Trend zu empirischen Arbeiten in der Soziologie

Im jüngsten Heft der Hauszeitschrift der DGS fand ich besonders den Beitrag von Johannes Kapp, Juliana Schneider und Franziska Timmler »Zur Entwicklung soziologischer Forschung« interessant. [1]Soziologie 41, 2012, Heft 3, S.293-310Ich habe dem Beitrag Folgendes entnommen:
1. In den beiden wichtigsten soziologischen Zeitschriften – KZfSS und ZfS – hat sich der Anteil empirischer Arbeiten seit 1970 verdoppelt. Dabei ist der Anteil empirischer Arbeiten in der KZfSS höher. Er lag 2010 bei 100 %, in der ZfS dagegen bei 68 %.
2. Umgekehrt zu der Zunahme empirischer Arbeiten ist der Anteil der Alleinautorenschaft zurückgegangen.
3. Die empirischen Arbeiten, jedenfalls in diesen beiden Zeitschriften, sind fast ausschließlich quantitativer Art.
4. Der Anteil empirischer Arbeiten, der Sekundärdaten verwendet, ist von 1970 bis 2010 von 10 % auf über 60 % gestiegen. Als Datenquellen dienen vor allem das Sozio-ökonomische Panel (SOEP) sowie die Allgemeine Bevölkerungsumfrage in den Sozialwissenschaften (ALLBUS).

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Soziologie 41, 2012, Heft 3, S.293-310

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Die Rolle des Rechts im Prozess der nachholenden Modernisierung

Derzeit versuche ich mich an einer Abgleichung der »klassischen« soziologischen Modernisierungstheorie mit den Untersuchungen über Law and Development. Dabei sind mir drei Forschungsprojekte aufgefallen, die Rechtssoziologie unter fremdem Namen betreiben.
Das älteste ist das Projekt »States at Work. Public Services and Civil Servants in West Africa: Education and Justice in Benin, Ghana, Mali and Niger« des Instituts für Ethnologie und Afrikastudien an der Universität Mainz. Es lief von 2006 bis 2011. Ein zusammenfassender Projektbericht liegt anscheinend noch nicht vor. Aber die Webseite verweist auf viele interessante Arbeitspapiere und Buchbesprechungen. Hervorzuheben sind besonders:
Gifty Amo Antwi u. a., “They Are not Enlightened”. Wie Staatsbedienstete in Nordghana Differenz zwischen sich und ihren Klienten konstruieren.
Thomas Bierschenk, States at Work in West Africa: Sedimentation, Fragmentation and Normative Double‐Binds, 2010. Von »nachholender Rechtsstaatsentwicklung« spricht Bierschenk in einer ausführlichen Buchbesprechung. [1]Des Bandes von Rolf Kappel/Hans-Werner Tobler/Peter Waldmann (Hg.), Rechtsstaatlichkeit im Zeitalter der Globalisierung, Freiburg im Breisgau 2005. Zu diesem Band gibt es eine handliche … Continue reading

»Persistenz und Wandel von Neopatrimonialismus in verschiedenen Nicht-OECD-Regionen« heißt das von der Volkswagen Stiftung geförderte Projekt des Leibniz-Instituts für Globale und Regionale Studien (GIGA). Ein Forschungsschwerpunkt befasst sich speziell mit Recht und Politik. Das Projekt wird auf den Internetseiten gut beschrieben und es gibt eine Bibliographie sowie viele Hinweise auf eigene und fremde Vorarbeiten, die zum Teil online verfügbar sind.

Das dritte Projekt, das hier zu vermelden ist, steht unter der Regie der Konstanzer Politikwissenschaftlerin Katharina Holzinger und trägt den Titel »Traditionale Governance und moderne Staatlichkeit«. Es wird als Reinhart-Koselleck-Projekt von der DFG mit 1,5 Mill. EUR gefördert. [2]Frau Holzinger ist Sprecherin des Fachkollegiums 111 Sozialwissenschaften der DFG. Bisher gibt es dazu nur eine Presseinformation. Dort liest man:

Weltweit gibt es in vielen Staaten ethnische Bevölkerungsgruppen, die ihr inneres politisches Leben gemäß traditionaler Strukturen organisieren. Knapp 57% der Weltbevölkerung in 63 UN-Mitgliedstaaten leben in Rechtssystemen, in denen indigene Rechte in relevantem Umfang mit der staatlichen Gesetzgebung koexistieren. Gerade in Afrika sind traditionale Institutionen keineswegs strikt von staatlichen Institutionen abgegrenzt. ›Traditionale Institutionen, die sich entlang von Ethnien konstituieren, sind in vielen afrikanischen Ländern noch besonders bedeutend: sowohl in Hinsicht auf ihren Umfang als auch bezogen auf ihre politische Bedeutung. In diesen Staaten koexistieren indigene Formen der Governance mit modernen staatlichen Formen‹, schildert Katharina Holzinger. In vielen Fällen übernehmen solche traditionalen Institutionen staatliche Aufgaben – teils in Konkurrenz zum Staat, teils komplementär oder sogar verschränkt mit dem Staat.

»In einer weltweiten, quantitativen Untersuchung«, so heißt es weiter, soll ermittelt werden, »welche Wechselbeziehung zwischen Staat und traditionaler Governance bestehen und welche Auswirkungen dies auf die demokratische Entwicklung des Staates hat. Mittels acht Länderfallstudien, die sich auf afrikanische Staaten konzentrieren, wird Holzinger ihre weltweiten Analysen vertiefen.« In der Rechtssoziologie würde man nicht von Governance, sondern von Legal Pluralism reden.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Des Bandes von Rolf Kappel/Hans-Werner Tobler/Peter Waldmann (Hg.), Rechtsstaatlichkeit im Zeitalter der Globalisierung, Freiburg im Breisgau 2005. Zu diesem Band gibt es eine handliche Zusammenfassung des Wissenschaftlichen Beirats beim BMZ: Staatsentwicklung und Rechtsstaatlichkeit: Lehren aus der europäischen Geschichte und lateinamerikanischer Erfahrungen 2006.
2 Frau Holzinger ist Sprecherin des Fachkollegiums 111 Sozialwissenschaften der DFG.

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Nachträge im Juni 2012

Volkswagen Stiftung checkt Juristenausbildung vom 8. Dezember 2012
Inzwischen ist der Tagungsband erschienen: Hagen Hof/Götz von Olenhusen (Hg.), Rechtsgestaltung – Rechtskritik – Konkurrenz von Rechtsordnungen. Neue Akzente für die Juristenausbildung, Baden-Baden, Nomos, 2012 (ISBN 978-3-8329-7362-9)
Hier die Zusammenfassung der Ergebnisse der Tagung aus der Feder von Wilhelm Krull und Hagen Hof.
Was auf der Tagung nicht zur Sprache kam, war die Frage nach der deutschen Juristenausbildung im europäischen Vergleich. Dazu gibt Matthias Kilian in den BRAK-Mittl 2/2012 S. 59-61 die Antwort (Die deutsche Juristenausbildung – wo steht sie im europäischen Vergleich«). Grundlage ist eine 2010 veröffentlichte Studie, in der der Verfasser die Juristenausbildung in 25 europäischen Staaten analysiert [1]Matthias Kilian, Modelle der Juristenausbildung in Europa: Eine Standortbestimmung, Bonn 2010. Der Bologna-Prozess sei in den anderen Ländern nur »formal implementiert worden, indem traditionelle Ausbildungsgänge in ein Bachelor- und ein Masterstudium gegliedert wurden«. Der wichtigste Unterschied zwischen Deutschland und Resteuropa scheint darin zu bestehen, dass hierzulande der Zugang zum Studium und später auch zum Anwaltsberuf sehr offen ist. Überall sonst wird vor, im und nach dem Studium stärker selektiert. Die post-universitäre Einheitsausbildung (Referendarausbildung) in Deutschland ist europaweit einzigartig. Sie öffnet vor allem den Zugang zum Anwaltsberuf. Diese Offenheit, die anscheinend bisher nicht zu einem Juristenproletariat geführt hat, gilt es zu verteidigen.

Zu Legalisierung von Cannabis II: Steht die zweite Prohibition vor dem Aus? vm 4. April 2012
Nachzutragen ist ein Hinweis auf Gary S. Becker/Kevin M. Murphy/Michael Grossman, The Economic Theory of Illegal Goods: The Case of Drugs, 2004 (NBER Working Paper 10976: http://www.nber.org/papers/w10976). Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass eine Legalisierung weicher Drogen verbunden mit einer hohen Besteuerung wirksamer ist als die strafrechtliche Verfolgung, auch wenn es natürlich Versuche geben werde, die Steuer zu vermeiden. Langsam schwenken auch die Medien auf den Legalisierungskurs ein, so ein großer Artikel von Claudius Seidl und Harald Staun in der FamS vom 29. 4. 2012 (»Machen wir Frieden mit den Drogen«).

Hohfelds analytisches Schema der Rechte (sollte man vergessen) vom 20. September 2011
Neu der (kurze) Artikel von Lawrence B. Solum in seinem »Legal Theory Lexicon«: Hohfeld.
Er gibt keinen Anlass, meine Einschätzung zu ändern.

Was stimmt nicht mit dem Urheberrecht? vom 10. 4. 2012
Manchmal merke ich selbst nicht gleich, wie nahe die Dinge beieinander liegen. Die Blogsoftware von WordPress verweist automatisch am Ende eines Eintrags auf »ähnliche Artikel«. Das System, nachdem diese Verweisungen funktionieren, ist mir nicht klar. So hätte bei diesem Eintrag eigentlich auch auf Rechtssoziologisches zum Urheberrecht? verwiesen werden müssen. Verwiesen wird immerhin auf den Eintrag vom 12. Mai 2011 Das Urheberrecht ist nicht komisch: Bound by Law. Dabei ist mir selbst eine wichtige Verknüpfung zunächst nicht aufgefallen. In jenem Eintrag ging es eigentlich um Keith Aoki. Aber als sein Mitautor wurde auch James Boyle genannt.
James Boyle ist ein wichtiger Theoretiker und Praktiker der kulturellen Allmende. Bisher hatte ich ihn nur als Praktiker zur Kenntnis genommen und als solchen in dem Eintrag über Keith Aoki erwähnt. Erwähnung verdient er aber auch als Theoretiker der Urheberrechtsdebatte. Er prägte er den Begriff des Second Enclosure Movement [2]James Boyle, The Second Enclosure Movement and the Construction of the Public Domain, Law and Contemporary Problems 66, 2003, 32-74. Gemeint war die schleichende Ausweitung der Immaterialgüterrechte, sei es der Patentrechte auf das menschliche Genom, auf Naturstoffe, biologische Prozesse und traditionelle Rezepte, sei des Urheberrechts durch Ausweitung des Umfangs und Ausdehnung auf Ideen, Software und Daten. »Second« Enclosure deshalb, weil Boyle diese Ausweitung des geistigen Eigentums mit Auflösung der Allemenden im 18. und 19. Jahrhundert und ihrer Überführung in Privateigentum (enclosure of the commons) verglich.

Der späte Start der harten Netzwerkforschung vom 6. Mai 2012
Aus einer Pressemitteilung vom 21. 5. 2012 erfährt man aus der Universität des Saarlandes, dass sich die Informationen in sozialen Netzwerken noch schneller verbreiten, als in Netzwerken, in denen jeder mit jedem kommuniziert, oder deren Struktur völlig zufällig gewachsen ist.« Der Grund dafür, heißt es, »sei das Zusammenspiel zwischen sehr gut und gering vernetzten Personen. »Eine gering vernetzte Person hat natürlich viel schneller ihre wenigen Kontakte informiert«, so Friedrich. Es sei jedoch auch nachweisbar, dass sich unter solchen Kontakten immer sehr gut vernetzte Personen befinden, die wiederum von sehr vielen Personen angefragt würden. Auf diese Weise werde in rasender Geschwindigkeit jeder über die Neuigkeit informiert, so Friedrich. Um das Beziehungsgeflecht in einem realen sozialen Netzwerk zu abstrahieren, nutzten die Forscher sogenannte ›Preferential Attachment Graphs‹ als Netzwerk-Modell. Es beruht auf der Annahme, dass sich neue Mitglieder eher mit bereits bekannten Personen vernetzten als mit unbekannten.« So schrecklich neu klingt das nicht.

Begriffssoziologie V: Konstitutionalisierung strukturell vom 3. März 2011
Gunther Teubner lässt nicht locker, wenn es um seine Idee einer staatsunabhängigen Konstitutionalisierung geht. In der Reihe »Suhrkamp Wissenschaft« ist soeben der Band »Verfassungsfragmente: Gesellschaftlicher Konstitutionalismus in der Globalisierung« erschienen. Auf einer Tagung in Montcalieri bei Turin hat er seine Idee diskutieren lassen. Darüber berichtet Maximilian Steinbeis in der heimlichen Juristenzeitung vom 23. Mai 2012 S. N4 unter der Überschrift »Occupy the Law!«.

Zur interdisziplinären Verwendung der Netzwerkforschung IV: Und wo bleibt Ostroms Frage? vom 10. Juni 2012
Elinor Ostrom ist am 12. Juni 2012 gestorben. An Stelle eines Nchrufs hier der Link auf den Vortrag über »Coevolving Relationships between Political Science and Economics«, den sie im Novbember 2011 in Bielefeld gehalten hat.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Matthias Kilian, Modelle der Juristenausbildung in Europa: Eine Standortbestimmung, Bonn 2010.
2 James Boyle, The Second Enclosure Movement and the Construction of the Public Domain, Law and Contemporary Problems 66, 2003, 32-74.

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Zur interdisziplinären Verwendung der Netzwerkforschung IV: Und wo bleibt Ostroms Frage?

Die interdisziplinäre Verwendung des Netzwerkskonzepts läuft Gefahr, mehr oder weniger selektiv auf typische Netzwerkeigenschaften zurückzugreifen und sie normativ aufzuladen. Die Variabilität real existierender Netzwerke ist aber so groß, dass die abstrakte Bezugnahme auf das Netzwerkkonzept leicht zur Ideologie gerät. Die Netze, um die es in der Rechtstheorie geht, sind immer heterarchisch. Sie sind locker und in Bewegung. Sie sind flexibel und produktiv. Sie sind in dem Sinne »more social« [1]Powell 1996, 219., dass sie »stärker auf Beziehungen, Ansehen und gegenseitige Interessen angewiesen und weniger durch formale Regeln bestimmt« sind als Organisationen. Diese und andere Eigenschaften von Netzwerken lassen nicht schon aus dem Netzwerkbegriff ableiten, sondern müssen in jedem Einzelfall erst empirisch nachgewiesen werden. Deshalb ist es gefährlich, von Netzwerken an sich zu sprechen.
Die wichtigste Eigenschaft, die Rechtstheoretiker den Netzwerken beilegen, ist Selbstorganisationsfähigkeit. Die Fragestellung ist nicht klar. Ist gemeint, dass Netzwerke sich intern selbst organisieren? Oder liefern sie auch einen Ordnungsüberschuss über die eigenen Grenzen hinaus? Solche Unklarheiten verbinden sich mit einem dicken Defizit. Nirgends finde ich in der postmodernen Rechtstheorie eine Auseinandersetzung mit Ostroms Frage: Warum ist Selbstorganisation in einigen Fällen erfolgreich und in anderen nicht? [2]Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen, 2011, S. 28.
Für die Rechtssoziologie ist es unbefriedigend zu wissen, dass unter bestimmten Bedingungen ein Netzwerk besser funktioniert als ein Unternehmen oder eine Behörde, wenn nicht gleichzeitig die Außenwirkung geklärt wird. Die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg e.V. liefert ein Beispiel für ein gut funktionierendes Netzwerk zur Abwehr des Atommüll-Lagers in Gorleben. Die Tatsache, dass hier die Selbstorganisation in einem Netzwerk erfolgreich war, kann kaum bedeuten, dass deshalb auch Ziele und Außenwirkung des Netzwerks akzeptabel sind. Immerhin entsteht aus der Distanz der Eindruck, dass in Gorleben Nimby gespielt wird.
Es muss nicht immer Nimby sein. Die Selbstorganisation durch Netzwerke schafft vermutlich viele schöne Inseln der Ordnung. Doch was ist mit dem Meer der Unordnung? Da kommt zur Landgewinnung ein deus ex machina. Das »Netzwerk der Netzwerke« wird die Inseln eindeichen.
Der langen Schreibe kurzer Sinn: Wer in interdisziplinärer Absicht von Netzwerken redet, sollte deutlich erkennen lassen, aus welchen Elementen mit welchen zwischen ihnen bestehenden Beziehungen sich diese zusammensetzen. Sonst gerät er in Verdacht der Reticulomanie.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Powell 1996, 219.
2 Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen, 2011, S. 28.

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Postmoderne Rechtstheorie, oder wie man davon abrät, einen Autor zu lesen

Vielleicht aus Anlass seines 65. Geburtstages im Jahre 2008 erschienen 2009 zwei Publikationen zur Würdigung des einer großen Festschrift würdigen Werkes von Karl-Heinz Ladeur, nämlich das Themenheft des German Law Journal »The Law of the Network Society. A Tribute to Karl-Heinz Ladeur« sowie von Ino Augsberg, Tobias Gostomzyk und Lars Viellechner der Band »Denken in Netzwerken, Zur Rechts- und Gesellschaftstheorie Karl-Heinz Ladeurs«. Das Vorwort dieses Bandes fordert gleich doppelten Protest heraus.
Der Band wird vorgestellt als eine Art Lesehilfe zu den schwierigen Texten Ladeurs. Dass diese Texte so schwer zugänglich seien, erklären die Autoren mit deren interdisziplinärem Anspruch. Diesen belegen sie aus dem Vorwort von Ladeurs »Der Staat gegen die Gesellschaft« (2006), wo es heißt: »Auch wenn der Staat vom Recht her gedacht wird, wird der Versuch unternommen, die gesellschaftlichen Bedingungen staatlichen Handelns durch Rekurs auf Beiträge der Sozialwissenschaften, der Ökonomie, der Philosophie, der Geschichte, der Pädagogik, der Psychoanalyse zu rekonstruieren.« Für den geschulteren Leser möge der interdisziplinäre Ansatz reizvoll sein. Den weniger geübten Leser werde er abschrecken. Diese Position ist ärgerlich. Interdisziplinarität ist nur dann unverständlich, wenn sich in tiefsinnigen Andeutungen erschöpft und nicht deutlich macht, auf welche Beiträge aus anderen Fächern sie sich stützt.
Aber es kommt schlimmer. Man könne die Dinge nicht verständlich darstellen, denn die dazu benötigte Differenz zwischen Sprache und Sache sei nicht erreichbar. Die Autoren zitieren dazu Adorno, Philosophie sei »wesentlich nicht referierbar. Sonst wäre sie überflüssig; daß sie meist sich referieren läßt, spricht gegen sie.« Damit sei »offensichtlich über eine ganze Gattung von ›Einführungsliteratur‹, deren Ziel die Zusammenfassung der ›wichtigsten Grundgedanken‹ einer theoretischen Position bildet, der Stab gebrochen.«
Es gibt wohl Texte, die sich nicht referieren lassen. Fontanes »Wanderungen durch die Mark Brandenburg« wird man nicht gerne im Referat lesen wollen. Aber Texte, die Wissenschaftlichkeit für sich in Anspruch nehmen, einer Inhaltsangabe jedoch nicht zugänglich sind, sind nicht wissenschaftlich, sondern im besten Falle Literatur und im häufigsten Falle überflüssig. Da möchte man Ladeur gegen seine Schüler in Schutz nehmen, zumal wenn man einige seiner Positionen teilt.
Mit ihrem Nicht-Referat erreichen die drei Autoren, dass man künftig die Originale erst recht nicht mehr zur Hand nehmen wird. Sie zeigen zudem, dass die Scheu vor einem Referat begründet sein kann, enthüllt es doch auch Trivialitäten. Was wir etwa über Selbstreferenz, Selbstorganisation und Prozeduralisierung erfahren, gehört längst zum Standard der Einführungsliteratur.
Am Ende der Lesehilfe finden sich neun eng bedruckte Seiten mit dem Verzeichnis einer Auswahl der Schriften Ladeurs. [1]Im Internet habe ich keinen dieser Texte gefunden. Ist das Ladeurs Vorstellung von der Wissensgesellschaft? Teubner ist da vorbildlich, indem er alle seine Texte online stellt. Wer soll das alles lesen? Wer kann das alles lesen?
Wenn in den Texten tatsächlich so viel Inhalt steckt, wie es der elaborierte Stil verheißt, dann wäre es ein echter Verdienst der Schülerschar, eine Führung durch das Werk anzubieten, die jedenfalls zur fragmentarischen Lektüre verführt.
Nächstes Jahr wäre eine neue Gelegenheit. Einstweilen lesen wir Fontane.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Im Internet habe ich keinen dieser Texte gefunden. Ist das Ladeurs Vorstellung von der Wissensgesellschaft? Teubner ist da vorbildlich, indem er alle seine Texte online stellt.

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Zur interdisziplinären Verwendung der Netzwerkforschung III: Netzwerke im Typenvergleich

Am Anfang des Typenvergleichs steht die Frage nach dem Zugang zu sozialen Netzwerken. Netzwerke gelten hinsichtlich der Zugangsmöglichkeit für neue Mitglieder als offen. Der Markt fordert keine Mitgliedschaft. Mitglied – oder besser, Funktionär – einer Organisation wird man durch Beitritt oder Aufnahme, jedenfalls durch eine Entscheidung [1]Luhmann, GdG S. 829. Die Zugehörigkeit zu einem sozialen Netzwerk erwirbt man, indem man sich daran beteiligt. Zwar gibt es für Netzwerke, anders als für Organisationen, keine förmlichen Zugangsregelungen. Aber nicht jeder kann beliebige Beziehungen aufnehmen, sei es, um sich einem bestehenden Netzwerk anzuschließen, sei es, um ein neues aufzubauen. Richter des Bundesverfassungsgerichts können sich ohne weiteres an Richterkollegen der Verfassungsgerichte anderer Staaten wenden, um sich mit ihnen über ihre Praxis auszutauschen. Wenn dagegen ein Jurastudent an einen Richter des US Supreme Court mailte, etwa um nach Problemen im Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und Politik zu fragen, bliebe er ohne Antwort. Um Mitglied in einem Netzwerk zu werden, braucht man eine vorstrukturierte Kommunikationschance.
Kommunikationschancen ergeben sich aus einer vorgefundenen Sozialstruktur, insbesondere aus der Zugehörigkeit zu Gruppen oder Organisationen und den damit verbundenen Rollenerwartungen. Insofern sind soziale Netzwerke sekundäre Strukturbildungen [2]Veronika Tacke, Systeme und Netzwerke – oder: Was man an sozialen Netzwerken zu sehen bekommt, wenn man sie systemtheoretisch beschreibt, Netzwerke, Systemtheorie und Soziale Arbeit. Journal der … Continue reading. Nach einem Vorschlag von Granovetter spricht man auch von struktureller Einbettung. [3]Mark S. Granovetter, Economic Action and Social Structure. The Problem of Embeddedness, American Journal of Sociology 91, 1985, 481-510. Der soziale Hintergrund wirkt als Kommunikationsplattform, die es ermöglicht, sich anzubieten und andere anzusprechen.
Prinzipiell kann jede soziale Formation, die Kommunikationen ermöglicht, zur Basis eines Netzwerks werden. Enge Plattformen dieser Art waren und sind Familie und Nachbarschaft. Kommunikationschancen ergeben sich aus der gleichen Lebenslage von Minderheiten, seien sie Eliten oder Diskriminierte. Viele Zusammenschlüsse haben von vornherein den Haupt- oder Nebenzweck, Netzwerkplattform zu sein. Das gilt für viele Vereine, Industrie-, Lions- und Rotary-Clubs oder studentische Verbindungen. Zur Netzwerkplattform schlechthin ist jedoch das Internet geworden. Wer über die Kompetenz verfügt, mit dem Internet umzugehen, darf Kommunikationsangebote machen und sich als »Knoten« präsentieren, wie es Blogger tun.
Im Internet haben sich speziellere Plattformen entwickelt, die sich zur Netzwerkbildung empfehlen, insbesondere natürlich die »sozialen Netzwerke« wie Facebook und Twitter. Aber Facebook und Twitter sind als solche keine sozialen Netzwerke, sondern bloß Kommunikationsplattformen, die zum Netzwerken einladen, weil sie qua Mitgliedschaft Rollen schaffen, aus denen heraus man die Kommunikation mit unbestimmten und unbekannten Anderen aufnehmen kann.
Wer netzwerken will, muss etwas zum Tausch anbieten. Als Minimum kann ein jeder seine Stimme abgeben. Mit ihr kann er anderen zu Anerkennung = Reputation verhelfen. Er kann den Gefällt-mir-Button drücken. Viele versuchen, darüber hinaus Informationen zu liefern, und seien es auch nur solche über die eigenen Interessen und Bedürfnisse. Oft wird nur Hilfe erfragt. Aber helfen macht glücklich, und so kann auch mit einem Hilferuf der Sprung in ein Netzwerk gelingen. In der Regel muss ein Akteur jedoch mehr an Ressourcen vorzeigen, damit andere zugreifen.
Die möglichen Tauschgüter bestimmen das Thema oder den Zweck des Netzwerks. Als netzwerktypisch lässt sich wohl nur angeben, dass immaterielle oder nicht marktgängige Güter im Vordergrund stehen.
Anders als in Organisationen entspricht die Mitgliedermotivation in Netzwerken dessen Zweck.
Netzwerke sind nicht unbedingt in dem Sinne locker, dass laufend alte Knoten aufgelöst und neue gebildet werden. Im Gegenteil, es gibt sehr stabile Netzwerke. Selbst das Internet als Prototyp eines Netzwerks ist erstaunlich stabil. (Und Google sitzt als Spinne im Netz.) Netzwerke sind auch nicht typisch expansiv. Sie sind zwar insofern auf Expansion angelegt, als sie keinen numerus clausus kennen und der Wert der Netzwerkmitgliedschaft mit der Größe des Netzwerks steigen kann. Ob sie aber expandieren oder schrumpfen, steht auf einem anderen Blatt. Für technische Netze (Telefon, Twitter) gilt, dass sie ein sich selbst verstärkendes Wachstum zeigen können, wenn sie eine kritische Menge von Teilnehmern auf sich vereinigt haben, denn mit der Größe des Netzes steigt ihr Wert für die Teilnehmer. Netzwerke dagegen, die auf sozialen Beziehungen aufbauen, können nur begrenzt wachsen, denn mit der Zahl der steigt die Anzahl der Kontaktmöglichkeiten exponentiell [4]Und zwar nach der Formel f (n) = n2 – n., so dass sich die Beziehungen ausdünnen.
Auch Dauerhaftigkeit ist keine typische Netzwerkeigenschaft. Netzwerke können einfach erlöschen.
Oft ist von der Dynamik der Netzwerke die Rede. Der Darm ist nicht deshalb dynamisch, weil sein Inhalt sich laufend bewegt. Ebenso wenig sind Netzwerke dynamisch, weil in ihnen laufend alles Mögliche prozessiert wird. Unter der Dynamik von Netzwerken muss man daher zunächst wohl die Veränderungen ihrer Topologie verstehen. Bei der Vermessung realer Netzwerke haben sich Regelmäßigkeiten herausgestellt, die bei der Erklärung solcher Dynamik helfen können. Eigentlich handelt es sich um regelmäßig auftretende Unregelmäßigkeiten, nämlich um Abweichungen von einer gedachten Zufallsverteilung (Cliquenbildung, Nabenbildung, Verteilung der Kontakte nach dem Potenzgesetz). Solche Phänomene sind nicht bei allen Netzwerken zu beobachten, können aber doch als typisch gelten. Als Netzwerkdynamik wird aber auch die Verbreitung ungewöhnlicher Ereignisse im Netz verstanden, also etwa die Verbreitung von Nachrichten oder Krankheiten, und manchmal wohl auch die Reaktion des Netzes auf den Ausfall einzelner Knoten oder ganzer Cluster.
Der Kommunikationsweg des Marktes ist die Öffentlichkeit. Dasselbe gilt für die Demokratie. In Organisationen verläuft die Kommunikation entlang der Hierarchie über einen »Verteiler«. In Netzwerken sucht die Kommunikation ihren Weg entlang vorstrukturierter Beziehungen. Zur typischen Vorstellung von sozialen Netzwerken gehört hohe Konnektivität. Jeder Knoten verfügt über multiple Kanten und kann direkt oder indirekt mit anderen kommunizieren.
Ökonomische Transaktionen lassen sich in drei Phasen zerlegen, eine Informationsphase, eine Transaktionsphase und eine Exekutionsphase. [5]Nicola Jentsch, Euphorien, Turbulenzen, Paniken: Die Ökonomie des Risikos, Vortragsmanuskript, o. J. Zur Information der Akteure bietet der Markt Preise an. Vielleicht wird verhandelt. Die Abwicklung ist schnell geschehen. Organisationen informieren ihre Funktionäre durch Weisung. Zu verhandeln gibt es nichts. In Netzwerken dagegen spielt die Informationsphase eine größere Rolle. Angebot oder Nachfrage von Leistungen bleiben eher unspezifiziert, werden aber von »vertraulichen« Informationen begleitet, die so nur im Netzwerk zu haben sind. Die Informationen gelten als qualitativ besser als die Preissignale des Marktes und die Weisungen der Organisation. [6]Powell 1996, 225. Verhandlungen sind stets auch um die Erhaltung der Netzwerkbeziehung bemüht. Ein Abschluss ist gar nicht immer das Ziel. Wenn es zu einem Austausch kommt, sind Leistung und Gegenleistung nicht direkt miteinander verknüpft. Eine mögliche Gegenleistung bleibt unbestimmt. Die dadurch entstehende Lücke wird durch Vertrauen überbrückt. Das Vertrauen stammt aus den Beziehungen, in die das Netzwerk eingebettet ist und wird durch positive Erfahrungen innerhalb des Netzes verstärkt.
Marktteilnehmer und Wähler bilden ihre Präferenzen und treffen ihre Entscheidungen je für sich (dezentral und unabhängig). Funktionäre folgen mit ihren Aktionen Weisungen. Netzwerkangehörige entscheiden sich mit dem Blick auf mögliche Reaktionen anderer (dezentral, aber interdependent).
Vollzugsformen der Aktionen sind am Markt der Vertrag, in der Demokratie die Stimmabgabe und in der Organisation die Weisung. Im Netzwerk läuft der Vollzug eher formlos nach dem aus dem Schuldrecht bekannten Muster der Realobligation ab.
Netzwerke als solche haben, anders als Organisationen, grundsätzlich nicht den Charakter eines sozialen Akteurs. Sie bestehen zwar unabhängig von individuellen Mitgliedern, können sich aber im Normalfall doch nicht als Ganzes artikulieren. Die Mitglieder bleiben in der Lage, eigenständig zu handeln, solange sie dabei auf andere Mitglieder Rücksicht nehmen.
Für Netzwerke gilt die Grundregel, dass Mitglieder beim Tausch bevorzugt werden. Darin unterscheiden sie sich vom Markt. Die Zugehörigkeit zum Netz wird dadurch selbst zum Wert. Offen bleiben die Netze nur, solange die Tauschgüter relativ belanglos sind. Steigt der Einsatz, so verfestigt sich das Netz. Mit zunehmendem Gewicht der Tauschangebote steigen die Zugangsbarrieren zum Netzwerk.
Starke Tauschpartner netzwerken bevorzugt mit ihresgleichen. Stark sind solche Akteure, die die Ressourcen, die sie ins Netzwerk einbringen, aus Organisationen beziehen, denen sie primär angehören. So entstehen persönliche Netzwerke unter Mitgliedern verschiedener Organisationen. In einer Stadt wie Bochum treffen sich z. B. mit einiger Regelmäßigkeit die Behördenchefs (Oberbürgermeisterin, Landgerichtspräsident, Polizeipräsident, Universitätsrektor und einige mehr) zu einem Austausch. Solche informellen Netzwerke bilden eine extraorganisationale Parallele zu den informalen Beziehungen innerhalb der Organisation (intraorganisationale Netzwerke).
Die Entdeckung der informalen Organisation durch Roethlisberger und Dickson in den 1930er Jahren war der Sache nach die Entdeckung intraorganisationaler Netzwerke, ohne dass der Begriff schon eine Rolle gespielt hätte. Der Netzwerkbegriff kam erst bei den interorganisationalen Netzwerken ins Spiel. Auf solche Netzwerke wurde man zunächst bei der Entdeckung kooperativen Verwaltungshandelns und dann vor allem bei der Beobachtung der Globalisierung aufmerksam. Dabei wurde und wird allerdings meistens wenig Wert darauf gelegt, ob die interorganisationalen Beziehungen zwischen den Organisationen als solchen bestehen, oder ob sie an Personen gebunden sind. Transnationale Netzwerke mit Organisationen als Knoten hat man etwa in der Verwaltung beobachtet. Persönliche Netzwerke gibt es zwischen Parlamentariern, Richtern, Wissenschaftlern Gewerkschaftsmitgliedern oder Orchestermitgliedern [7]Über transnationale persönliche Netzwerke der Eintrag vom 18. Mai 2012. Es macht vermutlich einen Unterschied, ob die interorganisationalen Netzwerke Personen oder die Organisationen selbst als Knoten haben, und sei es auch nur, weil die Versuchung besteht, dass Personen die Ressourcen der Organisation nicht in deren, sondern im eigenen Interesse nutzen. Dann handelt es sich je nachdem um Korruption oder Veruntreuung.
Das Interesse der Rechtstheorie an sozialen Netzwerken hat viel mit deren Informalität zu tun. Das moderne Recht ist jedenfalls grundsätzlich formal. Formalität entsteht aus verordneten Kommunikationshindernissen oder -verboten. Was nicht rechtlich relevant ist, soll nicht zur Sprache kommen. An einem Rechtsverfahren darf nicht jeder teilnehmen. Die Teilnehmer dürfen nicht jedes Thema aufgreifen, und sie müssen ihre Kommunikationsbeiträge an Formen und Fristen ausrichten. Sich informell zu vernetzen, bedeutet die Umgehung solcher Kommunikationshindernisse. Netzwerke unterlaufen das Recht. Deshalb stehen sie, besonders im Publikum, im Geruch der Illegitimität. Tatsächlich arbeiten Netzwerke nicht unbedingt gegen das Recht. Viele Policy-Netzwerke werden von der Absicht der Beteiligten getragen, dem Recht auf die Sprünge zu helfen. Sie bilden partikulare Querverbindungen zwischen den primären Sozialstrukturen. [8]Tacke a.a.O. passim.
Als typische Eigenschaft von Netzwerken gilt deren Selbstorganisationsfähigkeit. Dem Markt fehlt diese Qualität. Verträge hätten ohne außervertragliche Grundlage keinen Bestand. Monopolbildung zerstört den Preismechanismus. Der Markt kann eine selbstzerstörerische Eigendynamik entwickeln. Ähnlich liegt es mit der Demokratie, wenn sie zur Diktatur der Mehrheit wird. Deshalb brauchen Markt und Demokratie zu ihrer Funktion eine externe Verfassung. Eine hierarchische Organisation ist für ihren Fortbestand auf die Zufuhr von Ressourcen von außen angewiesen. Auch hier gibt es, wenn auch schwächer, eine selbstzerstörerische Eigendynamik, wenn die Organisation erstarrt und den Kontakt zu ihrer Umwelt verliert, in der sie funktionieren soll. Einzig Netzwerke scheinen ohne Korsett auszukommen und allein aus gelebter Reziprozität, aufgewertet durch die Vorzugsbehandlung der Netzangehörigen, zu funktionieren. Bemerkenswert ist dabei, dass die in Netzwerken zu beobachtende Bildung von typischen Konnektivitätsmustern und die damit verbundene Ungleichheit der Knoten die Funktionsfähigkeit des Netzes eher zu fördern als zu stören scheint. Ganz ohne Stütze kommen aber auch Netzwerke nicht aus. Ihre Währung ist das Vertrauen, und das scheint zu schwinden, wenn ein Netzwerk größer wird und wenn es sich gegenüber den sozialen Strukturen, in die es ursprünglich eingebettet war, zu lösen beginnt. Jedenfalls behaupten Powell [9]1996, 213. und Ostrom [10]Kurz und deutlich in Elinor Ostrom, A General Framework for Analyzing Sustainability of Social-Ecological Systems, Science 2009, 325, 419-422., dass Netzwerke nur unter bestimmten, spezifizierbaren Bedingungen lebensfähig sind.
Die Realität ist natürlich viel komplizierter als solche schematische Gegenüberstellung. Sie wird von Mischformen und Übergängen bestimmt. Der Zugang zu einem Markt wird oft erst über ein Netzwerk vermittelt. Aus wiederholtem Vertragsschluss entstehen vertragsübergreifende Beziehungen [11]Powell verweist dazu auf Clifford Geertz, The Bazaar Economy: Information and Search in Peasant Marketing, The American Economic Review 68, 1978, 28-32. Für die Rechtssoziologie wird man sich eher … Continue reading, und schon der einzelne Vertrag kann relationalen Charakter annehmen. Auf der anderen Seite ist der Typus der hierarchischen Organisation am besten wohl in mittleren Unternehmen und auf der öffentlichen Seite in Fachbehörden anzutreffen. Größere Unternehmen sind weitgehend in Profitcenter aufgegliedert, und sogar öffentliche Organisationen haben im Zuge des New Public Management interne Märkte geschaffen und Verrechnungspreise eingeführt. Hierarchisch durchorganisierte Staaten gab es zeitweise eigentlich nur in Europa, Nord Amerika und Japan. [12]Poul F. Kjaer, Embeddedness through Networks: A Critical Appraisal of the Network Concept on the Oeuvre of Karl-Heinz Ladeur, German Law Journal 10, 2009, 483-499, S. 485f.. Moderne Staaten sind als Ganze nicht mehr durchgehend hierarchisch geordnet, sondern bilden ein vielfach gegliedertes Gefüge aus Regierungen, Parlamenten, Verwaltungen, Gebietskörperschaften mit beweglichen Grenzen und Durchlässen zu korporatistischen Elementen. [13]In Analogie zu Powells Relativierung hierarchischer Unternehmen (Walter Powell, Weder Markt noch Hierarchie, in: Patrick Kenis/Volker Schneider (Hg.), Organisation und Netzwerk, 1996, 213-271, S. … Continue reading Was schließlich die Netzwerke betrifft, so kann man die netzwerktypische Konzentration von Aktivitäten um bestimmte Hubs durchaus als Hierarchien interpretieren. In der Realität trifft man auf sternförmig oder hierarchisch zentralisierte Netzwerke. Auch explizite Regeln für die Netzwerkkontakte kommen vor. Besonders interorganisationale Netzwerke, in denen die Organisationen selbst als Netzknoten fungieren, sind oft formalisiert. Das gilt besonders für die Beziehungen zwischen Organisationen, die als transnationale Netzwerke unter Beobachtung stehen. Durch Verdichtung und Formalisierung der Beziehungen verbunden mit einer gewissen Zentralisierung kann ein Netzwerk schließlich auch zum kollektiven Akteur werden, so dass sich die Frage aufdrängt, ob damit nicht aus dem Netzwerk eine Organisation geworden ist. Der Übergang ist hier, wie so oft, flüssig.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Luhmann, GdG S. 829
2 Veronika Tacke, Systeme und Netzwerke – oder: Was man an sozialen Netzwerken zu sehen bekommt, wenn man sie systemtheoretisch beschreibt, Netzwerke, Systemtheorie und Soziale Arbeit. Journal der dgssa 2, 2011, 6-24, S. 13.
3 Mark S. Granovetter, Economic Action and Social Structure. The Problem of Embeddedness, American Journal of Sociology 91, 1985, 481-510.
4 Und zwar nach der Formel f (n) = n2 – n.
5 Nicola Jentsch, Euphorien, Turbulenzen, Paniken: Die Ökonomie des Risikos, Vortragsmanuskript, o. J.
6 Powell 1996, 225.
7 Über transnationale persönliche Netzwerke der Eintrag vom 18. Mai 2012.
8 Tacke a.a.O. passim.
9 1996, 213.
10 Kurz und deutlich in Elinor Ostrom, A General Framework for Analyzing Sustainability of Social-Ecological Systems, Science 2009, 325, 419-422.
11 Powell verweist dazu auf Clifford Geertz, The Bazaar Economy: Information and Search in Peasant Marketing, The American Economic Review 68, 1978, 28-32. Für die Rechtssoziologie wird man sich eher auf (ältere) Arbeiten von Stewart Macaulay und Ian Macneil beziehen, die so bekannt sind, dass sie hier gar nicht genauer angeführt werden müssen.
12 Poul F. Kjaer, Embeddedness through Networks: A Critical Appraisal of the Network Concept on the Oeuvre of Karl-Heinz Ladeur, German Law Journal 10, 2009, 483-499, S. 485f.
13 In Analogie zu Powells Relativierung hierarchischer Unternehmen (Walter Powell, Weder Markt noch Hierarchie, in: Patrick Kenis/Volker Schneider (Hg.), Organisation und Netzwerk, 1996, 213-271, S. 217).

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Zur interdisziplinären Verwendung der Netzwerkforschung II: Netzwerke als Sozialstruktur eigener Art

Die Netzwerkanalyse ist in erster Linie ein methodischer Ansatz, mit dem sich soziale Beziehungen aller Art untersuchen lassen. Sie dient der Operationalisierung beliebiger sozialer Beziehungen zum Zwecke der Messbarmachung und hat keinen selbständigen Erklärungswert. Jede Relation zwischen zwei und mehr Objekten lässt sich mit dem Netzwerkvokabular von Knoten und Kanten beschreiben. Daraus folgt die Gefahr, dass mit Hilfe des Netzwerkbegriffs diffuse Beziehungen zu Sozialstrukturen aufgewertet werden oder umgekehrt bekannte und bewährte Konfigurationen wie Rollen und Gruppen, Systeme und Organisationen nur eine neue modische Bezeichnung erhalten oder sogar eingeebnet werden.
Leopold von Wiese schwebte eine Beziehungssoziologie vor, die die Gesellschaft als die Menge der Relationen zwischen ihren Akteuren betrachten sollte. Dafür hätte die Netzwerkanalyse eine universelle Methode geboten. Doch seine Beziehungslehre hat sich nicht durchgesetzt, weil die Beziehungen zwischen sozialen Akteuren weitgehend in Strukturen verfestigt sind. Die Beziehungslehre müsste diese Strukturen ständig neu aus den sozialen Beziehungen rekonstruieren. Das wäre, als wenn man eine Straße jedes Mal neu baute, bevor man sie befährt.
Die Gesellschaft als Ganzes ist kein Netzwerk, oder genauer, man kann sie vielleicht als Netzwerk begreifen. Aber eine Totalanalyse würde alle Forschungskapazitäten hoffnungslos überfordern. Es ist auch kein Netzwerk erkennbar, das als Superstruktur der Gesellschaft in Betracht käme. Der Versuch des spanischen Soziologen Manuel Castells [1]Manuel Castells, Das Informationszeitalter. Teil I: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, Opladen 2001 [The Rise of the Network Society, 1996, 2. Aufl. 2011]. Dazu … Continue reading, die Gesellschaft als primär in Netzwerken organisiert zu beschreiben, hat sich aus gutem Grund nicht durchgesetzt.
Heute geht es eigentlich nur noch um die umgekehrte Frage, ob »das Netzwerk« eine Sozialstruktur sui generis ist. Aber auch diese Frage ist im Grunde genommen müßig. Es sind schon so viele Netzwerke benannt und beschrieben worden, dass man sagen kann: Es gibt Netzwerke. Deshalb kommt es darauf an, die Besonderheit von sozialen Netzwerken im Vergleich zu anderen sozialen Strukturen herauszustellen. Damit gelangt man zu einigen typischen Merkmalen von sozialen Netzwerken.
In Soziologie, Ökonomie und Politikwissenschaft hat sich im Anschluss an Powell [2]Walter Powell, Research in Organizational Behavior 12, 1990, 295-336; nachfolgend zitiert aus der deutschen Übersetzung: Weder Markt noch Hierarchie: Netzwerkartige Organisationsformen, in: Patrick … Continue reading ein gewisser Konsens herausgebildet, dass es sinnvoll ist, Markt und Hierarchie nicht als die Enden eines Kontinuums zur Koordination von interdependenten Handlungen anzusehen, sondern Netzwerke als dritten Typus der Handlungskoordination zu begreifen. Netzwerken heißt, Tauschfähigkeit und Tauschbereitschaft zu kommunizieren. Was am Ende dabei herauskommt, ist »ein Tauschmodus, der mit einer eigenen Logik ausgestattet ist« [3]Powell 1996, 217 f., 220.
Der von der Transaktionskostentheorie angeleitete Vergleich von Netzwerken mit dem Markt einerseits und der »Firma« andererseits ist für die Rechtssoziologie zu schmal, denn er konzentriert sich auf ökonomische Institutionen, also auf Markt und Firma. Die Rechtssoziologie muss die sozialen Strukturen der öffentlichen Sphäre außerhalb der Ökonomie einbeziehen. Neben dem Markt ist die kollektive Willensbildung durch Abstimmungen zu bedenken. Als hierarchisches Gegenstück zum Netzwerk treten neben die »Firma« alle bürokratisch strukturierten öffentlich-rechtlichen Einrichtungen, von der kleinen Fachbehörde bis zum großen Staat. Der Einfachheit halber spreche ich insoweit von Behörden. Organisation dient im Folgenden als Sammelbezeichnung für Behörden und Wirtschaftsunternehmen. Die Erweiterung des Typenvergleichs auf Behörden wird in der so genannten Governance Diskussion geleistet, die sich mit der Koordination von interdependenten Handlungen auch jenseits ökonomischer Transaktionen befasst. [4]Andreas Wald/Dorothea Jansen, Netzwerke, in: Arthur Benz u. a. (Hg.): Handbuch Governance, 2007, 93-105. Der Vergleich führt zu einer Vorstellung von dem, was typisch ein soziales Netzwerk auszeichnet.
Noch aus einem zweiten Grunde ist der von der Ökonomie inspirierte Vergleich von Netzwerk und Hierarchie zu schmal, und zwar weil er sich auf das Innenleben der betrachteten Institutionen beschränkt und die Externalitäten vernachlässigt. Entscheidungen im Unternehmen haben zunächst Folgen nur für das Unternehmen selbst. Durch ihre Entscheidungen bestimmt die Unternehmensleitung, wie die Ressourcen bereitgestellt werden, die als Produktionsfaktoren für ein Endprodukt notwendig sind, das letztlich am Markt angeboten werden soll. Der Entscheidungsbegriff kann hier leicht in die Irre führen, denn bei Behördenentscheidungen denkt man sogleich an Akte mit Außenwirkung. Die Entscheidungen sind sozusagen selbst das Endprodukt. Der Netzwerk-Hierarchie-Vergleich erstreckt sich aber nicht auf das Endprodukt, also nicht auf Entscheidungen mit Außenwirkung, sondern betrifft nur behördeninterne Entscheidungen (Weisungen), mit denen die Behörde die Produktion außenwirksamer Entscheidungen steuert. Beispiele für Weisungen wären etwa der Geschäftsverteilungsplan eines Gerichts oder die sog. Verwaltungsanordnungen. Wenn man den Vergleich zwischen Netzwerk und Hierarchie zu Ende führen will, muss man daher fragen, was bei Netzwerken dem Endprodukt der Unternehmung oder der Behördenentscheidung mit Außenwirkung entspricht. Eigentlich kann das nur die einzelne Transaktion im Netzwerk sein. Die Antwort ist nicht befriedigend, denn anders als beim Unternehmen, dessen Produkte für einen unternehmensexternen Markt bestimmt sind, und anders als bei Behörden, deren Entscheidungen mit dem Anspruch auf Außenwirkung gefällt werden, ist nicht zu erkennen, wie Transaktionen im Netzwerk extern relevant werden könnten. Man könnte stattdessen auf die Gesamtleistung des Netzwerks abstellen. Aber auf welche? Auf die Tatsache der Selbstorganisation? Auf die aus der Umgebung bezogenen oder auf die an die Umgebung abgegebenen Ressourcen? Alle diese Vergleiche hinken kräftig. Und dennoch lässt sich die Frage nach der Beziehung von Netzwerken zu ihrer Umgebung nicht von der Hand weisen. Eine verallgemeinerungsfähige Antwort habe ich nicht gefunden. Daher bleibt diese Frage in dem folgenden Typenvergleich unberücksichtigt. Am Ende ist jedoch darauf zurückzukommen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Manuel Castells, Das Informationszeitalter. Teil I: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, Opladen 2001 [The Rise of the Network Society, 1996, 2. Aufl. 2011]. Dazu etwa Steffen Horstmannshoff (30.3.2010): Netzwerkgesellschaft (Castells). In: MedienKulturWiki.
2 Walter Powell, Research in Organizational Behavior 12, 1990, 295-336; nachfolgend zitiert aus der deutschen Übersetzung: Weder Markt noch Hierarchie: Netzwerkartige Organisationsformen, in: Patrick Kenis/Volker Schneider (Hg.), Organisation und Netzwerk, 1996, S. 213-271.
3 Powell 1996, 217 f., 220
4 Andreas Wald/Dorothea Jansen, Netzwerke, in: Arthur Benz u. a. (Hg.): Handbuch Governance, 2007, 93-105.

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Zur interdisziplinären Verwendung der Netzwerkforschung I

Die Netzwerkforschung nimmt für sich in Anspruch, mehr oder weniger allen Disziplinen, ganz gleich ob Naturwissenschaften, Technik oder Sozialwissenschaften, Hilfe anbieten zu können. Daher ist es völlig legitim, dass auch die Rechtswissenschaft auf dieses Angebot zurückgreift. Es wäre aber auch nichts dagegen einzuwenden, wenn sie den Netzwerkbegriff nur metaphorisch verwendete. Die Rede von Netzwerken ist so verbreitet, dass sich das kaum vermeiden lässt. Problematisch ist nur, wenn sich Juristen mit dem Anspruch auf Interdisziplinarität auf den Netzwerkbegriff berufen, dann aber schreiben, was sie schon im Kopf haben, ohne die harte Netzwerkforschung zu rezipieren. Was dabei herauskommt, ist Reticulomanie. [1]Streitig ist, ob der Name dieser Psychose mit c oder mit k zu schreiben ist.
Wer das Netzwerk als Beschreibungskategorie [2]Ino Augsberg meint, wollte man Netzwerke bloß derart als empirisches Phänomen verstehen, so sei der Netzwerkbegriff nur ein Ersatz für anderweit längst bekannte und substantiierte Probleme. Der … Continue reading verwendet, sollte die Grenzen des Beziehungsgeflechts bezeichnen, von dem er spricht. Soweit sie sich nicht ohne weiteres aus dem Kontext ergeben, sind die Entitäten zu benennen, die als Netzknoten in Betracht gezogen werden, und die Relationen zu spezifizieren, die als Kanten bedacht werden sollen.
Als Knoten oder Elemente eines sozialen Netzwerks kommen in erster Linie Akteure in Betracht, also Individuen und korporative Akteure aller Art (Staaten und Gebietskörperschaften, Behörden und Gerichte, Unternehmen und deren Filialen). Auch Ereignisnetzwerke können indirekt als soziale relevant sind, in juristischem Zusammenhang etwa Zitationsnetzwerke. Bei der Anwendung des Netzwerksbegriffs in rechtlichem Zusammenhang bleibt oft unklar, ob ein Akteursnetzwerk gemeint ist, also die Vernetzung von Gerichten oder Verwaltungsbehörden, von Wirtschaftsteilnehmern oder Wissenschaftlern, oder ob es um die inhaltliche Verknüpfung von Informationen und Argumenten geht, also um ein semantisches Netzwerk. Der Umgang mit semantischen Netzwerken wird problematisch, wenn man sich nicht auf die Beobachtung äußerlicher Beziehungen zwischen Bedeutungsträgern – Worte, Phrasen, Texte – beschränkt, sondern Bedeutung selbst beobachten will. Das ist nicht prinzipiell ausgeschlossen, führt aber doch in all die Schwierigkeiten hinein, die mit der Erfassung von verbunden sind. Es bleibt verführerisch, juristische Kohärenzvorstellungen mit dem Netzwerk begriff in Verbindung zu bringen (»Law as a Seamless Web«). [3]Die Metapher stammt wohl von Frederic Maitland; dazu der Artikel » The Law Is A Seamless Web« aus dem Legal Theory-Lexicon von Lawrence B. Solum. Die Empirie dazu steuert bei: Thomas A. Smith, The … Continue reading
Keine sozialen Netzwerke sind Objektnetzwerke wie Stromnetze oder Verkehrsnetze. Immerhin kann es manchmal interessant sein, »objektive« Beziehungen zwischen Elementen, die in ihrer Eigenschaft als Organisation auch soziale Akteure in Betracht kommen, zu betrachten, etwa die räumliche Distanz zwischen Schulen, Gerichte oder Gefängnissen. Schließlich kann man auch die Relationen zwischen Akteuren und Ereignissen oder Objekten in so genannten bipartiten Netzwerken darstellen z.B. eingehende Klagen für verschiedene Kammern, Prüfungserfolg bei Kandidaten, Zitationsranking von Autoren).
Nicht alle Elemente passen als Knoten in ein- und dasselbe Netzwerk. Die Stadt z. B. hat im Netzwerk der Nachbarschaft keinen Platz, denn hier geht es nur um persönliche Beziehungen. Andererseits kann eine bestimmte Menge von Knoten in verschiedenen Netzwerken verbunden sein. Dieselbe Gruppe von Richtern kann einerseits dem Kantinennetzwerk angehören, das regelmäßig in der Kaffeepause zusammentrifft. Sie kann zugleich einen standespolitisch aktiven Zirkel bilden. Das Netzwerk ist also immer erst durch eine abgrenzbare Menge von Knoten und die Art der zwischen ihnen bestehenden Beziehungen definiert. [4]Dorothea Jansen, Einführung in die Netzwerkanalyse, 3. Aufl., 2006, S. 58.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Streitig ist, ob der Name dieser Psychose mit c oder mit k zu schreiben ist.
2 Ino Augsberg meint, wollte man Netzwerke bloß derart als empirisches Phänomen verstehen, so sei der Netzwerkbegriff nur ein Ersatz für anderweit längst bekannte und substantiierte Probleme. Der Begriff sei dann vielleicht nicht völlig sinnlos, ab er doch weitgehend überflüssig (The Relevance of Network Models within the Juridic Discourse, German Law Journal 10, 2009, 383-394, S. 385).
3 Die Metapher stammt wohl von Frederic Maitland; dazu der Artikel » The Law Is A Seamless Web« aus dem Legal Theory-Lexicon von Lawrence B. Solum. Die Empirie dazu steuert bei: Thomas A. Smith, The Web of Law, 2005 (SSRN).
4 Dorothea Jansen, Einführung in die Netzwerkanalyse, 3. Aufl., 2006, S. 58.

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Volker Boehme-Neßlers unscharfes Netzwerkkonzept

Volker Boehme-Neßler widmet in seiner 2008 erschienenen Habilitationsschrift »Unscharfes Recht« dem Netzwerkkonzept ein großes Kapitel (Vernetzung und Recht, S. 500-632). Er findet in der Netzwerkforschung ein neues »Paradigma«, das er dem ganzen Rechtssystem überstülpt. Er stellt die Netztheorie neben die Systemtheorie und findet in ihr eine alternative Beschreibungsmöglichkeit. Boehme-Neßler bietet ein Beispiel dafür, dass auch eine eingehende Rezeption der Netzwerkforschung nicht unbedingt rechtstheoretischen Fortschritt bedeutet.
Das ausführliche Referat der Netzwerkforschung ist selektiv. So heißt es gleich zu Anfang: »Netze sind dezentral« (S. 501) Das ist nur zutreffend, wenn man sie allein wegen der Mehrzahl von Knoten als dezentral qualifiziert. Tatsächlich gibt es sowohl strategisch zentralisierte Netze als auch in skalenfreien Netzen spontane Zentralisierungsphänomene. Auf S. 516 erfährt man dann zwar, dass es nicht nur egalitäre, sondern auch hierarchisch strukturierte, aristokratische Netzwerke gibt. Doch wird die Feststellung im nächsten Satz wieder relativiert mit der Feststellung, auch in hierarchischen Netzwerken verfügten die einzelnen Elemente über relative Autonomie. Aus der Theorie der skalenfreien Netze wird ein Modell von »geordneten Beziehungs-Clustern« übernommen (510), und damit der Witz verpasst, der doch gerade im unmäßigen Größenwachstum einzelner Knoten besteht. Zwar werden später (S. 514f.) noch die Hubs als »Superknoten« eingeführt. Aber die sind einfach nur super.
Wenn dann S. 517 ff die »Charakteristika von Netzwerken« besprochen werden, kommen alle die Prädikate zum Vorschein, die den Netzwerkbegriff ideologisch machen. [1]Zur Ideologieanfälligkeit des Netzwerkbegriffs bereits die im Einträge vom 28. April 2012 (Die Rechtstheorie ist schlecht vernetzt.) und vom 9. Mai 2012 (Wo bleibt »Die dunkle Seite der … Continue reading Netzwerke sind »dynamisch«, sie befinden sich im »Fließgleichgewicht«. Sie lassen sich als »grundlegendes Muster des Lebens« verstehen (S. 518). Auch politische und wirtschaftliche Netze dienen eigentlich dem Informationsfluss (S. 518). Netze sind »interaktiv«, und das heißt im Kern, sie sind »responsiv« und »reziprok« (S. 518f.). Die in Netzen realisierte Rückkopplung stellt eine Art von »checks and balances« dar (S. 520). Netzwerke befördern über Grenzen hinweg »Konvergenz und Konnektivität« (S. 520f.). Netzwerke sorgen für »inneres Gleichgewicht«. Zwar können komplexe Systeme instabile Zustände entwickeln. Aber das Chos bleibt aus. Aus der Instabilität folgt vielmehr lawinenartig großer Erfolg, sei es im Bereich der Wirtschaft, sei es bei kulturellen Ideen und Trends. Aus instabilen Gleichgewichten entwickelt sich neue Ordnung (S. 522). Netzwerke sind »innovativ« und »robust«, und sie tragen das Qualitätssiegel des Evolutionären (S. 534). Reziprozität und Kooperation (wie sie in Netzwerken realisiert werden) sind »ein übergreifendes Muster des Lebens« (S. 523). S. 527 lernen einen neuen homunculus kennen, den homo reciprocus. Es ist natürlich richtig, dass soziale Netzwerke durch Austausch und Austauschmöglichkeiten in Gang gehalten werden. Das Problem liegt aber darin, dass »der Ausgleichs- und Entwicklungsmechanismus des Tausches … anders als in offenen Marktstrukturen, nur bis zu den jeweiligen Netzwerkgrenzen« reicht. Wer dem Netz angehört, erfährt eine Vorzugsbehandlung. [2]Volker von Prittwitz, Die dunkle Seite der Netzwerke, Strategien gegen Vermachtung und Korruption, Online-Veröffentlichung 2001: http://www.volkervonprittwitz.de/die_dunkle_seite_der_netzwerke.htm.
Nach über dreißig Seiten Lobgesang gibt es dann aber doch einen mahnenden Absatz (S. 534 f.). »Knoten sind eben nicht nur Ansatzpunkte für Interaktion und Kommunikation, sondern gleichzeitig auch Reibungspunkte und potenzielle Konfliktherde.« Der Absatz steht unter der Überschrift »Vernetzungsparadox«, und so kommt, was kommen muss. Das Paradox wird aufgelöst. »Gleichzeitig – das lässt sich als Paradox der Vernetzung bezeichnen – führen dieselben Eigenschaften aber dazu, dass die Komplexität dann doch bewältigt wird.«
Das eigentliche Problem der Netzwerktheorie von Boehme-Neßler liegt jedoch nicht in ihrer Ideologielastigkeit, sondern in der Proliferation des Netzwerkkonzepts. Mehr oder weniger alle Rechtsphänomene werden mit Begriffen aus der Netzwerktheorie überzogen. Natürliche und juristische Personen, Verwaltungen und Gerichte werden zu Knoten. Sie sind durch »Fäden« verbunden, über die Interaktionen stattfinden. Auch Rechtsbegriffe, Normen und dogmatische Konstruktionen werden zu Knoten. Einzelne Knoten, etwa die Europäische Union oder die internationale Handelsschiedsgerichtbarkeit (S. 546ff), werden als Superknoten identifiziert. Art. 25 GG wird zum Superknoten, der Völkerrecht und innerstaatliches Rechts miteinander verbindet, ebenso Art. 24 I GG für die Verbindung zu supranationalen Institutionen (S. 550f.). Normen und die europäische Union gehören kaum demselben Netz an. Überhaupt, Superknoten gibt es reichlich unter den europarechtlichen Normen, unter den so genannten Querschnittsbegriffen, unter den dogmatischen Konstruktionen wie dem Konzept der Drittwirkung von Grundrechten (S. 556) und weiter unter Rechtsinstituten (transnationale Verwaltungsakte, internationale Handelsbräuche (S. 558).
Nach den Knoten kommen die Fäden (S. 560ff). Die Fäden bestehen aus Kommunikation. Auf 30 Seiten ist daher von verschiedenen Aspekten der Rechtskommunikation die Rede. Darüber geht die Beziehung zum Netzwerk des Rechts verloren. Sie wird S. 592 mühsam wiederhergestellt mit der Aussage, die unterschiedlichen Fäden im Netzwerk des Rechts hätten einen strukturellen und einen prozesshaft dynamischen Aspekt. Als Zwischenfazit wird festgehalten. »Die Bestandteile eines Netzes lassen sich im Recht tatsächlich identifizieren. Das Recht hat Knoten, Superknoten und Fäden. Das deutet darauf hin, dass das Recht tatsächlich ein Netz ist.« Damit aus diesen Bauteilen ein Netz werde, müssten nur noch die typischen Netzeigenschaften festgestellt werden, nämlich Interaktivität, Reziprozität und Nonlinearität. Unter Nonlinearität versteht Boehme-Neßler die in Netzen gegebene Erreichbarkeit von Knoten nicht bloß auf direktem Wege von A zu B, sondern auf Umwegen und über Querverbindungen (S. 533f.). Die genannten drei Eigenschaften werden auf den nächsten 30 Seiten (bis S. 624) natürlich auch gefunden. Und so hat die Untersuchung gezeigt: »Das Netz insgesamt lässt sich als ausdifferenziertes Netzwerk begreifen. Damit ist keine bloße Analogie, sondern eine Homologie gemeint. Das Recht ist nicht wie ein Netz. Das Recht ist ein Netz«. (S. 625) Es folgt die normative Konsequenz: Das Recht soll sich benehmen wie ein Netzwerk, also interaktiv, reziprok und nichtlinear, kurz, wie im Buchtitel versprochen, unscharf.
Die inhaltlichen Konsequenzen Boehme-Neßlers aus dem Netzwerkkonzept (S. 626-632) entsprechen mehr oder weniger dem, was man heute in Rechtssoziologie und Rechtstheorie über das Recht zu sagen pflegt: Das Recht muss sich von seinem Selbstverständnis als hierarchisch, linear und konditional strukturiert verabschieden. Recht ist ein Produkt der Evolution und deshalb nicht systematisch durchgeplant. Als Instrument zweckrationaler Steuerung ist das Recht ungeeignet. Die Einheit des Rechts ist Illusion, denn Rechtspluralismus ist Realität. Widerspruchsfreiheit ist nicht erreichbar. Mit diesen Thesen steht Boehme-Neßler nicht allein, und sie sollen als solche hier auch gar nicht kritisiert werden. Die Kritik gilt allein ihrer Ableitung aus dem »Netzwerkparadigma«. Wenn mehr dahinter stecken soll als eine überbeanspruchte Metapher, dann möchte man genauer wissen, an welche Netze der Verfasser gedacht hat. Geht es um ein Netz? Geht es um viele Netze? Geht es um Akteursnetzwerke oder um Ereignisnetzwerke oder um semantische Netze? Wenn es um semantische Netze geht, sind dann deskriptive, normative oder logische Beziehungen zwischen den Knoten gemeint? Dass Widerspruchsfreiheit »kein relevanter Topos für Netze« ist (S. 630), mag für Ereignisnetze und semantische Netze gelten, wenn die Beziehungen deskriptiv analysiert werden. Aber es gilt sicher nicht für semantische Netze von normativen oder logischen Beziehungen. Und wenn es schließlich heißt, »Widersprüche« seien nicht zuletzt die Treiber der Kommunikation in Netzen und der Weiterentwicklung von Netzen« (S. 633), sind dann logische Widersprüche gemeint oder Konflikte vom Format »ich widerspreche dir«? Die »Interventions- und Steuerungsgesetzgebung« mag ein »Auslaufmodell« sein« (S. 627). Doch wem gilt die Steuerung, dem »Netzwerk Recht« (so S. 626) oder der Gesellschaft? Unter »netzgeprägtem Denken« (S. 631) kann ich mir gut ein Nachdenken über Netzwerke vorstellen. Aber dass Kausalität und Linearität als Denkkategorien obsolet werden (S. 630), wenn man die »Nonlinearität« von Netzwerken, das heißt also die vielfach indirekte und vermittelte Kommunikation zwischen seinen Knoten, zur Kenntnis nimmt, will nicht einleuchten.
Es lässt sich gar nicht vermeiden, immer wieder von Netzen, Netzwerken, Vernetzung oder Verflechtung zu reden. Doch wenn man mit solcher Rede einen interdisziplinären Anspruch erhebt, dann muss man sehr viel genauer werden.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Zur Ideologieanfälligkeit des Netzwerkbegriffs bereits die im Einträge vom 28. April 2012 (Die Rechtstheorie ist schlecht vernetzt.) und vom 9. Mai 2012 (Wo bleibt »Die dunkle Seite der Netzwerke«?).
2 Volker von Prittwitz, Die dunkle Seite der Netzwerke, Strategien gegen Vermachtung und Korruption, Online-Veröffentlichung 2001: http://www.volkervonprittwitz.de/die_dunkle_seite_der_netzwerke.htm.

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Persönliche transnationale Netzwerke

»Transnational Communities are social groups emerging from mutual interaction across national boundaries, oriented around a common project and/or ›imagined‹ identity which is constructed and sustained through the active engagement and involvement of at least some of its members. Transnational communities can overlap in different ways with formal organizations but, in principle, the do not need formal organization to be sustained. Transnational organizations imply transnational networks, but they are more than that since the notion of community connotes a sense of belonging to a common ›culture‹ in the broadest sense.« [1]Marie-Laure Djelic/Sigrid Quack (Hg.), Transnational Communities, Shaping Global Economic Governance, Cambridge 2010, Vorwort. VBon Interesse zum thema in diesem Band besonders das Einleitungs- und … Continue reading
Solche Gruppierungen, die oft formale Organisationen und nationale Grenzen übergreifen, können eine einheitliche kognitive und normative Orientierung ihrer Mitglieder bewirken und dadurch transnationale Phänomene beeinflussen. In dem Buch, dessen Vorwort ich die vorstehende Definition entnommen habe, geht es um Economic Governance. Als »Communities« werden darin u. a. behandelt Netzwerke von chinesischen Kaufleuten im Ausland, die sog. Shuttle Trader, nämlich Ausländer aus Ungarn, Jugoslawien, der Tschechoslowakei und Polen, später aus Nordafrika und schließlich aus den russischen Nachfolgestaaten, die etwa ab 1970 ein Stadtviertel in Istanbul in einen internationalen Handelsplatz verwandelten, Gruppierungen, die auf den internationalen Finanzmärkten tätig sind, den Berufsstand der international tätigen Rechnungsprüfungsfirmen, die virtuelle Gemeinschaft der Computerfreaks, die an Freeware und Open Source Software arbeiten, oder die soziale Bewegung, die sich eine Entkommerzialisierung des Urheberrechts (Creative Commons) zum Ziel gesetzt hat. Man könnte auch die Koalitionen von international orientierten Beamten anführen, die zwischen den Bürokratien der IGOs und der Nationalstaaten entstehen (und die eine Kontrolle und Steuerung der politischen Aktivitäten durch die Nationalstaaten angeblich erschweren ). Für Europa wird uns dagegen die Entstehung eines transnationalen Beamtenkorps eher als integrativer Mechanismus beschrieben.
Djelic und Quack sortieren die transnationalen Gruppierungen in verschiedene Typen:
Gruppierungen mit Migrationshintergrund: Dazu gehören die Migranten selbst und ihre Unterstützer und Sympathisanten. Das gilt jedenfalls solange, wie die Migranten noch Beziehungen zu ihrem Herkunftsland unterhalten, etwa Familienbeziehungen, oder wenn sie zweisprachig sind. In solchen Gruppen ereignen sich kulturelle Anpassungsprozesse. Sie äußern sich im Sitzland wie im Herkunftsland zu politischen Themen oder sie entwickeln wirtschaftliche Aktivitäten.
Transnationale Aktivisten: Hier geht es um Netzwerke und Bewegungen, die auf der Grundlage gemeinsamer Werte und politischer Überzeugungen transnationale Ziele verfolgen, in historischer Zeit etwa das Frauenwahlrecht oder ein Alkoholverbot (Prohibition), heute etwa Menschenrechte und Umweltschutz.
Transnationale Experten, Professionelle und Wissenschaftler: Sie haben gemeinsam, dass sie transnational bei der Produktion und Verbreitung von Wissen engagiert sind. Für die Rechtssoziologie wird man in dieser Rubrik vor allem nach international orientierten Gruppierungen von Richtern, Anwälten, Rechtswissenschaftlern und Verwaltungsbeamten suchen. Ist der Expertenzirkel auf seinem Gebiet soweit anerkannt, dass auch die Politik dort Rat sucht, so spricht man von epistemic communities. [2]Peter M. Haas, Epistemic Communities and Policy Knowledge, in: International Encyclopedia of Social and Behavioral Sciences, 2001, S. 11578–11586.
Transnationale Eliten: Es geht hier um die Machtelite auf der allerhöchsten Ebene. Diese Gruppierung trifft sich etwa auf dem jährlichen Weltwirtschaftsgipfel in Davos. C. Wright Mills hat 1956 die nationale Machtelite der USA (in »The Power Elite«) als eine kleine Gruppe von Individuen beschrieben, die die einen weit überproportionalen Anteil des Reichtums kontrollieren und auf Entscheidungen aller Art Einfluss nehmen. Zu dieser Gruppe gehören neben Wirtschaftsführern Politiker, einige Militärs, einige Medienleute und wenige Wissenschaftler. Heute ist diese Elite praktisch ausnahmslos transnational orientiert. Bemerkenswert an dieser Gruppierung ist, dass sie zwar jeder für ganz unterschiedliche Interessen verfolgen können, aber dennoch von einem gewissen Korpsgeist zusammengehalten werden.
Diese Gruppierungen werden zusammengehalten nicht durch eine formelle Organisation, sondern durch ein gemeinsames Projekt, Thema oder Problem mit transnationalem Bezug, über das sie mehr oder weniger häufig kommunizieren. Djelic und Quack heben hervor, dass bei aller Internationalität persönlicher Kontakt sehr wichtig ist. Man trifft sich vor allem auf Tagungen oder in Arbeitsgruppen. Der Informationsaustausch wird durch die elektronischen Medien und durch die einheitliche Verwendung der englischen Sprache zugleich informeller und intensive. Sie praktizieren Transnationalität und bringen dadurch die Globalisierung voran. Das gilt selbst für Globalisierungskritiker, wenn sie sich international vernetzen und austauschen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Marie-Laure Djelic/Sigrid Quack (Hg.), Transnational Communities, Shaping Global Economic Governance, Cambridge 2010, Vorwort. VBon Interesse zum thema in diesem Band besonders das Einleitungs- und das Schlusskapitel der Herausgeber (Transnational Communities and Governance, S. 3-36; Transnational Communities and Their Impact on the Governance of Business and Economic Activity, S. 377-413) sowie von Renate Mayntz »Global Structures: Markets, Organizations, Networks – and Communities? (S. 37-54).
2 Peter M. Haas, Epistemic Communities and Policy Knowledge, in: International Encyclopedia of Social and Behavioral Sciences, 2001, S. 11578–11586.

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