in 13 Ländern zu erreichen, indem sie eine Nachricht jeweils an einen Bekannten weitersandten. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass es grundsätzlich wohl möglich sei, auch im globalen Maßstab beliebig Zielpersonen über persönliche Netzwerke zu erreichen, und schätzten, dass dazu durchschnittlich fünf Vermittlungsschritte notwendig seien. Die Probanden waren dabei sehr verschieden erfolgreich. Der Erfolg war von sozialen Merkmalen (von denen indirekt die verfügbaren Netzwerke abhängen) und von der Suchstrategie abhängig. Bei den ersten Schritten wurde vor allem nach Personen gesucht, die der Zielperson geographisch nahe waren. Bei den letzten Schritten wurde vor allem nach Vermittlern gesucht, die aus einem ähnlichen Berufsfeld kamen wie die Zielpersonen. Am erfolgreichsten waren Probanden, die professionelle Beziehungen nutzen konnten: An Experimental Study of Search in Global Social Networks, Science 301, 29003, 827-829.
3 Nach dem Titel eines Theaterstücks von John Guare, 1990.
4 Zur Kritik Judith S. Kleinfeld, The Small World Problem, Society 2002, 61-66.

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Zur Innovationskraft von Netzwerken

Das Netzwerkthema lässt mir keine Ruhe. Ich hoffe, dass ich bald den Netzwerk-Paragraphen für Rechtssoziologie-online fertig habe. Heute nur eine Kleinigkeit zu der verbreiteten Netzwerkeuphorie.
Netzwerke gelten als innovationsfähig. Das haben u. a. Untersuchungen zu prosperierenden Regionalwirtschaften bestätigt. Die Innovationskraft ist jedoch keine Eigenschaft des Netzwerks an sich, sondern hängt von seiner Struktur ab. Voraussetzung ist anscheinend, dass das Netzwerk nicht zu stark verclustert ist und über Brückenbeziehungen in andere Cluster verfügt. Beides hängt wohl miteinander zusammen. Auch in einem Netzwerk können sich die Beziehungen soweit verfestigen, dass die Selbständigkeit der Beteiligten, die ihnen interaktives Lernen und Innovation ermöglicht, verloren geht.
Die Geschichte des Ruhrgebiets bietet ein Beispiel dafür, wie ein verclustertes Netzwerk die Entwicklung blockieren kann. Etwa ab 1960 begann der Niedergang der Montanindustrie. Eine Modernisierung wurde durch regionale Netzwerke in dreifacher Hinsicht blockiert:
Erstens hatten die großen Montanunternehmen das Netzwerk der regionalen Zulieferer stark zentralisiert und auf sich ausgerichtet. Das Netzwerk war damit in hohem Maße transaktionskosteneffizient. Aber gerade damit führte es zu einer Entwicklungsblockade. Die Zulieferer konnten weitgehend auf die so genannten dispositiven Unternehmensfunktionen wie Forschung und Entwicklung, Marketing und Verkauf verzichten. »Damit fehlten diesen Betrieben genau jene Funktionen, die für eine Anpassung an veränderte Nachfragebedingungen entscheidend sind.«
Zweitens wurden diese funktionalen Blockierungen »durch kognitive Blockierungen noch verschärft. Die langfristig stabilen persönlichen Beziehungen begünstigten die Herausbildung von gemeinsamen Orientierungen, eines gemeinsamen technischen Jargons, gemeinsamer Verhandlungsprozeduren, ja, schließlich einer gemeinsamen Weltsicht. Diese homogene Weltsicht blockierte Reorganisationsmaßnahmen zu einem Zeitpunkt, als die Region noch über ausreichen Anpassungsspielräume verfügte. Die soziale Kohäsion und die gefestigten persönlichen Beziehungen innerhalb des Montankomplexes ließen auch kaum Raum für sogenannte ›Brückenbeziehungen‹, die über die engen Grenzen der eigenen sozialen Gruppe hinauswiesen und damit neue Informationen und Informationspotentiale erschlossen.
Drittens schließlich hielt das politisch-administrative System die Region auf Kurs, auch als dieser Kurs schon längst in eine Sackgasse geführt hatte, da die symbiotischen Beziehungen zwischen der Industrie und dem politisch-administrativen System versteinert waren. Innerhalb der Region war diese Konsens-Kultur, geprägt durch konservative Sozialdemokraten konservative Gewerkschaften und patriarchalische Unternehmer, über Jahrzehnte hinweg keinen ernsthaften politischen und kulturellen Herausforderungen ausgesetzt. Nach außen hin wurde diese Konsens-Kultur durch emphatische Appelle an die spezifische ›Produktions-Mission‹ des Ruhrgebiets gefestigt – alles in allem also nicht unbedingt ein Nährboden für politische und kulturelle Innovationen.« [1]Gernot Grabher, The Weakness of Strong Ties: The Lock-In of Regional Developments in the Ruhr Area, in: Gernot Grabher (Hg.), The Embedded Firm, On the Socioeconomics of Industrial Networks, London, … Continue reading

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Gernot Grabher, The Weakness of Strong Ties: The Lock-In of Regional Developments in the Ruhr Area, in: Gernot Grabher (Hg.), The Embedded Firm, On the Socioeconomics of Industrial Networks, London, New York 1993, S. 255-277. Zitate aus der Zusammenfassung in WZB-Mitteilungen 58, Dezember 1992, 3-7.

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Franz von Benda-Beckmann (1941-2013)

Franz von Benda-Beckmann ist am 7. Januar in Amsterdam gestorben. Auf der Webseite des Max-Planck-Instituts für ethnologische Forschung in Halle, seit dem Jahre 2000 seine Wirkungsstätte, die er zusammen mit seiner Frau Keebet aufgebaut hatte, ist das nicht zu erkennen. Von seinem Tod erfuhr man nur durch eine Anzeige in der SZ und einen Nachruf der Commission on Legal Pluralism.

Legal Pluralism war das große Thema der beiden von Benda-Beckmanns, und damit sind ihre Arbeiten auch Teil der Rechtssoziologie. In früheren Jahren hat Franz von Benda-Beckmann auch in der Zeitschrift für Rechtssoziologie und im Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie publiziert. [1]Das rechtliche Verfahren in der Rechtsethnologie: Versuch zu einem interkulturell anwendbaren Bezugsrahmen, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Band 4, 1976, 357-376; Individualisierung … Continue reading Ich habe diese Titel noch einmal überflogen und fand die Lektüre der Mühe wert.

»Individualisierung und Kriminalität« von 1982 ist der Situation in den Entwicklungsländern gewidmet, wo traditionelle oder neotraditionelle Lebensformen durch die Modernisierung im Allgemeinen und die Urbanisierung im Besonderen zerstört werden. Vieles klingt heute selbstverständlich. Aber zwei Gedanken wirken immer noch frisch. Der eine besagt, dass die Geldwirtschaft (»Vergeldlichung«) die traditionellen Beziehungen auflöst. Was hier Ursache und was Wirkung ist, mag dahinstehen. Aber dass und wie die Lockerung sozialer Beziehungen mit der Verwendung von Geld einhergeht, wird in der Soziologie nicht hinreichend gewürdigt. Wohltuend, dass von Benda-Beckmann die Interpretation dieser Lockerung als Freiheitsgewinn nicht einfach zurückweist. Der zweite Gedanke, der mir immer noch wichtig erscheint, betont, dass »die Zersetzung der traditionalen Mechanismen vorbeugender sozialer Kontrolle« nicht bloß Kriminalität unter entwurzelten städtischen Jugendlichen freisetzt, sondern dass auch die politische Oberschicht aus ihren Bindungen befreit ist und diese Freiheit in einer Weise zum eigenen Vorteil nutzt, die sich aus moderner Sicht als Kriminalität darstellt.

1991 behandelt von Benda-Beckmann das Verhältnis von Rechtsanthropologie und Rechtssoziologie. [2]Unterwerfung oder Distanz: Rechtssoziologie, Rechtsanthropologie und Rechtspluralismus aus rechtsanthropologischer Sicht, Zeitschrift für Rechtssoziologie 12, 1991, 97-119. Er findet den entscheidenden Unterschied in »dem Ausmaß, in dem sich Forscher von der in der untersuchten Gesellschaft dominierenden Rechtsideologie distanzieren bzw. sich ihr unterwerfen« (S. 105). Natürlich kommt dabei die Rechtsanthropologie besser weg als die Rechtssoziologie. Beide Fächer haben zwar ihre besonderen Forschungstraditionen und ihre institutionellen und personellen Reservate. Bei Texten und Personen gibt es jedoch große Schnittmengen. Die Grenzen verschieben sich im Laufe der Zeit. Die Selbstzuordnung von Autoren ist nicht unbedingt definitiv. Hinsichtlich der Zuschreibungsprozesse, in denen die Texte dem einen oder anderen Fach zugeordnet werden, unterscheidet von Benda-Beckmann zwischen Genremischern und Grenzwächtern. Grenzwächter soll es in beiden Traditionen geben. Dingfest gemacht wird aber nur einer, nämlich ich selbst [3]Unter Verweis auf meine »Rechtssoziologie« von 1987, S. 33.: »Die Rechtssoziologen haben wohl die größere Truppenmacht und scheinen sich mehr Sorgen über die mögliche Verschmutzung ihres Faches durch Rechtsanthropologen zu machen, deren Arbeitsgebiet – die primitiven Gesellschaften – als Folge der Zivilisation untergegangen ist, und die nun um Asyl im Arbeitsbereich der Rechtssoziologie bitten, um dieses dann mit ihrem pluralistischen Rechtsbegriff zu verwässern.« (S. 102 f.) Heute haben sich die Verhältnisse umgekehrt. Die Rechtssoziologie kümmert institutionell dahin. Die Anthropologie ist allein in Halle doppelt vertreten [4]Im Max-Planck-Institut und im Seminar für Ethnologie am Institut für Ethnologie und Philosophie. Vgl. auch die ganz unvollständige Aufzählung im Posting vom 14. 7. 2012: Die Rolle des Rechts im … Continue reading. Die Rechtssoziologie weiß sich daher nur noch mit einem imperialistischen Begriff ihres Faches zu helfen, der alle empirisch orientierte Rechtsforschung einschließt.

Von Benda-Beckmann ging es nicht um solche strategischen Spielchen. Er sah die entscheidende Differenz zwischen den Fächern in unterschiedlichen Rechtsbegriffen, einem pluralistischen Rechtsbegriff in der Rechtsanthropologie und einem zentralistisch-etatistischen Rechtsbegriff in der Rechtssoziologie. Dieser letztere – das soll die bessere Einsicht der Rechtsanthropologie sein – ordne sich der dominanten Ideologie der untersuchten Gesellschaft unter. Als Beleg dient der in der Rechtssoziologie verbreitet gap-approach, der das offizielle Recht einschließlich seiner offiziösen Interpretation als gegeben hinnimmt und lediglich nach Abweichungen in der so genannten Rechtswirklichkeit fragt. Heute würde man von methodologischem Etatismus sprechen. Im Grunde, so von Benda-Beckmann, müsse man mit einem analytischen Rechtsbegriff arbeiten, der sich von der herrschenden Rechtsideologie distanziere. Und als solcher kommt dann natürlich nur ein pluralistischer in Betracht. Dazu gibt es einiges zu sagen, aber nicht hier und jetzt.

Jetzt sind zwei Punkte wichtig.

Erstens: Es gibt nicht nur einen Rechtspluralismus, sondern viele. Die verschiedenen Rechtsmassen können räumlich, zeitlich, gegenständlich, personal oder hierarchisch, national und transnational miteinander konkurrieren. In modernen Staaten ist ein zentralistisch geordneter oder geduldeter Rechtspluralismus Normalität. Nicht selten aber wird ein unspezifizierter Pluralismusbegriff kritisch gegen das zentralistische Rechtsmodell gewendet. Das ist seinerseits methodologischer Pluralismus. Deshalb ist es wohltuend, dass von Benda-Beckmann von einem »Pluralismus von Rechtspluralismus« spricht und ein »einseitig gegen das staatliche Recht gerichtetes anti-ideologisches Vorurteil« für möglich hält (S. 110). »Wie sich viele Rechtssoziologen der Ideologie ihres Staates und der professionellen Rechtswissenschaft unterwarfen und wenig Interesse für andere normative Systeme aufbringen konnten, so haben sich viele Rechtsanthropologen der Ideologie der durch sie erforschten Gewohnheitsrechte unterworfen und sich oft in übertriebener Weise von dem Recht des Staates distanziert. In beiden Fällen war die Affinität zum dominierenden Rechtsystem groß; meiner Meinung nach ein wichtiger Grund für die Marginalität der Rechtsoziologie bzw. -anthropologie innerhalb der allgemeinen Soziologie und Anthropologie« (S. 112)

Zweitens: Die Suche nach einem analytischen Rechtsbegriff von hinreichender Universalität ist vergeblich, was von Benda-Beckmann selbst wiederholt ausgesprochen hat. [5]Deshalb hat auch der Aufsatz im Jahrbuch von 1976, der eben dieses leisten sollte, keine Spuren hinterlassen. Die Konsequenz besteht darin, dass »ein scharfer Unterschied zwischen Rechtsanthropologie und –soziologie nicht haltbar« [6]So zitiert von Benda-Beckmann John Griffith (S. 101). ist.

Die Rezensionen, die von Benda-Beckmann für die Zeitschrift für Rechtssoziologie angefertigt hat, sind gehaltvoll und kritisch. Erfrischend die ausführliche Besprechung von Uwe Wesels »Frühformen des Rechts« von 1985. Wesel gilt heute als sakrosankt. Nach der Re-Lektüre von Benda-Beckmanns Rezension weiß ich wieder, warum ich Wesels Bücher nicht gelesen habe.

Hängen geblieben bin ich schließlich an einem Beitrag der beiden von Benda-Beckmanns zur Blankenburg-Festschrift 1998 [7]Keebet von Benda-Beckmann/Franz von Benda-Beckmann, Das Recht der Dinge: Verrechtlichung und Entrechtlichung im Verhältnis zwischen erster und dritter Welt, in: Jürgen Brand/Dieter Strempel (Hg.), … Continue reading. Darin lenken die beiden die Aufmerksamkeit auf das Phänomen, dass im Zuge der »Modernisierung« der Entwicklungsländer Eigentumsrechte im Sinne von Verfügungsrechten umgeschrieben und neu festgeschrieben werden, und zwar mit enormen Folgen für die betroffene Bevölkerung. Diese Folgen haben Hallenser Ethnologen als »Crude Domination« in den Blick genommen. [8]Andrea Behrends/Stephen P. Reyna/Günther Schlee (Hg.), Crude Domination, An Anthropology of Oil, New York 2011; dazu der Eintrag vom 4. November 2012 Wie Modernisierung auf Erdöl ausrutscht: … Continue reading

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Das rechtliche Verfahren in der Rechtsethnologie: Versuch zu einem interkulturell anwendbaren Bezugsrahmen, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Band 4, 1976, 357-376; Individualisierung und Kriminalität – Eine rechtsethnologische Betrachtung. Zeitschrift für Rechtssoziologie 3, 1982, 14-30; Rezension von Cathy .J. Witty, Mediation and Society – Conflict Management in Lebanon, Zeitschrift für Rechtssoziologie 4, 1983, 114-120; Rezension von Uwe Wesel, Frühformen des Rechts in vorstaatlichen Gesellschaften. Zeitschrift für Rechtssoziologie 1987, 119-127; Unterwerfung oder Distanz: Rechtssoziologie, Rechtsanthropologie und Rechtspluralismus aus rechtsanthropologischer Sicht, Zeitschrift für Rechtssoziologie 12, 1991, 97-119.
2 Unterwerfung oder Distanz: Rechtssoziologie, Rechtsanthropologie und Rechtspluralismus aus rechtsanthropologischer Sicht, Zeitschrift für Rechtssoziologie 12, 1991, 97-119.
3 Unter Verweis auf meine »Rechtssoziologie« von 1987, S. 33.
4 Im Max-Planck-Institut und im Seminar für Ethnologie am Institut für Ethnologie und Philosophie. Vgl. auch die ganz unvollständige Aufzählung im Posting vom 14. 7. 2012: Die Rolle des Rechts im Prozess der nachholenden Modernisierung.
5 Deshalb hat auch der Aufsatz im Jahrbuch von 1976, der eben dieses leisten sollte, keine Spuren hinterlassen.
6 So zitiert von Benda-Beckmann John Griffith (S. 101).
7 Keebet von Benda-Beckmann/Franz von Benda-Beckmann, Das Recht der Dinge: Verrechtlichung und Entrechtlichung im Verhältnis zwischen erster und dritter Welt, in: Jürgen Brand/Dieter Strempel (Hg.), Soziologie des Rechts, Festschrift für Erhard Blankenburg zum 60. Geburtstag, Baden-Baden 1998, S. 343-354.
8 Andrea Behrends/Stephen P. Reyna/Günther Schlee (Hg.), Crude Domination, An Anthropology of Oil, New York 2011; dazu der Eintrag vom 4. November 2012 Wie Modernisierung auf Erdöl ausrutscht: »Crude Domination«. Von 2000-2005 gab es am MPI in Halle eine Forschergruppe »Besitz und Eigentum«, die sich ) hauptsächlich mit der Entstehung neuer ländlicher Eigentumssysteme in den ehemaligen sozialistischen Ländern befasste; vgl. Christopher Hann, Besitz und Eigentum: Offener Zugang zu Land, Wissen und Kultur? (Tätigkeitsbericht 2004).

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Zu Granovetters »Problem of Embeddedness«

Wie ich im Eintrag vom 2. Juni 2012 über Netzwerke im Typenvergleich Marc S. Granovetter zitiert habe [1]Mark S. Granovetter, Economic Action and Social Structure. The Problem of Embeddedness, American Journal of Sociology 91, 1985, 481-510, ist mindestens missverständlich. Unter Berufung auf Veronika Tacke [2]Veronika Tacke, Systeme und Netzwerke – oder: Was man an sozialen Netzwerken zu sehen bekommt, wenn man sie systemtheoretisch beschreibt, Netzwerke, Systemtheorie und Soziale Arbeit. Journal der … Continue reading hatte ich dargelegt, dass soziale Netzwerke sekundäre Strukturbildungen sind, und anschließend von struktureller Einbettung gesprochen. Der Begriff der Einbettung (embeddedness) ist durch Granovetter gerade auch im Zusammenhang mit der Netzwerkanalyse geläufig geworden. Granovetter meinte aber nicht die Einbettung von Netzwerken in andere soziale Beziehungen, sondern die soziale Einbettung von Marktteilnehmern in soziale Beziehungen aller Art, darunter Netzwerke. Sein Ziel war letztlich eine Kritik der scharfen Gegenüberstellung von Markt und (Firmen-)Hierarchie bei Williamson. Granovetter setzt ein mit der abstrakten Frage, ob und wie ökonomische Transaktionen sich verändern, je nachdem, ob und die Akteure, sei es am Markt, sei es in einer Firma, in soziale Beziehungen eingebettet sind. Dazu kontrastiert er zwei grundsätzliche Positionen. Die nennt er untersoziologisiert (undersocialised). Sie wird insbesondere für Marktteilnehmer vertreten, die im Extremfall nach dem Modell des homo oeconomicus als völlig beziehungslos gedacht werden. Die Gegenposition ist übersoziologisiert (oversocialised). Sie geht davon aus, dass Menschen grundsätzlich nicht utilitaristisch handeln, sondern den Erwartungen folgen, die sich aus ihren sozialen Beziehungen ergeben. Man könnte vom Modell des homo sociologicus sprechen, des sozialen Depps, der tut, was seine Rolle von ihm verlangt. Die Wahrheit liegt natürlich, wie so oft, in der Mitte. Gegen Williamson gerichtet meint Granovetter aber, der Markt werde von diesem viel zu beziehungslos gedacht. Nicht zuletzt unter Berufung auf die in der Rechtssoziologie geläufigen Untersuchungen von Macaulay stellt er dar, wie auch Marktteilnehmer vielfältig in sozialen Beziehungen miteinander verbunden sind. Viele dieser Beziehungen lassen sich ohne weiteres als Netzwerke einordnen. Das alles läuft darauf hinaus, die Gegenüberstellung von Markt, Hierarchie und Netzwerk zu relativieren, weil grundsätzlich alle Transaktionen, ganz gleich ob am Markt oder in der Firma, mehr oder weniger in Netzwerke oder interpersonale Beziehungen eingebunden sind.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Mark S. Granovetter, Economic Action and Social Structure. The Problem of Embeddedness, American Journal of Sociology 91, 1985, 481-510
2 Veronika Tacke, Systeme und Netzwerke – oder: Was man an sozialen Netzwerken zu sehen bekommt, wenn man sie systemtheoretisch beschreibt, Netzwerke, Systemtheorie und Soziale Arbeit. Journal der dgssa 2, 2011, 6-24.

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In eigener Sache: Neue Veröffentlichungen

Die ausführliche Besprechung von Cornelia Vismann, Medien der Rechtsprechung, 2011, die ich abschnittsweise bereits in Recht anschaulich und in Rsozblog eingestellt hatte, ist nunmehr in der Zeitschrift für Rechtssoziologie 32, 2011, 262-276 erschienen.
Im Januar 2013 ist bei Mohr Siebeck erschienen »Demokratie-Perspektiven. Festschrift für Brun-Otto Bryde zum 70. Geburtstag (ISBN 978-3-16-152197-3). Darin S. 675-710 mein Beitrag »Entwicklungshilfe durch Recht und die Konvergenzthese«.
Erschienen sind schließlich in der EzR (Enzyklopädie zur Rechtsphilosophie der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie – IVR) meine Beiträge Grundlagen der Methodenlehre I und Grundlagen der Methodenlehre II.

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Neu in Rechtssoziologie-online: § 15 Rechtssoziologie als Kulturwissenschaft?

Heute habe ich § 15 Rechtssoziologie als Kulturwissenschaft? in Rechtssoziologie-online eingestellt.

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Zum Dogma vom Vollzugsdefizit des Rechts II

In den 1970er Jahren widmete sich ein Forschungsverbund »Implementation politischer Programme« den teilweise enttäuschenden Ergebnissen politischer Reformprogramme.[1] Es entstanden wichtige Untersuchungen über Vollzugsdefizite, insbesondere im Umweltrecht. Wenige Untersuchungen genügten, um den Eindruck der prinzipiellen Unwirksamkeit des Rechts zu verfestigen, obwohl die Forschungen durchaus auch gewisse Erfolge regulativer Politik verzeichnen konnten. Negative Ergebnisse erregen größere Aufmerksamkeit als positive[2], zumal wenn dazu eine anscheinend schlüssige Begründung mitgeliefert wird, wie sie die Systemtheorie anbot. Das Vollzugsdefizit[3] wurde sprichwörtlich.

Aus den Implementationsstudien der 1970er Jahre hat sich keine kontinuierliche Forschungspraxis entwickelt. Neue Ansätze zur Rechtswirkungsforschung haben viele kluge Überlegungen, aber kaum empirische Forschung gebracht. Heute erscheint die empirische Basis für die Einschätzung politischer Handlungsmöglichkeiten revisionsbedürftig. In den letzten dreißig Jahren hat sich ereignet, was man mit Beniger[4] – als control revolution bezeichnen kann. Spätestens seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 bedienen Behörden und Private sich verstärkt neuer Kontroll-und Überwachungstechniken. Die Technologie hat einen großen Sprung gemacht. Neuen Identifikations- und Analysetechniken – RIF-Technologie, biometrische Verfahren, Gentechnik und Nanochemie – entgehen keine Spuren mehr. Die Datensammlung läuft weitgehend im Verborgenen. und durch die Ausschöpfung und Verknüpfung von Daten, die bei mehr oder weniger allen Aktivitäten durch die IT-Technik anfallen. Rechtliche Verhaltensanforderungen werden in technische Systeme eingebettet. Rüttelstreifen auf der Fahrbahn und Rüttelalarm im Auto sind nur Vorboten technischer Compliance-Systeme.

Parallel zur technischen ist eine zivilgesellschaftliche Infrastruktur entstanden, die nach Rechtsbrüchen Ausschau hält, an ihrer Spitze Transparency International. Viele andere heißen mit Nachnamen Watch (Human Rights Watch, Food Watch, Finance Watch, Energy Watch, Tourism Watch usw.). Die Massenmedien sind ständig auf der Suche nach Skandalen und Skandälchen und annoncieren freudig jeden Rechtsbruch, dessen sie habhaft werden können. Das Internet stellt eine Plattform bereit, auf der auch Individuen Rechtsbrüche anprangern können. Es muss nicht immer gleich Wikileaks sein. Auch das Recht hat zur control revolution beigetragen. Erstens hat es neuartige Individual- und Verbandsklagerechte geschaffen. Zweitens gewährt es Whistleblowern zunehmend Schutz.[5] Drittens hat die Wirtschaft ein Compliance-Regime akzeptieren müssen. Viertens: Das Kartellrecht hat durch die Kombination von Kronzeugenregelung und exorbitanten Bußgeldern Zähne bekommen. Besonders als Ausprägung eines internationalen Softlaw haben Berichtspflichten Konjunktur.[6]

Die Rechtssoziologie hat die Kontrollrevolution noch nicht wirklich wahrgenommen. Vielleicht beruhigen sich manche mit der Überlegung, die Kontrolltechnologie könne ihrerseits so umfangreich und kompliziert geworden sein, dass die Vielzahl der Kontrollinstrumente sich wechselseitig negativ beeinflusst (control paradox). Sie sollten dennoch die zum Dogma gewordene These vom unvermeidlichen Vollzugsdefizit des öffentlichen Rechts einer Überprüfung unterziehen.



[1] Der Ertrag ist in mehreren Sammelbänden dokumentiert: Renate Mayntz (Hg.), Implementation politischer Programme, Empirische Forschungsberichte, 1980; dies., Implementation politischer Programme II — Ansätze zur Theoriebildung, 1983; ferner Eberhard Bohne, Der informale Rechtsstaat, Eine empirische und rechtliche Untersuchung zum Gesetzesvollzug unter besonderer Berücksichtigung des Immissionsschutzes, 1981; Adrienne Windhoff-Héritier, Politikimplementation, Ziel und Wirklichkeit politischer Entscheidungen, 1980. 1993 gab es noch einmal einen Sammelband, der das Thema, nun unter dem Label »Policy-Analyse«, aufnahm: Adrienne Héritier (Hg.), Policy Analyse, Sonderband 24 der Politischen Vierteljahresschrift (PVS), 1983.

[2] So für das Steuerungsversagen Hubert Rottleuthner, Grenzen rechtlicher Steuerung – und Grenzen von Theorien darüber, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Beiheft 54 , 1992, 123-139, S. 139.

[3] Nach dem Titel von Gerd Winter, Das Vollzugsdefizit im Wasserrecht, E. Beitr. zur Soziologie d. öffentl. Rechts, 1975.

[4] James R. Beniger, The Control Revolution. Technological and Economic Origins of the Information Society, Cambridge, Mass. 1986.

[5] Zuletzt etwa EGMR Urteil vom 21.07.2011 – 28274/08, NJW 2011, 3501; Alexius Leuchten, Der gesetzliche Schutz für Whistleblower rückt näher, ZRP 2012, 142-145.

[6] Nur als Beispiel: Zur Umsetzung der OECD Guidelines for Multinational Enterprises haben alle Vertragsstaaten haben Nationale Kontaktstellen (National Contact Points) eingerichtet, die für die Verbreitung und Einhaltung der Leitsätze werben sollen und an die Verstöße gegen die Leitsätze gemeldet werden können. Vor allem Gewerkschaften und NGOs nutzen dieses Verfahren. Die vorgebrachten Fälle werden dann in einem mediationsähnlichen Verfahren mit dem betreffenden Unternehmen erörtert. Solche Beschwerden werden vor allem von Gewerkschaften und NGOs eingelegt. Sie führen dann zu einem Untersuchungs- und Ermittlungsverfahren, und das Ergebnis wird am Ende auch veröffentlicht.

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Zum Dogma vom Vollzugsdefizit des Rechts

Die Sozialreformen der 1960er und 1970er Jahre war von Planungs- und Steuerungsoptimismus geprägt. In der Wissenschaft nahmen Renate Mayntz und Fritz Scharpf am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln die Frage auf, ob und wie der moderne Staat planen und steuern könne. Ihre Arbeit mündete in einem Forschungsverbund »Implementation politischer Programme«. Aber dann brachten ab 1982, zunächst getrennt und dann vereint[1], Hellmut Willke[2] und Gunther Teubner[3] die Systemtheorie und mit ihr einen neuartigen Steuerungspessimismus ins Spiel. Dieser stützte sich auf die von Luhmann geprägte Vorstellung, dass die Grenzen der gesellschaftlichen Teilsysteme Kommunikationsbarrieren bilden, die das politische System nicht überwinden kann, so dass Politik, soweit nicht gewisse strukturelle Kopplungen bestehen, Wirtschaft, Erziehung, Gesundheit usw. allenfalls »irritieren«, aber nicht lenken kann. 1984 folgte von Willke und Teubner der Aufsatz »Kontext und Autonomie«, in dem sie ihre Theorie des reflexiven Rechts ausarbeiteten.[4] Danach ging es Schlag auf Schlag.[5] 1985 nahm die Zeitschrift für Rechtsoziologie mit Beiträgen von Luhmann, Münch und Nahamowitz das Thema auf. Am 12. September 1988 eröffneten Niklas Luhmann und Fritz Scharpf den Kongress der Deutschen Vereinigung für politische Wissenschaft (DPVW) in Darmstadt mit einem Streitgespräch über die Möglichkeit politischer Steuerung der Gesellschaft.[6] Luhmann vertrat seinen systemtheoretisch begründeten Steuerungsskeptizismus, dem Scharpf eine vorsichtig optimistische Steuerungstheorie entgegenhielt, die als akteurzentrierter Institutionalismus bekannt ist. Dieses Konzept hatte Scharpf zusammen mit Renate Mayntz entwickelt, und beide gemeinsam haben ihren Standpunkt auch später verteidigt und ausgebaut.[7]

Wissenschaft und Politik haben sich vom systemtheoretischen Steuerungsnihilismus nicht abhalten lassen. Scharpf und Mayntz haben sich auf der ganzen Linie durchgesetzt. Um die Jahrtausendwende gab es erneut eine größere Anstrengung zur Wiederaufnahme der Implementationsforschung, nunmehr unter dem Titel Wirkungsforschung zum Recht.[8] Für die Politik wurde die prospektive Gesetzesfolgenabschätzung zur Routine und die nachträgliche Gesetzesbeobachtung und Evaluation[9] sogar weitgehend zur Rechtspflicht. Und eine ansehnliche Fraktion der Öffentlich-Rechtler hat eine neue Verwaltungsrechtswissenschaft zur Steuerungswissenschaft erklärt.[10] In der Rechtssoziologie ist jedoch weiterhin die Vorstellung vom unvermeidlichen Vollzugsdefizit des regulativen Rechts verbreitet.

Schon 1984 hatte Richard Lempert gemahnt, die Sozialforschung solle sich ein Beispiel daran nehmen, wie sorgfältig neue Arzneimittel getestet würden, bevor sie auf den Markt kämen, obwohl einige Menschen leiden müssten, wenn ein erfolgversprechendes neues Medikament nicht sogleich verfügbar sei. Nur so könne verhindert werden, dass Nebenwirkungen, die schwerer wiegen als der unmittelbare Erfolg, weitgehend ausgeschlossen werden, und nur dadurch sei langfristig der Glaubwürdigkeit der Medizin gedient.[11] In der aktuellen Diskussion um die Qualität wissenschaftlicher Forschung wird darauf aufmerksam gemacht, dass nur selten der Versuch unternommen wird, empirische Untersuchungen zu wiederholen und dass es noch seltener gelingt, die Ergebnisse zu reproduzieren.[12]

Wiederholungsstudien in der rechtssoziologischen Wirkungsforschung sind mir nicht bekannt. In den Sozialwissenschaften liegen die Dinge komplizierter als in der Medizin, weil allein schon wegen des Zeitablaufs echte Wiederholungsstudien kaum möglich sind. Stattdessen müssten von vornherein Mehrfachuntersuchungen angestellt werden. Eine solche Forderung hätte allerdings praktisch keine Erfolgsaussicht. Und es ist wohl auch nicht notwendig, singuläre Untersuchungen stets als unzureichend zu verwerfen, wenn man sie hinreichend kritisch zur Kenntnis nimmt. Man sollte es insbesondere für möglich halten, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse sich in einer Weise ändern, dass empirische Untersuchungen nach 30 Jahren veraltet sind. Das könnte auch für die Implementationsstudien aus den 1970er und 80er Jahren gelten. Die Begründung folgt im nächsten Eintrag.

 


[1] Gunther Teubner/Helmut Willke, Kontext und Autonomie, Zeitschrift für Rechtssoziologie 6, 1984, 4-35.

[2] Helmut Willke, Entzauberung des Staates, 1983.

[3] Gunther Teubner, Reflexives Recht, ARSP 1982, 14-22; ders., Substantive and Reflexive Elements in Modern Law, LSR 17, 1983, 249-284; ders., Das regulatorische Trilemma: Zur Diskussion um post-instrumentale Rechtsmodelle, Quaderni Fiorentini per la Storia del Pensiero Giuridico Moderno 13, 1984, 109-149.

[4] Gunther Teubner/Helmut Willke, Kontext und Autonomie, Zeitschrift für Rechtssoziologie 6, 1984, 4-35. Bereit 1982 hatte Teubner den Begriff de reflexiven Rechts verwendet, freilich noch nicht im Hinblick auf ein Steuerungskonzept, sondern im Rahmen evolutionstheoretischer Überlegungen (.Gunther Teubner, Reflexives Recht: Entwicklungsmodelle des Rechts in vergleichender Perspektive, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 68, 1982, 13-59).

[5] Niklas Luhmann, Einige Probleme mit reflexivem Recht, ZfRSoz 7, 1985, 1-18; Richard Münch, Die sprachlose Systemtheorie. Systemdifferenzierung, reflexives Recht, reflexive Selbststeuerun und Integration durch Indifferenz, Zeitschrift für Rechtssoziologie 7, 1985, 19-28. Peter Nahamowitz, »Reflexives Recht«: Das unmögliche Ideal eines postinterventionistischen Steuerungskonzepts, ZfRSoz 7, 1985, 29-44.

[6] Niklas Luhmann, Politische Steuerung: Ein Diskussionsbeitrag, Politische Vierteljahresschrift 30, 1989, 4-9; Fritz W. Scharpf, Politische Steuerung und Politische Institutionen, Politische Vierteljahresschrift 30, 1989, 10–21; Renate Mayntz/Fritz Scharpf, Der Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus, in: dies. (Hg.), Gesellschaftliche Selbstregelung und politische Steuerung, 1995, 39-72).

[7] Zusammenfassend Renate Mayntz/Fritz W. Scharpf, Politische Steuerung – Heute?, Zeitschrift für Soziologie 34, 2005, 236-243.

[8] Hagen Hof/Gertrude Lübbe-Wolff (Hg.), Wirkungsforschung zum Recht I: Wirkungen und Erfolgsbedingungen von Gesetzen, 1999; Hermann Hill/Hagen Hof (Hg.), Wirkungsforschung zum Recht II: Verwaltung als Adressat und Akteur, 2000; Hermann Hill/Hagen Hof (Hg.), Wirkungsforschung zum Recht III: Folgen von Gerichtsentscheidungen, 2001; Ulrich Karpen/Hagen Hof (Hg.), Möglichkeiten einer Institutionalisierung der Wirkungskontrolle von Gesetzen, 2003. 2008 wurde das Thema noch einmal vom Ersten Gemeinsamen Kongress der Deutschsprachigen Rechtssoziologie-Vereinigungen in Luzern aufgenommen; vgl. den Tagungsband Michelle Cottier/Josef Estermann/Michael Wrase (Hg.), Wie wirkt Recht?, 2010.

[9] Besonders aktiv wird die Gesetzesevaluation der der Schweiz betrieben; vgl. Thomas Widmer/Wolfgang Beywl/Carlo Fabian (Hg.), Evaluation, Ein systematisches Handbuch, 1. Aufl., Wiesbaden 2009; Thomas Widmer/Thomas DeRocchi, Evaluation, Grundlagen, Ansätze und Anwendungen, Zürich/Chur 2012. In der Schweiz gibt es mit LeGes (Gesetzgebung & Evaluation) dafür auch eine spezialisierte Zeitschrift.

[10] Repräsentativ die Beiträge in Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle (Hg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, 2006 ff, 3 Bände.

[11] Richard Lempert, From the Editor, Law and Society Review 18, 1984, 505-513, 509 f. Zum Anlass vgl. Röhl, Rechtssoziologie, 1987, S.

[12] Ed Yong, Jede Menge Murks, Spektrum der Wissenschaft, 2013, 58-63.

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Die Rechtssoziologie wird 100 Jahre alt.

Eugen Ehrlichs »Grundlegung der Soziologie des Rechts« kann als Gründungsdokument der Rechtssoziologie gelesen werden. Das Buch ist 1913 erschienen. So kann die Rechtssoziologie also in diesem Jahr ihren 100. Geburtstag feiern. Von Feierlichkeiten aus diesem Anlass ist mir bisher nichts bekannt, wiewohl es dafür gute Gründe gäbe, ist doch Ehrlichs »lebendes Recht« zum Vorbild für die Analyse der globalen Rechtsentwicklung  und hier wiederum für das Konzept des Rechtspluralismus geworden. Aktuell erleben wir geradezu eine pluralistische Wende in der Entwicklungshilfe. [1]Das Hague Journal on the Rule of Law 3, 2011 bietet in Heft 1 drei einschlägige Aufsätze: Brian Z. Tamanaha, The Rule of Law and Legal Pluralism in Development, (S. 1-17); Julio Faundez, Legal … Continue reading Ehrlich ist nicht vergessen. Als kleinen Beitrag zur Geburtstagsfeier habe ich  »Die Begründung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehrlich« als § 6 in Rechtssoziologie-online eingestellt.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Das Hague Journal on the Rule of Law 3, 2011 bietet in Heft 1 drei einschlägige Aufsätze: Brian Z. Tamanaha, The Rule of Law and Legal Pluralism in Development, (S. 1-17); Julio Faundez, Legal Pluralism and International Development Agencies: State Building or Legal Reform? (S. 18-38); H. Patrick Glenn, Sustainable Diversity in Law (S. 39-56); Lauren Benton, Historical Perspectives on Legal Pluralism (S. 57-69).

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Teilverfassungen

Die Allgemeine Rechtslehre, wie ich sie verstehe, hat u. a. die Aufgabe, die Einheit der Jurisprudenz als Wissenschaft zu pflegen [1]Röhl/Röhl, Allg. Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 2.. Dazu gehört die Suche nach fächerübergreifenden Strukturen und Begriffen. [2]Ebd. S. 9. In der Staatsrechtslehre ist zurzeit eine Entwicklung zu beobachten, die Recht und Rechtswissenschaft auseinanderdividiert, nämlich die Dekonstruktion der Einheit der Verfassung und die Proklamation von Teilverfassungen. Sie ist dokumentiert in dem von Thomas Vesting und Stefan Korioth herausgegebenen Sammelband »Der Eigenwert des Verfassungsrechts« (Mohr Siebeck, Tübingen, 2011). Es ist ja richtig, dass die Einheit der Verfassung ein normatives Ideal darstellt, das historisch nur für wenige Jahrzehnte jedenfalls annähernd realisiert war. Gegen die historische Relativierung durch Christoph Schönberger [3]Der Aufstieg der Verfassung. Zweifel an einer geläufigen Triumphgeschichte, in Thomas Vesting/Stefan Korioth, Einführung, in dies., Der Eigenwert des Verfassungsrechts, 2011, 7-22. ist daher nichts einzuwenden. Es ist auch keine Frage, dass Europäisierung und Globalisierung die Staatsverfassungen relativieren. Aber es ist völlig überflüssig, den Verfassungsbegriff vom Staat abzulösen und staatsintern Teilverfassungen auszurufen. »Gemeint ist heute vielmehr eine zunehmende Autonomisierung bestimmter Rechtsgebiete, die ihre jeweilige Regelsetzung nicht mehr primär aufgrund hierarchisch übergeordneter (Verfassungs-)Rechtssätze und Verfassungsprinzipien, sondern nach selbstgesetzten internen Maßstäben betreiben.« [4]Thomas Vesting/Stefan Korioth, Einführung, in dies., Der Eigenwert des Verfassungsrechts, 2011, 1-6, S. 3.. Als Beispiele werden in dem genannten Band Wirtschaftsverfassungsrecht, Rundfunkverfassungsrecht, Sozialrechtsverfassungsrecht, Wissenschaftsverfassungsrecht, Finanzverfassungsrecht, Religionsverfassungsrecht, Datenschutzverfassungsrecht, Religionsverfassungsrecht, Sicherheitsverfassungsrecht, Umweltverfassungsrecht und Parteienverfassungsrecht genannt und behandelt. Die Aufzählung gerät auch ohne Nachhilfe zur Karikatur. Wohin das Ganze führt, möge ein Beispiel aus dem sog. Rundfunkverfassungsrecht zeigen. Ich meine nicht den Rundfunkbeitragsstaatsvertrag, mit dem sich die Länder als Kollektiv zum Gesetzgeber aufspielen und die Steuer- und Abgabensystematik des Grundgesetzes hinter sich lassen wollen. Ich meine die Handhabung des Absichtsbegriffs in Ziffer 4 Nr. 3 WerbeRL/Fernsehen. [5]Es handelt sich um gemeinsame Richtlinien der Landesmedienanstalten, die auf der Grundlage des Rundfunkstaatsvertrages erlassen wurden. Nach dieser einigermaßen trüben Rechtsquelle setzt Schleichwerbung voraus, dass die Erwähnung von Waren, Dienstleistungen usw. »im Programm vom Veranstalter absichtlich zu Werbezwecken vorgesehen ist«. Die Werbeabsicht lässt sich regelmäßig nur aus Indizien belegen. Da gibt es fraglos harte Indizien. Eine Werbeabsicht lässt sich kaum bestreiten, wenn der Veranstalter für die Ausstrahlung der Sendung ein Entgelt oder eine ähnliche Gegenleistung erhält (Ziffer 4 Nr. 4 WerbeRL/Fernsehen). Schwieriger liegt die Sache aber, wenn die Werbeabsicht zunächst nicht beim Veranstalter, sondern beim Produzenten der Sendung vorliegt. Ist die Schleichwerbung objektiv eklatant, dann kann sich auch der Veranstalter kaum von eigener Werbeabsicht freizeichnen. In der Regel ist Schleichwerbung aber nicht ohne zusätzliche Informationen aus der Sendung selbst zu erkennen. Auch in solchen Fällen wird eine Werbeabsicht des Produzenten dem Veranstalter zugerechnet, wenn er seine journalistischen Sorgfaltspflichten verletzt hat. Mit Pflichtverletzungen ist man ex post immer schnell zur Hand. Und so wird aus Fahrlässigkeit Absicht. Der Verfassungscharakter des Rundfunkrechts zeigt sich darin, dass es sich über etablierte Rechtsbegriffe hinwegsetzt. Da packt den Zivilrechtler das Grauen vor dem Teilverfassungsrecht.

Nachtrag vom 4. 3. 2015:
Zu dem von Vesting und Korioth herausgegebenen Band »Der Eigenwert des Verfassungsrechts« [6]Thomas Vesting/Stefan Korioth (Hg.), Der Eigenwert des Verfassungsrechts, Tübingen 2011. hat Verena Frick in PVS 54, 2013, 363-365, eine Besprechung veröffentlicht, die ich durchgehend für angemessen halte. Sie hebt hervor, dass die These von dem Verlust der Einheit der Verfassung zugunsten bereichsspezifischer Teilverfassungen »der (system-)theoretischen Präferenz des Herausgebers Vesting geschuldet« sei. Ich würde es noch deutlicher sagen: Es handelt sich um Begriffssoziologie, nämlich um ein systemtheoretisches Konstrukt (das in Teubners »Verfassungsfragmenten« von 2012 seine Vollendung gefunden hat).

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Röhl/Röhl, Allg. Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 2.
2 Ebd. S. 9.
3 Der Aufstieg der Verfassung. Zweifel an einer geläufigen Triumphgeschichte, in Thomas Vesting/Stefan Korioth, Einführung, in dies., Der Eigenwert des Verfassungsrechts, 2011, 7-22.
4 Thomas Vesting/Stefan Korioth, Einführung, in dies., Der Eigenwert des Verfassungsrechts, 2011, 1-6, S. 3.
5 Es handelt sich um gemeinsame Richtlinien der Landesmedienanstalten, die auf der Grundlage des Rundfunkstaatsvertrages erlassen wurden.
6 Thomas Vesting/Stefan Korioth (Hg.), Der Eigenwert des Verfassungsrechts, Tübingen 2011.

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